W&F 1990/2

Wie rein ist die Mathematik?

50 Jahre militärische Verschmutzung der Mathematik

von Bernhelm Booß-Bavnbek / Glen Pate

Heraklits dunkles Wort „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“ hat in seiner platten militaristischen Form1 wie in seinen vielfältigen philosophischen Überhöhungen2 eine unerhörte Verbreitung gefunden, ohne daß bisher von den Einzelwissenschaften eine umfassende historische Aufarbeitung der Bedeutung von militärischen Denkweisen, Anforderungen und Umgebungen für die Entwicklung der Disziplinen geleistet wurde. Nicht eingelöst wurde das Marxsche Untersuchungsprogramm dieses Aspektes aus der Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, wo er für den Abschnitt Produktion, Produktionsmittel und Produktionsverhältnisse vermerkt: Staats- und Bewußtseinsformen im Verhältnis zu den Produktions- und Verkehrsverhältnissen. Rechtsverhältnisse. Familienverhältnisse. Notabene in bezug auf Punkte, die hier zu erwähnen, und nicht vergessen werden dürfen: 1) Krieg früher ausgebildet wie der Frieden; Art, wie durch den Krieg und in den Armeen etc. gewisse ökonomische Verhältnisse, wie Lohnarbeit, Maschinerie etc. früher entwickelt als im Innern der bürgerlichen Gesellschaft…3

A. Relative Autonomie der früheren Mathematikentwicklung

Für die Mathematik liegt eine Studie vor, Booß, Høyrup (1984), die die Entwicklungstendenzen des Verhältnisses Mathematik/Anwendungen an der Geschichte der militärischen Brauchbarkeit der Mathematik und der militärisch motivierten Aufgabenstellungen verfolgt. Dabei zeigt es sich, daß die Mathematik von ihren Anfängen an mal enger, mal weniger eng mit Grundfragen von Organisation und Technik verbunden war und, entsprechend in großen Zeitabschnitten als Herrschafts- und Kriegswissenschaft aufgefaßt, finanziert und betrieben wurde, daß aber die militärische Brauchbarkeit der Mathematik bis zum Zweiten Weltkrieg noch recht begrenzt, die militärischen Motivationen meist nur äußerlich und eine spezifische Prägung, Deformation oder Verseuchung der Mathematik durch die militärischen Zusammenhänge ganz und gar nicht nachweisbar waren. Im Gegenteil: Trotz der Vielzahl militärischer Motivationen und militärischer Anwendungen belegt die frühere Geschichte der Mathematik die Stabilität jenes zutiefst humanistischen Zuges mathematisch-naturwissenschaftlicher Forschung, der nach Vereinfachung, Erklärung, Transparenz und Auslotung der Tragfähigkeit unserer Denkmöglichkeiten und unserer gedanklichen Vorstellungen über uns selbst und unsere Umwelt strebt.

In der gesamten Weltgeschichte (bis 1945) waren Rüstung und Krieg für die Mathematik nie etwas besonderes. Der Krieg war als Teil der Praxis in seinem Verhältnis zur Mathematik mit allen anderen Teilen der Praxis vergleichbar. Hatte der Krieg gesellschaftliche Priorität, so machte er auch den großen äußeren Einfluß aus (vgl. die Ecole Polytechnique). Selten, wenn überhaupt, waren die militärischen Einflüsse auf die Mathematik von spezifisch militärischem Charakter. Hätte die Royal Society sich um Holzeinsparungen in der Handelsmarine bemüht, würden Hookes Arbeiten nicht anders ausgesehen haben. Hätte es jemand gegeben, der für die Berechnung des Luftwiderstands von Zuckerkugeln bezahlen wollte, wären die Fragen an die Mathematik nicht anders als in der Ballistik ausgefallen.4

Auch im deutschen Faschismus kam es übrigens erst relativ spät zur Umgewichtung von der zunächst vorherrschenden ideologischen Funktion der Schul- und Hochschulmathematik (»Deutsche Mathematik«) für die Rechtfertigung der »Arisierung« und »europäischen Neuordnung« auf die Wertschätzung zielgerichteter mathematischer Spezialistenarbeit für die Raketentechnik und das Atombombenprojekt.5

B. »Erfolgsgeschichte« Mathematik und Krieg

Im Laufe des Zweiten Weltkriegs änderte sich das Verhältnis von Krieg und Mathematik von Grund auf. Rüstungsproduktion und Kriegführung vor allem der Briten und US-Amerikaner – gestützt auf ein hohes moralisches Engagement, ein Klima ziemlich vorurteilsfreier Zusammenarbeit und auf nahezu unbeschränkte materielle und personelle Mittel und belebt durch die deutsch-jüdische Emigration – erwiesen sich als ungewöhnlich effektiv, um die besten und fortgeschrittensten mathematischen Ideen aufzusaugen und in einer für die militärischen Anwendungen geeigneten Form zu systematisieren:

