W&F 1996/4

Wehrpflicht am Wendepunkt?

von Andreas Körner

Die bundesrepublikanische Wehrpflicht ist auch sieben Jahre nach der »Wende« für viele Zeitgenossen eine »heilige Kuh«. Auch wenn unsere Nachbarn reihenweise die Wehrpflicht auf dem Altar des sicherheitspolitischen Zeitgeistes opfern: Die große Allianz der politischen und militärischen Meinungsführer in unseren Lande will an der Wehrpflicht festhalten. Außenstehende mögen vermuten, daß dieser teutonische Wehrpflichtwahn, dieses kramphafte Festklammern an der militärischen Ertüchtigung und Indoktrination ganzer Generationen der deutschen Tradition entspringt. Schließlich haben die Deutschen seit der Einführung der Wehrpflicht in Preußen (1814) noch nie freiwillig auf die Wehrpflicht verzichtet. Selbst die dahinsiechende DDR hielt bis zum bitteren Ende an der Wehrpflicht fest. Doch während die Akteure auf der politischen Bühne die Wehrpflicht lautstark verteidigen, hat der Einstieg in den Ausstieg bei der Bundeswehr längst begonnen.

Nach mehr als 200 Jahren neigt sich das Zeitalter europäischer Massenarmeen seinem Ende entgegen. Spätestens seit dem Ende des Ost-West-Konflikts, der Auflösung der Warschauer Vertragsorganisation und dem Zerfall der Sowjetunion steht die Abschaffung der Wehrpflicht auf der europäischen Tagesordnung. War es angesichts der waffentechnologischen und industriellen Entwicklung bereits zu Zeiten des Kalten Krieges äußerst unwahrscheinlich, daß es je zum Einsatz von Massenarmeen in Europa kommen würde, so ist dieses Szenario in den vergangenen Jahren noch unwahrscheinlicher geworden. Inzwischen gehen alle Bedrohungsanalysen davon aus, daß dem Gebiet der NATO-Staaten, und damit auch der Bundesrepublik Deutschland, auf absehbare Zeit keine raumgreifende Eroberung droht. „Deutschlands territoriale Integrität und die seiner Verbündeten ist militärisch auf absehbare Zeit nicht existenziell bedroht.“, so das Weißbuch 1994 (Ziffer 202). Die Rahmenbedingungen für die Landes- und Bündnisverteidigung haben sich damit seit 1990 europaweit radikal verändert.

Ende der Wehrpflicht in Europa?

Im Herbst 1991, kurz nach dem 2. Golfkrieg und am Anfang des jugoslawischen Sezessionskrieges, verabschiedete die NATO ihr neues strategisches Konzept, das der Aus- und Umrüstung für den weltweiten Einsatz von Krisenreaktionskräften höchste Priorität einräumen sollte. Die Staaten an der westeuropäischen Peripherie haben zuerst die Konsequenzen gezogen.1 Die belgische Regierung beschloß im Juli 1992 die Wehrpflicht zum 1. Januar 1994 abzuschaffen. Während die Belgier mit ihrer (kurzfristigen) Umstellung von Wehrpflicht auf Freiwilligenarmee zum Teil erhebliche Rekrutierungsschwierigkeiten haben, läuft der Transformationsprozeß in den Niederlanden vergleichsweise reibungslos. In den Jahren 1991 und 1992 wurde in Kommissionen und Gutachten der Ausstieg aus der Wehrpflicht beraten. Das Parlament beschloß im Januar 1993 eine fünfjährige Übergangsphase zur „schlafenden Wehrpflicht“. Durch entsprechende Werbekampagnen und Attraktivitätsprogramme gelang es der Armee bereits 1995, ca. 92 Prozent der angestrebten freiwilligen Verpflichtungen (in der Regel für zweieinhalb Jahre) zu erzielen. Zur Überraschung aller verkündete Verteidigungsminister Meijling Ende Januar 1996, daß künftig keine Wehrpflichtigen mehr einberufen würden und die Einberufenen zum 1. September entlassen würden.

