W&F 1989/2

Was heißt und zu welchem Ende betreiben wir die BoA?

von Ekkehart Krippendorff

Friedrich Schiller, von dem diese klassisch gewordene (wenn auch, wegen ihres grammatischen Fehlers zeitgenössisch kritisierte) Formulierung für seine Jenaer Antrittsvorlesung über »Universalgeschichte« stammt, hatte es schwerer was den ersten und leichter was den zweiten Teil der Frage anbetrifft. BoA – es hat sich inzwischen herumgesprochen – heißt schlicht der heutigen Abkürzungsmode folgend (NATO, KSZE, MBFR …) „Bundesrepublik ohne Armee“. BoA steht für eine Perspektive, eine langfristige Zielvorstellung, eine realistische Utopie, eine strategische Orientierung in der Konfusion, der Vielfalt, dem unübersichtlich gewordenen Dickicht der gegenwärtig gehandelten Friedenskonzepte für Mitteleuropa und darüber hinaus – als da sind: atomwaffenfreie Zonen, defensive Verteidigung, Aufkündigung von Jalta, vertrauensbildende Maßnahmen, Frieden schaffen ohne Waffen, doppelte und dreifache Null-Lösung, Gemeinsame Sicherheit usw.

Übernommen bzw. übertragen wurde das BoA-Kürzel von der beachtlichen und mutigen „Gesetzesinitiative Schweiz ohne Armee“ (GSoA), die in diesem kleinen und hochmilitarisierten Land immerhin die besten und bekanntesten Schweizer zu ihren Befürwortern hat (Dürrenmatt und Frisch z.B.), d.h. die, denen dieses Land seinen Respekt und seine Anerkennung als Kulturvolk verdankt, was man von der Schweizer Schokolade oder den Banken nicht wird behaupten können. Darin steckt auch die Besinnung auf eine Umwertung der Werte, oder richtiger: auf ein Zurechtrücken, eine Richtigstellung von Werten, die ein Volk und eine Kultur auszeichnen und ihnen Würde verleihen – Literatur, Dichtung, Kunst, aber auch Zivilität, Humanität, Demokratie, Menschenwürde, Rechtssicherheit.

Nach 1945 unvorstellbar: ein hochgerüsteter deutscher Staat

1945 schien auch in Deutschland – endlich – der Boden bereitet, um Abschied zu nehmen von einer fatalen, zerstörerischen Werte-Verkehrung, die nationale Größe ausschließlich auf Machtstaatlichkeit, Blut und Eisen – konkret: auf eine starke Armee als Garant internationalen Respekts – gegründet gesehen hatte. Dieses Deutschland wollte und sollte nie wieder als bewaffnete Macht zur Völkerfamilie gehören, sondern sich beweisen, seine neue Identität finden durch eine ernsthafte und radikale Neu- und Rückbesinnung auf echte, dauerhafte und vor allem friedliche Werte. Dann aber änderte sich bekanntlich die sog. Weltlage, d.h. sie wurde geändert, und zwar aus der alten Logik der Machtpolitik heraus, deren Spielregeln folgend, die trotz der Kriegskatastrophe nicht wirklich infrage gestellt wurden (die UNO war ein halbherziger Ansatz dazu gewesen). Den beiden deutschen Teilstaaten wurde es nicht gestattet, einen radikalen Weg zu einer neuen, u.a. nicht bewaffneten Identität weiterzugehen, was den politischen Klassen durchaus entgegenkam, denn Weniges ist so schwierig wie Umdenken, Neubeginnen, Radikalität in Gesellschaft und Politik. Damals, in den 50er Jahren, war das Volk, das eine Wiederbewaffnung nicht wollte und sich so gut es unter den Umständen möglich war, dagegen wehrte, radikaler, politisch lernfähiger als seine Regierungen, deren taktischem Geschick bei der Wiederaufstellung von Militär es schließlich unterlag. Eine „Bundesrepublik ohne Armee“ war einer Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung noch vor vierzig Jahren keineswegs unvorstellbar – im Gegenteil: unvorstellbar erschien damals ein hochgerüsteter deutscher Staat. Trotzdem wurde er durchgesetzt. Daran ist politisch und historisch nicht nur immer wieder zu erinnern, sondern auch zukunftsorientiert anzuknüpfen.

