Weltordnungsdebatten
Theorien und Zeitdiagnosen
von Hans-Jürgen Bieling
Phasen der Krise oder des Umbruchs stimulieren das Verlangen nach zeitdiagnostischer Zuspitzung. Sie stiftet Sinn, gibt Orientierung und zugleich Anleitung zum politischen Handeln unter Bedingungen der Verunsicherung. Viele Zeitdiagnosen beziehen sich in erster Linie auf gesellschaftliche Veränderungen, haben mithin vor allem soziologischen Charakter. Nicht selten rücken aber auch die inter- und transnationalen Beziehungen, d.h. die erschütterten Verhältnisse im europäischen und globalen Raum, in den Blick. Hierauf bezogen untersuchen Sozialwissenschaftler die Ursachen und Verlaufsformen des internationalen Wandels und unterbreiten spezifische Zeitdiagnosen. Diese adressieren die Entwicklungsperspektiven und das Machtpotenzial einzelner Akteure oder Akteursgruppen, aber auch insgesamt den Charakter regionaler oder globaler Ordnungsstrukturen, also der Weltordnung.
In der Vergangenheit kreisten die Diskussionen häufig um die Frage, ob und in welchem Maße sich die USA als westliche hegemoniale Ordnungsmacht im relativen Abstieg befänden. Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus und der Auflösung der bipolaren Weltordnung ging es darum, den erneuten Machtzuwachs des Westens, insbesondere der USA, – der amerikanische Wissenschaftler Charles Krauthammer (1989) sprach vom „unipolar moment“ – auf seine Tragfähigkeit abzuklopfen (Deppe 1991; Arrighi und Silver 1999). Die öffentlich-mediale Debatte neigte dabei nicht selten zu starken Vereinfachungen. So verkündete Francis Fukuyama (1989) das „Ende der Geschichte“, also den unwiderruflichen Siegeszug der globalen Marktwirtschaft und der liberalen Demokratie, um als Kontrastprogramm nur wenige Zeit später von Samuel Huntington (1993) den „Clash of Civilizations“ entgegengehalten zu bekommen.
Die politökonomische Weltordnungsdiskussion war dagegen differenzierter angelegt, nicht zuletzt deswegen, weil sie den Blick nicht allein auf den Wandel macht- und sicherheitspolitischer oder ideologisch-diskursiver Konstellationen lenkte. Vielmehr versuchte sie, diese Konstellationen innerhalb des Beziehungsgeflechts längerfristiger ökonomischer, sozialstruktureller, soziokultureller und politisch-soziologischer Prozesse zu verorten und als Dimensionen des ungleich globalisierten – durch alte und neue soziale, ökologische und friedenspolitische Widersprüche und Interessengegensätze charakterisierten – Kapitalismus zu begreifen.
Denkschulen und ihr Verständnis von Weltordnung
Die akademische Diskussion ist sehr stark durch die Konkurrenz zweier prominenter Denkschulen geprägt: des liberalen Internationalismus oder der idealistischen Schule auf der einen Seite und des Realismus auf der anderen. Beiden Denkschulen liegt jeweils eine eigentümliche Ontologie, d.h. ein Ensemble von Annahmen über die politische Beschaffenheit der Welt, zugrunde, die überzeitliche, aber auch historisch spezifische Komponenten enthält. Zum Zwecke der allgemeinen Orientierung lassen sich die Grundaussagen der genannten Denkschulen oder Paradigmen wie folgt zusammenfassen (vgl. Krell 2009, S. 140 ff.):
Die realistische Schule geht davon aus, dass die Weltordnung angesichts des Fehlens eines Weltstaates oder einer globalen politischen Autorität einem Hobbes’schen Universum gleicht, also durch ein grundsätzlich anarchisches internationales Staatensystem gekennzeichnet ist. Unter den Bedingungen der internationalen Anarchie sind die Nationalstaaten als die zentralen politischen Akteure vor allem darauf bedacht, ihre relative ökonomische und militärische Macht gegenüber konkurrierenden Staaten zu stärken, um zugleich ihre Unsicherheit und Verwundbarkeit zu minimieren. Wie sie diese Ziele angehen, ist maßgeblich durch ihre Position im Staatensystem bestimmt. Während mächtige Staaten aktiv bestrebt sind, internationale Allianzen zu formen (Balancing), um innerhalb der bestehenden Anarchie die Spielregeln der Weltordnung im eigenen Interesse zu gestalten, bleibt schwächeren Staaten zumeist nur die Option, sich den stärkeren Partnern anzuschließen (Bandwaggoning).
