W&F 2017/3

Wie versöhnen wir uns?

Das Bedürfnisbasierte Modell

von Nurit Shnabel und Johannes Ullrich

Täter und Opfer erleben unterschiedliche Bedrohungen ihrer Identitäten. Der Schlüssel zur Versöhnung liegt in der Beseitigung dieser Bedrohungen. Die Autor*innen diskutieren sozialpsychologische Forschung, die zeigt, dass die Wiederherstellung positiver Identitäten die Versöhnung zwischen Individuen oder Gruppen günstig beeinflusst.

Ob sich ein Ehepaar bei der Scheidung über die Vermögensaufteilung streitet oder Nationen wegen Gebietsstreitigkeiten einen Konflikt ausfechten: In einem Konflikt geht es fast nie ausschließlich um materielle Ressourcen, sondern häufig um symbolische, wie Ehre, Akzeptanz und Gerechtigkeit. Um wieder harmonische Beziehungen herzustellen, bedarf es daher nicht nur gemeinsamer Vereinbarungen über die Aufteilung der konkreten strittigen Ressource (z.B. eines Plans für die Güteraufteilung oder eines Friedensvertrags), sondern es müssen auch emotionale Hürden überwunden werden, die den Weg zur Versöhnung blockieren. Wie hoch diese Hürden sein können, wissen alle, die schon einmal erlebt haben, wie schwer es ist, sich nach einem Konflikt zu entschuldigen oder dem anderen zu vergeben. Wer es geschafft hat, diese Hürde zu überwinden, hat dabei vermutlich erfahren, dass sich nach einer Entschuldigung bzw. Vergebung beide Parteien besser fühlen, obwohl das Geschehene nicht rückgängig zu machen ist (Tavuchis 1991).

Die Kraft von Entschuldigung und Vergebung in interpersonalen Beziehungen ist seit Langem bekannt. Zunehmend wird dieser sozialpsychologische Mechanismus aber auch in der öffentlichen Sphäre genutzt. Ein bekanntes Beispiel ist die Wahrheits- und Versöhnungskommission, die nach der Apartheid in Südafrika eingesetzt wurde. Hier waren Opfer aktiv an der Anklage beteiligt, und den Tätern wurde Amnestie gewährt, wenn sie die Verbrechen gestanden, die sie im Kontext der Apartheid verübt hatten. Die Psychologin Pumla Gobodo-Madikizela (2008), selbst Mitglied der Wahrheits- und Versöhnungskommission, meint, dieser Prozess „hat nach den Massengräueln die Sprache von Entschuldigung, Vergebung und Versöhnung in den öffentlichen Fokus gerückt“ (S. 59). Das hier vorgestellte »Bedürfnisbasierte Modell der Versöhnung« (Nadler and Shnabel 2015; Shnabel and Nadler 2015) wurde entwickelt, um die Dynamiken zwischen Opfern und Tätern im Prozess von Entschuldigung und Vergebung zu erklären.

Grundannahmen und empirische Prüfung

Das Bedürfnisbasierte Modell geht von zwei Annahmen aus, die in grundlegenden sozialpsychologischen Theorien verankert sind: Erstens sind Menschen motiviert, sich selbst positiv zu beurteilen, d.h. eine positive Identität zu bewahren oder wieder aufzubauen. Zweitens gibt es zwei fundamentale Inhaltsklassen sozialer Urteile: »Agency« und »Communion«. »Agency« steht für Merkmale wie stark, kompetent und einflussreich, während »Communion« Merkmale wie moralisch, warmherzig und vertrauenswürdig umfasst. Eine positive Identität umfasst Zuschreibungen aus beiden Inhaltsklassen.

