»Wenn du Frieden willst, pflege die Gerechtigkeit«
Frieden und Gerechtigkeit nach gewaltsamen Konflikten und Diktaturen
von Susanne Buckley-Zistel
„Si vis pacem, cole iustitiam“ (wenn du Frieden willst, pflege die Gerechtigkeit). Frieden und Gerechtigkeit wurden schon vor geraumer Zeit auf das Engste miteinander verknüpft, so in dieser Inschrift des Haager Friedenspalastes. Auch Benjamin B. Ferencz, einer der Ankläger der Nürnberger Prozesse, wies auf den Zusammenhang hin: „There can be no peace without justice, no justice without law and no meaningful law without a Court to decide what is just and lawful under any given circumstance.“1 Doch wie passen Frieden und Gerechtigkeit nach gewaltsamen Konflikten oder Diktaturen zusammen? Welche Möglichkeiten und Grenzen sind diesem Zusammenspiel gesetzt? Dies soll im vorliegenden Artikel anhand der Diskussion des Konzepts »Transitional Justice« erörtert werden.
Transitional Justice beruht auf der Prämisse, dass das Vermächtnis eines gewaltsamen Konflikts oder einer repressiven Diktatur, in denen massiv Menschrechte missachtet wurden, aufgearbeitet werden muss, da nur der Blick zurück auf Unrecht und Vergehen ein friedvolles Zusammenleben in der Zukunft ermögliche. Dies drückt sich bereits im Begriff selbst aus: Analog zum einführenden Zitat verknüpft Ferencz die »transition« von Gewalt zu friedlicher Koexistenz mit »justice«, dem Streben nach Recht und Gerechtigkeit im Anschluss an eine gewaltvolle Vergangenheit. Doch welche »justice« ist erforderlich? Und wohin soll die »transition« führen?
Generell gilt festzuhalten, dass Transitional Justice eine Reihe eng miteinander verknüpfter Ziele verfolgt. Neben dem Streben nach Gerechtigkeit durch das Aufdecken der Wahrheit über Verbrechen sowie der Identifizierung und dem zur Rechenschaft ziehen der Verantwortlichen sollen die Würde der Opfer wiederhergestellt und Aussöhnung sowie friedliche Koexistenz ermutigt werden. Diese Schwerpunkte finden in unterschiedlichen Maßnahmen Entsprechung: Strafgerichtsprozesse, Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, symbolische und materielle Reparationen sowie institutionelle Reformen. Durch die Kombination von Maßnahmen oder durch einzelne Instrumente versuchen unterschiedliche Akteure wie Regierungen, Vertreter der Zivilgesellschaft oder die internationale Gemeinschaft Prozesse anzustoßen, die zur Aufarbeitung einer gewaltvollen Vergangenheit beitragen können. In Deutschland mag dies aufgrund unserer Geschichte keine neue Errungenschaft sein – und in der Tat werden die Nürnberger Prozesse (1945-49) oft als Grundstein für dieses Begehren bezeichnet. Auf dem internationalen Parkett hat der politische Freiraum nach Ende des Kalten Kriegs die Verbreitung eines liberalen Gedankenguts und somit auch von normativen Konzepten wie Transitional Justice gefördert.
Welche »justice«?
Doch von welcher Form von »justice« sprechen wir? Der englische Begriff findet im Deutschen zwei Entsprechungen: Recht und Gerechtigkeit. Im Konzept der Transitional Justice kommen beide Dimensionen zum Tragen. Zum einen verfolgt es aufgrund seines Ursprungs aus dem Bereich der Menschenrechte einen stark legalistisch geprägten Ansatz, der sich in der Einrichtung zahlreicher Tribunale wie den Ad-hoc-Gerichtshöfen für Ruanda und das ehemalige Jugoslawien, dem Sondergerichtshof für Sierra Leone sowie dem Internationalen Strafgerichtshof niederschlägt.2 Zum anderen wird Gerechtigkeit breiter verstanden und bezieht Prozesse der Wiederherstellung sozialer Beziehungen mit ein. Stellvertretend hierfür stehen u.a. Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, in denen Zeugen durch individuelle Aussagen zur Enthüllung vergangenen Unrechts beitragen. Beide Ansätze sollen im Folgenden auf ihre friedensfördernde Wirkung untersucht werden.