Aus Zahlentheorie und Logik schuf Alan Turing die Theorie der modernen Kodierung und die erfolgreiche praktische Dekodierung der Chiffriermaschine Enigma der Nazis, nachdem er schon in der Vorkriegszeit als Nebenprodukt seines Beitrags zur Klärung des Entscheidungsproblems (On Computable Numbers, 1937) die Turingmaschine konzipiert hatte; die Theorie der stochastischen Prozesse, die ihr Schöpfer Andrej Andrewitsch Markow vor der Jahrhundertwende noch an einer Untersuchung der Zeichenfolge in Puschkingedichten illustriert hatte, wurde jetzt viel umfassender verstanden, so daß sie zu gleicher Zeit die Diffusionsgleichungen und Verzweigungsprozesse der Kernphysik erklären wie eine Grundlage für Abraham Walds bahnbrechende Arbeiten auf dem Gebiet der statistischen Entscheidungstheorie und Qualitätskontrolle der neuen Massenproduktion von Rüstungsgütern abgeben konnte; länger zurückliegende astrophysikalische Berechnungen von Eberhard Hopf und Norbert Wiener über das Strahlungsgleichgewicht an der Oberfläche von Sternen wurden im Manhattanprojekt im Zuge der »inneren Ballistik« der Atombombe in eine Methodik der Randwertprobleme umgewandelt; Arbeitsmethoden der kaufmännischen Buchhaltung ließen sich zur planmäßigen Organisation von Rechenaufgaben bei der Erstellung von Schußtabellen, für die Diskretisierung von partiellen Differentialgleichungen und für die Regelung und Steuerung von Prozessen verallgemeinern.

So kam es im Krieg zu einer laufenden Verbesserung bekannter Verfahren und zu einer Bündelung von Kapazitäten, zu einer Erfolgsgeschichte »Mathematik und Krieg« durch Einfügung der Mathematik in ein militärisches Umfeld von dramatisch erhöhter Komplexität: militärische Operationen wurden nicht mehr an einer Front, sondern z.B. im pazifischen Krieg global geplant und durchgeführt; die Produktion eines Rüstungsgutes geschah nicht mehr an einem Ort, sondern war z.B. bei der Atombombe auf ein weitverzweigtes Netz von Forschungszentren, Laboratorien und unterschiedlichsten Fabriken verteilt; vor allem aber war im Krieg und durch den Krieg die Komplexität der Instrumente und Maschinen ins Ungeheure gesteigert worden – vom Radargerät, das mit seinen rund 40 Komponenten noch 1939 zu den kompliziertesten Kriegsmitteln gehörte, zu Computer und Bombenflugzeug, die beide nur 10 Jahre später eine Komplexität von mehr als 20 000 Komponenten erreicht hatten.

Aus militärhistorischer Sicht muß man allerdings hinzufügen, daß – vielleicht abgesehen von der Dechiffrierung des enigmakodierten deutschen Funkverkehrs, dem letzten Kapitel der Vorgeschichte des Computers – keine dieser spezifisch militärischen mathematischen Errungenschaften von kriegsentscheidender Bedeutung war, auch nicht die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, die vielmehr die US-amerikanische Weichenstellung für den darauf folgenden Kalten Krieg markierten.6 Die Spätfolgen des Zweiten Weltkriegs, d.h. die vom Bündnis »Krieg und Mathematik« in Bewegung gesetzte giftige Mischung von genialster Mathematik und Naturwissenschaft und primitivster Maschinenorientierung und Zerstörungsbereitschaft, deren volle Brisanz zu erleben uns bisher erspart geblieben ist, haben durchaus die Potenz, die unmittelbaren Kriegsfolgen – so verheerend sie auch waren – noch weit zu überbieten.7

War die Menschheit schon zuvor in der Natur mit einer Vielzahl komplexer Phänomene konfrontiert gewesen8, so ist das Neue, das Ergebnis des Zweiten Weltkrieges, die Alltäglichkeit der von Menschen geschaffenen Komplexität, an deren Kreierung und Funktionieren mathematische Methoden einen wichtigen Anteil haben – ohne doch eine sichere Beherrschung, eine systematische Übersicht über alle Funktionsweisen der Systeme und die wesentlichen Wirkungen eigenen Handelns zu erlauben. Statt dessen bescherte uns die Erfolgsgeschichte »Mathematik und Krieg« die Gewöhnung an Undurchschaubarkeit und Verantwortungslosigkeit, gepaart mit Illusionen von Beherrschbarkeit, wo nur Machbarkeit vorliegt. Sie bescherte uns auch die arrogante Vorstellung vieler Mathematiker und mathematisch orientierter Wissenschaftler von der vollständigen Explizierbarkeit menschlicher kognitiver Kompetenz9. Dies alles gab das Bündnis zwischen Kriegern und Mathematikern der neuen gesellschaftsprägenden Wissenschaft Informatik als genetisches Erbe mit.