Das Bedürfnisbasierte Modell baut auf diesen Annahmen auf und postuliert, dass Konflikte die Identität von Opfern und Tätern asymmetrisch bedrohen: Opfer erleben einen Verlust ihrer Fähigkeit, den Lauf der Dinge zu beeinflussen, und sehen folglich ihre agentische Identität bedroht. Täter hingegen leiden unter der Bedrohung ihrer kommunalen Identität. Ob sie sich schuldig fühlen oder nicht: Das Wissen, dass psychologisch relevante Bezugspersonen ihr Verhalten als unmoralisch ansehen, bedroht das moralische Selbstbild der Täter, und sie befürchten sozialen Ausschluss als Sanktion für die Verletzung moralischer Standards. Diese Bedrohungserfahrung resultiert in unterschiedlichen Motivationszuständen. Opfer verspüren das Bedürfnis, ihre agentische Identität wiederherzustellen, während Täter ihre kommunale Identität wiederherstellen und (erneut) die Akzeptanz der Gemeinschaft erlangen wollen, aus der sie sich potentiell ausgeschlossen fühlen. Bleiben diese Bedürfnisse unerfüllt, behindern sie Versöhnung. So verhalten sich Opfer manchmal rachsüchtig, um sich selbst zu behaupten, und Täter lösen sich moralisch los (z.B. indem sie die Schwere des Vergehens verharmlosen), um ihre Schuld herunterzuspielen. Durch einen Austausch, in dem Opfer und Täter die Bedürfnisse des jeweils anderen nach Ermächtigung bzw. Akzeptanz erfüllen, können sie sich der Versöhnung öffnen.

Der Prozess von Entschuldigung und Vergebung ist ein elementarer sozialer Mechanismus, über den ein solcher Austausch stattfindet. Mit ihrer Entschuldigung geben die Täter zu, dass sie moralisch in der Schuld der Opfer stehen, wodurch die Kontrolle wieder in der Hand der Opfer liegt; durch die Annahme der Entschuldigung und die Empathie der Opfer für die Sichtweise der Täter wird deren Gefühl der moralischen Minderwertigkeit abgeschwächt und ihre Zugehörigkeit zur Gemeinschaft bestätigt. Der Prozess von Entschuldigung und Vergebung ist zwar das nächstliegende Beispiel für einen Austausch, der zur Bedürfniserfüllung führt, es gibt aber auch andere Methoden. So können Täter beispielsweise ihre Opfer ermächtigen, indem sie Respekt für deren Leistung und Fähigkeiten äußern oder im Falle von Opfergruppen an ihren Nationalstolz und das nationale Erbe appellieren. Opfer wiederum können die Akzeptanz der Täter zum Ausdruck bringen, indem sie sich zur Freundschaft oder zur wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenarbeit bereit erklären.

Ein erfolgreicher Austausch von Ermächtigung und Akzeptanz kann Versöhnung auf zweierlei Weise befördern. Zum einen kann er die positiven Identitäten der Konfliktparteien wiederherstellen, indem er die symbolische Rollenaufteilung in »machtloses Opfer« und »unmoralischer Täter« auslöscht. Des Weiteren können Opfer Akzeptanzbotschaften aussenden und so signalisieren, dass sie sich nicht am Täter rächen oder ihn meiden werden, und Täter können mit Ermächtigungsbotschaften einfach klarstellen, dass sie ihre Vergehen nicht wiederholen werden (weil sie jetzt den Wert des Opfers erkennen). Durch den Austausch solcher Botschaften kann das gegenseitige Vertrauen zwischen Opfern und Tätern wiederhergestellt werden. Dies und die Wiederherstellung positiver Identitäten erleichtern die Versöhnung. Abbildung 1 fasst diesen Prozess zusammen.

Die Hypothesen des Modells wurden in etlichen experimentellen Studien überprüft, und zwar sowohl für Konflikte auf der interpersonellen als auch auf der Intergruppen-Ebene. So wurden in einer Studie (Shnabel, Nadler, Ullrich, Dovidio, Carmi 2009) jüdischen Israelis und (nicht-jüdischen) Deutschen zwei Reden präsentiert, die angeblich von Vertreter*innen der jeweils anderen Gruppe am Holocaust-Denkmal in Berlin gehalten worden waren. Die wichtigste Botschaft der Reden war entweder Akzeptanz (z.B. „wir sollten die [Juden/Deutschen] akzeptieren und uns daran erinnern, dass wir alle Menschen sind“) oder Ermächtigung (z.B. „die [Deutschen/Juden] haben das Recht, stark und stolz zu sein“). Wie zu erwarten war, zeigten sich Juden eher nach Ermächtigungsbotschaften zur Versöhnung mit Deutschen bereit, bei Deutschen war dies eher nach Akzeptanzbotschaften der Fall. Eine entsprechende Dynamik wurde auch bei Opfern und Tätern in interpersonalen Konflikten beobachtet (Shnabel und Nadler 2008).

