W&F 2020/2

Wissen, wovon wir reden

Zum Begriff des Friedens

von Thomas Nielebock

Noch leben wir in Zeiten, in denen jede und jeder für sich gerne in Anspruch nimmt, für den Frieden zu sein. Das reicht von Militärkritikern bis zum damaligen Verteidigungsminister Struck, als er 2004 die Bundeswehr als die größte Friedensbewegung Deutschlands bezeichnete. Letzteres blieb nicht unwidersprochen und zeigt, wie sehr es darauf ankommt, was man unter Frieden versteht. Der Streit um den Frieden(sbegriff) und seine Inanspruchnahme ist schon legendär. Umso wichtiger ist es, sich seiner verschiedenen Ausprägungen bewusst zu sein. Nur dann kann die politische Auseinandersetzung rational geführt werden. Der nachstehende Beitrag soll bei der Reflexion über das eigene Verständnis helfen.

Wie dringend notwendig eine Selbstverständigung über den Begriff »Frieden« ist, macht die Tatsache deutlich, dass dieser aus der öffentlichen Diskussion zu verschwinden droht. Das Streben nach Sicherheit steht dominant im Vordergrund. Zudem wurde die Trennschärfe der Begriffe Frieden – Sicherheit – Krieg seit Beginn des 21. Jahrhunderts erneut in Frage gestellt. So wird z.B. festgestellt, dass der Friedensbegriff seine Qualität als reale Utopie eingebüßt habe und deshalb der „erweiterte Sicherheitsbegriff“ an seiner Stelle verwendet werde (Daase 2011, S. 190). Noch verwirrender ist, wenn Ulrich Beck (2005) aus kosmopolitischer Perspektive schreibt „Krieg ist Frieden“ und damit von ihm so genannte Menschenrechtskriege und Anti-Terrorkriege als Frieden qualifiziert. Erst mit der Gegenüberstellung von Friedens- und Sicherheitslogik wurde jüngst die Debatte erneut eröffnet und dafür plädiert, Frieden als eigenständiges Konzept zu begreifen und nicht in den Begriffen Sicherheit und Krieg aufgehen zu lassen (Birckenbach 2014; Jaberg 2014; Jaberg 2017; siehe auch den Text von Christine Lammers auf S. 36). Dies ist der Versuch, mit dem Friedensbegriff wieder eine spezifische Erfassung der Realität zu ermöglichen, die es auch erlaubt, bestimmte Verhältnisse als »unfriedlich« zu charakterisieren.

Es sind vier Sachverhalte, die es schwierig machen, den Frieden definitorisch zu fassen, und es bisher – und wohl auch künftig – verhindern, eine allgemeingültige Begriffsbestimmung vorzunehmen. Es kann deshalb hier nicht mehr als ein Aufriss und erster Überblick gegeben und eine Positionierung vorgenommen werden, die selbst diskussionswürdig bleibt.

Vier Schwierigkeiten

Die erste Schwierigkeit liegt darin, dass das Friedensverständnis davon bestimmt ist, für welche Epoche der Weltgeschichte es Gültigkeit beanspruchen soll. Dies ist deshalb bedeutsam, weil sich die Friedensgefährdungen für die Menschen und die Menschheit in verschiedenen Epochen ganz unterschiedlich darstellten.

Zum Zweiten ist Frieden ein Begriff mit weitreichenden politischen Implikationen; damit wird er selbst Gegenstand der politischen Auseinandersetzung.

Zum Dritten geht mit Frieden als einem menschheitsgeschichtlichen Zustand die Annahme einher, utopisch, allenfalls visionär, aber nie erreichbar zu sein. Frieden als politisches Projekt war und ist deshalb leicht als ein Weltordnungskonzept einer bestimmten Welt­anschauung zuzuordnen, die entweder diesseitig-heilsgeschichtliche Züge trägt oder als Ideologie abgetan werden kann.

Zum Vierten umfasst der Begriff Frieden ein breites Bedeutungsspektrum, das sich zwischen den beiden Endpunkten Harmonie und Abwesenheit von Krieg bewegt und welches wir in seiner gesamten Breite auch in der Alltagssprache, in der Politik und in der Wissenschaft vorfinden. Dabei ist offen, ob Frieden als Zustand oder als Prozess verstanden wird, ob Frieden räumlich und zeitlich teilbar ist und für wen und in welcher Hinsicht die Lebensverhältnisse eine bestimmte Qualität annehmen müssen, damit von Frieden gesprochen werden kann. Und schließlich ist ungeklärt, welchen theoretischen Status Kategorien haben, die mit Frieden verbunden werden: Sind sie konstitutiv für das Friedensverständnis oder konditional (bzw. kausal) für Frieden, was beispielsweise in der Frage zum Ausdruck kommt, ob das Friedensverständnis Gerechtigkeit miteinschließt oder ob Gerechtigkeit als eine Bedingung für Frieden erfasst wird.

