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W&F 1987/4

Warum nehmen die Krankheiten zu, obwohl die Medizin immer besser wird?

von Edith Schieferstein

Kann, darf ein Mediziner sich in der Friedensdiskussion zu Wort melden? Ist er nicht etwa verpflichtet, sich als Arzt jeglicher politischer Rede zu enthalten? Muß er nicht seine Kunst frei von aller Ideologie ausüben? Ist eine Wissenschaft wie die Medizin geeignet, einen Beitrag zu leisten im Streit um die Frage, auf welche Weise der Friede am besten zu gewährleisten wäre?

In der Brockhaus-Enzyklopädie von 1973 ist die Medizin definiert als „die Wissenschaft von gesunden und kranken Lebewesen, von Ursachen, Erscheinungen, Auswirkungen ihrer Krankheiten, deren Erkennung, Heilung und Verhütung.“

Nach einer Aufzählung der naturwissenschaftlichen Grundlagen der Medizin heißt es dann weiter: „Der Humanmedizin dient außer dem naturwissenschaftlichen Fundament als Erkenntnisquelle die Beobachtung des Menschen als eines leib-seelischen Organismus in gesunden und kranken Tagen und seiner Stellung in seiner natürlichen, seiner kulturellen und sozialen Umwelt.“

Schon diese knappe Beschreibung bejaht die eingangs gestellten Fragen.

Die Beschäftigung mit ärztlicher Berufsethik führt zum Eid des Hippokrates, den wir heute nicht mehr schwören, dessen Inhalt jedoch in unserer Berufsordnung seinen Niederschlag findet. Gesetze und Verordnungen legen den Arzt im Tun und Lassen seines beruflichen Alltags weitgehend fest. Diese können aber nicht alles das umsetzen, was sich an ethischem Gewicht in jenem alten Eid findet, in dem der Arzt zum Beispiel schwört, „Schädigung und Unrecht von den Patienten abzuwehren“ und seine „Kunst lauter und redlich zu bewahren.“

Charles Lichtenthaeler, der ein hervorragendes Buch über den Eid des Hippokrates geschrieben hat, betont den hohen sittlichen Wert und meint, der Eid lehre die Ärzte, „zwischen äußerer und innerer Freiheit zu unterscheiden“. Er schreibt:

„Verstoßen staatliche Satzungen gegen die ungeschriebenen Gesetze, so zeigt unser Text nämlich, was getan oder gemieden werden sollte, um zu nützen und nicht zu schaden, auch wenn es heute nicht immer getan oder gemieden werden kann. Versagt das öffentliche Gewissen, so bleibt dem Arzt sein eigenes Gewissen, seine eigene innere Stimme erhalten und findet im hippokratischen Eid eine überzeitliche Norm.“

Die alten Ärzte wußten sehr genau, daß Gesundheit in enger Beziehung zur Umwelt stand, die Diätetik stand rangmäßig vor der Pharmakologie und der Chirurgie. Und Diätetik beinhaltete nicht nur Essen und Trinken, sondern die gesamte menschliche Lebensökonomie. Die antike Medizin beschäftigte sich auf das Intensivste mit der Erhaltung der Gesundheit. Dieser Teilbereich der Medizin heißt heute PRÄVENTION. Mitten in der modernen Medizin mit all ihren Errungenschaften wird der Ruf nach Prävention immer unüberhörbarer. HEINRICH SCHIPPERGES fragt in der Einführung in sein 1985 erschienenes Buch HOMO PATIENS: „Warum nehmen die Krankheiten zu, obschon die Medizin immer besser wird?“

Wir können weiterfragen: Was muß die Medizin unternehmen, um aus der Sackgasse eines grandiosen Reparaturbetriebes umzukehren? Kann ihr das gelingen, ohne daß sie sich aus ihrem Elfenbeinturm hinausbewegt?

An wissenschaftlicher Qualität fehlt es ja nicht: längst sind die Zusammenhänge zwischen Lebensführung und Kreislaufzustand, zwischen Arbeitswelt und bestimmten Erkrankungen, zwischen Arzneimitteln und Wirkungen wie Nebenwirkungen, zwischen Umweltzerstörung und Qualität von Luft und Wasser bis auf das Feinste erforscht. Aber: Werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse im Sinne einer echten Prävention zum Nutzen des Menschen umgesetzt?