Natürlich ist die Geschichte nicht ungeschehen zu machen, kann sie nicht schlicht revidiert werden. Aber Geschichte enthält auch, wenn sie überhaupt eine bewußtseinsbildende Funktion hat – und die hat sie – uneingelöste Versprechen, Möglichkeiten, zu reflektierende Alternativen. Nichts hat so kommen müssen, wie es kam, Zukunft ist immer offen für verschiedene Optionen – vorausgesetzt, wir überlassen uns nicht einem blinden »Durchwursteln« und haben eine generelle strategische Perspektive, innerhalb derer wir unsere taktischen-praktischen Schritte machen und unsere Entscheidungen treffen. Sich vorzustellen, es könne eine entmilitarisierte Bundesrepublik, eine „Bundesrepublik ohne Armee“ geben, ist eine ebenso noble und erstrebenswerte Zielvorstellung wie die einer „Schweiz ohne Armee“ und für andere Länder und Staaten um uns und darüber hinaus gleichermaßen.

Vorbereitendes Denkbarmachen

Um nicht mehr – aber auch nicht weniger – als um das vorbereitende Denkbarmachen einer solchen Möglichkeit geht es bei BoA. Dieses Denkbarmachen selbst, wenn es die Schreibtische und die mit kleinen Auflagen zirkulierenden Friedenszeitschriften verläßt und zum öffentlichen Topos wird, wenn BoA in sich erweiternden Kreisen und von immer mehr Menschen diskutiert wird – und zwar durchaus kontrovers, im Für und Wider – das allein ist schon ein Stück wichtiger Politik, dazu angetan, mit der Brechung eines alten Tabus den Boden zu bereiten für konkrete Veränderungen und zu entwickelnde Alternativen zu Abschreckung und zu den auch noch in den Konzepten von defensiver Verteidigung z.B. enthaltenen letztlich militärisch konditionierten Vorstellungen von Sicherheit. Militär ist immer ein Sicherheitsrisiko, enthält immer den fruchtbaren Schoß für kriegerische Konflikte, für herrschaftliche Gewaltausübung. BoA ist ein »idealistisches« Projekt – aber im Sinne Hegels: „Ist das Reich der Ideen erst genügend revolutioniert, hält die Wirklichkeit nicht mehr lange stand.“ Ist die Armee als vermeintlich unverzichtbare Sicherheitsgarantie für das Überleben einer Gesellschaft erst genügend delegitimiert, hält sie selbst nicht mehr lange stand.