Ausgleichende Gerechtigkeit
Das Ziel der justiziellen Aufarbeitung von Menschenrechtsvergehen ist der Ausgleich einer Tat durch eine Strafe, weswegen sie auch als ausgleichende Gerechtigkeit bezeichnet wird. Neben der Bestrafung der Täter und Täterinnen verfolgt sie das Ziel, den Wunsch nach Vergeltung zu reduzieren, vor zukünftigen Gewalttaten abzuschrecken und erlittenes Leid anzuerkennen. Die Gerichte befassen sich mit Einzelpersonen, d.h. sie folgen einer individualisierten Vorstellung von Schuld und ziehen somit eine formal klare Linie zwischen Opfern und Tätern, selbst wenn dies manchmal kaum möglich ist. Sind erst einmal »Altlasten« aus dem Weg geräumt, so die Annahme, steht einem friedlichen Zusammenleben nichts mehr entgegen.
In Nachkriegsgesellschaften, die entlang politischer, ethnischer oder religiöser Linien gespalten sind, haben Tribunale jedoch nicht immer einen positiven Effekt auf das friedliche Miteinander. Die Anklage eines Kriegsherren oder Gewaltanstifters wird von der betroffenen Konfliktpartei häufig als Provokation wahrgenommen, und Verurteilte werden als Märtyrer gefeiert. Anschuldigungen von Siegerjustiz, Rechtsbeugung und Parteilichkeit sind nicht selten und wirken in den offenen Wunden einer Gesellschaft wie Salz.
Als Beispiel mag hier der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda dienen, der seit 1994 von Tansania aus die Haupttäter und -täterinnen des ruandischen Völkermords an den Tutsi strafrechtlich verfolgt. Der Genozid wurde von der zweiten Bevölkerungsgruppe des Landes, den Hutu, ausgeführt, und so stehen nur Täter der Hutu-Gruppe vor Gericht. Doch selbst wenn der Völkermord von einer klaren, einseitigen Richtung der Gewalt gezeichnet war, fanden in den Jahren des Bürgerkriegs zuvor und in der Zeit kurz danach Gräueltaten statt, durch die auch eine große Zahl Hutu ihr Leben verloren.3 Zwar waren die Verluste bei weitem geringer und entsprachen nicht der eindimensionalen Gewaltform eines Völkermords, doch argumentieren viele Hutu, dass zur Schaffung von Gerechtigkeit – von Transitional Justice – alle Vergehen geahndet werden müssen. Dass ein internationales Tribunal der Vereinten Nationen dem nicht nachkommt, stößt sowohl bei vielen Hutu als auch bei zahlreichen internationalen Menschenrechtsaktivisten auf Missmut und verstetigt die Konfliktlinien.4
Allerdings sind die Auswirkungen eines in weiter Ferne agierenden internationalen Tribunals auf ein friedliches Miteinander gering im Vergleich zu Prozessen im Land selbst, die im alltäglichen Leben stärker wahrgenommen werden und so die Beziehungen zwischen den Konfliktparteien unmittelbar beeinflussen. Im Kontext Ruandas sind vor allem die Gacaca-Tribunale zu nennen, die auf lokaler Ebene für die Ahndung von Gewaltverbrechen während des Völkermords zuständig sind.5 Dennoch werden auch hier nur die Genozidvergehen an den Tutsi verfolgt, und die Tötung von Hutu vor und nach dem Völkermord wird ausgeblendet. Implizit wird durch dieses einseitige Schaffen von Gerechtigkeit suggeriert, dass nicht der Akt des Tötens als solcher ausschlaggebend für ein Verfahren ist, sondern die ethnische Zugehörigkeit des Opfers, d.h. der Tutsi, und dass das Auslöschen von Hutu-Leben nicht strafbar – und folglich weniger bedeutend – ist. Die dadurch entstehende einseitige Betrachtung von Schuld und Leid erzeugt Ressentiments unter denen, die ebenfalls nahestehende Personen verloren haben, deren Tod aber durch die Tribunale weder anerkannt noch vergolten wird, und steht so einem nationalen Aussöhnungsprozess im Wege.
Weitere Beispiele für den »unfriedlichen« Charakter von ausgleichender Gerechtigkeit nach gewaltsamen Konflikten oder Diktaturen ließen sich an dieser Stelle unschwer aufführen. So drängt sich die Frage auf, ob die im Rahmen von Transitional Justice den Gerichtshöfen zugeschriebene Aufgabe diese nicht überfrachtet. Denn obgleich das Ahnden von Unrecht ein Schritt hin zu einem vertrauensvollen Miteinander sein mag, da es mit der Vergangenheit aufräumt, sind doch die Prozesse konfliktiv und geprägt vom Misstrauen der Konfliktparteien, die die Vorgänge aus ihrer jeweiligen Perspektive interpretieren. Auch sind die Verfahren selbst oft parteiisch und nicht neutral. In diesem Fall spiegeln sie einen zutiefst politischen Prozess wieder, der gesellschaftliche Verhältnisse neu justiert und somit von Machtbestreben und Eigeninteressen durchsetzt ist. Des Weiteren ist die konfrontative Situation von Prozessen – klare Zuweisung von Schuld und Unschuld, keine Erklärungsmöglichkeiten außerhalb der im Verfahren abgerufenen Aussagen und wenig Raum für die Geschädigten – den komplexen Gegebenheiten von Konflikten nicht gewachsen.
