W&F 1992/1

Wissenschaft und Ethik

von Christiane Floyd

Ich bin 40 km entfernt vom eisernen Vorhang in der früheren sowjetischen Besatzungszone Österreichs aufgewachsen und ich habe viele Jahre in dieser großartigen Stadt Berlin gelebt. Daher habe ich die Öffnung Osteuropas mit einem Gefühl tiefer Dankbarkeit erlebt. Als ein vollkommen unerwartetes Geschenk. Als eine unvermutete Chance, unsere Zusammengehörigkeit anzuerkennen und zu feiern, jenseits der Schrecken der Vergangenheit. Als eine Möglichkeit für mich und für uns alle, die Zersplitterung zu überwinden und ein Ganzes zu werden. Als eine einzigartige historische Verantwortung.

Doch wir wissen, daß dieser Neuanfang ein sehr schwieriger Prozeß ist, der auch Irrtum, gegenseitiges Mißtrauen, Mangel an Verständnis und die Gefahr einschließt, in alte destruktive Verhaltensmuster zurückzufallen. Wir sind Zeugen des Wiederauflebens lang vergessener Vorurteile, Konflikte und Rivalitäten. Wir sind mit neuen Ängsten konfrontiert. In dieser unruhigen Zeit gibt uns die hier stattfindende Konferenz die Möglichkeit, gemeinsam Fragen nachzugehen, die für die Zukunft unseres Kontinents von entscheidender Bedeutung sind.

Obwohl wir also als Europäer zur Zeit vor allem damit beschäftigt sind, uns in dieser neuen Situation zurechtzufinden, gehen die Fragen, die auf dieser Konferenz diskutiert werden sollen, weit über die Grenzen unseres Kontinents hinaus. Wissenschaft und Technologie werden international unter der Führung der industrialisierten Länder betrieben. Das Netz der Beziehungen zwischen wissenschaftlichen Institutionen ist so eng, und die damit verbundenen technologischen und ökonomischen Bedingungen sind so ähnlich, daß Wissenschaft und Technologie, trotz nationaler Unterschiede, als ein Programm wahrgenommen werden, das, formuliert und durchgeführt vom Norden, dem Süden eingepflanzt oder vielmehr aufgezwungen wird. Diese Konferenz bietet die große Chance, über die lebenswichtigen Fragen, um die es uns geht, mit Repräsentanten sowohl der Industrie- als auch der Entwicklungsländer zu diskutieren.

Wettrennen in die Katastrophe – wir nehmen teil

Wir kommen hier zusammen in einer einzigartigen geschichtlichen Situation. Als Wissenschaftler wußten wir schon lange Zeit von den fundamentalen Gefahren, die der Welt drohen. Einige von uns haben früh Warnungen ausgesprochen. Dann begannen wir, zusammen mit allen anderen, die Auswirkungen, die vorhergesagt worden waren, zu sehen: Hunger, Überbevölkerung, wiederkehrende nationale und ökonomische Konflikte, Übernutzung und Erschöpfung der natürlichen Ressourcen, Vergiftung und Verfall unserer natürlichen Umwelt in großem Umfang, Orientierungslosigkeit des Einzelnen, gesellschaftliche Umwälzungen und zwischenmenschliche Brutalität. Viele von uns versuchen noch die Illusion aufrechtzuerhalten, wir beobachteten all dies, während wir annahmen, daß unser eigenes Leben sicher sei. Wir verschließen die Augen gegenüber der Tatsache, daß wir selbst jetzt mittendrin leben. Wir beobachten nicht ein verrücktes Wettrennen in die Katastrophe, wir nehmen daran teil.

