W&F 2000/2

Wieder Krieg im Nordkaukasus

von Marc Schlaphoff

Seit Anfang Juli 1999 haben sich die Kampfhandlungen im Konflikt um das zur Russischen Föderation gehörende Tschetschenien derart verdichtet, dass sie die Kriegsschwelle überschritten haben. Eine Vielzahl von Bombenanschlägen, denen im Laufe des letzten Jahres in verschiedenen russischen Republiken mehr als 350 ZivilistInnen zum Opfer gefallen waren, hatten den Konflikt bereits vorher wieder in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses in Russland wie in den westlichen Industrienationen rücken lassen. Trotz fehlender Fahndungserfolge wurden die Anschläge von der russischen Regierung tschetschenischen Attentätern angelastet. Mit der am 1. Oktober begonnenen Bodenoffensive der russischen Truppen eskalierte der Tschetschenienkonflikt endgültig, drei Jahre nachdem er 1996 eine vorläufige Beendigung gefunden hatte, ohne allerdings jemals politisch tragfähig beigelegt worden zu sein. Marc Schlaphoff von der Hamburger »Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung« analysiert die letzten Jahre des »Tschetschenienkonflikts«.

Die anfängliche Intensivierung des Konflikts durch tschetschenische Rebellen lässt sich aus einer Unzufriedenheit mit den Entwicklungen in Tschetschenien und dem damit verbundenen Erstarken der radikal-islamischen Opposition erklären. Nach der siegreichen Beendigung des Tschetschenienkrieges 1994-96 und dem vollständigen Rückzug der russischen Truppen am 05. Januar 1997 war eine kurze Zeit relativer Stabilität eingekehrt. Schon Ende Januar des selben Jahres wurden Präsidentschaftswahlen abgehalten, aus denen der ehemalige Generalstabschef der tschetschenischen Streitkräfte, Aslan Maschadow, als Sieger hervorging. Für die verschiedenen tschetschenischen Clans galt der moderate Moslem als guter Kompromisskandidat da er zwar geborener Tschetschene war, aber fast sein ganzes Leben beim Militär in Russland verbracht hatte. Der Bevorzugung eines einzelnen Clans des multi-ethnischen Tschetschenien sollte damit vorgebeugt werden.

Maschadow gelang es jedoch nicht sich die Unterstützung aller ehemaligen Feldkommandeure und Clanchefs zu sichern. Zwar ernannte er einen seiner schärfsten Konkurrenten, Shamil Basayev, zuerst zum Armeechef, später sogar zum Premier. Doch dieser ging bald in die Opposition zu dem Ex-General der sowjetischen Streitkräfte. Erschwerend kam hinzu, dass die von Russland versprochene Aufbauhilfe nur sehr spärlich floss und das Land ohne eine funktionierende Wirtschaft keinerlei Zukunftsperspektive bot. Einzelne Kommandeure der Milizionäre gingen bald dazu über, ihren eigenen Interessen nachzugehen und sich um das Überleben ihrer jeweiligen Clans zu kümmern. So kam es wiederholt zu Entführungen ausländischer Arbeiter um Lösegeld zu erpressen. Auch Raubzüge in die benachbarte russische Region Stavropol nahmen an Intensität zu, ebenso wie der Diebstahl von Erdöl aus der Pipeline, die durch Tschetschenien und Dagestan führt. Kriminelle und politische Motive gingen so bei diesen Akteursgruppen eine regelmäßige Verbindung ein.

In dieser Situation bildeten die strengen moslemischen Clanchefs eine in ihrer politischen Bedeutung herausragende Gruppe. Im Februar 1999 konnten sie Aslan Maschadow dazu bewegen, die Einführung des islamischen Rechtskodex Scharia und die Formulierung einer islamischen Verfassung zu veranlassen. Zeitgleich wurde die Gründung eines Konzils bekannt gegeben, welches die Republik in Harmonie mit den islamischen Gesetzen regieren sollte. Das Konzil dem Shamil Basayev vorsitzt, wurde von Maschadow, der am 21. März 1999 beinahe einem Attentat politischer Kontrahenten zum Opfer fiel, nicht anerkannt. Insgesamt verlor Maschadow wesentlich an Einfluss.

Die Beziehungen zur Russischen Föderation verschlechterten sich sichtbar anlässlich der Entführung eines hohen Beamten des russischen Innenministeriums, Major-General Gennadii Shpigun, am 08. März 1999. Von offizieller russischer Seite wurde sofort die Freilassung des Generals gefordert. Tschetschenische Ermittlungen erwiesen sich jedoch als erfolglos. In Reaktion auf die Entführung wurde die russische Vertretung in Grosny evakuiert.