Wiederherstellende Gerechtigkeit
Doch gibt es Alterativen zur ausgleichenden Gerechtigkeit, wie sie in Gerichtsverfahren praktiziert wird? Auf internationaler Ebene muss dies klar verneint werden. Hier hat sich seit den Nürnberger Prozessen und einer generell zunehmenden Verrechtlichung der internationalen Beziehungen die Ansicht verfestigt, dass Menschenrechtsverletzungen strafrechtlich geahndet werden müssen.
National oder lokal hingegen gibt es durchaus alternative Möglichkeiten, die auch genutzt werden. Diese beruhen nicht auf der Annahme, dass das Ziel von Gerechtigkeit der Ausgleich zwischen Schuld und Strafe sei, sondern dass Gerechtigkeit dazu diene, gesellschaftliche Beziehungen wieder herzustellen. Sie werden daher grob unter dem Begriff der wiederherstellenden Gerechtigkeit zusammengefasst und können die Form von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen oder anderen Disputlösungsmechanismen annehmen. In gespaltenen Gesellschaften haben sie den Vorteil, dass sie ein vielfältigeres Bild von Schuld und Verantwortung zeichnen, als es den Gerichtshöfen möglich ist. Durch kommunikative Prozesse werden die Vergehen der Vergangenheit in einen sozialen und politischen Kontext eingebettet und Empfehlungen für ein friedliches Miteinander in der Zukunft erarbeitet. Auch diesem Ansatz sind jedoch Grenzen gesetzt: Wiederherstellende Gerechtigkeit ist sicher kein Allheilmittel, doch kann es immerhin als Alternative betrachtet werden.
Wahrheitskommissionen sind offizielle, zeitlich begrenzte Einrichtungen, die durch biographische Narrative die Verbrechen während eines gewaltsamen Konflikts oder Regimes enthüllen und dokumentieren. Durch die Vielzahl von individuellen Zeugenaussagen offenbaren sie Repressionsmuster wie die Verfolgung von politisch, ethnisch oder rassisch abgegrenzten Gruppen und belegen somit, dass Verbrechen stattgefunden haben und welcher Art diese waren. Mit Blick auf den Frieden ist es wichtig, die ersten, bedeutenderen Wahrheitskommissionen in Lateinamerika in den 1980er Jahren von jüngeren Einrichtungen abzugrenzen. Während erstere das Anliegen verfolgten, in einem Kontext von Amnestiegesetzen und einer Kultur der Straflosigkeit öffentlich anzuprangern, hegen letztere den Anspruch, zur nationalen Aussöhnung und somit zum Frieden beizutragen. Prominentestes Beispiel hierfür ist die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission, die dem Leitsatz „revealing is healing“ (enthüllen heißt heilen) folgte und den Tätern bei vollständigem Bekenntnis Straffreiheit gewähren konnte.
Wahrheitskommissionen bestehen aus zwei distinktiven Elementen: dem Prozess und dem Produkt.6 Während der Prozess die Untersuchung durch umfangreiche Einbeziehung der Betroffenen und durch öffentliche Darbietungen legitimiert, gleicht das Produkt in Form eines Abschlussberichts mit Empfehlungen dem Versuch eines Schlusspunktes. In diesem Sinne sind Wahrheits- und Versöhnungskommissionen deshalb sowohl ein Instrument des Erinnerns als auch des Vergessens.7 Wird die Wahrheit durch die Kommission zu Tage gebracht, wird sie archiviert, so dass sie zunächst einmal vergessen werden kann. Sie ist ja aufgehoben und daher immer wieder zugänglich. Dadurch muss eine gespaltene Nation sich nicht fortwährend mit der Vergangenheit auseinandersetzten; sie kann sie zur Ruhe legen, das hässliche Kapitel schließen und zu einer neuen Einheit zusammenwachsen. In diesem Sinne können Wahrheitskommissionen Frieden fördern. Die Umsetzung der Empfehlungen hängt jedoch stark von dem politischen Klima – und den materiellen Bedingungen – der Nachkriegsgesellschaft oder auch vom Handlungswillen der neuen Regierung ab, der nicht immer gegeben ist.
Transition wohin?
