Was und Wo ist Den Haag?
Die Herstellung der »Neutralität« für Frieden und Konflikte international
von Cathie Traynor
Dieser Artikel untersucht, wie Den Haag, als Organisation und weniger als Stadt betrachtet, Auswirkungen darauf hat, wie Frieden und Gerechtigkeit (weltweit) praktiziert und wahrgenommen werden. Diese Erkenntnisse sind zentral für alle Arbeiten, die Alternativen zur internationalen (Straf-)Gerichtsbarkeit erforschen und für solche, die untersuchen, welche Auswirkungen es hat, wenn Den Haag als eine »Ausnahmeörtlichkeit« und nicht als der »natürliche« Ort solcher Gerichtsbarkeit verstanden wird.
Es ist unbestreitbar, dass Den Haag berühmt ist für seine Rolle bei Frieden und Gerechtigkeit. So lautet die Vision der Stadt selbst: „Den Haag, Internationale Stadt des Friedens und der Gerechtigkeit. Wer denkt, dass dies nur ein cleverer Stadtmarketing-Slogan sei, erfunden von smarten Werbeagenturen, ist auf dem Holzweg. Sollten Sie nach Sarajevo, Nairobi oder Kabul reisen, würden Sie feststellen, dass in diesen Städten der Name der weit entfernten Stadt Den Haag für Hoffnung steht. Hoffnung […] dass die Übeltäter […] nicht ungestraft davonkommen. Heute ist Den Haag Standort von nicht weniger als 131 internationalen Instituten und Agenturen – sowohl Nichtregierungsorganisationen als auch Regierungsinstitutionen […]. Den Haag arbeitet stark daran, weiterhin ein Leuchtfeuer der Hoffnung für Millionen von Menschen auf der ganzen Welt zu sein.“ (Die Botschaft des Königreichs der Niederlande in London 2010)
Aber der Einwand der Botschaft, dass es sich nicht „nur um einen cleveren Stadtmarketing-Slogan” handele, deutet uns darauf hin, dass was auch immer »Den Haag, Internationale Stadt des Friedens und der Gerechtigkeit« (»The Hague, International City of Peace and Justice«, HICPJ) wohl genau ausmacht, von Bedeutung sein muss. Es mangelt nicht an Expert*innen, die etwas zur politischen, wirtschaftlichen oder diplomatischen Entwicklung der Stadt sagen könnten (vgl. van der Wusten 2006), aber wir müssen tiefer blicken, was »Den Haag, Internationale Stadt des Friedens und der Gerechtigkeit« darstellt und wie es sich anfühlt, wenn wir Chancen und Hindernisse für Frieden genauer ergründen wollen. Dieser Artikel basiert auf Feldforschungsdaten aus den 2010er Jahren und zeigt, wie die Nachbarschaft, die Stadt und das Land, in denen internationaler Frieden und Gerechtigkeit ihren Sitz haben, in eine mächtige, geopolitische Performance verwoben sind (vgl. Traynor 2017).
Ich behaupte, dass der Erfolg von Den Haag darauf beruht, dass es das »irgendwo anders« darstellt und verkörpert. Schon die frühe Geschichte Den Haags ist damit verbunden, dass es nicht so mächtig war wie Amsterdam oder Dordrecht. Es war ein Ort, an dem Machtkämpfe zwischen Stadtstaaten gelöst werden konnten (vgl. van Krieken und McKay 2005). Ein Gebäude aus dem 13. Jahrhundert, der Ridderzaal, war die »ursprüngliche« Versammlungshalle, und obwohl sich ihre Bauten und Strukturen verändert und weiter ausgedehnt haben, zog die Stadt weiterhin diejenigen an, die Probleme innerhalb und außerhalb der Niederlande zu bearbeiten hatten (vgl. Eyffinger 2005). Das »irgendwo-anders« zu sein, das nicht mächtig ist, sondern nur von glücklichen Zufällen und visionären, aus einer anderen Welt stammenden Gebäuden, Menschen und Praktiken geprägt ist, spielt eine Schlüsselrolle in der Erzählung, das die HICPJ aufrechterhält. Dies erfordert eine Erkundung von Den Haag nicht als Stadt an sich, sondern als Organisation mit einer gebauten Umwelt und Bedeutungen, Gefühlen und Verhaltensweisen, die über alle Maßstabsebenen hinweg miteinander interagieren.