Die Hand auszustrecken, um sich in dieser Situation gegenseitig zu helfen, bedeutet Risiken einzugehen. Es ist meine Aufgabe, zu dem Thema Wissenschaft und Ethik sinnvolle Worte zu finden und zu sprechen. Aber wie können wir zusammen über Ethik reden angesichts der schrecklichen Leiden – der gegenwärtigen, der vergangenen und der zukünftigen –, die wir, unsere Nationen, unsere Kulturen einander zufügen? Angesichts der massiven Bedrohung, die wir, die menschliche Rasse, für alle Lebewesen der Erde herbeigeführt haben? Angesichts der zerstörerischen Natur der Maschinerie wissenschaftlicher und technologischer Entwicklung, deren Teil wir sind? Angesichts unserer völligen Desillusionierung über Ideologien und moralische Autoritäten? Angesichts unserer grundlegend unterschiedlichen Lebensauffassungen? Wie kann ich, mit all meinen Schwächen und meinem eingeschränkten Blick, in sinnvoller Weise zu Ihnen allen über Ethik sprechen?

Wir haben die Wahl

Ich hatte ein Jahr Zeit, um dieses Referat vorzubereiten. In die Person hineinzuwachsen, die schließlich hier und jetzt zu Ihnen über Ethik sprechen würde, bedeutete für mich einen anstrengenden Prozeß, in dem ich mich einigen schmerzhaften Wahrheiten stellen mußte. Meine Grenzen und meine Ängste wurden mir bewußt, und ich verstrickte mich in ein Netz unlösbarer Zweifel und Paradoxien. Dann kam ich zu dem Schluß, daß ich meine Schwierigkeiten offen formulieren müßte. Vielleicht hilft es Ihnen, Ihre eigenen zu überwinden. Wir müssen zusammen drei Schritte vollziehen, jeder in seiner eigenen Weise: zu sprechen lernen, unser Blickfeld erweitern, zu handeln wagen.

Der Schlüssel zur Ethik ist, sich bewußt zu werden, daß wir wählen können. Eine Wahl, die wir als autonome Wesen in verantwortlicher Weise treffen können. Eine Wahl, bei der wir uns gegenseitig unterstützen können, wenn es uns gelingt, uns zu artikulieren und uns über das, was uns wichtig ist, auszutauschen.

Die Notwendigkeit, das Schweigen zu überwinden

In unserer Kultur über Ethik zu sprechen ist schwierig. Es ist im alltäglichen Leben nicht üblich. Man tut es einfach nicht. Ethik ist institutionalisiert. Es gibt Profis, die dafür ausgebildet sind, passende Worte in einer Fachsprache zu sagen, die zur Tradition einer Religion, Ideologie oder philosophischen Schule gehört. Auch Politiker können sich gelegentlich auf Werte beziehen; einigen von ihnen gelingt es dabei sogar, überzeugend zu wirken. Doch wir übrigen halten uns von all dem fern. Wir haben die Freiheit, zuzuhören, oder uns zurückzuziehen. Als Individuen lassen sich einige von uns auf spirituelle Übungen oder Diskussionen über Werte ein. Aber zumeist sind wir unentschlossen oder verlegen und schweigen.

Das gilt insbesondere für WissenschaftlerInnen, denn wir sind geschult worden, sogenannte Tatsachen von Werten zu trennen, und wir sind auf eine Art der Interaktion konditioniert, aus der alle mit Werten zusammenhängenden Fragen ausgeschieden werden. In gewissem Sinne ist »Wissenschaft und Ethik« überhaupt kein Thema. Der Titel meines Referats benennt zwei grundlegende menschliche Arten des Umgangs mit der Welt, von denen jede ihre eigene Kultur mitbringt. Die Ethik mag zwar ein hochdifferenziertes Gerüst für die Diskussion von Werten bieten, doch die traditionelle Vorstellung ist, daß Wissenschaft und Technologie wertfrei sind. Es gibt kein »und«, diese beiden Kulturen bleiben getrennt.

Das Schweigen zu Fragen der Ethik ist von Ludwig Wittgenstein sogar programmatisch gefordert worden in seinem berühmten Ausspruch: Alles, was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen, und worüber man nicht reden kann, darüber muß man schweigen. Es ist bekannt, daß sich Wittgenstein hier auf die Welt der Werte bezog, die er allerdings in den Bereich des Schweigens verwies. Er protestierte gegen dogmatische Institutionen und Denkschulen, die auf ungenau definierten und irreführenden Vorstellungen basierten. Solche Fallstricke existieren zweifellos auch weiterhin. Aber Schweigen ist nicht notwendigerweise die beste Antwort. Wir können versuchen, gangbare Wege zu finden, um unsere eigenen Werte in konkreten Kontexten zum Ausdruck zu bringen.