C. Fiktive Kriegführung

Schon bald nach 1945 stellte sich, wenn wir den mathematischen Forschungsprozeß für sich betrachten, erneut das traditionelle beschauliche Forschungsmilieu, die relative Autonomie der Mathematik her – doch in einer völlig anderen Größenordnung, hundertfach mehr ausgebreitet als vor dem Krieg. Nachdem sie ihr vergiftetes Erbe abgeliefert haben, gefallen sich nicht wenige »reine Mathematiker« darin, ihre Hände in Unschuld zu waschen. Im Verhältnis zur Anzahl der inneren Wechselwirkungen erscheinen nun tatsächlich die äußeren Wechselwirkungen, darunter die direkt militärischen Grenzflächen der Mathematik wieder als marginal. Die unmittelbare Dominanz der inneren Dynamik wird in Booß, Høyrup (1984, S. 27f) durch eine Übersicht über die Preisträger der Fieldsmedaille belegt, die in der Mathematik statt eines Nobelpreises verliehen wird und sich deutlich und ausschließlich an innermathematischen Qualitätskriterien orientiert hat und orientiert. Selbst da, wo äußere Einwirkungen in den Arbeiten der Fieldspreisträger durchscheinen oder bedeutende Anwendungen sich ankündigen oder bereits folgten, wird immer das in das Innere des Systems Weisende belohnt.

Nicht weniger schlagend ist die Analyse von Michael Atiyah, der in Jahrzehnten an der Spitze der Mathematik des 20. Jahrhunderts gestanden hat und selbst einen Teil seiner Motivation sich von »außen«, aus Problemstellungen und Perspektiven der Quantenfeldtheorie holte. In seiner Studie Mathematik und die Computerrevolution verkennt er durchaus nicht den (häufig noch immer nur potentiellen) Wert der Informationstechnologie für die Formulierung und Akzentuierung von Problemen für die mathematische Forschung und für die Unterstützung von Mathematikern „in allen Phasen ihrer Arbeit, aber vielleicht am bedeutungsvollsten in der untersuchenden und experimentellen Phase“. Dagegen hält er für die Hauptrichtungen mathematischer Forschung und für die dabei zentralen Arbeitsschritte an der spezifischen Zielstellung des (subjektiven, spezifisch menschlichen) Verstehens eines Problems oder einer Lösung im Unterschied zum bescheideneren Ziel ihrer (evtl. maschinisierbaren) Beschreibung – und damit letztlich an der relativen Autonomie der Mathematik gegen die, nach Atiyah, mit dem Vorschreiten der Computer verbundenen »geistigen, ökonomischen und pädagogischen« Gefahren fest:

Mathematik ist wirklich eine Kunst – die Kunst, gewaltige Rechnereien durch die Entwicklung von Begriffen und Methoden zu vermeiden, die es einem ermöglichen, leichter voranzukommen.10

Sind also Krieg und Kriegsprodukt Computer doch relativ spurlos an der Mathematik vorbeigegangen – und die militarisierte Mathematik an der Nachkriegspraxis? Keineswegs, so muß man wohl beide Fragen beantworten.

Sehen wir uns zunächst das militärische Umfeld der Mathematik an. Anders als nach früheren Kriegen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg eine hohe militärische Bereitschaft, ein hohes Niveau von Rüstungsausgaben insbesondere für Forschung und Entwicklung beibehalten und zwar in der besonderen Ausrichtung auf etwas, was man »fiktive Kriegführung« nennen kann11: Gewiß hat es in der ganzen Periode immer wieder regionale Kriege wie in Korea, Indochina, im nahen und mittleren Osten, in Afrika und den Seekrieg vor Argentinien sowie Serien von bewaffneten Grenzauseinandersetzungen in den verschiedensten Teilen der Welt gegeben. Die Hauptmasse der Streitkräfte der Großmächte und die stärksten Kampfmittel wurden aber in Reserve gehalten, in Stufen zwischen Ruhe, Übung und Bereitschaft.

Die Verhandlungsorientierung, die aus einer Kombination von unzureichender Kriegsakzeptanz bei unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und der drohenden Totalität der Kriegsmittel folgte, benutzte Menschen und Material als Druckmittel und versuchte ihre physische Anwendung, ihren Einsatz im Feld, zu vermeiden oder zu minimieren. Das hat die Maschinisierung von Rüstung und Kriegführung ungeheuer vorangetrieben (vgl. nicht nur die SDI-Diskussion, sondern auch die Sammlung von militärischen Absurditäten zur Verkünstlichung des taktischen Schlachtfelds etwa in Nikutta (1987) und mit ihr die hochgradige Zergliederung, Aufsplitterung von Funktionen und ihre künstliche Wiederintegration, Vernetzung, die für militärische Strukturen, Bürokratien, internationale Märkte und neue komplexe Technologien charakteristisch sind: Der Trennung und Kopplung von Soldat und Kommandant entsprechen im modernen Krieg z.B. die Trennung und Vernetzung von Soldat und Destruktion und von Präzision und Destruktion, in den neuen Technologien z.B. von Komponente und Aggregat und von Aktuator und Sensor, und in der modernen Naturwissenschaft z.B. von Daten und Theorie und von Experiment und Simulation.