Ein empirischer Praxisversuch

Dennoch wird der Friedensbegriff im Alltag, in der Politik und in der Wissenschaft verwendet. Wie lässt er sich folglich annäherungsweise und vorläufig füllen und damit für eine sozialwissenschaftliche Analyse über den Frieden in der Welt sowie die politische Bewertung der heutigen Weltverhältnisse nutzen? Ein Versuch liegt mit dem Global Peace Index (GPI) vor, in dem 23 Indikatoren für die Beurteilung der Friedensqualität von 163 Ländern und – daraus errechnet – der Welt insgesamt angeboten werden. Der GPI 2019 zeigt auf, dass sich die globale Friedensqualität von 2017 auf 2018 ganz leicht (0,09 Prozent) verbessert, im Vergleich zu 2008 jedoch um 3,78 Prozent abgenommen hat (Institute for Economics and Peace 2019, S. 2). Bei den Indikatoren des GPI (ebenda, S. 85) handelt es sich um Länderzuschreibungen, wobei der GPI den Grad der Friedlosigkeit der einzelnen Staaten, nicht aber die Friedensqualität der inner- und zwischenstaatlichen Beziehungen misst.

Frieden als sozialer Begriff

Frieden ist jedoch mehr als ein geringer Grad von Friedlosigkeit einzelner politischer Akteure (monadische Betrachtungsweise), wie er vom GPI erfasst wird. Zu Recht hat Jaberg (2017, S. 45) jüngst unter Verweis auf die Begriffsgeschichte von Frieden erneut darauf hingewiesen, dass Frieden ein sozialer Begriff ist, der die Beziehung von Akteuren (dyadische Betrachtungsweise) in den Blick nimmt und diese zu qualifizieren vermag. Demgegenüber sieht sie Sicherheit als einen asozialen Begriff an, der „radikal vom einzelnen Akteur her [denkt], der sich vor oder gegen andere schützen muss“ (Jaberg 2017, S. 46). Welche Akteurs-Beziehungen zu betrachten sind, kann sich in den unterschiedlichen Epochen jeweils anders darstellen. Die Beziehungsdimensionen, die sich für die heutige Zeit zumeist finden lassen, sind die Beziehung

  • eines Individuums zu sich selbst (innerer Frieden/innere Ruhe), mit Gott, zwischen Bürgerinnen und Bürgern in einem Staat, was auf die Ausgestaltung der politischen Herrschaftsordnung verweist,
  • zwischen Einwohnerinnen und Einwohnern in einer Gesellschaft, was die politische Kultur des Umgangs zwischen Individuen (z.B. häusliche Gewalt) (Wisotzki 2005) und zwischen Gruppen (z.B. Rassismus) in den Mittelpunkt stellt,
  • zwischen Staaten, was die Weltordnung adressiert,
  • zwischen verschiedenen Gesellschaften, was eine transnationale Kultur und als Ausdruck davon beispielweise ein Weltbürgertum in den Blick treten lässt
  • und schließlich – immer dringlicher im Anthropozän – mit der Natur, die immer noch die Grundlage des menschlichen Lebens darstellt.

Dazu kommt, dass diese Beziehungs­ebenen im Hinblick auf die Friedensqualität nicht unabhängig voneinander anzusehen sind. Schon bei Immanuel Kant (1795) wird auf die Mehrdimensio­nalität des Friedens verwiesen, wenn er die innere Herrschaftsordnung (Republiken) und die Regeln für die zwischengesellschaftlichen und -staatlichen Interaktionen (Weltbürgertum/Hospitalität bzw. Völkerrecht) als wesentliche Bedingungen für den zwischenstaatlichen Frieden ansieht.