Können, dürfen wir uns z.B. damit zufrieden geben, wenn es „Grenzwerte“ für sicher pathogene Substanzen gibt? Wenn eine durch berufliche Noxen entstandene Krankheit eine „entschädigungspflichtige Berufserkrankung“ geworden ist?

Auch die Wirkung moderner Waffen auf die Menschheit ist wissenschaftlich bearbeitet. Die Tragödie von Hiroshima und Nagasaki hat sozusagen als groteske Versuchsanordnung aufgezeigt, daß „moderne Waffentechnologie“ Wahnsinn ist.

Die Bomben fielen vor mehr als vier Jahrzehnten, ihre verheerenden Folgen auf Leben und Gesundheit der Menschen sowie ihrer Umwelt sind wissenschaftlich aufgearbeitet und publiziert. Seitdem fordern Menschen in aller Welt und nicht zuletzt Wissenschaftler aller Fakultäten Abkehr von solchen Massentötungsmitteln. Ihre Rufe verhallen jedoch ohne Wirkung. Seit der Zündung der ersten Atombombe ist es zu einer ständigen Produktion und Anhäufung von Atomwaffen gekommen. Es gibt heute weltweit 50.000 Hiroshimabomben.

HIROSHIMA 13 KT-BOMBE
Bevölkerung 245.000
Verwundete 100.000
Tote 75.000
Ärzte 30 (150)
Med. Personal 126 (1780)

Im März 1983 legte die Weltgesundheitsorganisation einen Bericht über die „Auswirkungen eines Atomkrieges auf Gesundheit und Gesundheitsdienste“ vor. Er war erstellt worden von einer internationalen Expertengruppe aus Physikern, Strahlenmedizinern und -biologen, Radiopathologen, Internisten, Genetikern und Epidemiologen unter dem Vorsitz von Professor Bergström vom Karolinska-Institut Stockholm. Diese Wissenschaftler hatten das umfangreiche Material aus den Atombombenexplosionen über Hiroshima und Nagasaki sowie aus den Atombombentests der Supermächte ausgewertet und sich dann mit drei möglichen Szenarien befaßt:

  1. Die Zündung einer 1 Megatonnen-Bombe über einer großen Stadt würde mehr als eineinhalb Millionen Menschen töten und eine ebenso große Zahl von Menschen verletzen.
  2. Ein „begrenzter“ Atomkrieg mit kleinen taktischen nuklearen Waffen mit einer Sprengkraft von insgesamt 20 Megatonnen, die auf militärische Ziele in einem relativ dicht bevölkerten Gebiet abgefeuert würden, würde ungefähr 9 Millionen Tote und Schwerverletzte fordern, davon mehr als 8 Millionen Zivilpersonen.
  3. Ein totaler Atomkrieg, bei dem mindestens die Hälfte der Schätzungen zufolge gegenwärtig vorhandenen nuklearen Arsenale zum Einsatz käme (mit einer Sprengkraft von insgesamt etwa 10.000 Megatonnen), würde mehr als 1 Milliarde Tote und 1 Milliarde Verletzte fordern. Etwa die Hälfte der Weltbevölkerung fiele einem solchen Krieg unmittelbar zum Opfer.

Ein Jahr zuvor hatte die Päpstliche Akademie der Wissenschaften eine Versammlung von Vorsitzenden wissenschaftlicher Akademien und Wissenschaftlern aus aller Welt einberufen, die sich mit dem gleichen Thema befaßte und dem Papst im September 1982 ihre „Erklärung über die Vermeidung eines Atomkriegs“ vorlegte. Darin heißt es:

„Die Wissenschaft kann der Welt keinen echten Schutz gegen die Folgen eines Atomkrieges anbieten. Es besteht keine Aussicht auf eine ausreichende Steigerung der Wirksamkeit der Schutzmaßnahmen, um Städte zu schützen, da selbst eine einzige Kernwaffe eine massive Zerstörung anrichten kann. Es besteht keine Aussicht, daß die Masse der Bevölkerung gegen einen atomaren Großangriff geschützt oder daß die Vernichtung der kulturellen, ökonomischen und industriellen Grundlage der Gesellschaft verhindert werden könnte. Der Zusammenbruch der sozialen Ordnung und die Zahl der Opfer wird so umfangreich sein, daß von keinem medizinischen Verfahren erwartet werden kann, mehr als einem geringfügigen Bruchteil der Fälle gewachsen zu sein." Es folgt natürlich die Forderung nach Abrüstung, nach Vernichtung aller tödlichen Waffen.