Die fiktive Kriegführung besteht nun darin, daß Verhandlungsorientierung und Maschinisierung sich fortlaufend gegenseitig antreiben, um technologische Überlegenheiten zu berücksichtigen und dadurch eigene Risiken (vermeintlich) herabzusetzen. Auf diese Weise ist die fiktive Kriegführung mit einem ungeheuren Verlust an Realitätssinn verbunden: Am Beginn eines jeden Krieges zeigte es sich schon früher, daß eigentlich nichts so funktionierte, wie man dachte. Diese Unsicherheit ist direkt eine Grundlage der Kriegführung, weil die wenigsten Kriege bei sicher vorhersagbarem Ausgang geführt worden wären. Der Krieg ist die Korrektur von vorgefaßten Vorstellungen in der Praxis (vgl. Clausewitz, 1972). Die Komplexität des modernen Kriegs erfordert aber – aus erkenntnistheoretischer Sicht – in ganz besonderem Maß das Kriterium der Praxis.

Gerade die Spanne zwischen versprochener und wirklicher Leistungsfähigkeit ist destabilisierend und treibt das Wettrüsten.12

D. Symptome der militärischen Deformation: undurchdringliche Komplexität, rücksichtslose Kreativität und täuschende Vertrautheit

Am spürbarsten ist der militärische Einfluß in der Informatik, in der militärischen Förderung der Computerwissenschaft und bei den Neuerungen im Bau von Rechenmaschinen und ihrer Programmierung, wo trotz Kriegsende die militärischen Auftraggeber stets Initiatoren und/oder größte Kunden blieben. Die Prägung und Deformation der Computerwissenschaft und der Hardware- und Software-Produktion bis in den zivilen Bereich hinein ist u.a. in Metropolis (1980), Booß, Coy (1985), Bickenbach (1985) und Domke (1988) untersucht. Zu welcher Art von Aussagen das empirische Material über die militärische Verschmutzung der Informatik zwingt, wie die Deformation konkret wirkt, wollen wir hier nur an zwei Fragenkomplexen13 erläutern, für deren Beantwortung Paul Abrahams, der frühere Präsident der Association for Computing Machinery (ACM), wichtige Hinweise gegeben hat:

  1. Welche Rolle spielten und spielen neben den unmittelbar militärischen Auftraggebern die zivilen Märkte? Sind Computer-Interessen multinationaler Konzerne mit ihrer Neigung zu Gigantismus und Hierarchie anders als die des Pentagons?
  2. Wieweit hat das Militärische die konkrete inhaltliche Ausformung der Art, wie mit Computern umgegangen wird, welche Maschinen, Programme, Anwendungen und Ausbildungen angeboten werden, geprägt? Wie hat letztlich das militärische Umfeld die Art, über Computer nachzudenken, verseucht? Welche Fragestellungen und Begriffsbildungen konnten erst abseits der etablierten Hauptströmung der Computer Science gedeihen, dort kaum zur Kenntnis genommen? Welche für die herrschende Computer Science charakteristischen Mißverständnisse wurden von dem Umfeld begünstigt?

Es hieße, die Idee der Marktwirtschaft geringzuschätzen, wollte man hier nicht ebenso wie bei jeder anderen Produkt- und Technikentwicklung den Einfluß der größten Kunden auf das Produkt sehen. Paul Abrahams hat den militärischen Einfluß auch auf zivile Software-Produktion 1988 in einem Präsidentenbrief14 für die ACM wie folgt charakterisiert: Die grundlegende Arbeitsteilung zwischen Militär und Produktion, ihre Verschiedenartigkeit und der hypothetische Charakter der Kriegführung in Friedenszeiten habe dazu geführt, daß die Anforderungen an Rüstungsgüter wie militärische Softwaresysteme vor ihrer Herstellung in unmäßiger Genauigkeit vom Auftraggeber beschrieben werden.

Überspezifizierung rührt von der Annahme, daß alle Eventualitäten im voraus bedacht und berücksichtigt werden können und müssen.

Abrahams nennt auch die Folgen:

  1. Überbeanspruchung der Produkte durch Detailregelungen und Überladung mit Leistungsmerkmalen. Verletzung des Prinzips der Einfachheit und Sicherheit.
  2. Ein »Wasserfall«-Modell der gesamten Softwareentwicklung, bei der in strenger Hierarchie nachgeordnete Arbeitsschritte nur die Aufgabe und Kompetenz haben, übergeordnete Anforderungen zu befriedigen. Verletzung des Prinzips der Transparenz, der Kooperation und der iterativen Spezifizierung – Grunderfordernis der »evolutiven« Produktentwicklung des »rapid prototyping«.
  3. Die Unterdrückung kritischer Erörterung von Qualität: „Bei dem besonderen Verhältnis der Hersteller militärischer Software zu ihren Kunden haben die meisten Hersteller wenig Grund, den Wert der ihnen abverlangten Berge von Papier und des eigentlichen Produktes in Zweifel zu ziehen, und tatsächlich gute Gründe, diese Dinge nicht in Frage zu stellen.“
  4. Die Verseuchung der Lehrbuchliteratur und des ganzen Denkens und Vorgehens vieler Informatiker durch „die Denkweisen, die im Verteidigungsministerium heimisch und die eigentliche Ursache der Schwierigkeit sind. Ein bedenklicher Zug in einem Großteil der Software-Engineering-Literatur ist ihre unausgesprochene Annahme, daß die Software entsprechend militärischen Anforderungen zu bauen ist, und die implizite Annahme der Vernünftigkeit solcher Spezifizierungen.“