Auch mißtrauen wir denen, die sich zu moralischen Autoritäten erheben und im Namen der Ethik zweifelhafte Anforderungen an andere stellen. Wir wissen, daß wir selbst keine solchen moralischen Autoritäten sind, und wir haben keine Übung darin, ohne solche Autorität über Ethik zu sprechen.

Wir müssen uns dieser Hindernisse bewußt sein, um als Wissenschaftler über Ethik reden zu können. Ich kann nicht versuchen, einen wissenschaftlichen Vortrag zu meinem Thema zu halten. Ich werde vielmehr für meinen Versuch, Sie als Menschen zu erreichen, die einfachsten Worte verwenden, die ich finden kann. Meine Schwierigkeiten, mich auszudrücken, mit Ihnen teilen, um Ihnen dadurch Mut zu machen, mit Ihren eigenen fertig zu werden. Versuchen, mich nicht an irgendwelche Glaubenssätze zu binden, durch die jemand von Ihnen ausgeschlossen werden könnte. Eine Sprache und ein Klima schaffen, die unserer Diskussion förderlich sind. Gemeinschaftliche Prozesse ermöglichen, in denen wir alle es wagen können, uns zu öffnen, unsere eigenen Sichtweisen zu artikulieren und auszutauschen, um auf diese Weise gemeinsam tiefere Einsichten zu gewinnen.

Die Wurzel der Ethik, wie ich sie vestehe, liegt im Aufeinander-Bezogen- Sein der Menschen. Zweck der Ethik ist es, Lebensbedingungen zu schaffen und zu erhalten, die Glück möglich machen. Und der Geist der Ethik ist die Hoffnung. Die Hoffnung, daß wir durch das, was wir tun, einen sinnvollen Beitrag für die menschliche Gemeinschaft leisten können. Dies führt uns direkt zu der Idee der Verantwortung, in der ich den Schlüssel für die Diskussion von Fragen der Wissenschaft und Ethik sehe.

Ebenen des Nachdenkens über Wissenschaft und Ethik

Für die Verbindung von Wissenschaft und Ethik schlage ich vor, verschiedene Ebenen zu unterscheiden, auf denen Verantwortung zu übernehmen ist:

  1. Wie können wir innerhalb der Wissenschaft verantwortlich handeln?
  2. Wie können wir über Wissenschaft verantwortlich nachdenken?
  3. Wie können wir Wissenschaft verantwortlich umgestalten?

Verantwortung innerhalb der Wissenschaft

Ich verwende den Begriff »Wissenschaft« hier in einer sehr umfassenden Bedeutung. Er bezieht sich nicht nur auf die Arbeit, die wir gewöhnlich als »wissenschaftlich« ansehen – idealerweise die Beschäftigung mit isolierten und exakt definierten Problemen, mit den der Untersuchung zugrundeliegenden Hypothesen, den Experimenten, die zur Erzielung von Resultaten durchgeführt werden, mit der Feststellung und Diskussion von Resultaten und möglichen Verallgemeinerungen – sondern ebenso auf die gesamten Annahmen, Untersuchungsmethoden, Problemen, die in Betracht gezogen, und Zielen, die unter diesem Namen verfolgt werden. Der Begriff »Wissenschaft« steht für die Institutionen der Lehre und Forschung, in denen sich wissenschaftliche Arbeit entfaltet. Für die Ausbildungsprogramme, in denen der Nachwuchs geschult wird, die Tradition zu übernehmen und fortzuführen. Für die Mechanismen bei der Forschungsförderung und die Abhängigkeit wissenschaftlicher Arbeit von solchen Mitteln. Für die Technologie, die als Resultat der Forschungen produziert wird, und ihre Verwendungsmöglichkeit für ökonomische und militärische Zwecke. Für den Status, den Wissenschaft und Technologie in unserer Welt für sich in Anspruch nehmen.