Im Alltag und in der Politik werden diese Beziehungsdimensionen oft unreflektiert und nebeneinander verwendet, was darauf verweist, dass keine dieser Dimensionen letztlich ausgeklammert werden darf. Für eine Politik (und eine Wissenschaftsdisziplin), die sich Frieden als Aufgabe vornimmt, werden jedoch nur die Beziehungen zwischen sozialen Akteuren relevant sein können. (Die Bearbeitung des Unfriedens des Individuums mit Gott oder mit sich selbst liegt in anderer Hände. Inwieweit der Natur eine eigene Rechtsqualität zugesprochen werden muss und diese damit als »quasi-sozialer« Akteur anzusehen ist, ist derzeit Gegenstand einer aufkommenden ethisch-politischen Debatte; vgl. dazu Schlegel 2019.)

Jede Rede vom Frieden muss folglich ausweisen, welche Beziehung jeweils gemeint ist. Damit steht auch die Frage im Raum, ob Frieden nicht nur als zeitlich und räumlich, sondern auch sozial teilbar verstanden werden muss (Brock 2002). Anders gefragt: Wann würde der Weltfrieden unter Berücksichtigung dieser vielen Beziehungsdimensionen vorliegen können? Oder: Dürfen wir auch dann schon von Frieden reden, wenn zeitlich, räumlich und auf bestimmte soziale Akteure begrenzt die Beziehungen unseren Friedenserwartungen entsprechen?

Es sprechen drei Gründe dafür, die Teilbarkeit des Friedens pragmatisch, aber reflektiert anzunehmen. Zum einen hat Müller (2003) zu Recht darauf verwiesen, dass der Begriff Weltfrieden bedeutungslos wird, wenn wir Frieden als unteilbar ansehen würden. Zum Zweiten ermöglicht es erst die zeitliche, räumliche und soziale Abgrenzung von Friedenszuständen, sich auf den steinigen Weg zu machen, die Bedingungen dieser (Teil-) Frieden zu erkunden. Einer Friedensursachenforschung als wissenschaftlicher Unternehmung fehlte ansonsten die Empirie, die es aufzuarbeiten gilt. Zum Dritten widerlegt die Annahme der Teilbarkeit die politisch gegen die Friedensvision vorgetragene These, dass es »Kriege schon immer gegeben habe«. Es mag zwar zutreffen, dass es Kriege immer wieder gab – aber eben nicht immer, überall und zwischen allen sozialen Akteuren. Der Verweis auf eine Empirie des Friedens entkräftet in der politischen Debatte den Idealismus- und Utopismus-Vorwurf. Frieden darf also doch realistischerweise erhofft werden. Zu reflektieren in diesem Zusammenhang bleibt jedoch, inwieweit diese (Teil-) Frieden ein Verhältnis des Unfriedens gegenüber Dritten bedingen oder gar zur Voraussetzung haben.

Doppelwertigkeit des Friedens

Nachdem erörtert wurde, welche Beziehungsdimensionen zu betrachten sind, ist allerdings noch offen, wann die jeweilige Beziehung als friedlich oder unfriedlich zu charakterisieren ist, wie folglich Frieden inhaltlich zu füllen ist. Hier stoßen wir auf die Doppelwertigkeit des Friedensbegriffs. Sie hat eine lange Tradition (dazu immer noch sehr lesenswert Janssen 1975), die mit Johan Galtungs Erörterungen des Friedensbegriffs in den 1960er Jahren pointiert aufgegriffen wurde. Seine Unterscheidung zwischen »negativem« und »positivem Frieden« prägt noch heute die Debatte.

Galtung versucht den Friedensbegriff über den Gewaltbegriff zu erfassen und unterscheidet zwischen personaler – direkter – und struktureller – indirekter – Gewalt.1 Nur wenn beide nicht vorliegen, mag er von Frieden sprechen. Der Begriff »negativer Frieden«, der mit der Abwesenheit direkter Gewalt und damit auch des Krieges gleichgesetzt wird, verweist nicht auf etwas Negatives, sondern ergibt sich aus der Definition ex negatione: was nicht vorliegen darf, will man von Frieden sprechen. Die Abwesenheit von struktureller Gewalt setzt Galtung mit sozialer Gerechtigkeit gleich und knüpft damit diesen Teil seines Friedensverständnisses an eine positiv besetzte Ordnung. Er wendet sich ausdrücklich dagegen, dass unter Aufgabe des einen Friedens der andere zu erreichen sei.