Der Blick auf Gerechtigkeit wirft auch die Frage auf, welche Art von Vergehen in Transitional-Justice-Prozessen geahndet werden sollen und wie sich dies auf das zukünftige Zusammenleben auswirkt. So beziehen sich Gerichtsverfahren, aber auch die meisten Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, auf die Missachtung von politischen und bürgerlichen Rechten. Doch was ist mit Vergehen wie Diskriminierung, Marginalisierung und Exklusion – in anderen Worten: mit struktureller Gewalt? War denn die Apartheid in Südafrika nicht auch für die Menschen schädigend, die nicht direkt Opfer von Folter und Morden, sondern von mangelnder Gesundheitsversorgung, Arbeitslosigkeit oder Zwangsumsiedlung wurden? In der Menschenrechtsdebatte wird dies unter dem Begriff der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zusammengefasst und beeinflusst inzwischen auch Diskussionen im Feld der Transitional Justice.8
Dies wirft die Frage auf, wohin die Reise denn gehen soll. Wenn es das Ziel von Transitional Justice ist, einen Übergang zu einem friedlichen, gewaltfreien Zusammenleben zu fördern, müssen dann nicht auch die strukturellen Konfliktursachen bearbeitet und möglichst transformiert werden?9 Hier stoßen Formen der ausgleichenden Gerechtigkeit durch strafrechtliche Verfahren schnell an ihre Grenze, da sie durch die ihnen inhärente Individualisierung von Schuld soziale und politische Zusammenhänge aussparen und so nicht zu einer breiteren Transformation einer Gesellschaft beitragen können. Verfahren der wiederherstellenden Gerechtigkeit hingegen sind durchaus geeignet, strukturelle Konfliktursachen offenzulegen und durch ihre Empfehlungen, z. B. im Rahmen des abschließenden Berichts einer Wahrheits- und Versöhnungskommission, Transformationsprozesse anzustoßen.
Nichtdestotrotz bleibt die Wechselwirkung von Gerechtigkeit und Friede – von Transitional Justice und Frieden – fraglich. Es ist daher wichtig, das Konzept trotz seiner aktuellen Popularität nicht mit zu vielen Erwartungen zu überfrachten. Denn alle Bemühungen und Maßnahmen bleiben in die politischen Strukturen einer Nachkriegsgesellschaft eingebettet, die die Interpretation der Maßnahmen bestimmen und ihre Durchführbarkeit und Empfehlungen auf positive sowie negative Weise bedingen. Gerechtigkeit um des »lieben Friedens willen« zu pflegen, mag zunächst wie ein einfaches Gebot erscheinen, bei näherer Betrachtung ist es jedoch höchst ambivalent und prekär.
Anmerkungen
1) „Es kann keinen Frieden geben ohne Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit ohne Gesetz und kein wirksames Gesetz ohne ein Gericht, das entscheidet, was unter den gegebenen Umständen gerecht und rechtmäßig ist.“ untreaty.un.org/cod/icc/general/overview.htm.
2) Zu Letzterem siehe den Beitrag von Michael Haid in diesem Heft. [die Redaktion]
3) Es fehlt an Raum, um die Dynamiken des ruandischen Völkermords, des ihm vorhergehenden Bürgerkriegs und der unmittelbaren Nachwehen zu erklären. Für eine genauere Beschreibung siehe Rene Lemarchand (2006): Genocide, Memory and Ethnic Reconciliation in Rwanda. In: Stefaan Marysse, Filip Reyntjens, Stef Vandeginste (Hrsg.) (2007): L’Afrique des Grands Lacs. Annuaire 2006-2007. Paris: L’Harmattan, S.21-30.
4) Luc Reydams (2005): The ICTR Ten Years On: Back to the Nuremberg Paradigm? In: Journal of International Criminal Justice 3 (4), S.977-988.
5) Gerd Hankel (2011): Die Gacaca-Justiz in Ruanda – ein kritischer Rückblick. In: Susanne Buckley-Zistel, Thomas Kater (Hrsg.) (2011): Nach Krieg, Gewalt und Repression. Vom schwierigen Umgang mit der Vergangenheit. Baden-Baden: Nomos, S.167-183.
6) Michael Humphrey (2003): From Victim to Victimhood: Truth Commissions and Trials as Rituals of Political Transition and Individual Healing In: Australian Journal of Anthropology 14 (2), S.171-187.
7) Jacques Derrida (2001): On Cosmopolitism and Forgiveness. London: Routledge.
8) Siehe Pablo de Greiff, Roger Duthie (2009): Transitional Justice and Development: Making Connections. New York: Social Science Research Council.
9) Siehe Wendy Lambourne (2009): Transitional Justice and Peacebuilding after Mass Violence. In: International Journal of Transitional Justice 3 (1), S.28-48.
Susanne Buckley-Zistel ist Professorin für Friedens- und Konfliktforschung am Zentrum für Konfliktforschung, Philipps Universität Marburg, wo sie ein DFG-Forschungsprojekt zum Thema Vergangenheitsarbeit leitet.