Wissenschaft verkörpert eine Art und Weise, die Welt wahrzunehmen. Sie erlaubt uns, gewisse Richtungen der Forschung weiterzuverfolgen und scheidet andere aus. Sie baut auf einer Grundlage von Annahmen, die die Antworten, die wir bekommen können, vorbestimmt, durch die Beschränkung der Fragen, die wir stellen, und der Methoden, die wir verwenden können. Sie bereitet das Umfeld für den Gebrauch der Technologie in unserer Welt. Sie ist eng verflochten mit soziokulturellen Bedingungen, die auf der einen Seite all dies erst möglich machen und auf der anderen Seite ständig durch die Wissenschaft umgeformt werden.

Auf der ersten Ebene der Verantwortung in der Wissenschaft erfahren wir Wissenschaft als etwas Gegebenes. Wir finden uns in die Wissenschaft »geworfen« (ein von Heidegger entlehnter Begriff). Die Wissenschaft stellt Forderungen an uns, und unsere Rolle ist unklar. An dieser Stelle sind wir mit persönlichen Entscheidungen konfrontiert, wie: Kann ich zwischen dem, was ich für ethische und unethische Forderungen halte, unterscheiden? Wie finde ich heraus, in welchem Umfang ich selbst autonom entscheiden und verantwortlich handeln kann? Werde ich in das einwilligen, was ich für unethisch halte, oder werde ich es ablehnen? Es geht darum, persönliche Verantwortung zu übernehmen oder mit anderen gemeinsam vor Ort zu handeln, während man die Wissenschaft selbst als in sich stabil betrachtet.

Wissenschaft und Gesellschaft

Die zweite Ebene impliziert, daß wir uns die Weltsicht und die Interessen, die der Wissenschaft, wie wir sie kennen, zugrundeliegen, und die Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft bewußt machen. Das bedeutet, die Anforderungen, die an uns gestellt werden, die Zwänge, denen wir unterworfen sind, die Annahmen, auf die wir bauen und die Privilegien, die wir genießen, in Frage zu stellen. Dafür müssen wir den Rahmen der Wissenschaft verlassen und uns anderen Möglichkeiten der Lebenserfahrung zuwenden. Wir sind gefordert, in Betracht zu ziehen, daß wir uns aus der Wissenschaft ganz lösen könnten, und daß es unsere eigene Wahl ist, wenn wir in der Wissenschaft bleiben. Es ist wichtig, sich dieser Wahl bewußt zu werden, welcher Art unsere Beschränkungen auch sein mögen. So werden wir uns der Kompromisse bewußt, auf die wir uns einlassen, und der Alternativen, nach denen wir nicht suchen.

Die Gestaltung der Wissenschaft

Auf der dritten Ebene gilt es, unsere eigene aktive und verantwortliche Rolle bei der Gestaltung der Wissenschaft zu übernehmen. Themen für die Forschung wählen. Methoden und Formen der Zusammenarbeit wählen. Unsere Wahl deutlich machen. Die Öffentlichkeit wahrheitsgemäß informieren. Forschungsgemeinschaften aufbauen, die auf Verantwortung ausgerichtet sind. Neue Wege des behutsamen Denkens aneignen. Unsere eigenen Möglichkeiten finden, die Orientierung auf Werte mit klarem Denken zu verbinden. Einander unterstützen. Netzwerke verantwortlichen Handelns bilden.