Ebenfalls Ende Januar gab der französische Staatspräsident bekannt, daß die französischen Streitkräfte im Rahmen einer umfassenden Militärreform in eine effektive Interventionsarmee nach britischem Muster verwandelt würden. Nach dem »Militärprogramm 1997 bis 2002« sollen die Streitkräfte von 500.000 auf 350.000 Soldaten reduziert und 50.000 bis 60.000 in den Krisenreaktionskräften zur schnellen weltweiten »power projection« befähigt werden. Ab 1997 soll kein nach 1978 geborener Franzose zwangsweise in die Kasernen einrücken müssen. Durch die Ankündigung von Spanien und Portugal, in den kommenden Jahren auf die Wehrpflicht zu verzichten, wird sich der Kreis der Freiwilligen- und Berufsarmeen in der NATO auf zehn Staaten erweitern. Auch in Nicht-NATO-Staaten wie Polen, Österreich und Rußland wird über den Ausstieg aus der Wehrpflicht ernsthaft nachgedacht.

Die Maurerloge der Wehrpflichtbefürworter

In den vergangenen fünf Jahren fand auch in der Bundesrepublik ein intensiver Streit und Meinungsbildungsprozeß über Wehrpflicht, allgemeine Dienstpflicht, Berufs- oder Freiwilligenarmee statt.2 Dabei wurden vor allem sicherheitspolitische, streitkräftespezifische, ökonomische und gesellschaftspolitische Argumente angeführt.3 Abgesehen davon, daß in den vergangenen Monaten die Wehrpflicht-Armee überdurchschnittlich oft zur »intelligenteren Armee« erhoben wird, haben sich die Gründe für ein Für und Wider in den vergangenen Jahren kaum verändert. Im Gegensatz zu anderen Staaten, die Expertenkommissionen mit der Erarbeitung von Expertisen zur künftigen optimalen Wehrstruktur beauftragt hatten, hat es die Bundesregierung ausschließlich der Gesellschaft überlassen, diesen Streit auszutragen. Eine von der SPD geforderte Wehrstrukturkommission, die (wie in den siebziger Jahren) unter Einbeziehung politischer, militärischer und gesellschaftlicher Gruppen eine ausführliche Bestandsaufnahme und Expertise erarbeitet, wurde von der Bundesregierung nicht gewünscht. Das Ergebnis hätte schon vor Einsetzung der Kommission festgestanden: Die Wehrpflicht ist unhaltbar. Bereits die alte Wehrstrukturkommission kam 1972 zu dem Ergebnis, daß „im Falle einer wesentlichen Veränderung der sicherheitspolitischen Lage, … die Frage der Umwandlung der Bundeswehr in Freiwilligen-Streitkräfte“ geprüft werden sollte. Dieses Urteil wurde im übrigen von der Jacobsen Kommission 1991 vor dem Hintergrund einer weiteren Reduzierung der 370.000 Mann Armee bekräftigt.4 Trotzdem rekrutiert die 340.000 Mann-Truppe nach wie vor alljährlich 130.000 bis 160.000 Soldaten per staatlichem Zwangsdienst.

Statt die Wehrpflicht abzuschaffen, wurden lediglich kleinere Korrekturen zur Stabilisierung des Gesamtsystems (z. B. Senkung des Einberufungshöchstalters und der Wehrdienstdauer) vorgenommen. Schubladenentwürfe für eine hochpräsente Kampftruppe, ergänzt um eine 6 – 8 Monate ausgebildete Miliztruppe, wurden auf Anweisung des Generalinspekteurs ab Anfang 1993 nicht weiter verfolgt (Welt am Sonntag, 28.01.1996). Obwohl es in allen Parteien, vor allem in den Jugendorganisationen, ausgesprochene Gegnerinnen und Gegner der Wehrpflicht gab und gibt, konnten sich diese bei den Altparteien parteiintern bis heute nie durchsetzen. Sowohl FDP als auch SPD demonstrierten, daß ihre Loyalität nicht den Betroffenen der Wehrpflicht, sondern einer legitimatorisch angeschlagenen Bundeswehr gilt. Überraschenderweise sind in Umfragen ausgerechnet die Anhänger der »Liberalen« die eifrigsten Befürworter des Zwangsdienstes. Aus friedenspolitischer Sicht besonders verhängnisvoll ist das Agieren der Sozialdemokratie.5 Deren Verteidigungspolitiker setzten in den vergangenen Monaten alles daran, um die Regierungsfraktionen im Bereich der Sicherheitspolitik rechts zu überholen. Die Folge war, daß sich die Wehrpflicht-Befürworter in der Vergangenheit in ihren Trutzburgen vergleichsweise sicher fühlen konnten. Ohne Aussicht auf Veränderung endete die Debatte im argumentativen »Stellungskrieg«.