Im Unterschied zum Realismus richtet die idealistische Schule oder der liberale Internationalismus den Blick auf die gesellschaftlichen und internationalen Strukturen der Interdependenz und Kooperation. Das Handeln der staatlichen Akteure ist demzufolge nicht einfach durch die internationale Anarchie, sondern zugleich durch gesellschaftliche Kooperations- und Kommunikationsformen und die Prozesse der grenzüberschreitenden ökonomischen, politisch-institutionellen und rechtlichen Verflechtung bestimmt. Innerhalb der Weltordnung entfalten sich mithin vielfältige Interaktionen, die über die realistische Handlungslogik eines Nullsummenspiels hinaus drängen und ein Positivsummenspiel entstehen lassen. Dies gilt für die Wohlstandsmehrung durch den internationalen Handel, ebenso aber auch für die friedenssichernde Wirkung internationaler Verträge, Institutionen und anderer Formen der transnationalen Verständigung.
In Anlehnung, Fortentwicklung und Kritik dieser beiden Denkschulen haben sich weitere Paradigmen herausgebildet, die ihrerseits ebenfalls spezifische Verständnisse und Konzeptionen der Weltordnung nahe legen (zum Überblick Schieder und Spindler 2010). Hervorzuheben sind dabei vor allem institutionalistische Ansätze, die innerhalb der politikwissenschaftlichen Diskussion allgemein sehr einflussreich sind. So lenkt z.B. die Regime-Theorie die Aufmerksamkeit darauf, dass in unterschiedlichen internationalen Politikfeldern – Handel, Friedenssicherung, Menschenrechte oder Klimawandel – jeweils besondere institutionelle oder vertragliche Arrangements vereinbart wurden, die nach Maßgabe weithin anerkannter Prinzipien (Überzeugungen), Normen (Verhaltensstandards), Regeln (Handlungsvorschriften) und Verfahren (Mechanismen der Entscheidungsfindung) die internationale Kooperation von Staaten und nicht-staatlichen Akteuren unterstützen (Krasner 1983). Wie weit diese Kooperation reicht und durch welche Interessen und Überzeugungen sie bestimmt ist, ist in der akademischen Diskussion zwischen eher realistisch oder aber idealistisch orientierten Wissenschaftler*innen nach wie vor umstritten. Erstere betonen die staatliche Kontrolle und den instrumentellen Umgang mit Vereinbarungen. Letztere sehen in der Zunahme von Verträgen, Institutionen und Regimen, oft auch nur freiwilligen Selbstverpflichtungsvereinbarungen, einen allgemeinen Trend hin zu Formen des »Global Governance« (Zürn 2005), die jenseits der Kontrolle der Nationalstaaten eine neue Qualität der Institutionalisierung und Verrechtlichung anzeigen und der Herausbildung einer Weltinnenpolitik den Weg bahnen.
Kontexte weltordnungspolitischer Handlungsanleitungen
Den hier nur kursorisch gestreiften theoretischen Perspektiven liegen nicht nur jeweils besondere ontologische Annahmen und Problemdiagnosen zugrunde, sie formulieren – teils explizit, teils implizit – zugleich auch spezifische normative Vorstellungen darüber, wie die Weltordnung gestaltet werden sollte. Die Vertreter der realistischen Schule sind mit Blick auf die politischen Gestaltungsmöglichkeiten eher skeptisch, gehen sie doch vom grundsätzlichen Fortbestand der zwischenstaatlichen Rivalität unter allenfalls modifizierten Bedingungen der internationalen Anarchie aus. So können eigentlich nur hegemoniale Staaten oder Staatengruppen einige übergreifende Spielregeln und Verhaltensweisen definieren. Deren Geltung bleibt jedoch prekär und wird durch rivalisierende Herausforderer immer wieder in Frage gestellt. Für Realisten sind weltordnungspolitische Strategien durch geopolitische Erwägungen, also den Kampf um internationale Einflusssphären, geprägt (vgl. Brzezinski 1998; Kissinger 2016).