Es ist weder meine Absicht, diesen Ebenen eine Rangfolge zuzuordnen, je nach der größeren oder geringeren Verantwortung, die sie erfordern, noch zu behaupten, daß sie notwendigerweise zeitlichen Stufen in der persönlichen Entwicklung der einzelnen WissenschaftlerInnen entsprechen. Dennoch finde ich sie für die Diskussion von Wissenschaft und Ethik unter WissenschaftlerInnen nützlich, denn Wissenschaft ist das Thema, das uns verbindet. Aber, wie genau definiert ist Wissenschaft? Die Unterscheidung, die ich oben zwischen den Ebenen gemacht habe, zeigt, daß für mich Wissenschaft eingebettet ist in die menschliche Lebenswelt, und daß sie sich in der Zeit weiterentwickelt und verändert. Außerdem sehe ich jede/n von uns als jemand, die/der die Wissenschaft, so wie sie ist, im Prozeß ihres Werdens mit konstituiert. So umfassen die Ebenen eine breite Skala möglicher persönlicher Handlungsprofile. Diese reicht von individuellen Entscheidungen im Rahmen spezifischer wissenschaftlicher Bemühungen über politische Aktionen, die die Anwendung der Technologie betreffen, bis zu der Möglichkeit, das herbeizuführen, was man einen Paradigmenwechsel in der Philosophie der Wissenschaft nennt.

Teilnehmen am ethischen Diskurs: eine Einladung

Ich sehe meine Aufgabe darin, den ethischen Diskurs unter uns – hier und in seiner Fortführung später – zu erleichtern. Darum möchte ich einige Aspekte der Ethik verdeutlichen.

Der eine ist, daß Sprechen über Ethik notwendigerweise auch ein Sprechen über uns selbst bedeutet. Es ist dem Wesen nach selbstreferentiell; ich gehe das Risiko ein, mit all meinen Schwächen und meinem Versagen an die Öffentlichkeit zu treten. Wenn ich hier über Ethik spreche, haben Sie alle das Recht zu fragen: Lebt sie so, wie sie spricht? Wir können uns der Diskussion nicht entziehen. Bin ich aufrichtig, finde ich mich schutzlos über dem Abgrund meiner eigenen Unzulänglichkeiten. Bin ich es nicht, strapaziere ich meine Glaubwürdigkeit. In den vergangenen Monaten habe ich dies als bedrohlich erlebt, trotzdem möchte ich Sie einladen, daran teilzuhaben.

Ein anderer ist, daß wir keine gemeinsame Vorstellung von Ethik besitzen. Im engeren Sinne bezeichnet der Begriff einen Zweig der Philosophie, den die Griechen begannen und der in vielerlei Varianten durch die europäische Geschichte hindurch weiterverfolgt wurde. Er bezieht sich auf die philosophische im Unterschied zur christlich-religiösen Tradition der Wertediskussion. Er entwickelte sich parallel zum Christentum. Was wir unter Ethik verstehen, spiegelt die Annahmen und Erfahrungen unserer Kultur. In dieser Kultur, die das Erbe griechischer Philosophie und monotheistischer Religionen übernahm, waren Werte traditionell an Gebote oder Gesetze gebunden, die einer Autorität zugeschrieben wurden. (Das ist nicht in sich zwingend. In der buddhistischen Tradition zum Beispiel gibt es keine Gebote. Dort ist die Grundlage für verantwortliches Handeln spirituelle Übung und persönliches Engagement.) Unter der Autorität verstand man Gott, vertreten durch die Kirche oder den Staat (später die Partei), oder vielleicht das moralische Gesetz in uns. Allen gemeinsam war die Idee, kontextunabhängige und verallgemeinerbare Prinzipien des Handelns in der Form zeitloser Werte oder Normen zu formulieren, denen alle zu gehorchen haben. Solche expliziten Normen verbanden sich mit Mechanismen gesellschaftlicher Kontrolle.

Diese ursprüngliche Idee der Ethik steht in enger Übereinstimmung mit hierarchischen Gesellschaftsformen. Ethik bedeutete für das Individuum, das anerkannte Gesetz richtig zu verstehen und nach ihm zu handeln, entsprechend dem eigenen Gewissen. Die Entscheidung beruhte auf genau definierten Begriffen von dem, was »gut« ist. Obwohl die Diskussion um die Ethik im Laufe der Jahrhunderte eine enorme Entwicklung durchlaufen hat, hat sich die Grundidee, daß es in der Ethik um universelle Gesetze geht, bis heute erhalten.