Ausweitung des Modells auf »duale« Kontexte

Der ursprüngliche Ansatz des Modells ging davon aus, dass »Opfer« und »Täter« sich gegenseitig ausschließende Rollen sind. In vielen Konflikten sind aber beide Parteien gleichzeitig Opfer und Täter. In einem Experiment, das diese »Dualität« untersuchte, arbeiteten die Teilnehmenden in Zweierteams und mussten wertvolle Ressourcen verteilen (z.B. Geldpreise). Anschließend erhielten sie eine manipulierte Rückmeldung: In der Kontrollgruppe erfuhren die Teilnehmenden, dass sowohl ihre eigene als auch die Verteilung ihrer Teampartner*in fair gewesen sei, in der Opferrolle, dass ihr*e Partner*in unfair verteilt habe, in der Täterrolle, dass sie selbst unfair verteilt hätten, und in der dualen Rolle, das sowohl sie selbst als auch ihre Teampartner*in unfair verteilt hätten. Bezüglich psychologischer Bedürfnisse zeigten Teilnehmende in einer Doppelrolle ein gesteigertes Bedürfnis sowohl nach Agency (vergleichbar mit Opfern) wie nach Communion (vergleichbar mit Tätern). In ihrem Verhalten allerdings zeigten sie (vergleichbar mit Opfern) ein gesteigertes Bedürfnis nach Agency, was sich in Rachegefühlen äußerte; anders als bei Tätern äußerte sich das gesteigerte Bedürfnis nach Communion aber nicht in Pro-Sozialität (Großzügigkeit gegenüber dem/der Partner*in). Ähnliche Ergebnisse, die auf den Vorrang von Agency gegenüber Communion in solchen dualen Kontexten hindeuten, wurden im Zusammenhang mit dem Israel-Palästina-Konflikt und den Bürgerkriegen in Liberia beobachtet. Diese Ergebnisse stimmen mit der Beobachtung des Sozialpsychologen Roy Baumeister (1997) überein, dass die Opferrolle tiefer in der Psyche verankert wird als die Täterrolle.

Tatsächlich entwickeln »duale« Konfliktparteien häufig ein ausgeprägtes Opferbewusstsein, nicht aber ein Täterbewusstsein, und wetteifern geradezu um den Opferstatus. Wir gehen davon aus, dass Konfliktparteien in eine »kompetitive Opferrolle« verfallen, weil die Anerkennung des eigenen Opferstatus gleichzeitig beide Bedürfnisse befriedigt, die in der Doppelrolle gesteigert vorhanden sind: das Bedürfnis nach einem positiven moralischen Bild (weil der Opferstatus mit Unschuld assoziiert wird) und das Bedürfnis, selbst Akteur zu sein (weil Anerkennung des eigenen Opferstatus das Recht auf unterschiedliche Formen von Ermächtigung mit sich bringt, z.B. Reparationen und Unterstützung durch Dritte). Interessanterweise zeigen Studien, die mit israelischen Palästinenser*innen und israelischen Juden/Jüdinnen durchgeführt wurden, dass die Thematisierung des dringenden Bedürfnisses der Gruppenmitglieder nach ­Anerkennung ihres Opferstatus – z.B. durch Förderung einer inklusiven Opferwahrnehmung, d.h. durch Betonung, dass beide Gruppen schwer unter dem Konflikt litten (Vollhardt 2015) – das Wetteifern um den Opferstatus verringern und die gegenseitige Vergebung befördern kann.