Es ist kein Zufall, dass diese Sichtweise in den außenpolitischen Beratungszirkeln der USA – etwa dem Council on Foreign Relations oder der Zeitschrift »Foreign Affairs« – relativ einflussreich ist. Auch die Forschung und Lehre an US-Universitäten und die Policy-Papers vieler Think-Tanks orientieren sich überwiegend am (neo-) realistischen Paradigma. Ähnliches lässt sich auch für die politischen Diskussionen vieler anderer Großmächte – etwa für Frankreich und Großbritannien in Europa oder für die sog. BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) – sagen, deren Geschichte oder mutmaßliche Zukunft sehr stark auf die Sicherung, Festigung und Ausweitung nationaler Souveränität fokussiert ist und die bestehenden oder angestrebten Formen der zwischenstaatlichen Kooperation in internationalen Organisationen oder Regimen dieser Zielsetzung unterordnen.
Wie bereits angedeutet, befindet sich der realistische weltordnungspolitische Diskurs infolge der nicht nur ökonomischen, sondern auch politisch-institutionellen, rechtlichen und kulturellen Globalisierung auch in den genannten Ländern seit geraumer Zeit in Konkurrenz zu regimetheoretischen oder an der Konzeption des »Global Governance« orientierten Überlegungen und Ordnungsvorstellungen. Diese stehen in der Tradition des liberalen Internationalismus, d.h. der Vision einer friedlichen wirtschaftlichen und diplomatischen Kooperation zwischen Staaten, die ihren Bürgern zivile Freiheiten und repräsentative demokratische Beteiligungsformen gewähren, weisen zugleich aber über diesen hinaus (vgl. Gowan 2001). Während die liberal internationalistische Perspektive die Funktionsweise des Westfälischen Staatensystems, d.h. die Prinzipien der vertragsrechtlichen Kooperation formal gleichberechtigter, souveräner Staaten (vgl. Menzel 2004, S. 152 ff.), grundsätzlich anerkannte, geht es in den neueren Konzeptionen darum, die globalen umwelt-, sicherheits- und friedenspolitischen Herausforderungen im Rahmen einer neu zu schaffenden Weltordnung zu bearbeiten und dabei die Grenzen der nationalen Souveränität zu erweitern. Die neue Weltordnung soll – im Kontrast zu den uni- oder multipolaren Modellen des realistischen Denkens – demzufolge nicht nur multilateral, d.h. mit einer starken Rolle der Vereinten Nationen, angelegt sein, sondern zugleich auch liberal-kosmopolitische Prinzipien – etwa weltbürgerliche Freiheitsrechte und rechtsstaatliche, vertraglich vereinbarte Garantien (z.B. Investitionsschutz) für global agierende Wirtschaftsakteure – implementieren.
Diese Konzepte spielen vor allem in kleineren, weltwirtschaftlich stark verflochtenen Staaten und in vielen Ländern der Europäischen Union eine prominente Rolle. Die Charakterisierung dieser Länder und Regionen als „Handels-“ oder „Zivilmacht“ (Maull 2002) oder als „normative Macht“ (Manners 2002) weist deutlich in diese Richtung.
Kritische politökonomische Reflexionen
Die angesprochenen länder- oder regionenspezifischen Kontexte deuten darauf hin, dass sich die relative Prominenz der konkurrierenden Denkschulen und Weltordnungsvorstellungen zum Teil aus den jeweiligen Positionen der Staaten in der Weltpolitik, den historischen Erfahrungen und den hierauf bezogenen öffentlichen Selbstvergewisserungen, also der vorherrschenden politischen Kultur, erklären. Gleichzeitig fällt aber auf, dass diese Zusammenhänge in den meisten Diskussionen nicht oder nur unzureichend thematisiert und reflektiert werden. Die theoretischen und wissenschaftlichen Debatten kommen häufig in sich selbst, im eigenen Theoriemodell, nicht vor. Entsprechend fällt es den Debattierenden schwer, die erlangten Erkenntnisse mit Blick auf die eigenen Erkenntnisinteressen kritisch-reflexiv zu diskutieren. Außerdem sind sie oft wenig sensibel für die »blinden Flecken« – die empirisch-analytischen Ausblendungen und normativen Engführungen – der von ihnen geführten theoretischen und strategischen Debatten. Inwiefern dies der Fall ist, soll nachfolgend kurz anhand von Überlegungen illustriert werden, die von Vertretern einer kritischen Internationalen Politischen Ökonomie (IPÖ) angestellt werden.