Wie groß auch in der Reinen Mathematik heutzutage die Rolle der marginalen Einwirkungen ist, der »Energiezuführung und Steuerung von außen«, läßt sich durchaus an den Hauptforschungsrichtungen z.B. der modernen Analyse, Geometrie und Topologie erläutern. Gewiß verhalten sich die meisten Theoreme unmittelbar auch nur zu Fragen, die von anderen Theoremen aufgeworfen wurden. Die grundlegenden Problemstellungen und übergeordneten Ziele, die laufend angestrebt werden, werden allerdings zu einem guten Teil außerhalb der Mathematik bestimmt – nämlich mit der Thematisierung der Komplexität an sich, wenn es sich nicht um die bewußte Verschleierung unmittelbar militärischer Problemstellungen handelt.15

Neu ist eben auch, daß teils als Voraussetzung, teils als Folge von Militarisierung, Maschinenorientierung und Bereitschaft zur Komplexität der gesamte Zusammenhang Mathematik und Gesellschaft »ins System« gebracht wurde: Von den Forschungsabteilungen der Industrieunternehmen über die Organisation staatlicher Regulierung, Aufträge, Zuschüsse und Lügen, um Mittel einzuwerben16, bis herab zur Umgewichtung im Schulwesen, wo der Wettlauf um die besten Mathematik- und Physiknoten z. B. die ideologischen Kriterien – Beherrschung der alten Sprachen der europäischen Sklavenhaltergesellschaften – als Selektionskriterium für den »Elitenachwuchs« verdrängt hat, sehen wir eine organisierte Segmentierung, die alle Akteure im unklaren über die Rolle, die sie spielen, und die Zusammenhänge, in die sie eingehen, läßt.

Die extremen und letztlich absurden Anforderungen der Vernichtungswissenschaft und des Wettrüstens haben Denken und Arbeitsstil von mehr als einer Generation von Mathematikern, Naturwissenschaftlern und Ingenieuren umgestülpt, auf die Erforschung und Gestaltung komplexer unverstandener Systeme orientiert und an die Verantwortungslosigkeit freien, ungebundenen Schöpfertums, an das Lavieren in Bereichen, wo weder Daten noch Theorie, sondern nur die graphischen Oberflächen in Ordnung sind, und an den Mut zu brauchbaren, wenn auch theoretisch unverstandenen Lösungen gewöhnt.17 So ist es vielleicht nicht verwunderlich, daß Wissenschaftsbetrieb, Technik und Medizin die militärische Lehre verinnerlicht haben und aus dem Handeln im Bereich des Nichtwissens eine Tugend machen. Hier kann der Mathematiker oder Ingenieur in einem Institut für Regelungstechnik schon von der unverantwortlichen Kreativität in komplexen Bereichen ergriffen sein, auch wenn er subjektiv ehrlicher Kriegsgegner, Pazifist, Grüner oder Sozialist ist.

Schließlich gibt es eine Reihe von Anzeichen dafür, daß diese soziologischen Veränderungen der Mathematik von wirklichen Umwälzungen in der Art, wie »mathematisiert« wird, begleitet werden. Die klassischen Triumphe der mathematischen Modellierung, der Anwendung eines mathematischen Formalismus, sind an die Fähigkeit geknüpft, einen mehr oder weniger komplizierten Sachverhalt, Pendel- oder Planetenbewegung, Handels- und Finanzbedingungen, auf einfache Begriffe und Beziehungen zu bringen: Masse und Beschleunigung, Zins und Wechselkurs. »Mathematisierung« und mathematische Modelle wurden (und werden) so vielfach mit exakter Behandlung, Beschreibung und Analyse ideal einfacher oder zweckmäßig oder – aus der Sicht der Kritiker – unzweckmäßig idealisierter Verhältnisse gleichgesetzt.

Wenn dagegen neuerdings zunehmend die Handhabung der Komplexität, ihre Erweiterung und Reduktion, und die Komplexität selbst thematisiert wird, dann ist für Ethik, Politik und Pädagogik dabei die entscheidende Frage, ob der mathematische Fortschritt der Wahrnehmung und Reduzierung – oder der Erzeugung oder Vertuschung von Komplexität dient.