Ausweitung des Modells auf Situationen mit struktureller Ungleichheit

Ein Intergruppenkonflikt manifestiert sich nicht nur in direkter Gewalt (z.B. Krieg), sondern auch in »struktureller Gewalt« (Galtung 1969), d.h. in ungleichen sozialen Verhältnissen, die manche Gruppen privilegieren und andere benachteiligen. Diese Ungleichheit führt zu unterschiedlichen Gruppenstereotypen: Benachteiligte Gruppen werden oft als warmherzig, aber inkompetent wahrgenommen, privilegierte Gruppen als kompetent, aber kalt und unmoralisch. Entsprechend der Logik des Bedürfnisbasierten Modells ist anzunehmen, dass die Bedürfnisse der Mitglieder privilegierter und benachteiligter Gruppen denen von Tätern und Opfern entsprechen, wenn die Ungleichheit zwischen den Gruppen als ungerechtfertigt wahrgenommen wird (z.B. weil sie unfaire Diskriminierung widerspiegelt).

Dies wurde in Studien bestätigt (Siem, von Oettingen, Mummendey, Nadler 2013). In einem Experiment wurden die Teilnehmenden – Studierende der klinischen Psychologie – nach dem Zufallsprinzip in Gruppen aufgeteilt, in denen sie sich entweder mit Berufsgruppen von höherem (Psychiatrie) oder niedrigerem Status (Sozialarbeit) vergleichen sollten. Dann wurden die Statusunterschiede zwischen Psycholog*innen und Psychiater*innen bzw. Sozialarbeiter*innen mit den unterschiedlichen Ausbildungsanforderungen gerechtfertigt bzw. als ungerechtfertigt ausgewiesen, da die klinischen Psycholog*innen und die Sozialarbeiter*innen eine ähnliche Arbeit verrichteten. Wie zu erwarten gab es in dem »gerechtfertigt«-Szenario hinsichtlich der Bedürfnisse nach Communion und Agency keine Unterschiede zwischen den Psychologiestudierenden, die sich mit Psychiater*innen verglichen, und denen, die sich mit Sozialarbeiter*innen verglichen. Anders lag der Fall, wenn die Statusunterschiede als nicht gerechtfertigt dargestellt wurden: Nun hatten Psycholog*innen ein höheres Bedürfnis nach Communion, wenn sie sich mit Sozialarbeiter*innen verglichen, als wenn sie sich mit Psychiater*innen verglichen, während es bei dem Bedürfnis nach Agency genau umgekehrt war.

Folgestudien (Shnabel, Ullrich, Nadler, Dovidio und Aydin 2013) zeigten, dass Botschaften der jeweils anderen Gruppe, die die Communion der privilegierten Gruppe und die Agency der benachteiligten Gruppe betonten, nicht nur für positivere Einstellungen gegenüber den anderen sorgten, sondern auch die Bereitschaft erhöhten, gemeinsam für soziale Gerechtigkeit aktiv zu werden (mit Demonstrationen, Petitionen, usw.). In ihrer Dissertation beschäftigt sich aktuell Tabea Hässler mit der Hypothese, dass durch Intergruppenkontakte die Unterstützung für sozialen Wandel hin zu mehr Gleichheit steigt, wenn sich Mitglieder benachteiligter Gruppen (z.B. LGBTIQ*) durch privilegierte Gruppen (z.B. Cis-/Heterosexuelle)1 ermächtigt und sich die Mitglieder privilegierter Gruppen durch die benachteiligten Gruppen moralisch angenommen fühlen.