Galtung eröffnete mit seinem Beitrag wieder die Debatte darüber, dass Frieden mehr als kein Krieg ist, und leistete einen Beitrag zu den Überlegungen, was denn das »Mehr« sein könnte. In dieses »Mehr« fließt ein, was über das Überleben hinaus als gutes Leben und die Wahrnehmung von Lebenschancen für jeden einzelnen Menschen begriffen wird. Das »Mehr« des Friedens kann sich jedoch je nach Weltanschauung sehr unterschiedlich darstellen. Exemplarisch für die Probleme, die sich mit der Füllung der Vorstellungen einer gerechten, von struktureller Gewalt freien Welt ergeben, steht die Debatte um Galtung und sein Konzept. Es steht in der Tradition der europäischen Aufklärungsphilosophie, welche sich in Konkurrenz zu anderen Weltentwürfen befindet. Deshalb hat sein Konzept – wie andere Entwürfe des positiven Friedens – kaum Chancen auf einen globalen Konsens darüber, was das »gute Leben« ausmacht. Dennoch behält die Betonung eines »Mehr« seine Funktion „als utopisch-kritisches Korrektiv gegenüber allen status-quo-Formen gegenwärtigen Friedens“ (Gerhard 1988, S. 116).

Enges Friedensverständnis

Die definitorische Einschränkung des Friedensbegriffs als Abwesenheit von Krieg ist dagegen weitaus präsenter. In der Neuzeit, als deren paradigmatisches Ordnungsmodell die Territorialstaaten angesehen werden, stand der Krieg und damit dessen Vermeidung im Mittelpunkt des Friedensinteresses. Es ging folglich um das Überleben des Staates, was auch mittels Gewalt- und Gewaltandrohung unter Einsatz des Lebens der Staatsbürger*innen zu sichern war.

Dieses ausschließlich negativ bestimmte Friedensverständnis wurde jedoch nicht nur durch das Alltagsverständnis und die Idee des »guten Lebens« immer wieder herausgefordert, sondern im Atomzeitalter auch durch die Tatsache, dass eine prekäre nukleare Abschreckung, die einen Omnizid ggf. in Kauf nimmt, als Frieden bezeichnet werden kann. Deshalb weist Werkner (2017, S. 25) auf ein drittes, ein enges Friedensverständnis hin, das zwischen dem negativen und positiven Friedensverständnis anzusiedeln ist. Es beinhaltet deutlich ein »Weniger« als der positive Friedensbegriff, aber ein substanziell gefasstes »Mehr« als der negative Friedensbegriff. Dieses »Mehr« fasst Müller wie folgt: „Frieden ist ein Zustand zwischen bestimmten sozialen und politischen Kollektiven, der gekennzeichnet ist durch die Abwesenheit direkter, verletzender physischer Gewalt und in dem deren möglicher Gebrauch gegeneinander in den Diskursen der Kollektive keinen Platz hat. (Müller 2003, S. 219 f.)

Diese Definition impliziert als Friedensverständnis gerade nicht eine militärgestützte Abschreckungs- und Gleichgewichtspolitik, sondern die dauerhafte Zivilisierung des Konflikts. Es geht nicht um die Beseitigung des Konflikts, sondern um dessen gekonnten gewaltfreien Austrag, wie wir ihn exemplarisch zwischen den früheren »Erbfeinden« Frankreich und Deutschland seit 1945 beobachten können. Frieden hat folglich nichts mit Konfliktfreiheit und Harmonie zu tun, sondern bewährt sich gerade dann, wenn es Konflikte gibt, und geht von deren nicht aufhebbarer Existenz (Ubiquität) aus. Ein militärischer Konfliktaustrag wird nach dieser Definition jedoch weder vorbereitet noch überhaupt gedacht!

Um diesen qualitativ neuen Beziehungszustand zu erreichen, bedarf es eines politischen Prozesses, den Eva und Dieter Senghaas wie folgt beschreiben: „Frieden muss als ein gewaltfreier und auf die Verhütung von Gewaltanwendung gerichteter politischer Prozess begriffen werden. Durch ihn sollen vermittels Verständigung und Kompromissen solche Bedingungen des Zusammenlebens von gesellschaftlichen Gruppen bzw. von Staaten und Völkern geschaffen werden, die zum einen nicht ihre Existenz gefährden und zum anderen nicht das Gerechtigkeitsempfinden oder die Lebensinteressen einzelner oder mehrerer von ihnen so schwerwiegend verletzen, dass diese nach Erschöpfung aller friedlichen Abhilfeverfahren Gewalt anwenden zu müssen glauben. (Senghaas 2004, S. 67) Damit ist nicht nur Frieden als – vielleicht utopischer – Zustand nochmals verdeutlicht, sondern es werden auch Mittel und Verfahren genannt, die bei der Verfolgung dieses Ziels zum Einsatz kommen sollen.