Auf die militärischen Quellen für die moderne intellektuelle Risikobereitschaft und Fehlerakzeptanz hat auch Eric Burhop, langjähriger Mitarbeiter am britischen Atombombenprojekt und später Präsident der Weltföderation der Wissenschaftler aufmerksam gemacht. Er sieht eine wesentliche Quelle für die Risiken der zivilen Kernenergetik in ihrer militärischen Herkunft, wo wegen der Verwendung der Reaktoren für die Herstellung von Spaltmaterial für Bomben die ersten Entwicklungen unter strengster Geheimhaltung vorgenommen wurden, wodurch die verantwortlichen Ingenieure und Physiker vor dem kritischen Urteil der großen Mehrheit ihrer Kollegen über die von ihnen entwickelten Technologien abgeschirmt waren.18

Der Schutz überspannter Ideen und leichtsinniger Entwicklungen vor sachkundiger Kritik ist allerdings nicht auf den staatlich-militärischen Sektor beschränkt. So schreibt Harriet Kagiwada, eine Spezialistin in moderner militärischer Unternehmensforschung aus der Schule des großen Mathematikers Richard Bellman:

„Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet des militärischen Modellierens und Rechnens sind auf den zivilen Bereich übergegangen. Wie groß der Einsatz auch sein mag, wirkt er doch ziemlich zerstückelt und kurzsichtig. Es gibt auch in manchen Firmen eine Neigung, die Veröffentlichung von Artikeln in der offenen Literatur zu meiden. Die Arbeit wird z.B. »Firmeneigentum« oder »wettbewerbssensitiv« genannt. Liegt dahinter nicht eigentlich eine Scheu vor der vollen Offenlegung gegenüber der Kritik und dem Urteil der kompetenten Fachkollegen?“ 19

Nach Klaus Oehlers Interpretation von Peirce (1878) besteht philosophiegeschichtlich der Fortschritt darin, daß man sich kein anderes Wahrheitskriterium als das kollektive, zwischen Menschen zu vermittelnde, Urteil der Interpretengemeinschaft leistet. Darin liegt eine zutiefst philosophische Begründung der Demokratie, die aber gegenstandslos wird, wenn durch extreme Steigerung der Komplexität die Gemeinschaft fachlich kompetenter Interpreten zu sehr verkleinert wird. Hier gibt es nur eine Lösung, eine bewußte Entscheidung für eine sehr konservative Technologiepolitik – konservativ nicht als ein Weitermachen im Stil der letzten Jahrzehnte, sondern eine Rückbesinnung auf die Zeitmaße von tausenden Jahren, die die Menschheit bisher zur Umstellung und Anpassung an veränderte Lebensbedingungen benötigte.20

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Anmerkungen

1) Mit der schwindenden Glaubwürdigkeit des Bedrohungsarguments hat der wissenschaftlich-militärisch-industrielle Komplex schon seit langem beim Lokomotivenargument Zuflucht gesucht, wonach die außerordentlichen Anforderungen von Rüstungs- und Raumforschung wissenschaftlich-technische Hochleistungen und entsprechende Spitzenpositionen auf dem Weltmarkt begünstigen. Zurück

2) Am markantesten bei Hegel, Lassalle und Nietzsche, wo es bis heute allerdings noch unklar scheint, was an diesen philosophischen Überhöhungen großer Wurf und was »läppisches Machwerk« (Marx über Lassalles zweibändige Heraklitbuch) ist; vgl. auch Weizsäcker (1971, S. 55), der als ehemaliger Atomphysiker merkwürdigerweise und gänzlich undistanziert gerade diesen Satz von Heraklit zur Erläuterung der Kopenhagener (Bohrschen) Auffassung von den Erkenntnisschwierigkeiten der modernen Physik – nämlich dem oft unlösbaren Zusammenhang zwischen Sinngebung eines Satzes und Vieldeutigkeit seiner Begriffe – gewählt hat, oder Jürss (1982, S. 196ff), der sich um die Entmythologisierung des Heraklitschen Denkens bemüht. Zurück

3) Marx (1858/1939, S. 29). Zurück

4) Booß, Høyrup (1984, S.33). Vgl. auch Lindner, Wohak und Zeltwanger (1984), die die Kulturgeschichte des »Rechnens« vom römischen Militärapparat bis zur Entwicklung des Computers für das Militär und den Einsatz der Großcomputer für die militärische Planung und die Steuerung von Großkonzernen nachzeichnen. Zurück