Proteste gegen die Verkürzung des Wehrdienstes auf zehn Monate, Berichte über anhaltend hohe KDV-Zahlen, aber vor allem die Ankündigung des Wehrpflicht-Endes in Frankreich brachten die bundesdeutschen Wehrpflicht-Befürworter Anfang des Jahres erstmals ernsthaft ins Schwitzen. Der CSU-Verteidigungspolitiker Benno Zierer sprach von einer »Schockwirkung« und prognostizierte in der »Welt am Sonntag« (28.01.1996), daß nun auch in der Bundesrepublik der Abschied von der Wehrpflichtarmee nicht mehr aufzuhalten sei. Das Auslaufmodell Wehrpflicht, so Zierer, würde das Jahr 2000 nicht erreichen. Zierer, der behauptete, daß ca. 10 bis 20 Prozent der CSU-Landesgruppe der gleichen Meinung seien wie er, wurde kurz darauf von seinen Unionskollegen ebenso ein Maulkorb verpaßt wie Jürgen Augustinowitz, dem jungen CDU-Rechtsaußen. (SZ 02.02.96) Mit der Forderung nach einer innerparteilichen Mitgliederbefragung regten sich mit Möllemann, Kubicki, Koppelin u. a. auch in der FDP die Befürworter einer Berufsarmee.

Derartige Kassandra-Rufe aus den Reihen der Regierungskoalition bestätigten über weite Strecken die Auffassung von Bündnis 90/Die Grünen, daß die Wehrpflicht auch in der Bundesrepublik nicht länger zu legitimieren sei. Ein entsprechender Antrag der Bundestagsfraktion, der im Januar 1996 im Bundestag eingebracht wurde, hatte die Abschaffung der Wehrpflicht im Rahmen einer weitergehenden Bundeswehrreform zum Ziel.6 Die Strategie der Hardthöhe, der Regierungskoalition, aber auch der SPD bestand allerdings von vorn herein darin, keine Zweifel an der Wehrpflicht und der vermeintlichen Hauptaufgabe Landesverteidigung aufkommen zu lassen. Dies galt für den innerparteilichen Diskurs und die Auseinandersetzungen im Verteidigungsausschuß. Hinter den Kulissen wurde eiligst das vom CDU-Abgeordneten Breuer geforderte »Bündnis für die Wehrpflicht« gezimmert.

Hervorgehoben wurde, daß die Bundesrepublik im Gegensatz zu Frankreich auf Grund ihrer geostrategischen Lage immer noch die „ostwärtige Grenze der NATO und der Europäischen Union“ (Generalinspekteur Naumann am 05.02.96 im Deutschlandfunk) bilde. Frankreich und alle übrigen Staaten, die auf die Wehrpflicht verzichteten, könnten dies nur, weil die Bundesrepublik den notwendigen Schutzschild biete. „Wer denn sonst, wenn nicht wir 80 Millionen Deutschen“, so der verteidigungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Paul Breuer, „soll den Kern der europäischen Verteidigung bilden?“ Im Gegensatz zu Frankreich, so Rühe scheinheilig, sei die Aufgabe der Bundeswehr nach wie vor auf die Landes-und Bündnisverteidigung ausgerichtet. Der Aufbau einer 50.000 Mann starken Interventionsarmee zur militärischen Absicherung nationaler Interessen sei bei der Bundeswehr nicht geplant. Der CDU Bundesfachausschuß und die CSU-Landesgruppe im Bundestag beeilten sich in Positionspapieren, ihre Bekenntnisse zur Beibehaltung der Wehrpflicht abzulegen.7 Die SPD präsentierte im Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages einen Antrag zur Stärkung der Wehrpflicht, der so naiv und peinlich war, daß sie anschließend darauf verzichtete, ihn im Bundestag einzubringen. Der SPD-Verteidigungsexperte Manfred Opel wagte es als einziger seiner Partei, offensiv die Abschaffung der Wehrpflicht zu fordern.8 Ansonsten übte sich die SPD in ihrem Eier- und Schmusekurs mit der Regierung.