Ein wichtiger Debattenpunkt dieser Definitionen bleibt jedoch der Gewaltbegriff, der im Deutschen eine Unschärfe im Hinblick auf »violentia« (Gewalttätigkeit) und »potestas« (Staatsgewalt) aufweist und damit das Verhältnis von Staat und Gewalt sowie die Frage der Gewaltimmanenz der Moderne aufwirft. Zudem stellt sich die Frage, ob mit direkter Gewalt der körperliche Vollzug oder auch die körperlichen Folgen von Gewalt erfasst werden (Endreß und Rampp 2017). Letzteres würde zum einen eine Verbindung zur strukturellen Gewalt ermöglichen und zum anderen die Folgen der möglichen Kriegsführung durch Cyberangriffe auf die zivile Infrastruktur ganzer Länder in den Blick treten lassen (Hofstetter 2019). Weller (2004) weist zudem daraufhin, dass zumeist nur illegitime Gewalt in den Blick gerät, deren Bestimmung ihrerseits diskursiv erzeugt werden muss.

Der Vorteil dieses engen Friedensbegriffs liegt in seiner Fokussierung auf den gewaltfreien Konfliktaustrag. Dies erlaubt wiederum, nach den Bedingungen eines solchen zu fragen und lässt sich folglich als konditionaler Friedensbegriff charakterisieren. Für die innerstaatlichen Verhältnisse ist dabei auf das »zivilisatorische Hexagon« von Senghaas zu verweisen, das auf der Basis einer vergleichenden Analyse der OECD-Staaten zentrale Bedingungen auflistet.2 Für das internationale Staatensystem haben zudem Galtung (1982), Czempiel (2002) und Senghaas (2004) Friedensstrukturen identifiziert, die die Friedensbewahrung auf Dauer stellen sollen.3

Diese Modelle sind bestimmten Weltbildern über die Bedingungen von Frieden und über die Ursachen von Gewalt geschuldet. Sie stellen gesellschaftliche Strukturen, wie Freihandel (Smith), Demokratie (Kant), Sozialismus (Marx) oder Interdependenz (Keohane und Nye), in den Mittelpunkt. Andere Ansätze gehen von der menschlichen Natur aus, die jedoch ganz unterschiedlich gefasst werden kann. Während in der Tradition von Aristoteles – und für die Moderne aufgegriffen von Rousseau – der Mensch als »zoon politikon«, als gemeinschaftsfähiges Wesen gefasst wird und Krieg als »ruptura pacis«, als Bruch des Friedens zu verstehen ist, bricht Hobbes mit seinem »Krieg aller gegen alle« mit dieser Tradition und begreift Frieden nur als »absentia belli«, als Abwesenheit von Krieg. Frieden kann allenfalls durch Vertrag und eine zentrale Gewalt, in seinem Falle dem Leviathan, garantiert werden. Frieden muss – in dieser Tradition steht auch Kant – gestiftet werden.

Überleben der Menschheit

Ausgehend von der Annahme, Frieden nicht definieren zu können, wählen Huber und Reuter (1990) in der Tradition von Picht (1971) einen ganz anderen Zugriff, den 2017 auch Eva und Dieter Senghaas wieder aufgreifen. Huber und Reuter gehen davon aus, dass die Frage nach dem Frieden »analogielos« ist, d.h. keinen Rückgriff auf frühere Zeiten erlaubt, da sich die Weltverhältnisse ganz anders darstellen und deshalb von den Gefährdungen für das Überleben der Menschheit auszugehen ist. Die quantitative und mit der Atombombe v.a. auch qualitative Zunahme der Gewaltmittel, die Zunahme der Weltbevölkerung und die zerstörerische Nutzung der natürlichen Umwelt haben ein in der bisherigen Menschheitsgeschichte noch nicht erreichtes Ausmaß erreicht. Huber und Reuter schreiben: „Von Frieden zu reden ist sinnlos, wenn das Leben auf diesem Planeten zerstört wird. Unfrieden zeigt sich dann aber vor allem in denjenigen Vorgängen, in denen das Leben auf der Erde bedroht, zerstört oder aufs Spiel gesetzt wird. (Huber und Reuter 1990, S. 22)