5) Vgl. Booß, Franke, Otte (1972), wobei die Mathematik und möglicherweise auch die Physik einen Sonderfall darstellen, während die anderen Naturwissenschaften, insbesondere Chemie, Genetik und Medizin von Anfang an umfassend in den faschistischen Staat eingebunden waren und durch ihn geprägt wurden. Zu einem eigentlichen Bündnis von Krieg und Mathematik, wie es sich dann in den angelsächsischen Ländern bilden sollte, konnte es im Nazi-Machtbereich schon wegen der Emigration nicht kommen. Z.B. emigrierten auf dem Gebiet der partiellen Differentialgleichungen, der Grundlagendisziplin für die weitesten Bereiche der mathematischen Physik mit einer riesigen Grenzfläche zur praktischen, numerischen Mathematik, fast alle führenden Köpfe, Richard Courant, Kurt Otto Friedrichs, Fritz John, Hans Lewy. Nur Franz Rellich und Ludwig Prandtl – beide keine Nazis – blieben. Rellich ließ sich bis Kriegsende völlig von seinen Lehrveranstaltungen absorbieren, und Prandtls Institut für Aerodynamik wurde ganz von der Universität abgetrennt und – trotz gewaltiger Expansion – unter militärischer Kontrolle auf ein sehr enges Forschungsprogramm festgelegt und letztlich isoliert. Siehe auch Reid (1976). Stärker standen in Nazideutschland Gebiete wie die komplexe Analyse, angeführt – neben der Prägung durch Carl Ludwig Siegel, der Deutschland erst 1938 verließ – von aktiven Nazis wie dem arrivierten Bieberbach oder fanatischen SS-Männern wie dem jungen Teichmüller, die trotz ihrer mathematischen Brillanz weder die notwendigen fachlichen Voraussetzungen mitbrachten, noch die entsprechende wissenschaftlich-militärische Umgebung vorfanden oder schaffen konnten, um in ein wirkliches Bündnis mit der Naziwehrmacht einzugehen. Zu groß war im Dritten Reich die Verachtung für selbständiges Denken, als daß das Regime Teichmüller eine andere Perspektive hätte weisen können, als gläubig an der Ostfront als Offizier zu fallen. Zurück

6) In der anglo-amerikanischen Öffentlichkeit, vor allem bei den Engländern, hat sich allerdings eine ganz andere Auffassung verbreitet, nämlich die Überzeugung, daß der Zweite Weltkrieg vor allem durch ihre überlegene Technologie gewonnen wurde. Zurück

7) Eine Personifizierung dieser giftigen Mischung hat man in der herausragenden Gestalt von John von Neumann: Seine eigene Arbeit wie seine Mitverwertung der besten Qualifikationen aller erreichbaren Kollegen zeugt von tiefer Klarsicht und bescherte ihm einen bedeutenden mathematisch-naturwissenschaftlichen Erfolg; seine Genialität befähigte ihn aber offensichtlich auch dazu, so leichthin von den Millionen von potentiellen Opfern seiner Arbeit abzusehen, die mögliche vollständige Entfesselung dessen, was er mit anderen zusammenbraute, einfach wegzuabstrahieren und auf diese Weise mit begeistertem Engagement unbeschwert seine Ziele zu verfolgen. Einsteins Gedanke, daß hier Kräfte entfesselt werden, für deren Beherrschung wir geistig, moralisch und materiell gar nicht vorbereitet sind und die uns daher schnell über den Kopf wachsen können (vgl. Straus, 1989), scheint von Neumann fremd gewesen zu sein. Seinen Eingang in die Geschichte – über die Geschichte der Mathematik hinaus – dürfte sich von Neumann als Paradebeispiel für jene Kombination von Wirksamkeit und blinder Rücksichtslosigkeit der scientistischen Tradition in den Naturwissenschaften erworben haben, einer Kombination, die Abscheu hervorruft, aber auch antiwissenschaftliche Züge des modernen Zeitgeistes fördert. Zu von Neumanns eigentümlichen Doppelcharakter vgl. Mahr (1984). Zurück

8) In der evolutionären Naturphilosophie des amerikanischen Pragmatikers Charles Saunders Peirce wird gerade das Verhältnis von Mensch, vorgefundener Komplexität und menschlichem Handeln thematisiert; vgl. Peirce (1903/1983), dessen Einleitung von Helmut Pape die folgende Passage entnommen ist: „Alle lebenden Wesen auf dieser Erde stehen in einem unverbrüchlichen Zusammenhang, der über die Evolution des Kosmos und des Lebens auf dieser Erde hineinreicht in die Gleichzeitigkeit der Wechselwirkungen zwischen allen lebenden Wesen und der Materie im gegenwärtigen Augenblick. Wir teilen mit allem Lebendigen eine gemeinsame Welt, und für diese Welt tragen wir Verantwortung, weil unser Handeln diese Welt in steigendem Maße verändert und sofern wir Menschen die einzigen Wesen sind, die in dieser Gemeinschaft des Lebens bewußt kontrollierten Zwecken folgen können. Für uns Menschen gilt: indem wir uns für Ziele entscheiden, legen wir fest, nicht nur wer wir sein werden, sondern wie unsere Welt beschaffen sein wird. Diese einfache Weise, die Ökologie menschlichen Erkennens und Handelns zu umreißen, führt zu dreierlei: Achtung und Würdigung der instinktiven, emotionalen Gemeinschaft aller Lebewesen und des Common Sense aller Menschen, dessen Orientierungsleistungen wir als Ausgangspunkt gemeinsam haben, zweitens konservative Behutsamkeit gegenüber den universellen Konsequenzen jedes Handelns, das dank technologischer Verstärkung durch Wissenschaft und Industrie zerstörerische oder wenigstens unabsehbare Konsequenzen gegenüber unserer gemeinsamen Welt hat, und schließlich intellektuellem Mut und revolutionärer Gesinnung bei dem Entwurf von Zielen, deren Verwirklichung unter den ökologischen Bedingungen in unserer gemeinsamen Welt unter der Kontrolle einer konkreten Vernünftigkeit sich entwickeln läßt.“ Wir verstehen unsere Kritik der militärischen Bedrohung der Mathematik durch marktschreierische Ankündigung, barocke Überladung, illusionäre Versprechungen und zynische Gleichgültigkeit gegenüber wissenschaftlichen und ethischen Qualitätskriterien als einen Beitrag zu dieser Peirceschen Ökologie von Kommunikation und anderen semiotischen Prozessen (Pape). Zurück