Wie steht es nun mit der MEDIZIN UND IHRER VERANTWORTUNG FÜR DEN MENSCHEN?

Bedeutende Ärztinnen und Ärzte aller Länder in West und Ost haben an den erwähnten Studien mitgearbeitet, haben auf den Irrwitz der Tötungsmaschinerie hingewiesen, immer wieder ihre Achtung, ihre Abschaffung verlangt.

Hat die Medizin damit ihre Schuldigkeit getan? Gemessen am bisherigen Erfolg ihrer Bemühungen wohl kaum. RUDOLF VIRCHOW rief vor mehr als einem Jahrhundert angesichts der Probleme seiner Zeit aus: „Soll die Medizin ihre große Aufgabe wirklich erfüllen, so muß sie in das politische und soziale Leben eingreifen!“

Ich um, ächte aufzeigen, wie alltäglich die Auseinandersetzung um ethische ärztliche Grundfragen sein kann. Wie schleichend die Droge sein kann, die Verantwortungsgefühl verletzt. Die Rede ist von KATASTROPHENMEDIZIN. Was ist das: „Katastrophenmedizin“? Eine exakte Definition zu liefern ist deswegen nicht möglich, weil es deren mehrere gibt und weil es eher Beschreibungen sind, die wir in der Literatur finden. Ich möchte die Medizinstudenten nachdrücklich bitten, ihre akademischen Lehrer in dem Unterrichtsfach immer wieder nach einer solchen Definition zu fragen und die Antworten miteinander zu vergleichen.

In der Bundesrepublik Deutschland taucht die Katastrophenmedizin Ende der 70er Jahre vermehrt auf, im Juli 1980 gründete sich die „Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin“. Ihre Aufgabe beschreibt sie folgendermaßen:

  • wissenschaftliche und praktische Belange der Katastrophenmedizin zu för
  • notwendige interdisziplinäre und gebietsübergreifende Beziehungen der Katastrophenmedizin herzustellen und zu vertiefen,
  • sowie Kontakte zu in- und ausländischen medizinischen Gesellschaften, Organisationen, Verbänden und staatlichen Einrichtungen, die sich mit dem Katastrophenschutz befassen, herzustellen und zu pflegen.

HEBERER definiert 1983 die Katastrophenmedizin als „interdisziplinäre Notfallmedizin“, allerdings sieht er an gleicher stelle „Triage als unumgängliche ärztliche Aufgabe“. In allen Definitionen wird von einem MASSENANFALL VON VERLETZTEN ausgegangen und Triage gefordert. Gelehrt wird eine Sichtung und Einteilung der Verletzten in verschiedene Kategorien. Es wird gesagt, Triage sei Teil des ärztlichen Alltags und bedeute nichts anderes als das Setzen von Prioritäten. So weit, so gut. Die Bundesärztekammer wählt in ihrem Tätigkeitsbericht 1985 folgende Definition:

„Katastrophenmedizin ist Teil des Katastrophenschutzes und fällt als Friedensaufgabe in der Bundesrepublik Deutschland im Sinne der Artikel 35 und 74 GG in die Zuständigkeit der Länder. Sie ist gekennzeichnet vom Mißverhältnis der Hilfsbedürftigen und der zur Hilfe Fähigen mit den entsprechenden materiellen und organisatorischen Ressourcen.“ Interessanterweise findet sich in dieser Schrift auf derselben Seite folgende Auslassung:

„Die sogenannte Kriegsmedizin findet als WORTSCHÖPFUNG kein konkretes Korrelat. Sie wird jedoch von bestimmten Gruppen gerne verallgemeinernd, allerdings zu Unrecht, für bestimmte ärztliche Tätigkeitsbereiche benutzt, die irgendwie mit dem Katastrophen-, Zivilschutz oder dem Verteidigungsfall in Zusammenhang gebracht werden könnten.“

Nicht von ungefähr folgen diese Aussagen der Bundesärztekammer ihren vorangegangenen; denn der Verdacht, daß Ärzte sich mittels „katastrophenmedizinischer Übungen“ auf Kriegssituationen vorbereiten sollen, bleibt bestehen.

