W&F 2012/1

Weltpolitische Umbrüche – Chance oder Gefahr?

14. Kongress der Informationsstelle Militarisierung, 5./6. November 2011 in Tübingen

von Jonna Schürkes

Im Mittelpunkt des Kongresses standen die zahlreichen gravierenden Umbrüche der letzten Jahre und die Frage, inwieweit sich durch sie Chancen für eine friedlichere und sozialere Welt eröffnen oder ob sie nicht auch die Gefahr einer weiteren Militarisierung und sich verschärfender Konflikte aufweisen. Es wurde deutlich, dass westlicherseits versucht wird, dem spürbaren Machtverlust durch einen verstärkten Rückgriff auf Gewalt und Militärinterventionen Einhalt zu gebieten. Deshalb wurden abschließend Perspektiven und Möglichkeiten der Friedens- und Antikriegsbewegung erörtert, und es wurde überlegt, wo die wichtigsten Ansätze liegen, um dieser Entwicklung Widerstand entgegenzusetzen.

Neue Großmachtkonflikte?

Die Folgen der Finanz- und Schuldenkrise der vergangenen Jahre und dem daraus resultierenden möglichen Machtverlust der westlichen Staaten wurden von den Diskutanten des ersten Vortrags »Abstieg des Westens, NATO gegen BRIC(S)? Neue Konfrontationslinien oder neue Allianzen« unterschiedlich bewertet. Jürgen Wagner sah durchaus Anzeichen einer neuen Blockbildung und sich verschärfender Großmachtkonflikte zwischen dem »Westen« und den BRIC(S)-Ländern Brasilien, Russland, Indien, China (und Südafrika). Allerdings könnten innereuropäische Rivalitäten, befeuert durch den deutschen Anspruch auf die alleinige Führungsrolle in der Europäischen Union, dafür sorgen, dass die EU nicht in der Lage ist, sich gegen die BRIC(S) in Stellung zu bringen. Uli Cremer hingegen sah einen »Nordpakt« – also eine Allianz aus NATO und Russland – aufziehen, woraus sich eine Konstellation »Großmächte des Nordens« gegen die Länder des globalen Südens ergeben würde.

In einem zweiten Vortrag arbeitete Andreas Seifert Großmachtkonflikte und Rivalitäten anhand der Aufrüstung der Marine aus. Dies gelte vor allem für Staaten, die aufgrund ihrer exportorientierten Wirtschaft besonders auf einen freien Seehandel setzten. In diesem Bereich sei eine regelrechte Aufrüstungsspirale zu beobachten, womit die Gefahr von Konflikten deutlich erhöht werde. Zudem sei mit der Zunahme der Piraterie ein Phänomen entstanden, welches vor allem dort auftrete, wo Länder und Menschen von den globalen Waren- und Handelsströmen abgehängt würden. Armut und Perspektivlosigkeit seien wesentliche Triebfedern hinter dem Anwachsen der Piraterie. Doch anstatt sich diesen Ursachen zu widmen, werde mehr und mehr der Versuch unternommen, militärisch für den Schutz von Handelsrouten zu sorgen.

Das Korrektiv der Straße

Claudia Haydt und Christoph Marischka diskutierten anschließend, ob die »Umbrüche in Nordafrika und auf der Arabischen Halbinsel« Chancen der »Emanzipation oder ein neues imperialistisches Einfallstor« eröffneten. Marischka zeigte auf, dass unter anderem der Westen mit der bedingungslosen Unterstützung für den Militärputsch in Ägypten und die NATO-Intervention in Libyen verhindert hätte, dass sich in den nordafrikanischen Staaten Kräfte durchsetzen konnten, die die Bedürfnisse der Bevölkerung über internationale Gepflogenheiten, Abhängigkeiten und Verpflichtungen stellen können. Vor allem die EU nutze derzeit alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel – vom Finanztransfer bis zu den so genannten Sicherheitssektorreformen –, um die Entwicklungen in Nordafrika wieder unter Kontrolle zu bringen.

Claudia Haydt hingegen stellte heraus, dass in Tunesien, aber auch in Ägypten, die politische Macht weiterhin bei der Bevölkerung liege, die ihre Angst verloren habe. Dieses „Korrektiv der Straße“ könne von den jeweiligen Machthabern nicht ungestraft ignoriert werden. Dies zeige sich beispielsweise daran, dass auch in Ägypten die Machthaber aus Furcht vor den »Freitagsdemonstrationen« immer wieder Zugeständnisse machen mussten. Die Aufgabe der linken Bewegungen in Europa sei es nun, dafür zu sorgen, dass die Möglichkeiten zur Gestaltung der Politik durch die Bevölkerung der Länder nicht erneut durch die Politik des Westens eingeschränkt würden.

Blinder Interventionismus

Abgesehen von dem ungeheuren menschlichen Leid, das die westlichen Interventionen in Afghanistan und Irak verursacht haben, seien beide Interventionen selbst unter geostrategischen und ökonomischen Gesichtspunkten, die die wesentliche Motivation für die Kriege waren, gescheitert. Dies machten Joachim Guilliard und Jürgen Wagner im Abendvortrag deutlich. Guilliard zeigte auf, dass wesentliche Gründe der USA für den Einmarsch in den Irak darin lagen, ihre Militärpräsenz am Persischen Golf auszubauen sowie die riesigen irakischen Ölvorkommen zu privatisieren. Es sei dem US-Militär allerdings weder gelungen, den Widerstand niederzuschlagen, noch sich den Rohstoffreichtum des Landes anzueignen. Um diese Niederlage zu kompensieren, würde die Militärpräsenz in einigen Anrainerstaaten ausgebaut und eine private Söldnerarmee mit 5.000 Mann unter dem Kommando des US-Außenministeriums im Irak belassen.