9) Vgl. das KI-Gerede über »maschinelle Intelligenz«, das auf Turing zurückgeht, als er auf die verzögerte Finanzierung durch die verarmte britische Nachkriegsregierung zur Fertigstellung des ersten modernen eigentlichen Universalrechners wartete und wegen offenbar unzureichender Beschäftigung mit den relevanten Grundlagenwissenschaften (aber auch in sarkastischer Polemik gegen biologistische Auffassungen von der »überlegenen Intelligenz« von Oberschichten und Herrenmenschen) die kognitive Leistung von Schachspiel und Dechiffrierung als paradigmatisch für menschliche kognitive Fähigkeiten unterstellte. (Man hatte damals für das Dechiffrierungsprogramm außer Mathematikern auch Schachmeister als besonders berufene Experten nach Bletchley Park geholt.) Ohne Turings unbestreitbare mathematische Autorität und seine Rolle in der theoretischen Vorgeschichte und der praktischen Realisierung der ersten Computer hätte sich diese unselige Begriffsbildung (und das Messen von Fortschritten in der »Maschinisierung der Kopfarbeit« an Verbesserungen bei der Programmierung von Schachcomputern) – wenn sie nur eine freie Erfindung etwa von M. Minsky gewesen wäre – kaum so schnell in gewissen akademischen Kreisen etablieren können. Immerhin war es bis dato nicht üblich gewesen, so hemmungslos zur Einwerbung der finanziellen Mittel noch vor Einleitung der Forschung Ergebnisse schon mitzuteilen. Siehe Hodges (1983), die erste fachlich kompetente Turingbiographie, die sich übrigens auf die Auswertung der eben erst freigegebenen britischen Kriegsarchive stützen konnte Zurück

10) Atiyah (1986, S. 48): Mathematics is really an Art – it is the art of avoiding brute-force calculation by developing concepts and techniques which enable one to travel more lightly. Zurück

11) Booß (1978) und Booß, Coy (1985). Zurück

12) Vgl. z.B. Booß (1978), Booß-Pate (1985) und Parnas (1985). Zurück

13) Nach Pate (1990). Für einen breiteren systematischen Ansatz vgl. Rilling (1989). Zurück

14) Abrahams (1988). Zurück

15) In der mathematischen Fachliteratur zu Differentialgleichungen gehört es heutzutage (vielleicht muß man sagen »erfreulicherweise«) zum guten Ton, politisch verharmlosend (und mathematisch irreführend) von den Schockwellen eines Tennisballs zu sprechen, wenn die Schockwellen eines Projektils oder einer Rakete gemeint sind. Auch liest man von Problemen der maschinellen Diagnose von unsicheren Daten in der Computertomographie (einem mathematisch und medizinisch ziemlich unsinnigem Projekt), wenn es um die maschinelle Identifikation von Truppenbewegungen und militärischen Objekten aus gestörten Daten der Satellitenfernaufklärung geht (ein Projekt, das in der gegenwärtigen Zeit sicher politisch völlig unsinnig ist, aber durchaus von mathematischem Interesse). Zurück

16) Weil Wissenschaftlerlügen gerne geglaubt werden, bleiben sie nicht bloßes Sprücheklopfen, sondern prägen den wissenschaftlich-militärisch-industriellen Komplex und bestimmen die Politik, werden politisch wirksam. Siehe z.B. Beusmans und Wieckert (1989). Zurück

17) Für den Bereich der modernen rechnergestützten Strömungsmechanik ist in Abbott, Basco (1989) in Anspielung an die Alchimie des Mittelalters der Begriff magischer Realismus geprägt worden – für den täuschenden Realismus von numerischen Simulationen auf der Grundlage nichtverstandener (oder verkehrter) physikalischer Gleichungen und nichtverstandener (oder unstabiler) Algorithmen. Zurück

18) Burhop (1980). Zurück

19) Kagiwada (1988). Zurück

20) Der vorstehende Aufsatz beruht auf dem Beitrag von Booß/Pate zum Wissenschaftlichen Symposium »Wissenschaft im Krieg – 50 Jahre danach« an der Philipps-Universität Marburg, 17.-18.11.1989. Zurück

Prof. Dr. Bernhelm Booß-Bavnbek ist Mathematiker und lehrt in Roskilde/DK; Glen Pate ist Mathematiker in Hamburg.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1990/2 1990-2, Seite