Warum Den Haag?
Als ich 2017 Menschen fragte, weshalb Den Haag für Frieden und Gerechtigkeit stünde, war die Antwort in der Regel „aufgrund des Friedenspalastes“. Die Geschichte dazu beginnt im Jahr 1899, als die Stadt zum Tagungsort einer Friedenskonferenz auserkoren wird, die auf Initiative von Zar Nikolaus II angeregt wurde, der in finanziellen Schwierigkeiten steckte und dringend Frieden und nicht Krieg anstreben musste. Andere europäische Standorte wurden aus Gründen von Rivalitäten oder Ambivalenz abgelehnt. Den Haag funktionierte aus zwei zentralen Gründen. Erstens: „Die Niederlande wurden als ebenso neutral wie unbedeutend angesehen“ (Eyffinger 2003, S. 16). Zweitens hatte die Stadt international einen Ruf für ihr juristisches Fachwissen erworben, sowohl im Kriegsrecht als auch im Privatrecht. Den Haag war Heimatstadt zweier bedeutender Juristen, Hugo Grotius (frühes siebzehntes Jahrhundert) und Tobias Asser (spätes neunzehntes Jahrhundert). Beide wurden damals wie heute als Außenseiter und geradezu heiligengleiche Visionäre dargestellt, eingebunden in ein internationales professionelles Netzwerk, und nicht als Niederländer, die den Interessen ihres Staates dienten (vgl. van Ittersum 2010). Um die aktuelle Rolle zu erkunden, die Den Haag für die Herstellung von Frieden und Gerechtigkeit einnimmt, ist es daher notwendig, seine »Neutralität« und seine »abgehobenen Juristen« zu hinterfragen.
Die Rolle der »Neutalität«
Agius (2006) legt nahe, dass Neutralität als Konzept zu eng definiert worden sei, entweder als eine Verirrung (ein zartsinniger und unmoralischer Überlebensmechanismus) in einer kriegerischen, realistischen Welt oder als eine nicht notwendige Position im regelorientierten, liberalen Idealismus. Sie meint stattdessen, dass es sich oft um eine strategische Position handelt, die sich zwischen beiden Polen bewegt. Ein neutrales Land kann beträchtliche Anstrengungen unternehmen, eine umfassende und zwingende Autorität gegenüber Konfliktparteien zu errichten. Daher ist der liberale Idealismus seine realistische Strategie.
Neutralität bleibt dabei aber auch bestehen, beziehungsweise verändert sich, von Land zu Land, nicht nur im Verhältnis zur sich verändernden Natur globaler Konflikte, sondern auch abhängig davon, „was die Identität und die Handlungen des Nationalstaats ausmacht“ (Agius 2006, S. 5). Diese Feststellung hat wichtige Folgen. Erstens kann Neutralität nicht je nach außenpolitischen Entwicklungen ein- und ausgeschaltet werden. Zweitens stellen verschiedene, miteinander verwobene, interne und externe Elemente Neutralität über Raum hinweg her. Diese Neutralität hat eine performative Qualität, die Menschen und Orte als »neutral« bzw. »nicht neutral« definiert. Und schließlich kann ein neutrales Gemeinwesen jede Größe und jeden Maßstab annehmen, insbesondere im aktuellen politischen Klima (vgl. Agius 2011).
Wie das »neutrale« Den Haag konstruiert wird
Zur Zeit der Friedenskonferenz 1899 koexistierten und interagierten zwei Versionen der Neutralität, um dieses einzigartige und im Entstehen begriffene neutrale Gemeinwesen auf der organisatorischen Ebene zu etablieren: Die Internationale Stadt des Friedens und der Gerechtigkeit Den Haag. Die eine Art der Neutralität, die sich in der niederländischen Außenpolitik ausdrückte, war eine realistische Abweichung, die die Machtlosigkeit und das Desinteresse des Landes betonte. Den Haag mit seiner ganz eigenen Wissensgemeinschaft von externen, visionären Jurist*innen und ihren kosmopolitischen Anhänger*innen vertrat dagegen eine dynamischere, moralische und selbstlose Neutralität. Es bestand der Wille, »gute Dienste« zu leisten: ein diplomatischer Standort mit Expertise in der Mediation. Indem es einerseits seine als notwendig markierte, regelbasierte Autorität pflegte und gleichzeitig unnahbar und unbedeutend erschien, erwuchs Den Haag als eine Organisation, die als Produkt und Schöpfer von »irgendwo anders sein« gedieh; durch die Kombination von beinahe heiligengleichen Rechtsgelehrten, symbolischer Architektur, und niederländischer Außenpolitik. Paradoxerweise führte diese einzigartige Form der (un)organisierten Neutralität des HICPJs zum weiteren Bedeutungsverlust der Niederlande und stärkte aber gleichzeitig sowohl ihre Handlungsfähigkeit als auch ihre Macht.