Jürgen Wagner beschäftigte sich vor allem mit der Frage, wie es zu erklären sei, dass sich die NATO trotz des offensichtlichen Scheiterns der Intervention in Afghanistan nicht zurückziehe. Die NATO habe das Ziel, in Afghanistan ein pro-westliches Regime zu etablieren, das auch in der Lage sei, sich dauerhaft an der Macht zu halten. Sollte sie dieses Ziel verfehlen, so stehe die Fähigkeit der NATO, die Interessen ihrer Mitglieder in anderen Ländern gewaltsam durchsetzen zu können, ernsthaft in Frage. Wagner warnte in diesem Zusammenhang vor der „Nebelkerze Truppenabzug“. Es gehe lediglich darum, Teile der westlichen Truppen abzuziehen, keineswegs um die vollständige Beendigung der Besatzung, auch wenn gegenwärtig stets etwas anderes suggeriert werde.

Militarisierung der UN

Der zweite Kongresstag widmete sich vor allem der Militarisierung der Vereinten Nationen. Thomas Mickan beschäftigte sich zunächst mit dem, was er die „Illusion Peacekeeping“ nannte. Er zeigte auf, wie sich das Bild des UN-Blauhelms zu einem Symbol des Friedens entwickelt habe und damit der Legitimation militärischer Interventionen diene. Mit Hilfe dieses Bildes sei es den Vereinten Nationen möglich, Kriege unter anderem der NATO und der EU zu legitimieren, indem sie diese mandatieren. Die UN seien allerdings nicht ausschließlich die Institution, die Mandate für (Militär-) Bündnisse vergebe, es sei auch innerhalb der UN-Struktur eine Aufwertung des Militärischen zu beobachten, was sich vor allem an der Umgestaltung der Hauptabteilung Friedenssicherung (Department of Peacekeeping Operations, DPKO) zeige.

Anschließend stellten Martin Hantke und Christoph Marischka die Rolle der UN in Libyen und der Elfenbeinküste dar. Mit den UN-Resolutionen 1973 (Mandatierung der Interventionen) und 2016 (Aufhebung der Mandatierung) hätten die UN erstmals offen das Intervenieren in einen Bürgerkrieg mandatiert und als Erfolg dargestellt, so Hantke. Es bestehe damit die Gefahr, dass der Regime Change als Gewohnheitsrecht etabliert werde und das Gewaltverbot zu einem Gewaltgebot verkomme.

Von einem „Epochenbruch“ sprach Christoph Marischka hinsichtlich der taktischen Rolle der UN-Blauhelme und auch der aktiven Rolle des UN-Generalsekretärs beim Regime Change in Côte d’Ivoire. Bereits im Vorfeld der Wahlen hätten es die UN unterlassen, die Rebellen im Norden zu entwaffnen und ihrerseits in Erwartung eines durch die Wahlen ausgelösten Bürgerkrieges aufgerüstet. Die offensichtlichen Unregelmäßigkeiten bei der Wahl seien von dem Leiter der UN-Mission UNOCI negiert worden, und auf dieser Grundlage wurde Alassane Ouattara im Widerspruch zur ivorischen Verfassung als Präsident anerkannt. Der Vormarsch der für ihn kämpfenden Truppen und Milizen, während dessen es zu grausamen Verbrechen gekommen sei, wäre von der UNOCI nicht behindert, sondern insbesondere in seiner Endphase aktiv durch Luftangriffe der UN-Hubschrauber und einer französischen Eingreiftruppe unterstützt worden.

Perspektiven des antimilitaristischen Widerstands

Tobias Pflüger machte im Abschlussvortrag klar, dass Deutschland und die führenden Weltmächte auf die gegenwärtigen Umbrüche und Unsicherheiten offensichtlich mit weiterer Aufrüstung und verstärkter Interventionsbereitschaft reagierten. Der derzeitige Umbau der Bundeswehr diene dabei dazu, die Bundeswehr weiter zu einer Interventionsarmee umzubauen. Alle Maßnahmen deuteten darauf hin, dass es sich bei der Reform um eine qualitative Aufrüstung handele, auch wenn in manchen Bereichen – wie bei der Reduzierung der Bundeswehrstandorte – eine quantitative Abrüstung zu beobachten sei. Aus dieser Situation ergäben sich zahlreiche Notwendigkeiten und Möglichkeiten des antimilitaristischen Widerstands. Die Aussetzung der Wehrpflicht beispielsweise hätte zur Folge, dass die Bundeswehr noch mehr als bisher in Schulen, Arbeitsagenturen und im öffentlichen Raum rekrutiere. Hier sei verstärkter Widerstand geboten. Bei der Konversion der Standorte, die jetzt geschlossen würden, sei es notwendig, dass auch die Friedensbewegung diese vorantreibe und mitgestalte.

Jonna Schürkes

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2012/1 Schafft Recht Frieden?, Seite 48–49