Wachstum, Fortschritt, Frieden
von Niko Paech und Björn Paech
Wirtschaftliches Wachstum und eine fortwährende Steigerung technischer Mittel sind nicht zufällig zum prägenden Merkmal moderner Entwicklungsvorstellungen geworden. Eine Vermehrung menschlicher Entfaltungsspielräume und materiellen Reichtums soll Verteilungskonflikte lindern und somit Frieden stiften. Aber diese Rechnung geht inzwischen nicht mehr auf. Deshalb steht ein doppelter Paradigmenwechsel an, nämlich die Abkehr vom Wachstumsdogma und – damit untrennbar verbunden – ein bescheidenerer Anspruch an die Möglichkeiten der Technik.
In seiner »Philosophie des Geldes« beschrieb der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1900) einprägsam den Zusammenhang zwischen Wachstum und Fortschritt. Bis zur Kopernikanischen Wende war das abendländische Weltbild von der Vorstellung beherrscht, der Kosmos stelle ein endliches Ganzes dar. Wenn nun aber die Dinge, welche von vielen begehrt würden, nicht vermehrt werden könnten, drohe unweigerlich eine „Menschheitstragödie der Konkurrenz“, die es kraft Fortschritt zu überwinden gelte: „In dem Maße, in dem man weitere Substanzen und Kräfte aus dem noch unokkupierten Vorrat der Natur in die menschliche Nutznießung hineinzieht“, so schreibt Simmel, „werden die bereits okkupierten von der Konkurrenz um sie entlastet“. Damit würden Konflikte zwischen Menschen in solche zwischen Mensch und Natur umgelenkt.
»Substanzieller« Fortschritt besteht gemäß Simmel darin, die Natur mittels technischer Möglichkeiten in ein Füllhorn zu verwandeln. Dieses epochale Unterfangen trage schon deshalb zur Zivilisierung der Menschheit bei, weil daran im Zuge einer umfassenden und zusehends ausdifferenzierten Arbeitsteilung alle teilhaben könnten. Die damit vorgegebene, geradezu universelle Entwicklungsrichtung – höher-schneller-weiter-besser-größer-bequemer – binde jene Kräfte, die andernfalls weniger harmlosen Zwecken dienen könnten. Friedlich vereint in geschäftiger Plünderung hackt also eine Krähe der anderen kein Auge aus, jedenfalls solange genug für alle da ist. Die damit einhergehenden räumlich entgrenzten Verflechtungen und arbeitsteiligen Prozesse bilden neue Motivstrukturen heraus, durch die alles Soziale in ökonomische Beziehungen eingebettet wird. Dies lässt nach moderner Lesart friedenstiftende Bindungen entstehen: Wer komplexe Handelsbeziehungen zum beiderseitigen Nutzen unterhält, führt (meistens) keine Kriege.
Genau dieser Logik folgt auch der europäische Expansionsprozess. Eine gründliche Durchdringung und Verwertung des europäischen Wirtschaftsraumes, so heißt es in jeder Sonntagsrede, diene der politischen und sozialen Integration. Um diese zu beschleunigen, bedürfe es einer ökonomischen Großanstrengung, insbesondere einer uniformen Währung. Sie lasse die Menschen näher zusammenrücken, fördere den kulturellen Austausch und stabilisiere den Frieden. Geld als Friedensstifter? Seltsam: Im Schulunterricht war immer die Rede davon, dass Aufklärung und Humanismus die Grundlage einer zivilisierten Gesellschaft seien. Aber vielleicht misstrauen die Berufsprotagonisten des europäischen Projektes ihren eigenen Beschwörungen, wollen sich also nicht auf ethisches Kleckern, sondern sicherheitshalber nur auf ökonomisches Klotzen verlassen: industrielle Spezialisierung und Machtzentralisierung, Agrarfabriken, monströse Subventionen, ressourcenschwere Infrastrukturen, exzessive Digitalisierung und entgrenzte Mobilität als Fundament eines solidarischen und friedlichen Europas.