Konferenzen verweben Menschen, Orte, ganz spezifisches Erkenntniswissen und politische Vorgaben nachhaltig miteinander. Orte und Kulturen formen Konferenzergebnisse, während Konferenzergebnisse die gebaute Umwelt, Werte und Verhaltensweisen prägen (vgl. Craggs und Mahony 2014). Die Haager Friedenskonferenz von 1899 und ihre Nachfolgekonferenzen brachten den Internationalen Gerichtshof, den Ständigen Schiedshof und, als konkretere Verkörperung, den Friedenspalast eines Philanthropen hervor. Die willkürlich und ungeplant wirkende Pflege, die Funktion und die Belegung dieses Gebäudes und der umliegenden Nachbarschaften spiegeln dabei bis heute die wechselhafte Rolle Den Haags in der globalen Ordnung wider. Auch wenn diese Organisierung einer übergreifenden Autorität zwei Weltkriege und einen Kalten Krieg nicht verhindern konnte und der Friedenspalast für eine lange Zeit lediglich als Bibliothek überlebte (vgl. van der Wusten 2006), gipfelte diese Entwicklung ein Jahrhundert später in der Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs mit seinem ganz eigenen architektonischen Wahrzeichen. Heutzutage betreibt die HICPJ den Justizzweig des gegenwärtigen, weltumspannenden Systems des liberalen Friedens (vgl. Richmond 2011), in dem internationale Organisationen hinterherhinkende Staaten beim Aufholen unterstützen wollen, indem sie Friedenssicherung (»peacekeeping«) betreiben, demokratische Normen und Gesetze installieren und eine globale freie Marktwirtschaft aufrechterhalten. Die HICPJ lässt die Niederlande weiterhin als unbedeutend und neutral erscheinen (aber verwoben mit ihrer eigenen dynamischeren, strategischen Art der Neutralität), im Gegensatz zu anderen enthusiastischen Mitgliedern der NATO oder Befürworter*innen von Peacekeeping-Missionen, denen es nichts ausmachen würde, wenn die internationalen Justizorgane versagen würden.
Doch neben den endogenen Faktoren erhalten auch „ihre Identität und ihre Handlungen“ die einzigartige Form der Neutralität eines Systems aufrecht und werden in das Selbst und die Subjektivität von Menschen eingebettet (vgl. Agius 2006, S. 5). Diejenigen, die in der »World Forum Area« und der internationalen Zone von Den Haag, dem physischen Gegenstück zur HICPJ, leben und arbeiten, tragen zusammen mit ihren Nachbar*innen in anderen Teilen Den Haags und der Welt zu seiner Darstellung und Verkörperung als einem von Außenseitern bevölkerten »Irgendwo anders« bei, das wider Erwarten eine über allem stehende Autorität bewahrt. Wie Grotius und Asser erlangen zahlreiche Jurist*innen, die sich auf ihr Handwerk verstehen, diesen Außenseiterstatus durch ihre explizite Loslösung vom nationalen und politischen Hintergrund. Viele von ihnen, die wie mit dem Fallschirm eingeflogen kamen, um das internationale Strafrecht zu entwickeln und in die Praxis umzusetzen, zeigen sich überrascht, dass sie sich gegen die Ambivalenz der mächtigen Nationalstaaten durchsetzen. Auch sie sind von der Stadt und dem Land abgeschnitten, indem sie als »Internationale« (»expats«) gelten, die vom „städtischen Gefüge abgetrennt“ in einer „Blase“ leben.