Zur offenen Eskalation des Konfliktes kam es schließlich durch wiederholte Überfälle auf Miliz- und Grenzposten sowohl an der tschetschenisch-russischen als auch an der tschetschenisch-dagestanischen Grenze. Nach russischen Angaben gab es hier bis Mitte Juli 1999 insgesamt 73 Zwischenfälle, oft mit Todesopfern unter der russischen Armee. Diese Angriffe wurden nicht mehr als rein kriminelle Aktionen betrachtet, da es sich um gezielt koordinierte Angriffe auf Streitkräfte der russischen Föderation gehandelt haben soll. Durch die Aufsplitterung der tschetschenischen Kampfverbände ist es schwierig einen oder mehrere Initiatoren der Überfälle zu benennen, vermutlich waren aber auch Kämpfer Shamil Basayevs beteiligt. Wie Präsident Maschadow zu den Angriffen stand, ist kaum zu klären. Seine Regierungszeit zwischen Frühjahr 1997 und Sommer 1999 zeichnete sich durch eine moderate Politik aus. Mehrmals versuchte er mit Nachbarregionen und der Russischen Föderation zu verhandeln und lehnte einen militanten Islam wie ihn Basayev vertritt stets ab. Der massive innenpolitische Druck zwang ihn möglicherweise zu einer Änderung seiner Politik.

Am 03. Juli 1999 beschloss das russische Innenministerium Präventivschläge gegen tschetschenische Kämpfer durchzuführen. Es kam daraufhin zu Angriffen russischer Grenztruppen auf vermutete Rebellenstellungen. Auf Grund der sich seitdem schnell intensivierenden und kontinuierlichen Kampfhandlungen ist dies der Kriegsbeginn zwischen der Russischen Föderation und den tschetschenischen Paramilitärs.

Als Anfang August mehrere hundert (einige Quellen sprechen von bis zu 2.000) Rebellen Dagestan überfielen, standen diese unter der Befehlsgewalt Basayevs und eines weiteren Veteranen des Tschetschenienkrieges, dem jordanischen Kommandeur Khattab. Die Rebellen besetzten innerhalb weniger Tage mehrere Dörfer im Südwesten der Republik, wurden aber von einer dagestanischen Freiwilligenarmee und massiven russischen Artillerie- und Luftangriffen an der Einnahme der Stadt Botlikh gehindert. Am 10. August riefen Basayev und Khattab eine »Islamische Republik Dagestan« aus, die von der offiziellen Regierung in der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala erwartungsgemäß nicht anerkannt wurde. Für die islamistischen Rebellenführer sollte dies die Kernzelle einer islamischen Kaukasusrepublik sein. Die Moskauer Führung forderte Präsident Maschadow auf, tschetschenische Einheiten zum Kampf gegen die Rebellen auszusenden, was dieser ablehnte. Russischen Militäreinheiten gelang es jedoch bald die Rebellen zurückzuschlagen, welche sich am 23. August zurückzogen. Es wird angenommen, dass ungefähr die Hälfte der tschetschenischen Paramilitärs getötet oder gefangen genommen wurden.

Anfang September griffen die Kampfhandlungen auf Tschetschenien über. Die russische Luftwaffe begann mit der Bombardierung von Zielen auf tschetschenischem Gebiet. Zuerst beschränkt auf die an Dagestan grenzende Bergregion wurden ab dem 23. September auch der Flughafen der Hauptstadt Grosny, verschiedene Industrieanlagen, der staatliche Fernsehsender und Depots aus der Luft angegriffen. Die tschetschenischen Paramilitärs verfügten über keine modernen Flugabwehrsysteme, sodass die Bekämpfung der russischen Luftstreitkräfte nur sehr begrenzt möglich war. Auf die Zivilbevölkerung nahm das russische Militär nur wenig Rücksicht. Mehrere hundert ZivilistInnen sollen bereits zu diesem Zeitpunkt ums Leben gekommen sein. Zehntausende TschetschenInnen flohen in die Nachbarrepubliken, vor allem nach Inguschetien.