Es wird keinen Arzt geben, der nicht Katastrophenschutz bejaht. Über die seit jeher bestehenden Katastrophenschutzgesetze der Länder hat es nie kontroverse Diskussionen gegeben. Es wird auch keinen Arzt geben, der nicht die Verpflichtung zu ständiger Fortbildung in Notfallmedizin anerkennt, d.h. Fortbildung in der Fähigkeit, medizinische Notfälle möglichst rasch und möglichst gut zu versorgen. Es wird auch keinen Arzt geben, der nicht Prioritäten setzt, wenn er mehrere Kranke oder Verletzte vor sich hat. Nur: bei genauem Hinsehen sieht die „Katastrophenmedizin“ anders aus als interdisziplinäre Notfallmedizin. Vordergründig soll sie, wie die Bundesärztekammer bei Katastrophen in Friedenszeiten zur Anwendung kommen. Die Lehrbücher widerlegen diese Aussage. In dem 1980 erschienenen Lehrbuch KATASTROPHENMEDIZIN von LANZ/ROSSETTI heißt es in der Einleitung:

„Es geht darum, unsere heutige und die kommende Ärztegeneration auf jene geistige und praktische Umstellung vorzubereiten, die Katastrophe und Krieg, Massenanfall und Beschränkungen aller Art erfordern würden.“ An einer anderen Stelle des Buches wird dann zugegeben:

„Katastrophenbedingungen im Sinne unserer Definition, daß die lokalen Hilfsmaßnahmen zur Bewältigung nicht mehr ausreichen, gelten für alle drei Verantwortungsbereiche „Schadenzone“, „Transport“ und „Hospitalisationsraum“ mit Sicherheit nur im Kriege.“

Auch das Prioritätensetzen, als weiche die Triage deklariert wird, entpuppt sich als Problem. Während bisher gilt, daß der Patient zuerst behandelt wird, der ärztliche Hilfe am nötigsten hat, sollen dann andere Maßstäbe gesetzt werden. Über die Triage ist 1984 ein ganzes Lehrbuch erschienen, es heißt TRIAGE IM KATASTROPHENFALL, ÄRZTLICHE SOFORTMASSNAHMEN IM KATASTROPHENGEBIET“, herausgegeben von R. KIRCHHOFF, als Anschrift des Herausgebers wird diejenige der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin angegeben.

Beim Anblick dieses Bildes müssen wir uns fragen, um welche Art Katastrophe es sich dabei handeln kann. Der Verfasser stellt denn auch fest: „Die bekannteste Katastrophe ist der Krieg.“ Folgende Abbildung (Dia 3) zeigt ein Merkmal moderner Kriege: immer mehr Zivilpersonen fallen ihnen zum Opfer. Kirchhoff macht sich sogar um noch nicht stattgefundene Situationen Gedanken. Zitat: „In den dichtbesiedelten Gebieten Europas müßte in einem Kriegsfall mit Verhältnissen von 1:20 bis 1:100 gerechnet werden.“

KATASTROPHENMEDIZIN IST OPTIMIERTE MASSENMEDIZIN, wird hier definiert, KIRCHHOFF geht von einem Massenanfall von Verletzten, Kranken oder anderweitig Geschädigten aus und erläutert, es wird sich hierbei handeln um Verletzte Verwundete, Verstrahlte, Kranke und psychisch Gestörte. Und dann wird Klartext gesprochen: „Bei der Akut- und Definitivbehandlung dieser Personen ist die Kollektivprognose die ärztliche Entscheidungsgrundlage für die Individualbehandlung, d.h. es müssen unter Katastrophenbedingungen bei einem Massenanfall von Geschädigten Prioritäten festgelegt werden. Dieser Vorgang wird als Triage bezeichnet.“ Dann folgt die Beschreibung der Triagekategorien mit für Katastrophe oder Krieg angenommener Verteilung:

Was bedeuten nun diese Behandlungskategorien? T1 umfaßt Personen, die unmittelbar vitalbedrohlich verletzt sind und bei denen eine Überlebenswahrscheinlichkeit besteht. Dies ist etwas völlig Neues, bisher Undenkbares die ärztliche Behandlung abhängig zu machen von der Überlebenswahrscheinlichkeit. Natürlich sterben stündlich Menschen an unheilbaren Krankheiten, nicht zuletzt auch nach schweren Unfällen, trotz ärztlicher Bemühungen. Ärzte sind vertraut mit Sterben und Tod. Aber Sterbenlassen ohne Intervention, das ist neu.