Dabei geht es ihnen nicht allein um das Überleben, sondern auch um eine bestimmte Qualität menschlichen Lebens, was wiederum eine Nähe zum positiven Friedensbegriff bedeutet. Diese Qualität des Lebens ist gekennzeichnet durch die Indikatoren »Abbau von Not«, »Vermeidung von Gewalt« und »Verminderung der Unfreiheit«, wobei unter »Abbau von Not« sowohl die Verringerung der ungerechten Verteilung des Wohlstandes als auch die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen gefasst wird. In der Gewalt-Dimension geht es immer auch um die dauerhafte „Vermeidung vor einem solchen apokalyptischen Ereignis“ (ebda., S. 24), wie es ein Atomkrieg sein würde. Inzwischen muss man im Zeitalter des Anthropozäns diese Forderung wohl auch für die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen gelten lassen. Eva und Dieter Senghaas (2017, S. 37) nehmen diese Trias der Friedensindikatoren wieder auf und verweisen darauf, dass als Viertes in politischen Gemeinwesen mit dem Schutz kultureller Vielfalt friedensfördernde Maßnahmen auch für den alltäglichen Umgang der Bevölkerungen untereinander zu ergreifen seien.

Für diese Autor*innen stellt sich damit Frieden als ein Prozess dar, der Verbesserungen auf den vier genannten Feldern bringen soll, ohne angeben zu müssen, wie Frieden als Zustand zu fassen ist. Für die Vertreter des engen Friedensbegriffs ist es dagegen offensichtlich, dass Frieden als Zustand gefasst werden kann. Die Definition von Müller zielt explizit darauf ab.

Geht man von dem beschränkten, aber dennoch sehr anspruchsvollen und voraussetzungsvollen Ziel aus, diesen Zustand des gewaltfreien Konfliktaustrags erreichen und dann auch bewahren zu wollen, so bedarf es dazu politischer Prozesse, um den Austrag von Konflikten zu institutionalisieren und die Bedingungen dafür zu schaffen, dass auf diese Institutionen im Konfliktfall auch zurückgegriffen wird, weil sich die Konfliktparteien eine gerechte Lösung erhoffen können. Die Realpolitik ist deshalb sehr wohl daran zu messen, ob sie sich diesem Zustand annähert bzw. den einmal erreichten Zustand zu erhalten vermag.

Doch gleichgültig, ob wir von einem konstitutiven oder konditionalen Friedensverständnis ausgehen, sind die Förderung von sozialer Gerechtigkeit, politischer Teilhabe, Respekt, Selbstbestimmung und Einhaltung eines ökologischen Gleichgewichts zur Beendigung der Erderhitzung und Artenausrottung sowie alle Strukturen, die diese Prozesse stützen, friedensfördernd oder gar friedenserhaltend. Ein »Weiter so« wie bisher ist es sicher nicht. Im konstitutiven Verständnis gehören diese Maßnahmen zum Frieden, im konditionalen Verständnis sind sie als dem gewaltfreien Konfliktaustrag zwischen Kollektiven förderlich anzusehen.

Anmerkungen

1) Er hat diese zwei Dimensionen später um eine dritte Dimension, die kulturelle Gewalt, erweitert, die er als Rechtfertigungssystem und Disposition ansieht, die die beiden anderen Gewaltformen diskursiv legitimiert und damit erst ermöglicht.

2) Die sechs Elemente des zivilisatorischen Hexagons sind: (1) Gewaltmonopol, (2) Rechtsstaatlichkeit, (3) Interdependenzen und Affektkontrolle, (4) politische Teilhabe, (5) Verteilungsgerechtigkeit und (6) eine Kultur konstruktiver Konfliktbearbeitung (Senghaas 2004, S. 39).

3) Zu nennen sind hier: Symbiose, Symmetrie, Homologie, Entropie, Breitbandigkeit, Großräumigkeit und Suprastruktur. Vgl. dazu einführend Nielebock 2016, S. 10 und 17.

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Thomas Nielebock war bis 2019 als Akademischer Oberrat am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen im Bereich Friedens- und Konfliktforschung tätig. Er ist Mitglied der Fachgruppe Rüstungsexport der GKKE und der Steuerungsgruppe der Servicestelle Friedensbildung Baden-Württemberg.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2020/2 Frieden begreifen, Seite 10–14