Wehrpflicht am Wendepunkt?

Es ist Zeit, daß die verantwortlichen Akteure in der Wehrpflicht-Frage endlich Farbe bekennen. Viele Wehrpflichtbefürworter akzeptieren unhinterfragt die Notwendigkeit der Landes- und auch der Bündnisverteidigung. Vielen reicht der Werbeslogan »Wir sind da«. Eine Debatte darüber, wie diese Landesverteidigung auszusehen hat, wird nicht geführt. Kritische Fragen werden abgewiesen.9 Es dürfte der Bundesregierung äußerst schwerfallen zu erklären, warum sie unter Hinweis auf die deutlich reduzierte Bedrohungslage die Strukturen im Bereich der Zivilverteidigung (also den Schutz der Zivilbevölkerung) mittel- und langfristig auf eine symbolische Restgröße zurückfährt, aber gleichzeitig hunderttausende junger Wehrpflichtiger zur kurzfristigen Verteidigung des Staatsgebietes ausbildet.

Bei der Wehrpflicht-Frage geht es m. E. nicht um die postulierte sicherheitspolitische Notwendigkeit einer nicht näher spezifizierten Landesverteidigung. Dreh- und Angelpunkt ist die militärische »Normalisierung«, die geographische und inhaltliche Ausweitung des Auftrages der Bundeswehr und vor allem die Mobilisierung gesellschaftlicher Zustimmung zum neuen Auftrag. Anders als andere Staaten hat die Bundesrepublik nicht nur ein hohes militärkritisches Bevölkerungspotential. Im Bereich der Außenpolitik hat sie über Jahrzehnte hinweg eine, wenn auch nicht ganz freiwillige, zivile Tradition entwickelt. Soldaten, Bevölkerung, Bündnispartner und Nachbarstaaten müssen im Rahmen eines innenpolitisch zum Teil heftig ausgetragenen »Kulturkampfes« schrittweise an den neuen Auftrag und die neue weltweite Rolle der Bundeswehr, vor allem bei Kampfeinsätzen, gewöhnt werden.

Im Normalisierungsprozeß hat die Landesverteidigung (ebenso wie die öffentlichkeitswirksamen humanitären Hilfseinsätze) nur eine geringe militärische, dafür aber eine zentrale politische und legitimatorische Funktion: So heißt es in einem Forschungsbericht für das BMVg: „Anders als bei konzeptionellen und strukturellen Überlegungen müssen jedoch bei der innerstaatlichen Legitimation deutscher Streitkräfte die Aufgaben der Landesverteidigung weiterhin im Vordergrund stehen. Insbesondere in Anbetracht historischer Erfahrungen wird es in Deutschland kaum möglich sein, Art und Umfang der Streitkräfte vorrangig auf der Basis externer Aufgabenstellungen zu begründen.“ 10 Mit anderen Worten: obwohl das bislang einzige sicherheitspolitische Argument in der Wehrpflicht-Debatte derzeit weder konzeptionell noch strukturell bei den Planungen der Bundeswehr im Vordergrund steht, muß in der Öffentlichkeit so getan werden, als wären die zweitrangigen Hauptverteidigungskräfte und die drittrangigen Reservisten das Kernstück der Bundeswehr.

Ohne den Primat der Landesverteidigung bleiben lediglich die Hinweise auf die Rekrutierungsschwierigkeiten sowie die gesellschaftliche Integration des Miltärs. Der Bundespräsident hat am 15.11.1995 in seiner Rede vor den Kommandeuren der Bundeswehr treffend festgestellt: „Die vielfältigen Vorteile für Staat und Streitkräfte reichen aber m. E. nicht als Begründung aus, ebensowenig wie wolkige Rufe nach mehr Pflichtgefühl der jungen Leute. Die Wehrpflicht ist ein so tiefer Eingriff in die individuelle Freiheit des jungen Bürgers, daß ihn der demokratische Rechtsstaat nur fordern darf, wenn es die äußere Sicherheit des Staates wirklich gebietet. Sie ist also kein allgemeingültiges ewiges Prinzip, sondern sie ist auch abhängig von der konkreten Sicherheitslage. Ihre Beibehaltung, Aussetzung oder Abschaffung … müsssen sicherheitspolitisch begründet werden können. Gesellschaftspolitische, historische, finanzielle und streitkräfteinterne Argumente können dann ruhig noch als Zusätze verwendet werden.“