Noch während der Luftangriffe versuchte Präsident Maschadow mit der Führung der russischen Föderation zu verhandeln. Er distanzierte sich vom Angriff auf Dagestan und den Bombenanschlägen auf russische Wohnhäuser Mitte September. Ein seit dem Sommer geplantes Treffen zwischen Maschadow und dem damaligen russischen Präsidenten Jelzin kam jedoch nicht mehr zu Stande. Das russische Innenministerium gab an, eine direkte Beteiligung von Maschadows Truppen an den Kampfhandlungen in Dagestan belegen zu können, und distanzierte sich zunehmend von Verhandlungsversuchen.

Tatsächlich hatten und haben zwei der zentralen Akteure auf Seiten der Russischen Föderation besondere Interessen an einer siegreichen Fortführung und Intensivierung der Kampfhandlungen. Zum einen nutzt Interimspräsident Putin den Konflikt um seine Chancen bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen im März 2000 zu verbessern. Denn im Gegensatz zum ersten Tschetschenienkrieg befürwortet der Großteil der russischen Bevölkerung die Militäraktion gegen die tschetschenischen Rebellen. Auslöser dieses Meinungsumschwungs waren offensichtlich die Bombenanschläge auf Einkaufszentren und Wohnblocks in verschiedenen russischen Republiken im März und September des Berichtsjahres, bei denen insgesamt mehr als 350 ZivilistInnen starben. Die Täter konnten bis heute zwar nicht ermittelt werden. Die russischen Staatsorgane und die Medien halten es aber für erwiesen, dass Tschetschenen für die Anschläge verantwortlich seien. Die Kriegsführung wird zudem von den Medien unterstützt, Gräuelbilder von getöteten Soldaten und gefolterten Tschetschenen werden unterdrückt oder als Fälschung westlicher Medien bezeichnet.

Zum anderen hat das russische Militär ein besonderes Interesse an einer siegreichen Fortführung des Krieges. Das Militär, das seit dem Ende des Kalten Krieges wesentlich an Bedeutung verloren hat, erachtet seine Niederlage im Tschetschenien-Krieg von 1994 bis 1996 als besondere Ursache für seinen Ansehensverlust. Ein erneuter Feldzug gegen die tschetschenischen Rebellen scheint dem Militär daher eine Möglichkeit zu bieten seine Bedeutung wieder aufzuwerten. Die Eroberung Grosnys, dem Symbol der russischen Niederlage, spielt dabei eine große Rolle.

Schließlich bestehen auch wirtschaftliche Interessen, die Russland im Nordkaukasus, dem schon immer eine hohe geostrategische Bedeutung zukam, vertritt. Tschetschenien war und ist vor allem als Zugang zum südlichen Kaukasus wichtig. Insbesondere die Erdölpipeline, welche durch Tschetschenien und Dagestan die reichen Ölfelder des Kaspischen Meeres mit dem russischen Hafen Noworossijsk verbindet, ist als Devisen-Einkunftsquelle für Russland von besonderem Interesse. Sie war, wie oben bereits erwähnt, immer wieder das Ziel von Sabotageakten tschetschenischer Rebellen und Kriminellen. Schließlich hat die russische Föderation insgesamt keinerlei Interesse an einem weiteren islamischen Staat an seiner Grenze, der zu einem Einflussverlust im gesamten Kaukasus führen würde.

Nachdem die russische Militärführung ihre Truppen an den Grenzen zu Tschetschenien massiert hatte, begann am 1. Oktober eine Bodenoffensive der russischen Armee. Offiziell sollte lediglich eine Sicherheitszone geschaffen werden um tschetschenische Kämpfer an Überfällen auf die angrenzenden Regionen zu hindern. Ende November schälte sich jedoch die Einnahme ganz Tschetscheniens als offensichtliches Ziel der Aktion heraus. Um Verluste unter den russischen Streitkräften zu minimieren, führte die Armee, wenn möglich, einen Kampf auf Entfernung. Mit Flugzeugen, Hubschraubern, Artillerie und Raketenwerfern wurden Rebellenstellungen und Dörfer so lange aus der Entfernung angegriffen bis alle vermeintliche Rebellen geflohen waren. Auf zivile Opfer unter der tschetschenischen Bevölkerung wurde bei den Angriffen wieder wenig Rücksicht genommen. Zu direkten Kampfhandlungen kam es in der ersten Phase des Krieges nur vereinzelt, da die tschetschenischen Kämpfer die offene Feldschlacht gegen einen überlegenen Feind vermieden. Am 12. November fiel die zweitgrößte Stadt Tschetscheniens, Gudermes, kampflos in die Hände russischer Truppen.