  • Kategorie T1 (immediate treatment) 20 %
  • Kategorie T2 (delayed treatment) 20 %
  • Kategorie T3 (minimal treatment) 40 %
  • Kategorie T4 (exspectant treatment) 20 %

Die beiden mittleren Behandlungskategorien machen keine Probleme in unserem Kontext. Es handelt sich bei T2 um Patienten, bei denen durch Sofortbehandlung Lebensgefahr abgewendet und deren Definitivbehandlung aufgeschoben werden kann. T3 werden Patienten zugerechnet, die kleine ungefährliche Verletzungen erlitten haben oder ungefährlich erkrankt sind. Zur buchstäblich letzten Kategorie wieder ein Zitat:

„Geschädigte der Behandlungskategorie T4 haben unter Katastrophenbedingungen mit Massenanfall kaum Überlebensaussichten. Hier sollte eine abwertende Behandlung eingeleitet werden. Unter Bedingungen des Massenanfalls sind Reanimationsbemühungen kontraindiziert.“ Andere Katastrophenmediziner bezeichnen diese Gruppe auch als HOFFNUNGSLOSE.

Und dieses Einteilen, Sortieren, Sichten, Triagieren, Selektieren von Patienten wird bereits in Turnhallen an geschminkten Bundeswehrsoldaten geübt, allerdings noch nicht überall. An genau ausgeteilten Handlungsanleitungen fehlt es nicht.

Wenn zwei Ärzte auf viele Unfallopfer treffen, sollen sie also nicht Lagerung, Wiederbelebung und Blutstillung üben, sondern sichten. „Erst nach Eintreffen mehrerer Ärzte können neben der Triage lebensrettende Eingriffe erfolgen“, trug der Verfasser auf der 2. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin 1983 vor. Ein forscher Kollege, der auch feststellt: „Erfolgreich läßt sich die verantowrtliche Aufgabe, die dem ärztlichen Einsatzleiter oder den Triageärztengestellt ist, nur durchführen, wenn alle Mitarbeiter ein auf Erfahrung beruhendes Führungsprinzip diskussionslos anerkennen.“!!

Es versteht sich von selbst, daß diese Art Medizin seit 1945 niemals zur Anwendung kam in Europa, auch nicht bei Katastrophen wie etwa dem Bombenattentat auf dem Münchner Oktoberfest 1980. Damals konnten nahezu 200 Verletzte innerhalb von 45 Minuten einer adäquaten medizinischen Versorgung zugeführt werden. Die Organisation unseres Rettungswesens reichte aus. Die Verletzten wurden nicht selektiert, sondern notfallmedizinisch versorgt. Der uralte ärztlich-ethische Grundsatz, dem Schwerstverletzten zuerst zu helfen, blieb unangetastet.

Aus dem bisher Gesagten oder genauer Zitierten ist ersichtlich, daß diese Ethik in der sogenannten Katastrophenmedizin verlassen wird. Weil etwa 10.000 deutsche Ärztinnen und Ärzte sich weigern, diese zweifelhafte Kunst zu erlernen, haben sie sich auseinanderzusetzen mit Angriffen. Politiker und Standesvertreter werfen ihnen Verweigerung ärztlicher Hilfeleistung vor, Angstverbreitung unter den Patienten, ein ärztlicher Standesfunktionär meinte auf der Internationalen Wehrmedizinischen Tagung 1982 in Baden-Baden schlicht, ein Arzt, der sich seiner Fortbildungspflicht auf diesem Sektor entziehe, „hat seinen Beruf verfehlt. Er hat das Recht, sich Arzt zu nennen, verwirkt und muß mit dem Entzug der Approbation rechnen.“