Allerdings gibt es in der sicherheitspolitischen Debatte auch Beiträge, die darauf hindeuten, daß man sich von der ausschließlichen sicherheitspolitischen Ankopplung der Wehrpflicht an die Aufgabe der Landesverteidigung lösen möchte. Während die SPD und vermutlich die Mehrheit der Bevölkerung davon ausgehen, daß Wehrpflichtige gegen ihren Willen nur für die Landes- und Bündnisverteidigung eingesetzt werden dürfen, sind einige Interventionisten der Auffassung, daß es zwischen Wehrpflichtigen und Berufs- und Zeitsoldaten bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr keine Ausnahmen geben darf. „Wenn Deutschland die Wehrpflicht erhalten will,“ so Michael Inacker in der Welt am Sonntag (28.01.1996), „muß die politische Elite des Landes sich zu ein paar unbequemen Wahrheiten bekennen. Zu lange wurde nach Ende des Kalten Krieges – weil es populärer war – die Bundeswehr im humanitär-technischen Einsatz dargestellt. Aber nicht Bosnien, sondern das 'Gefecht der verbundenen Waffen' bleibt militärischer Maßstab. Intellektuell fällt es offenbar schwer, präsente und mannschaftsstarke Streitkräfte zum Erhalt des wackligen europäischen Gleichgewichts und als staatliche Selbstverständlichkeit der Zentralmacht Europas (sic!) zu begründen.“

Bislang werden Grundwehrdienstleistende nur auf Grund freiwilliger Meldungen zu Auslandseinsätzen herangezogen. Eine rechtliche Garantie dafür erhalten sie jedoch nicht. Dabei beruft sich die Bundesregierung auf § 7 des Soldatengesetzes (Treuepflicht) und die Verfassungskonformität von Auslandseinsätzen. „Der Inhalt der Dienstpflicht ergibt sich demnach“, so die Parlamentarische Staatssekretärin des BMVg, „ aus dem Auftrag der Streitkräfte“.11 Der Soldateneid („das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen“) müsse für die Auslandseinsätze nicht geändert werden. Ohne eine Änderung der Rechtsgrundlage, die einen zwangsweisen Einsatz der Wehrpflichtigen eindeutig verbietet, besteht die Gefahr, daß künftig generell jegliche Rekrutierungsprobleme der Bundeswehr über eine universelle Wehrpflicht gelöst werden sollen.

Trotz dieser eher skeptischen Entwicklungen gibt es aber Anzeichen dafür, daß die Bundesregierung eine Doppelstrategie fährt. Mit der Einführung eines deutlich besser bezahlten freiwilligen Wehrdienstes, der mindestens 13 und höchstens 23 Monate dauern soll, hat sich die Bundeswehr eine Dienstform unterhalb des Soldaten auf Zeit geschaffen. Damit wurde ein wichtiger Schritt zum Einstieg in den Ausstieg vollzogen. Gleichzeitig hat die Bundeswehr ihre Werbekampagnen für den neuen Auftrag und die Gewinnung von Nachwuchskräften deutlich ausgeweitet. Darüberhinaus beschloß das BMVG im März 1996 die »Leitlinie zur Verbesserung der Rahmenbedingungen und Steigerung der Attraktivität des Wehrdienstes«, in der zahlreiche diesbezügliche Maßnahmen aufgeführt sind. Dabei geht es um mehr als das »freundliche Kreiswehrersatzamt«. Die Bundeswehr will damit nicht nur dem vermeintlich attraktiveren Zivildienst Konkurrenz bieten. Ziel ist es auch, das Ansehen und die Akzeptanz der Bundeswehr als künftigem Arbeitsplatz insgesamt zu steigern. Perspektivisch soll es der Bundeswehr künftig gelingen, nicht nur quantitativ sondern auch qualitativ ausreichende Freiwillige zur Deckung des Personalbedarfes einer Freiwilligenarmee zu finden.