Zähen Widerstand leisteten die tschetschenischen Rebellen erst in Grosny. Nach der Einkesselung durch russische Truppen Anfang Dezember war die Hauptstadt wochenlang Ziel schwerer Artillerie- und Luftangriffe. Die Einnahme erfolgte mit größerer Vorsicht als Ende 1994. Aufklärungstrupps, meist moskautreue Tschetschenen, erkundeten Rebellenstellungen, die dann mit Artillerie beschossen wurden. Die Angriffe wurden auf einzelne Stadtteile konzentriert, die nach der Einnahme systematisch durchsucht wurden. Trotzdem werden die Straßen- und Häuserkämpfe besonders auf russischer Seite viele Opfer gefordert haben.

Nach sechs Wochen heftiger Kämpfe verkündete Interimspräsident Putin am 6. Februar die Einnahme des völlig zerstörten Grosny. Zuvor hatten sich einige Rebellenverbände aus der Stadt zurückziehen können; während dieses Rückzuges soll Feldkommandeur Basayev durch eine Minenexplosion verletzt worden sein. Der Widerstand der Rebellen ist auch nach der Aufgabe Grosnys ungebrochen. Den Streitkräften der Russischen Föderation gelang es trotz schwerer Luftangriffe und dem Einsatz von Elitetruppen bis Ende Februar nicht, die Rebellenstellungen im Argun-Flusstal einzunehmen. Den 5.000-7.000 dort verschanzten Rebellen stehen etwa 50.000 russische Soldaten und Milizionäre gegenüber.

Die personellen Verluste auf beiden Seiten lassen sich nur schwer einschätzen, da keine neutralen Beobachter in der Region sind. Die russische Seite vermeldet knapp über 1.100 Tote in Tschetschenien und 273 Opfer der Kämpfe in Dagestan. Verluste der pro-russischen tschetschenischen Verbände werden dabei nicht berücksichtigt. Die wirklichen Zahlen liegen vermutlich viel höher, die russische Führung will jedoch einen Meinungsumschwung der Bevölkerung vermeiden. Der amtierende Präsident Putin gründet seine Beliebtheit im Volk und die damit verbundene Chance auf das Präsidentenamt auf einen erfolgreichen Krieg im Kaukasus. Aus dem selben Grund sind vermutlich auch die Schätzungen über die Verluste der Rebellen übertrieben, die russische Seite sprach von Zehntausenden von Toten. Wie viele Zivilisten durch den Beschuss Grosnys, durch Hunger und Kälte umgekommen sind ist ungewiss. Verschiedene Schätzungen gehen von mehreren tausend Opfern aus.

Die westlichen Industrienationen haben sich bisher mit harter Kritik zurück gehalten, da der Krieg als innere Angelegenheit Russlands betrachtet wird. Es kam weder zu wirtschaftlichen Sanktionen, noch zum Einfrieren von Krediten – zu groß scheint die Angst vor einem instabilen Russland. So geht die Kritik vor allem von Nicht-Regierungs-Organistionen aus. Human Rights Watch berichtete Ende Februar von der wahllosen Erschießung und Vergewaltigung tschetschenischer ZivilistInnen durch russische Soldaten und Truppen des Innenministeriums. Für internationales Aufsehen sorgten Fernsehbilder und Berichte von verstümmelten Leichen, von Folterungen und von der menschenunwürdigen Unterbringung von gefangenen Rebellen und Zivilisten. Die russische Regierung weist diese Darstellungen zurück.

Die Vernichtung der tschetschenischen Großverbände scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Eine Einnahme des Argun-Flusstals bedeutet jedoch noch nicht das Ende des militärischen tschetschenischen Widerstandes. Begünstigt durch die dezentrale Führungsstruktur und das schwierige Terrain ist ein jahrelang anhaltender Partisanenkrieg wahrscheinlich. Die Rebellen bewiesen schon im ersten Tschetschenien-Krieg und bei der Schlacht um Grosny ihr militärisches Geschick. Die tschetschenische Bevölkerung lehnt einen strengen Islam zwar mehrheitlich ab, trotzdem ist zu vermuten, dass sie den Kampf gegen einen gemeinsamen Feind unterstützen wird. Besonders wenn der Wiederaufbau der Region weiterhin genauso vernachlässigt wird wie in den letzten Jahren. Ein langer Konflikt im Nordkaukasus scheint vorprogrammiert.

Marc Schlaphoff ist Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) an der Universität Hamburg.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2000/2 Russland – Zerfall einer Supermacht, Seite