Vor dem Hintergrund der vorliegenden Gesetzentwürfe – auf Bundesebene das Zivilschutzgesetz, auf Landesebene logisch nicht nachvollziehbare Veränderungen am Katastrophenschutzgesetz – wird die Auseinandersetzung an Schärfe eher zunehmen. Dennoch wird kein Arzt umhinkönnen, sein ärztliches Gewissen zu verteidigen gegen alle Bestrebungen, ganz allmählich und scheinbar unter logischen Überlegungen zu lernen, dem Wohl des einzelnen Patienten andere Werte überzuordnen. Er wird daran denken müssen, daß es schon einmal eine Zeit gab in Deutschland, da gegenüber der VOLKSGESUNDHEIT der Einzelne keine Rolle mehr spielte. Wie klingt vor einem solchen Hintergrund das Zitat aus dem Lehrbuch von 1984, in dem gefordert wird, daß die KOLLEKTIVPROGNOSE ärztliche Entscheidungsprundlage für die Individualbehandlung sein soll…

Alexander MITSCHERLICH, der nach der erschütternden Erfahrung als Beobachter der Nürnberger Ärzteprozesse nach Gründen für die Widerstandslosigkeit der Ärzte gegen die damalige Staatsführung suchte, sah einen Grund im unreflektierten Gehorsam. Er schrieb:

„Auf dem Wege über die soldatische Pflichterfüllung erfolgte hier die Usurpation des Arztturns und der humanen Verpflichtung.“ Und: „Was soeben noch wissenschaftliches Forschungsergebnis war, verwandelte sich unversehens in ein Hilfsmittel der Kriegsführung.“ Er beschreibt, „wie all diese Wandlungen im Verhältnis Arzt-Staat sich Schritt um Schritt ganz langsam, mit guten Gründen motiviert, einschleichen. Wegstück um Wegstück wird durch Kompromisse die Handlungsfreiheit des Einzelnen eingeengt, bis er dann in jener Konfliktsituation steht, die er letztlich selbst durch sein bisheriges Nachgeben heraufbeschwor und die ihn dann in jedem Falle schuldig werden läßt.“

Und an die Wissenschaftler der Nachkriegszeit gewendet, schrieb er: „Sie werden gezwungen, ihre Forschungsergebnisse nicht nur wissenschaftlich einzuordnen, sondern auf ihre geschichtliche Auswirkung zu achten.“

Auch nach 1984 wird die Medizin ihre Verantwortung für den Menschen wahrnehmen müssen.

Zitierte Literatur:

Charles Lichtenthaeler: Der Eid des Hippokrates. Deutscher Ärzte Verlag, Köln 1984
Heinrich Schipperges: Homo patiens. Piper, München 1985
WHO-Studie: Auswirkungen eines Atomkrieges auf Gesundheit und Gesundheitswesen (Effects of Nuclear War an Health and Health Services). World Health Organization, Genf 1984, Deutsches Ärzteblatt, Heft 7 vom 15. Februar 1985, S. 421-424. Zu beziehen auch bei „Appell Gesundheitwesen für den Frieden“, Luetkeallee 41, 2000 Hamburg 70
Bestrebungen und Ziele der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin e.V., Deutsches Ärzteblatt, Heft 25 vom 24. Juni 1983
Bundesärztekammer: Tätigkeitsbericht 1985, S. 143, Deutscher Ärzte Verlag, Köln-Löwenich
Lanz/Rossetti: Katastrophenmedizin. Enke Verlag, Stuttgart 1980
Kirchhoff (Hrsg.): Triage im Katastrophenfall. Notfallmedizin, Band 9, Perimed Fachbuch-Verlagsgesellschaft, Erlangen 1984
G. Heberer, K. Pehr, F. Ungeheuer: Katastrophenmedizin, eine Standortbestimmung. J. F. Bergmann Verlag, München 1984, S. 99
A. Mitscherlich u. F. Mielke: Wissenschaft ohne Menschlichkeit. Psyche 36, S. 1075-1109, 1982

Dr. Edith Schieferstein, Betriebsärztin in Tübingen. Gründungsmitglied der bundesdeutschen IPPNW-Sektion

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1987/4 1987-4, Seite