Diese Sichtweise betont die kritische Rolle von Prozessen, die eine positive Identität wiederherstellen, beim Streben nach struktureller Gleichheit. Die traditionelle Sichtweise besagt, dass privilegierte Gruppen nicht die Treiber von sozialem Wandel sein können, da sie vor allem bestrebt sind, ihre Privilegien zu bewahren. Das Bedürfnisbasierte Modell legt aber nahe, dass Mitglieder privilegierter Gruppen durchaus Solidarität mit der benachteiligten Gruppe zeigen können, wenn ihr (eigentlich bedrohtes) moralisches Selbstbild bestätigt wird. Bei benachteiligten Gruppen hingegen zeigen Forschungsergebnisse zu kollektivem Handeln, dass ihre Mitglieder den Status quo oft nicht aktiv in Frage stellen, weil sie einen Mangel an kollektiver Wirksamkeit verspüren. Aus dem Bedürfnisbasierten Modell ergibt sich aber, dass die Wiederherstellung der Agency diese passive Akzeptanz von Ungleichheit verhindern kann. Praktische Interventionen zur Förderung positiver Intergruppenbeziehungen, die sich oft auf Communion konzentrieren (z.B. im Sinne der Kontakthypothese Freundschaften zwischen den Gruppen anregen), sollten also auch die Machtbeziehungen adressieren und die stereotype Wahrnehmung benachteiligter Gruppen als inkompetent direkt hinterfragen.

Wiederherstellung der Identität außerhalb des Opfer-Täter-Geflechts

Mit dem Bedürfnisbasierten Modell konnte zwar festgestellt werden, welche Botschaften Konfliktparteien austauschen können, um Versöhnung herbeizuführen. In der Praxis vermeiden Opfer und Täter aber oft versöhnliche Botschaften, weil sie befürchten, dass diese positive Geste nicht erwidert wird. Daher haben wir in letzter Zeit untersucht, welches Potential die Wiederherstellung der Identität außerhalb des Opfer-Täter-Geflechts für die Versöhnung hat. Eine Quelle dafür sind Dritte. Zugegebenermaßen hat die Ermächtigung und die Übermittlung von Botschaften über Dritte bei interpersonalen Vergehen nicht sehr gut funktioniert. In einem Intergruppenkontext hingegen, in dem Versöhnungsbotschaften typischerweise über Gruppenvertreter und nicht direkt zwischen den einzelnen Opfern und Tätern übermittelt werden, konnte Ermächtigung und Akzeptanz durch Dritte, die mit der Opfergruppe eine gemeinsame Identität aufwiesen, Versöhnung wirksam befördern. Ein Beispiel: Botschaften jordanischer Vertreter erhöhten die Bereitschaft israelischer Juden, sich mit Palästinensern zu versöhnen.

Die Wiederherstellung der Identität außerhalb des Opfer-Täter-Geflechts kann auch durch selbst-affirmative Prozesse erreicht werden. In einer Studie zeigte sich, dass Mitglieder einer Tätergruppe (australische Nicht-Aborigines), die erfuhren, dass sich ihre Gruppe bei der Opfergruppe (australische Aborigines) entschuldigt hatte und dass Mitglieder der Opfergruppe die Entschuldigung angenommen hatten, sich moralisch wiederhergestellt fühlten (unabhängig davon, wie die Antwort der Opfergruppe ausgefallen war). Diese (Selbst-) Wiederherstellung der Communion wiederum erhöhte die Bereitschaft von Mitgliedern der Tätergruppe, die Opfergruppe zu entschädigen und sich mit ihr zu versöhnen.

Aus weiteren Studien zu »dualen« Konflikten ergab sich, dass Interventionen zugunsten einer Anerkennung der Agency erfolgreich die Aggressivität senkten und das pro-soziale Verhalten gegenüber der anderen Konfliktpartei verbesserten. So zeigten Teilnehmende aus der Schweiz eine pro-sozialere Tendenz gegenüber der EU, mit der sich die Schweiz nach der Annahme der Volksinitiative von 2014 zur Einwanderungsbeschränkung im Konflikt befand, nachdem sie eine kurze Übungsaufgabe absolvierten, in der sie über die Schweiz als starkes und erfolgreiches Land schrieben. Ähnliche Muster wurden bei interpersonalen Konflikten beobachtet. Teilnehmende, die über eine Situation schrieben, in der sie kompetent und selbstbestimmt waren, verhielten sich gegenüber der anderen Konfliktpartei (z.B. Arbeitskolleg*innen) versöhnlicher. Dies traf vor allem auf Beziehungen zu, die sich durch eine geringe Verbindlichkeit auszeichneten und in denen die Konfliktparteien vor allem um ihre eigenen Bedürfnisse kreisten – in diesem Fall um das Bedürfnis nach Agency.