Die bisherigen Ergebnisse über die Gewinnung freiwilligen Nachwuchses haben nach Angaben der Bundeswehr die Erwartungen deutlich übertroffen. Sollte es der Bundeswehr gelingen, die Rekrutierungsfrage zu ihrer annähernden Zufriedenheit zu lösen, wäre eine weitere Reduzierung der Bundeswehr und die Abschaffung der Wehrpflicht, schon vor dem Hintergrund haushaltspolitischer Engpässe, eine so gut wie beschlossene Sache. Denn um in den nächsten Jahren auch weiterhin an der Wehrpflicht festhalten zu können, hat das Verteidigungsministerium zahlreiche Rüstungsvorhaben entweder aufgegeben, reduziert oder zeitlich um mehrere Jahre gestreckt. Der haushaltspolitische Spielraum ist inzwischen so eng geworden, daß sich die Bundesregierung die gegenwärtige Luxusarmee (trotz der billigen Wehrdienstleistenden) nicht länger leisten kann. Und auch bundeswehrintern haben sich die meisten schon auf das Ende der Wehrpflicht eingestellt.

Viele Beobachter gehen davon aus, daß spätestens nach der nächsten Bundestagswahl das Ende der Wehrpflicht in Deutschland »bekanntgegeben« wird. Da damit noch nicht die Abschaffung der Bundeswehr einhergeht, wird die Arbeit für Pazifisten, aber auch für Antimilitaristen künftig nicht leichter. Im Gegenteil. Beide müssen sich verstärkt daran machen, ihre Alternativen zu formulieren.

Soldaten insgesamt Anteil WDL Wehrdienstdauer Bemerkungen
Türkei 630.000 420.000 15 - 18 Mon. zusätzl. 150.000 Mann starke paramilitärische Truppe
Deutschland 340.000 135.000 10 Mon.
Italien 321.000 176.000 10 - 12 Mon. zusätzl. 115.000 paramilitärische Truppe
Griechenland 178.000 115.000 15 - 21 Mon.
Norwegen 34.000 9.000 9 - 12 Mon.
Dänemark 25.000 8.300 4 - 11 Mon.
Frankreich 410.000 200.000 10 Mon. zusätzl. ca. 92.000 Gendarmerie und 75.000 Zivilisten; Reduzierung auf 350.000 Zeit- und Berufssoldaten nach 2002
Spanien 204.000 130.000 9 Mon. zusätzl. ca. 72.000 Paramilitärs; Abschaffung der Wehrpflicht bis 2001 geplant.
Portugal 53.000 13.000 4 - 6 Mon. Abschaffung der Wehrpflicht
USA 1.500.000 Berufsarmee seit 1973 + +
Großbritannien 226.000 Berufsarmee seit 1960; Reduzierung auf ca. 205.000 bis zum Jahr 2000 + +
Kanada 71.000 Berufsarmee + +
Niederlande 70.000 Wehrpflicht ruht seit Jan. 1996 + +
Belgien 45.000 Wehrpflicht wurde im März 1995 abgeschafft + +
Luxemburg 700 Wehrpflicht 1967 abgeschafft + +
Island ohne Armee + +

Anmerkungen

1)) NATOs Sixteen Nations, 1/93, S. 10 – 13; Europäische Sicherheit 6/96, S. 33f.; Paul Klein: Erste Schritte. Holland und Belgien im Übergang zur Freiwilligenarmee, in: Information für die Truppe, Heft 3/96, S. 30 – 35. Zurück

2)) M. E. wird die Debatte über Wehrpflicht/Dienstpflicht vor allem in der Zeitschrift 4/3 (Vertrieb DFG/VK Velbert, Tel. 02051/42 17) in jeder Hinsicht hervorragend dokumentiert. Aus der Vielzahl der aktuellen Literatur sei vor allem auf folgende Beiträge verwiesen: Ulrich Finckh: Die Wehrpflicht ist nicht mehr zu halten, in: Vorgänge, Heft 2 (Juni) 1996, S. 30 – 42; Presse- und Informationsamt der Bundesregierung: Wehrpflicht oder Berufsarmee, Zusammenstellungen von Pressematerial, März 1996 und Oktober 1993 (Bezug: 0228/208-3255), Eckardt Opitz/ Frank S. Rödiger (Hrsg.), Allgemeine Wehrpflicht. Geschichte – Probleme – Perspektiven, Bremen 1994. Zurück