Eine Anwältin, die ich 2017 interviewte, war nach ihrer Ankunft schockiert, als sie feststellte, dass Den Haag überhaupt eine Stadt ist, da sie sich den Friedenspalast zuvor in einem ummauerten Gebiet mitten im Nirgendwo vorgestellt hatte. Doch diese »expats« müssen sich eine Stadt teilen und viele kommentierten, dass das Fortbewegen mit dem Fahrrad zum »herumschnüffeln« einlade, als ob sie unbekannte Regeln brechen würden. Diese zwischenmenschlichen Begegnungen in der Nachbarschaft spiegeln die Durchsetzung der Prinzipien der HICPJ innerhalb ihrer Friedens- und Gerechtigkeitsinstitutionen wider. Sie praktizieren passive Aggression im Gegensatz zu physischer Gewalt (wie der Anwendung von militärischer Gewalt in Konfliktregionen) und sind greifbare Beispiele für die in ihnen eingebetteten Kulturen der Neutralität Den Haags, der Niederlande und des Rechts an sich.
Wenn Den Haag eine mächtige geopolitische Darbietung der Neutralität ist, dann benötigt diese in gewissem Maße immer auch eine »Marketingstrategie«, die es vor Kritik an den Ergebnissen von Prozessen und deren Durchführung abschirmt. Die »Andersartigkeit« von Den Haag ist grundlegend für die Darbietung der internationalen Gemeinschaft, dass diese Gerechtigkeit gerecht sei, da neutrale Menschen und Orte als Bekräftigung der Gerechtigkeit zu agieren scheinen und nicht umgekehrt. Neutralität als ein kulturspezifischer Wert oder ein Artefakt, das durch pazifizierende juristische Schiedsgerichtsbarkeit oder Strafprozesse erzeugt wird, ist in dieser Funktion ernsthaft problematisch. Doch täuscht sie jemanden? Ob diese einen »Leuchtturm der Hoffnung« darstellt, hängt davon ab, wo man positioniert ist in einer Welt, die nach dem je spezifischen Erfolg in Demokratie und Kapitalismus stratifiziert ist.
Ein positiver Moment in all dem ist, dass die HICPJ ein kontinuierlicher Organisierungsprozess ist, mit Prinzipien und Praktiken, die aus dem Nichts heraus entstanden sind. Das bedeutet auch, dass alternative emanzipatorische, post-liberale Gerechtigkeitsprojekte überall entwickelt werden können und dass auch diese über Zeit, Raum und Skalen hinweg ihre ganz eigene Macht und Schwung gewinnen können (vgl. Richmond 2011).
Literatur
Agius, C. (2006): The social construction of swedish identity. Manchester: Manchester University Press.
Agius, C. (2011): Transformed beyond recognition? The politics of post-neutrality. Cooperation and Conflict, 46(3), S. 370-395.
Craggs, R.; Mahony, M. (2014): The geographies of the conference: Knowledge, performance and protest. Geography Compass 8(6), S. 414-430.
Eyffinger, A. (2003): The Hague International Centre of Justice and Peace. The Hague: Jongbloed Law Booksellers.
Eyffinger, A. (2005): Living up to a tradition. In van Krieken, P.J.; Mackay, D. (Hrsg.): The Hague Legal Capital of the World. The Hague: TMC Asser Press, S. 29-45.
Richmond, O.P. (2011): Critical agency, resistance and a post-colonial civil society. Cooperation and Conflict, 46(4), S. 419-440.
The Embassy of The Kingdom of The Netherlands to the United Kingdom (2010): The Hague. Webpage.
Traynor, C. (2017): Mapping neutralities: Critical geographies of The Hague. Dissertation.
van der Wusten, H. (2006): Legal capital of the world: Political centre-formation in The Hague. Tijdschrift voor Economische en Social Geografie, 97(3), S. 253-266.
van Ittersum, M. (2010): The wise man is never merely a private citizen: the Roman Stoa in Hugo Grotius De Jure Praedae (1604-1608). History of European Ideas, 36, S. 1-18.
van Krieken, P.J.; Mackay, D. (2005): Introduction. In: dies. (Hrsg.): The Hague Legal Capital of the World. The Hague: TMC Asser Press, S. 2-28.
Cathie Traynor arbeitet am Institut für Soziologie und Sozialpolitik der Universität Nottingham und forscht zur Mehrebenenregulation von Gefängnissen für sicherere Gesellschaften. Das steht im Einklang mit ihrem Wunsch nach post-liberalen Gerechtigkeit(en).
Aus dem Englischen übersetzt von Franziska Benz und David Scheuing