Folgerungen

Die wissenschaftliche Erforschung des Versöhnungsprozesses ist ein relativ junger Forschungszweig, und weitere Forschungsprojekte können wertvolle Ergebnisse liefern. Wir hoffen, dass die Forschung zum Bedürfnisbasierten Modell letztlich nicht nur dazu beiträgt, das theoretische Verständnis von Versöhnung zu verbessern, sondern auch in der Ausarbeitung praktischer Interventionen für verschiedene Kontexte resultiert – seien es internationale Friedenstribunale, Ansätze zur opferorientierten Justiz (z.B. Täter-Opfer-Ausgleich) im Strafrechtssystem, Schulen, Organisationen oder Gemeinden.

Anmerkung

1) LGBTIQ* = lesbisch, schwul, bisexuell, transgender, intersexuell und questioning (Personen, die ihre eigene sexuelle Identität hinterfragen); Cis-Heterosexuals = heterosexuelle Menschen, deren Geschlechtsidentität mit ihrem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt.

Literatur

Galtung, J. (1969): Violence, peace, and peace research. Journal of Peace Research, Vol. 6, No. 3, S. 167-191.

Gobodo-Madikizela, P. (2008). Transforming trauma in the aftermath of gross human rights abuses – Making public spaces intimate through the South African truth and reconciliation commission. In Nadler, A.; Malloy, T.; Fisher, J.D. (eds.): Social Pychology of Intergroup Reconciliation. New York, NY: Oxford University Press, S. 57-76.

Nadler, A. and Shnabel, N. (2015): Intergroup reconciliation – Instrumental and socio-emotional processes and the need based model. European Review of Social Psychology, Vol. 26, No. 1, S. 93-125.

Shnabel, N. and Nadler, A. (2008): A Needs-Based Model of Reconciliation – Satisfying the differential emotional needs of victim and perpetrator as a key to promoting reconciliation. Journal of Personality and Social Psychology, Vol. 94, No. 1, S. 116-132.

Shnabel, N. and Nadler, A. (2015): The Role of Agency and Morality in Reconciliation Processes – The Perspective of the Needs-Based Model. Current Directions in Psychological Science, Vol 24, No. 6, S. 477-483.

Shnabel, N.; Ullrich, J.; Nadler, A.; Dovidio, J.F.; Aydin, A.L. (2013). Warm or competent? Improving intergroup relations by addressing threatened identities of advantaged and disadvantaged groups. European Journal of Social Psychology, Vol 43, No. 2, S. 482-492.

Shnabel, N.; Nadler, A.; Ullrich, J.; Dovidio, J.F.; Carmi, D. (2009): Promoting reconciliation through the satisfaction of the emotional needs of victimized and perpetrating group members – The Needs-Based Model of Reconciliation. Personality and Social Psychology Bulletin, Vol 35, No. 8, S. 1021-1030.

Siem, B.; von Oettingen, M.; Mummendey, A.; Nadler, A. (2013). When status differences are illegitimate, groups’ needs diverge – Testing the Needs-Based Model of reconciliation in contexts of status inequality. European Journal of Social Psychology, Vol. 43, No. 2, 137–148.

Tavuchis, N. (1991): Mea culpa – A sociology of apology and reconciliation. Palo Alto, CA: Stanford University Press.

Vollhardt, J.R. (2015): Inclusive victim consciousness in advocacy, social movements, and intergroup relations – Promises and pitfalls. Social Issues and Policy Review, Vol 9, No. 1, S. 89-120.

Nurit Shnabel ist Senior Lecturer für Sozialpsychologie an der Universität Tel-Aviv.
Johannes Ullrich ist Professor für Sozialpsychologie an der Universität Zürich.
Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2017/3 Ressourcen des Friedens, Seite 34–38