Hoffentlich bleibt es auch friedlich, wenn keine Ressourcen mehr da sind, um den alles mit allem verbindenden und befriedenden Tatendrang zu füttern. Damit dieser Albtraum aller Europabegeisterten nicht eintritt, wurde unlängst ein nunmehr »grünes« Wachstum als neuer Kurs des europäischen Friedensprogramms ausgerufen. Und diese Strategie verdient ihren Namen, zielt sie doch darauf, ganze Landschaften industriell nachzuverdichten. In Deutschland, dem Energiewende-Musterschüler, wird keine grüne Nische ausgelassen, in die sich eine Windkraft-, Biogas-, Photovoltaikfreiflächenanlage, Stromtrasse oder ein Pumpspeicherkraftwerk stopfen lässt. Auf diese Weise wird der vermeintlich friedenstiftende Krieg gegen die Ökosphäre lediglich mit veränderten Mitteln fortgesetzt.
»Grünes« Wachstum kraft technischer Innovationen – eine Quadratur des Kreises
Bisherige Versuche, wirtschaftliches Wachstum mittels technologischer Modernisierung von ökologischen Schäden zu entkoppeln, sind bestenfalls fehlgeschlagen. In nicht wenigen Fällen resultierte daraus sogar eine Verschlimmbesserung der Umweltsituation. Ein Zuwachs des Bruttoinlandsproduktes (BIP) setzt zusätzliche Produktion voraus, die als Leistung von mindestens einem Anbieter zu einem Empfänger übertragen werden muss und einen Einkommenszuwachs induziert.
Der Wertschöpfungszuwachs hat somit erstens eine materielle Entstehungsseite und zweitens eine finanzielle Verwendungsseite des zusätzlichen Einkommens. Beide Wirkungen wären ökologisch zu neutralisieren, um die Wirtschaft ohne Verursachung zusätzlicher Umweltschäden wachsen zu lassen. Selbst wenn sich die Entstehung einer geldwerten und damit BIP-relevanten Leistungsübertragung technisch jemals entmaterialisieren ließe – was mit Ausnahme singulärer Laborversuche weder bisher gelang, noch absehbar ist, zumindest wenn alle Verlagerungseffekte einbezogen werden –, bliebe das Entkopplungsproblem solange ungelöst, wie sich mit dem zusätzlichen Einkommen beliebige Güter finanzieren lassen, die nicht vollständig entmaterialisiert sind. Beide Seiten sollen im Folgenden kurz beleuchtet werden.
Entstehungsseite des BIP: Materielle Rebound-Effekte
Wie müssten Güter beschaffen sein, die als geldwerte Leistungen von mindestens einem Anbieter zu einem Nachfrager übertragen werden, deren Herstellung, physischer Transfer, Nutzung und Entsorgung jedoch jeglichen Flächen-, Materie- und Energieverbrauchs enthoben ist? Bisher ersonnene Green-growth-Lösungen erfüllen diese Voraussetzung offenkundig nicht, ganz gleich, ob es sich dabei um Passivhäuser, Elektromobile, Ökotextilien, Photovoltaikanlagen, Bio-Nahrungsmittel, Offshore-Anlagen, Blockheizkraftwerke, Smart Grids, solarthermische Heizungen, Cradle-to-cradle-Getränkeverpackungen, Carsharing, digitale Services etc. handelt. Nichts von alledem kommt ohne physischen Aufwand, insbesondere neue Produktionskapazitäten und Infrastrukturen, aus.
Könnten die grünen Effizienz- oder Konsistenzlösungen den weniger nachhaltigen Output nicht einfach ersetzen, anstatt eine materielle Addition zu verursachen? Um eine ökologisch entlastende Substitution zu erwirken, reicht es nicht aus, Outputströme zu ersetzen, solange dies mit zusätzlichen materiellen Bestandsgrößen und Flächenvernutzung (wie bei Passivhäusern oder Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien) erkauft wird. Die bisherigen Kapazitäten und Infrastrukturen müssten zudem beseitigt werden. Aber wie könnte die Materie ganzer Industrien und Gebäudekomplexe ökologisch neutral verschwinden?
Hinzu kommt ein zweites Dilemma: Wie kann das BIP dauerhaft wachsen, wenn jedem grünen Wertschöpfungsgewinn ein Verlust infolge des Rückbaus alter Strukturen entgegenstünde?