Delegitimierung der Bundeswehr

In der Bundesrepublik beobachten wir neuerdings einen solchen, fast »naturwüchsig« zu nennenden Prozeß der Delegitimation der Bundeswehr, wozu »Ramstein« und die Tiefflüge nur symptomatische Auslöser waren. Mit diesem Pfunde gilt es zu wuchern. Eine nicht mehr wehrwillige Bevölkerung – den Regierenden und vor allem den Bundeswehr-Professionellem ein offen ausgesprochener Alptraum – bedeutet, auch wenn sich an den tatsächlichen Strukturen und militärischen Potentialen zunächst nichts ändert, eine Reduktion von Bedrohung des potentiellen Gegners, des Warschauer Paktes und der DDR insbesondere, was zur Delegitimation von dessen »Volksverteidigungsarmeen« führen muß und entsprechende Wehrwiderwilligkeit dort offener als bisher artikulierbar macht. Wir erleben ja schließlich denselben Zusammenhang derzeit in umgekehrter Richtung, indem die mit »Perestroika« verbundene Reduktion einer immer schon mehr propagandistischen als realen Gefahr sowjetisch-kommunistischer Europa-Eroberung zur Freisetzung jenes historisch gut begründeten Unbehagens am Militär in der Bundesrepublik geführt hat. Über BoA laut und öffentlich nachdenken, heißt also nicht nur aktive Politik zu betreiben, und zwar Friedenspolitik, sondern solches Nachdenken ist auch weit davon entfernt, schematisch-blauäugig zu sein: die BoA-"Kampagne« ist ein Prozeß, kein von heute auf morgen durch schlichte „Abschaffung der Bundeswehr“ zu verwirklichendes reales Nahziel. Sie ist ebenso ein politischer Prozeß der Bewußtseinsveränderung, dem die konkrete Politik wird nachgeben müssen, wie es die Friedensbewegung in ihrer Mobilisation gegen die Raketen-Hochrüstung war, die immerhin einen zwar problematischen aber doch realen Abrüstungsschritt zur Folge hatte. Nur geht BoA weiter, ist radikaler, geht mehr an die Wurzel des Kriegsproblems und der unverwirklichten Friedenshoffnungen als es der Kampagne gegen Pershing, Cruise und SS-20 möglich war.

Von der Militär- zur Staatskritik

Ist die Armee, ist Militär »die« Wurzel des »Übels«, des Problems latenter Kriegs- und nuklearer Holocaust-Gefahr? Das können wir zu diesem Zeitpunkt offenlassen. Vorsicht und Skepsis ist immer geboten gegen monokausale Ursachenbestimmungen. Ich selbst habe mich durch meine Studien davon überzeugen lassen, daß das Militär eher Symptom denn Ursache ist – aber ein Symptom, das, wenn ernsthaft diskutiert und ent-tabuisiert, neue und tieferliegende Ursachen freilegen wird. Sie liegen, so meine ich, in staatlich organisierter Herrschaft von Menschen über Menschen, von Strukturen, die aber erst dann in ihrer ganzen Komplexität in den Blick kommen, wenn wir wenigstens einige Schritte weit gekommen sind im effektiven Abbau ihrer militärischen, d.h. als Armeen institutionalisierten Erscheinungsform. Wenn ein Vergleich erlaubt ist: auf dem »Umweg« über die dramatischen Umweltzerstörungen ist der Kapitalismus wieder und schließlich das Industriesystem als Problem neuzeitlich-europäischer Naturunterwerfung freigelegt worden. Auf dem »Umweg« über die Militärkritik dürfte auch die Staats- und schließlich die Herrschaftsfrage wieder freigelegt werden, die in der europäischen Neuzeit – übrigens nicht zufällig zeitlich parallel zur modernen Naturwissenschaft und Technik – als mit dem modernen Staat beantwortet und „gelöst“ erschien. Diese sich aus einer gründlichen BoA-Diskussion ergebenden komplizierten Fragen können und sollten wir getrost dieser Diskussion selbst überlassen; sie sind intellektuell spannend und gleichzeitig politisch höchst brisant, wie überhaupt ernsthaftes Nachdenken über Perspektiven und reale Utopien, wie BoA sie darstellt, intellektuell aufregend und zugleich politisch aktuell sind. Wäre es das nicht, würde BoA nicht so massiv öffentlich denunziert oder als gefährliche Träumerei verurteilt werden – so wie die nervösen Reaktionen von Politik und Bundeswehr auf die deutlich nachlassende Armee-Akzeptanz in der Bevölkerung ein Gespür dieser Herren dafür signalisieren, daß sich hier für sie und für ihre Vorstellungen von Ordnung, Staat und Herrschaft höchst gefährliche, vielleicht dürfen wir sogar sagen »revolutionäre«? Perspektiven auftun.

Dr. Ekkehart Krippendorff ist Hochschullehrer am John F. Kennedy-Institut für Nordamerikanische Studien an der Freien Universität Berlin.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1989/2 Sind Gesellschaft und Militär noch vereinbar, Seite