3) Als Argumentationshilfe für die verunsicherte Truppe hat der Generalinspekteur Bagger bzw. der Führungsstab der Streitkräfte im Juli den Generalinspekteur-Brief 1/96 ausschließlich der Allgemeinen Wehrpflicht gewidmet. Dort findet man die gängigen Argumente komprimiert wieder. Abgedruckt ist der Generalinspekteur-Brief in der Beilage »Reader Sicherheitspolitik« der Zeitschrift »Information für die Truppe«, Heft 10/96. Siehe auch den Beitrag des Vorsitzenden des Verteiditungsausschusses, Klaus Rose, in der FAZ v. 30.07.96 sowie die Empfehlungen des Beirates Innere Führung »Wehrpflicht positiv gestalten« in Informationen für die Truppe, 10. u. 11/96, S. 40 – 50. Zurück

4) Wehrstruktur-Kommission der Bundesregierung (Hrsg.), 1972/73: Die Wehrstruktur in der Bundesrepublik Deutschland. Analyse und Optionen, o. O., S. 29; Bundeswehr und europäische Sicherheitsordnung. Abschlußbericht der Unabhängigen Kommission für die künftigen Aufgaben der Bundeswehr, hrsg. von Hans-Adolf Jacobsen/Hans-Jürgen Rautenberg, Bonn/Berlin 1991, S. 51. Zurück

5) Die SPD-Bundestagsfraktion hat Ende April 1994 den 12-seitigen Bericht einer achtköpfigen Ad-hoc Gruppe »Wehrpflicht/ Wehrgerechtigkeit und Streitkräftereduzierung« vorgelegt. Heldenhaft hat sich die Kommission darum gedrückt, ein Urteil zur Frage Wehrpflicht- oder Freiwilligenstreitkräfte abzugeben. Auch in den »Verteidigungspolitischen Leitlinien« der AG Sicherheitspolitik vom 08.12.1995 heißt es lediglich programmgemäß: „Die SPD will die Wehrpflicht solange wie möglich erhalten. Sie darf jedoch einer Verringerung unserer Streitkräfte nicht im Wege stehen.“ Zurück

6) Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag zur Abschaffung der Wehrpflicht (Drs. 13/3552); sowie Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag auf Fortsetzung der Bundeswehrreduzierung und Verzicht der Umstrukturierung der Bundeswehr für weltweite Kampfeinsätze (Drs. 13/2499) Bezug: Büro Nachtwei, Bü90/Gr, Tel. 0228/16 82 567; Zu den Reaktionen s. v. a. die Stellungnahmen des Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses, Klaus Rose, Plenarprotokoll 13/65 vom 27.10.96. Zurück

7) Dokumentiert in: 4/3, Heft 3/96, S. 115 – 117. Zurück

8) Manfred Opel, Wehrpflicht und Wehrstruktur, Kernelemente einer großen BundeswehrReform, Bonn, 14.08.1996, 7 S. Zurück

9) Entprechende Antworten auf eine Große Anfrage der Bundestagsfraktion Bündnis 90/ Die Grünen zur neuen Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland (Drs. 13/5181 v. 02.07.96) blieb die Bundesregierung über weite Strecken schuldig. Zurück

10) Wolfgang Heydrich, Sicherheitspolitische und militärische Augabenstellungen für die Bundesrepublik Deutschland, in: Wolfgang Heydrich u. a.: Die Bundeswehr am Beginn einer neuen Epoche, Baden-Baden 1996, S. 29. Zurück

11 ) Antwort auf die mündliche Frage des Abgeordneten Hans Büttner, Plenarprotokoll 13/43 v. 21.06.1995, S. 3464; siehe auch Hamburger Abendblatt v. 06.05.93, FAZ v. 18.4.1994, aus juristischer Sicht siehe u. a.: Hans Markus Heimann, Zur Verfassungsmäßigkeit des Einsatzes Wehrpflichtiger außerhalb der Landesverteidigung, in: Zeitschrift für Rechtspolitik, 1/96, S. 21-26. Zurück

Andreas Körner ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundesabgeordneten W. Nachtwei.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1996/4 Weltweit im Kommen: Die neue Bundeswehr, Seite