Wie unwahrscheinlich dabei ein positiver Saldo ist, lässt sich exemplarisch an der deutschen »Energiewende« nachzeichnen. So entpuppen sich die momentan von der Green-growth-Gemeinde bestaunten Wertschöpfungsbeiträge der erneuerbaren Energien bei genauerer Betrachtung bestenfalls als Strohfeuereffekt. Nach der Investitionsphase, also wenn der Kapazitätsaufbau, beispielsweise die Errichtung von Windturbinen, abgeschlossen ist, reduziert sich die Wertschöpfung auf einen mehr oder weniger konstanten Energiefluss, der keine weiteren Inputleistungen, d.h. keine zusätzlichen Aufwendungen für Produktion, Transporte, Planung etc. benötigt. Im Vergleich dazu generieren fossile Energiesysteme infolge ihres permanenten und weit verzweigten Raubbaus, insbesondere der notwendigen Brennstoffförderung nebst aller sonstigen Beschaffungs- und Logistikerfordernisse, weitaus ergiebigere Wertschöpfungspotenziale.
Eine Basis für wirtschaftliches (grünes) Wachstum bilden erneuerbare Energieträger daher nur, wenn die Produktion der hierzu benötigten Anlagen ohne Begrenzung fortgesetzt wird. Aber dann drohen neue Umweltschäden: Die schon jetzt auf Akzeptanzgrenzen stoßende Degradierung des Landschaftsbildes und die Eingriffe in den Naturhaushalt nähmen entsprechend zu, weil die materiellen Bestandsgrößen expandieren müssten. Daran zeigt sich die Problematik materieller Verlagerungseffekte: »Grüne« Technologien lösen zumeist keine ökologischen Probleme, sondern transformieren diese nur in eine andere physische, räumliche, zeitliche oder systemische Dimension.
Neirynck (2001) hat die Historie von technischer und gesellschaftlicher Evolution unter Rückgriff auf das Entropie-Gesetz trefflich rekonstruiert. Technische Entwicklung vermag, so lautet sein verallgemeinerbarer Befund, punktuell und zeitpunktbezogen zusätzliche Ordnung schaffen, aber immer nur zum Preis erhöhter Unordnung anderswo. Deshalb sind die Versuche, Entkopplungserfolge empirisch nachzuweisen, nur soweit brauchbar, wie es gelingt, alle Verlagerungseffekte zu berücksichtigen. Aber wie sollen beispielsweise CO2-Einsparungen mit Landschaftszerstörung saldiert werden?
Verwendungsseite des BIP: Finanzielle Rebound-Effekte
Selbst wenn entmaterialisierte Produktionszuwächse je möglich wären, müssten die damit unvermeidlich korrespondierenden Einkommenszuwächse ebenfalls ökologisch neutralisiert werden. Aber es erweist sich als schlicht undenkbar, den Warenkorb jener Konsumenten, die das in den grünen Branchen zusätzlich erwirtschaftete Einkommen beziehen, von Gütern freizuhalten, in deren (globalisierte) Produktion fossile Energie und andere Rohstoffe einfließen. Würden diese Personen keine Eigenheime bauen, mit dem Flugzeug reisen, Auto fahren und übliche Konsumaktivitäten in Anspruch nehmen – und zwar mit steigender Tendenz, wenn das verfügbare Einkommen wächst?
Ein zweiter finanzieller Rebound-Effekt droht, wenn grüne Investitionen den Gesamtoutput erhöhen, weil nicht zeitgleich und im selben Umfang die alten Produktionskapazitäten zurückgebaut werden (die gesamte Wohnfläche nimmt durch Passivhäuser zu, die gesamte Strommenge steigt durch Photovoltaikanlagen), was tendenzielle Preissenkungen verursacht und folglich die Nachfrage erhöht. Es ist nicht einmal auszuschließen, dass davon letztlich sogar der fossile Sektor mitprofitiert. Ein dritter finanzieller Rebound-Effekt tritt ein, wenn Effizienzerhöhung die Betriebskosten bestimmter Objekte (Häuser, Autos, Beleuchtung etc.) reduziert.