Die kritische IPÖ geht allgemein davon aus, dass die Strukturen der Weltordnung nicht allein durch die zwischenstaatlichen Machtbeziehungen, sondern auch durch die Organisation und Vernetzung der Produktionsbeziehungen, die sozialen Strukturen und zivilgesellschaftlichen Konflikte sowie die Prozesse der kulturellen und ideologischen Bedeutungsproduktion geprägt sind (vgl. Cox 1998; van der Pijl 1998). Der analytisch-konzeptionelle Blick auf die genannten Handlungssphären unterscheidet sich deutlich von den vorherrschenden realistischen und liberal-internationalistischen Perspektiven. Betrachten diese die Ökonomie primär als Arena der Generierung politischer Handlungsressourcen (Realismus) oder der marktvermittelten Interdependenz und Wohlstandmehrung (liberaler Internationalismus), so geht die kritische IPÖ von einem weiten Verständnis kapitalistisch geprägter Beziehungen der sozialen (Re-) Produktion aus, unter Einschluss der durch diese konstituierten Machtbeziehungen, Ausbeutungsverhältnisse und Krisenprozesse. Die Beziehungen der sozialen (Re-) Produktion strukturieren zugleich – vermittelt über Verbände, soziale Bewegungen, Nichtregierungsorganisationen, Parteien oder Medien – maßgeblich die Operationsweise der nationalen Staaten – besser: der Staat-Zivilgesellschaft-Komplexe – und die darüber hinausweisende transnationale Kommunikation.
Letztlich ergibt sich auf diese Weise auch ein verändertes Verständnis von Weltordnung als einer politökonomisch geprägten, durch zivilgesellschaftliche wie zwischenstaatliche Kämpfe ausgefochtenen internationalen Organisationsstruktur, die in manchen Phasen einen hegemonialen Charakter annimmt. Der kanadische Politikwissenschaftler Robert W. Cox (1998, S. 83) hat dies sehr prägnant zusammengefasst:
„Hegemonie auf internationaler Ebene ist nicht nur eine Ordnung zwischen Staaten. Sie ist eine Ordnung innerhalb der Weltwirtschaft mit einer dominanten Produktionsweise, die alle Länder durchdringt und sich mit anderen untergeordneten Produktionsweisen verbindet. Sie ist auch ein Komplex internationaler sozialer Beziehungen, der die sozialen Klassen der verschiedenen Länder miteinander verbindet. Welthegemonie lässt sich so beschreiben als eine soziale, eine ökonomische und eine politische Struktur. Sie kann nicht auf eine dieser Dimensionen reduziert werden, sondern umfasst alle drei. Welthegemonie drückt sich ferner in universellen Normen, Institutionen und Mechanismen aus, die generelle Regeln für das Verhalten von Staaten und für diejenigen zivilgesellschaftlichen Kräfte festlegen, die über die nationalen Grenzen hinweg handeln – Regeln, die die dominante Produktionsweise abstützen.“
Die komplexe, durch Machtbeziehungen und Ausbeutungsverhältnisse gekennzeichnete Einbettung der Weltordnung in die (trans-) nationale politische Ökonomie, d.h. in die Strukturen der sozialen (Re-) Produktion und zivilgesellschaftlicher Netzwerke, wird in den verschiedenen Strängen der kritischen IPÖ zuweilen etwas unterschiedlich gefasst. Nicht wenige, vor allem geographische Arbeiten betrachten insbesondere die spezifische räumlich-zeitliche Bearbeitung kapitalistischer Krisendynamiken, die zuweilen mit geopolitischen Strategien und Konzeptionen der Weltordnung korrespondiert (Harvey 2003; Dicken 2011) und darüber hinaus auf die grundlegenden Prozesse einer ungleichen, aber aufeinander bezogenen kapitalistischen Entwicklung verweist. Mithilfe des Theorems der ungleichen Entwicklung lässt sich erklären, warum sich im Zuge der fortwährenden Umwälzung und Modernisierung der sozialen (Re-) Produktion von Zeit zu Zeit die Kräfteverhältnisse zwischen den Weltregionen verschieben. Die Verweise auf die asymmetrisch strukturierten Interdependenzen in den transnationalen Wirtschaftsbeziehungen thematisieren, dass kapitalistische Aufholprozesse oder Entwicklungsschübe durch die spezifischen Muster der Weltmarktintegration nicht nur gefördert, sondern häufig auch blockiert werden (vgl. Overbeek 2008).
Machtverschiebungen – aber welcher Art und wohin?