Theoretisch ließen sich diese Rebound-Effekte vermeiden, wenn sämtliche Einkommenszuwächse abgeschöpft würden – aber wozu dann überhaupt Wachstum: Was könnte absurder sein, als Wachstum zu erzeugen, um die damit intendierte Wirkung, nämlich Einkommenssteigerungen, im selben Moment zu neutralisieren? Die Behauptung, durch Investitionen in grüne Technologien könne Wirtschaftswachstum mit einer absoluten Senkung von Umweltbelastungen einhergehen, ist also nicht nur falsch, sondern kehrt sich ins genaue Gegenteil um: Aus der Perspektive finanzieller Rebound-Effekte haben grüne Technologien allein unter der Voraussetzung eines nicht wachsenden BIP überhaupt eine Chance, die Ökosphäre zu entlasten. Und dies ist nicht einmal eine hinreichende Bedingung, weil die materiellen Effekte – insbesondere die unzähligen Verlagerungsmöglichkeiten – auf der Entstehungsseite ebenfalls einzukalkulieren sind.
Obendrein beschwört die technologische Entkopplungsstrategie ein moralisches Problem herauf: Das Schicksal der Menschheit würde auf Gedeih und Verderben von einem technischen Fortschritt abhängig, der noch nicht eingetreten ist und dessen zukünftiges Eintreten unbeweisbar ist – ganz zu schweigen davon, dass er womöglich mehr zusätzliche Probleme erzeugt, als er zu lösen imstande ist. Ist ein solches Roulette verantwortbar, das nicht aus Not erfolgt, sondern allein zur Mehrung eines zumindest im Globalen Norden schon jetzt überbordenden Wohlstandes?
Perspektiven
Game over?
Nicht nur ökologische Grenzen, sondern auch die unter der Bezeichnung »Peak Everything« (Heinberg 2007) firmierenden Ressourcenengpässe lassen die modernistische Verheißung, Frieden durch technologischen Fortschritt schaffen zu können, zunehmend absurd erscheinen. Wenn das Industriemodell strauchelt, versagt die technikbasierte Friedensstifterlogik nicht nur, sondern kehrt sich ins direkte Gegenteil um: Je abhängiger Gesellschaften von industrieller Fremdversorgung sind, desto aggressivere Reaktionen auf unfreiwillige Begrenzungen lassen sich erwarten. Die erste, längst begonnene Eskalationsstufe besteht in einer Zweitverwertung (z.B. Fracking und Urban Mining), Nachverdichtung (z.B. vertikale Landwirtschaft und »Energiewende«) sowie effektiveren Durchdringung (z.B. Nanotechnologie und Digitalisierung) räumlicher und mineralischer Ressourcen.
Diese finale technologische Mobilmachung steigert indes nur die Wirkmächtigkeit eines Kollapses, der sich bestenfalls aufschieben lässt, ähnlich einem Heroinsüchtigen, der die Dosis verdoppelt, um den Folgen seiner Abhängigkeit zu entfliehen. Die darauffolgende Phase dürfte von Verteilungskämpfen um die letzten verbliebenen Ressourcen gekennzeichnet sein, kriegerische Auseinandersetzungen inbegriffen. Oder existiert eine Notbremse und wenn ja, welche technologischen Anforderungen gingen damit einher?
Ohne Wachstumsverzicht kein neues Technologieparadigma!
Konzepte einer Wirtschaft ohne Wachstum (Jackson 2009, Paech 2012, Latouche 2015), die sich als Alternativszenario anböten, beinhalten weit mehr, als pathologische Industriestrukturen zurückzubauen. Sie orientieren sich zudem an einer gemäßigteren Technologieentwicklung, jedoch nicht im Sinne einer ökologischen Optimierung vorhandener, mit industrieller Fremdversorgung kompatibler Strukturen, was nur in die Sackgasse grüner Wachstumsversprechungen führen würde. Vielmehr erschließt sich ihre Wirkungsweise am ehesten durch eine Rekonstruktion und Umkehrung des bisherigen Verlaufs technischer Entwicklungen. Diese waren bislang dadurch gekennzeichnet, menschliche Arbeit durch die Umwandlung entsprechend massiver Einsätze von Energie, Mineralien und Naturraum zu verstärken oder zu ersetzen. Derlei Akte des Maschineneinsatzes, der Mechanisierung, Automatisierung, Elektrifizierung und Digitalisierung bedingten eine immense Steigerung der Arbeitsproduktivität und Kapitalintensität jeglicher Wertschöpfung.
Dies ruft zwei Wachstumszwänge auf den Plan: Erstens impliziert die zunehmende Arbeitsproduktivität, dass der Gesamtoutput einer Volkswirtschaft entsprechend wachsen muss, um den bisherigen Beschäftigungsstand zu halten. Zweitens verlangt das eingesetzte Kapital eine hinreichende Verwertung, also zu erwirtschaftende Überschüsse, um Fremdkapitalzinsen bzw. Eigenkapitalrenditen abdecken zu können.
Postwachstumstaugliche Technologieorientierungen
Kohr (1978) unterscheidet zwischen primitiven, mittleren und fortgeschrittenen Technologien, die jeweils mit einer entsprechenden Größe des relevanten sozialen Systems bzw. der Gesellschaft korrespondieren. Die von ihm favorisierten mittleren Technologien weisen nicht nur einen geringeren Komplexitätsgrad auf, sondern vermeiden eine grenzen- und bedingungslose Maximierung der Arbeitsproduktivität. Ähnlich sind die von Illich (1973/2011) beschriebenen „konvivialen“ Technologien zu sehen. Demnach käme es nicht zu einer vollständigen Substitution körperlicher Arbeit durch externe Energiezufuhr und Kapitalinput. Angestrebt wird vielmehr eine Balance aus handwerklichen Verrichtungen und deren Verstärkung mittels maßvoller Energiezufuhr. Ebenso wie Kohr hebt auch Schumacher (1973/1977) den dezentralen Aspekt mittlerer Technologien hervor.
Eine möglichst geringe Kapitalintensität derartiger „Verstärker der menschlichen Kraft“ (Illich 1973/2011, S.42) bewirkt, dass deren Verfügbarkeit nicht von hohen Investitionssummen abhängt. Somit wohnt mittleren bzw. konvivialen Technologien ein demokratischer und sozial nivellierender Grundcharakter inne. Ihre Verfügbarkeit setzt weder Reichtum noch Macht voraus. Schumacher (1973/1977) verbindet damit den Wandel von der Massenproduktion hin zur „Produktion der Massen“ (S.140). Der damit implizierte Emanzipationsgedanke wurde kürzlich von Friebe/Ramge (2008) mit dem Slogan „Marke Eigenbau: Der Aufstand der Massen gegen die Massenproduktion“ aufgegriffen. Während Friebe/Ramge sich gegen die „Rückkehr zu einem vorindustriellen Handwerkeridyll“ (S.8) verwahren, erweist sich ein kurzer Rückblick auf diese Entwicklungsstufe durchaus als instruktiv.
Mumford (1967/1977, S.493) kennzeichnet Technologien, die vor der Industrialisierung genutzt wurden, folgendermaßen: „Wenngleich sie langsam arbeiteten, besaßen Gewerbe und Landwirtschaft vor der Mechanisierung, gerade weil sie hauptsächlich auf manueller Arbeit beruhten, eine Freiheit und Flexibilität wie kein System, das auf eine Garnitur kostspieliger spezialisierter Maschinen angewiesen ist. Werkzeuge sind stets persönliches Eigentum gewesen, den Bedürfnissen des jeweiligen Arbeiters entsprechend ausgewählt und oft umgestaltet, wenn nicht eigens gemacht. Im Unterschied zu komplexen Maschinen sind sie billig, ersetzbar und leicht transportierbar, aber ohne Menschenkraft wertlos.“
Ein weiteres Merkmal angepasster Technologien besteht in ihrer kürzeren räumlichen Reichweite, d.h. geringeren Distanzen zwischen Verbrauch und Produktion. Daraus ergibt sich nicht nur eine hohe Kompatibilität mit Ansätzen der Subsistenz und Regionalökonomie, sondern auch die Möglichkeit ihrer eigenständigen Gestaltung und Reparatur. Solchermaßen beschaffene Technologien sind flexibel, beherrschbar und autonom. Auf dieser Grundlage sind daseinsmächtigere Versorgungs- und Existenzformen möglich. Sie schützen nicht nur vor Ausgrenzung und Manipulation, sondern gewährleisten Stabilität. Insoweit an die Stelle vereinheitlichender und zentraler Strukturen eine flexible „Polytechnik“ (Mumford 1967/1977, S.487ff.) tritt, ergibt sich eine Vielfalt an Werkzeugen. Diese trägt erstens zur Krisenfestigkeit (Resilienz) bei und hält zweitens eine reichere Variation an Entwicklungspfaden und möglichen Reaktionen auf Störgrößen offen.