In der kritischen IPÖ-Diskussion werden die weltordnungspolitischen Problemwahrnehmungen von (neo-) realistisch, idealistisch oder liberal-kosmopolitisch orientierten Wissenschaftler*innen und Politiker*innen keineswegs einfach beiseite geschoben. Im Gegenteil, es besteht eine breite Übereinstimmung, dass wir uns in einer unübersichtlichen Umbruchkonstellation befinden. Die Realisierung unterschiedlicher Weltordnungskonzepte ist zunehmend umkämpft. Für die einflussreichen Denkschulen sind die Ursachen und der Verlauf der Konflikte entweder sehr stark durch die Akkumulation ökonomischer und militärischer Ressourcen und hierauf bezogener Interessenlagen (so die neo-realistische Perspektive) oder aber durch die Konkurrenz unterschiedlicher Werte, Normen und Kulturen bestimmt (so der liberale Internationalismus).
Im Unterschied hierzu sind die weltordnungspolitischen Zeitdiagnosen der kritischen IPÖ komplexer und zugleich fokussierter. Sie gehen zum einen davon aus, dass die westlichen, sich im Spannungsfeld von US-Hegemonie und liberalem Kosmopolitismus bewegenden Vorstellungen von Weltordnung vermehrt in Frage gestellt werden – etwa durch staatsinterventionistische Kapitalismusmodelle in den BRICS-Staaten oder religiöse Kräfte in der arabischen Welt – und demzufolge auch die Prozesse der Globalisierung an ihre Grenzen stoßen (Bieling 2011). Zum anderen betrachten sie diese Infragestellung als Ausdruck globaler Machtverschiebungen in den asiatischen Raum (vgl. van der Pijl 2006; Schmalz 2015). Hierfür lassen sich einige stützende Indikatoren finden:
- Erstens ist die wirtschaftliche Entwicklung in China, Indien, aber auch den ASEAN-Staaten über einen relativ langen Zeitraum sehr dynamisch verlaufen. Dies betrifft nicht nur das Wirtschaftswachstum und die Produktivität, sondern auch die Handelsbeziehungen, Direktinvestitionen und die Akkumulation von Devisenreserven.
- Zweitens korrespondiert mit dieser Entwicklung ein inzwischen relativ dichtes Netzwerk internationaler Regime und Institutionen unter weitgehendem Ausschluss der OECD-Welt. Offenkundig gibt es nicht nur eine global stärkere Rolle Asiens – etwa in der Welthandelsorganisation (WTO) oder im Kontext der G20 –, sondern auch vielfältige Impulse einer neuen Süd-Süd-Kooperation.
- Drittens haben sich die wirtschaftlichen Strategiedebatten in vielen Weltregionen von der neoliberalen Agenda des so genannten »Washington Consensus« verabschiedet. Die Rede vom »Beijing Consensus« ist zwar überzogen, doch im Sinne einer stärker staatlich regulierten Weltwirtschaft wird allgemein den Kriterien nationaler Souveränität und Entwicklung größeres Gewicht beigemessen.
Angesichts des umkämpften Charakters und einer partiellen Unbestimmtheit (Kontingenz) der umrissenen Entwicklungen wird in der IPÖ kontrovers diskutiert, wie nachhaltig die globalen Machtverschiebungen sind und welche ordnungspolitischen Konzeptionen hierdurch gefördert werden. Stark vereinfacht lassen sich in der konzeptionellen Debatte im Spannungsdreieck von Unilateralismus (USA) versus Multilateralismus (Europäische Union) versus Multipolarität (BRICS-Staaten) einige Fixpunkte identifizieren (Bieling 2014). Diese verweisen durchaus auf einen Prozess mit beträchtlichem Konfliktpotenzial. Gleichzeitig wird dieses Konfliktpotenzial durch wechselseitige Abhängigkeiten und ökonomische, soziale, rechtliche und institutionelle transnationale Kooperationsformen moderiert und politisch bearbeitet. Ob durch diese Bearbeitung die Gefahr einer Gewalteskalation gebannt wird, ist keineswegs gewiss. Letztlich wird viel davon abhängen, ob es transnationalen Akteuren gelingt, hegemoniale, auf weitreichende Akzeptanz und Zustimmung basierende Strukturen zu etablieren, d.h. den Wandel der Weltordnung durch attraktive Leitbilder und tragfähige Kompromisse strategisch anzuleiten.
Literatur
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Hans-Jürgen Bieling ist Professor am Institut für Politische Wissenschaften der Universität Tübingen und Mitherausgeber der Buchreihe »Globale Politische Ökonomie« des VS-Verlages.