Die verschiedenen Spielarten angepasster Technologien ermächtigen zu jenem »Prosumententum« (abgeleitet vom produzierenden Konsumenten bzw. konsumierenden Produzenten), ohne das eine „Postwachstumsökonomie“ (Paech 2008, 2012) kaum möglich erscheint. Zudem korrespondieren sie mit einer Senkung der Kapitalintensität, was nicht nur geringere Verwertungszwänge impliziert, sondern dazu verhilft, einen bestimmten Beschäftigungsstand ohne oder zumindest mit geringeren Wachstumsraten stabilisieren zu können. Ein weiteres Kriterium, die Abhängigkeit von (Experten-) Wissen betreffend, betont Illich (1973/2011, S.91): „Wie viel jemand selbsttätig lernen kann, hängt ganz maßgeblich von der Beschaffenheit seiner Werkzeuge ab: Je weniger konvivial sie sind, desto mehr Ausbildung erfordern sie.“ Angepasste Technologien würden demnach nicht nur von einer Monopolisierung unerlässlichen Wissens, sondern von den Zwängen und Ausgrenzungstendenzen der Wissensgesellschaft befreien. Ihr demokratischer Charakter, die finanziell voraussetzungslose Verfügbarkeit sowie ihre Individualisierbarkeit würden dazu beitragen, den notwendigen Rückbau der Industrie sozial abzufedern. Angepasste Technologien könnten jenen Ressourcenhunger mildern, der oft eine Motivation für gewaltsame oder gar kriegerische Handlungen entstehen lässt. Vielleicht liegt die Essenz einer Friedensstabilisierung darin, Ansprüche an knappe Güter so zu regulieren, dass es keinen Grund gibt, um sie zu kämpfen.
Literatur
Holm Friebe und Thomas Ramge (2008): Marke Eigenbau. Der Aufstand der Massen gegen die Massenproduktion. Frankfurt a.M.: Campus.
Richard Heinberg (2007): Peak Everything. Waking Up to the Century of Declines. Gabriola Island: New Society Publishers.
Ivan Illich (1973/2011): Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik. München: C.H. Beck.
Tim Jackson (2009): Prosperity without Growth: Economics for a Finite Planet, London: Routledge.
Leopold Kohr (1978): Appropriate Technology. Resurgence Vol. 8 No. 6 (January-February), S.10-13.
Serge Latouche (2015): Es reicht! Abrechnung mit dem Wachstumswahn. München: oekom
Lewis Mumford (1967/1977): Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht. Frankfurt a.M.: Fischer.
Jacques Neirynck (2001): Der göttliche Ingenieur. Die Evolution der Technik. Renningen: expert.
Niko Paech (2008): Regionalwährungen als Bausteine einer Postwachstumsökonomie. Zeitschrift für Sozialökonomie 45. Jg, No. 158-159, S.10-19.
Niko Paech (2012): Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie. München: oekom.
Ernst Friedrich Schumacher (1973/2013): Small is Beautiful. Die Rückkehr zum menschlichen Maß. München: oekom.
Simmel, G. (1900): Philosophie des Geldes. Leipzig: Duncker & Hublot.
Niko Paech ist Wirtschaftswissenschaftler und vertritt den Lehrstuhl für Produktion und Umwelt an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.
Björn Paech ist Geograph und als Berater im Naturschutz tätig.