Allerdings können wir einer interkulturellen Diskussion über Ethik nicht eine allgemein akzeptierte Autorität oder eine Reihe festgelegter Normen zugrundelegen. Die hier Anwesenden kommen aus 36 Ländern mit unterschiedlichen Religionen, Kulturen und Traditionen. Wenn wir vermeiden wollen, daß eine Auffassung von Ethik die Diskussion dominiert, müssen wir akzeptieren, daß Ethik für uns unterschiedliche Bedeutungen hat, daß wir zu unterschiedlichen Werten hingeführt wurden und daß wir unterschiedliche Mechanismen haben, um verantwortliches Handeln zu ermöglichen und zu fördern. Wir müssen uns dessen bewußt sein, wenn wir eine gemeinsame Sprache finden wollen.

Maßstäbe für das Handeln des Einzelnen

Viele besorgte Menschen haben die Wirksamkeit der Ethik, was die Förderung gesellschaftlichen Wandels angeht, in Frage gestellt. Ethik richtet sich in erster Linie an das Individuum und an seine Handlungsweise. Ich bin es, und jeder von Ihnen, der zuerst und vor allem zählt. Und ausgehend von dieser persönlichen Betroffenheit können wir vielleicht zusammen gemeinsame Wege des Handelns finden. Die Konzentration auf das durch Werte geleitete Handeln des einzelnen erscheint vielen, die lieber mit kollektiven politischen Aktionen für Veränderungen kämpfen wollen, zweifelhaft, wenn nicht heuchlerisch. Wir haben aber auch erfahren müssen, daß angeblich wertorientierte politische Programme vor Mißbrauch in großem Maßstab nicht gefeit waren.

Wie kommt es dann, daß wir nach Jahren der Ernüchterung plötzlich wieder nach Ethik suchen, und wonach suchen wir eigentlich? Ist es Trost, nachdem alle Ideologien zusammengebrochen sind? Ist es Sicherheit in der seelischen Leere, in der wir uns befinden? Suchen wir nach fertigen Antworten? Halten wir Ausschau nach der nächsten Autorität, der wir folgen können?

Ich glaube, daß uns ein solcher Versuch aus verschiedenen Gründen nirgendwohin führen würde. Wir können nicht in die Vergangenheit zurück, wir können nicht künstlich naiv werden; die alten Autoritäten haben uns in der Tat im Stich gelassen. Wir haben unsere Autonomie gefunden. Überdies sind die alten Gesetze und Prinzipien auf Grund von Voraussetzungen formuliert worden, die nicht mehr stimmen. Damals gab es keine Überbevölkerung, keine Erschöpfung der natürlichen Ressourcen, keine Gefahr, die Grundlagen unseres Lebens zu zerstören. Und schließlich sind die engen, gegenseitigen Abhängigkeiten der Systeme, die uns heute bewußt sind, allgemeinverbindlichen Gesetzen nicht zugänglich. Wir können nicht hoffen, sie in explizite Regeln zu fassen. Dennoch sind wir nicht der Willkür ausgeliefert. Ich stelle mir Ethik als einen Diskurs vor, in dem wir innerhalb von Prozessen, die in konkreten Situationen ablaufen, unsere eigenen Werte in authentischer Weise artikulieren und einbringen können.

Für einen grundlegenden Paradigmenwechsel

Wir leben heute in einer radikal neuen Situation. Grundlegende Prämissen für die Diskussion im allgemeinen sind:

  • Ethik ist eine Einladung, für ein gemeinsames Überleben auf der Erde zusammenzuarbeiten;
  • Ethik ist von Natur aus dialogisch und erkennt die Rechte des Anderen an;
  • Ethik muß ihren Ausdruck finden in einer Sprache über die Grenzen unterschiedlicher kultureller Blickwinkel hinweg;

Ich skizziere einen grundlegenden Paradigmenwechsel im Umgang mit Wertfragen; er geht von

Autorität – Gesetz – Allgemeingültigkeit – Gebot – Gehorsam – Kontrolle

zu

Authentizität – Wahl – Situationsbezogenheit – Einladung – Engagement – gegenseitige Unterstützung.

Ich schlage vor, die Praxis des ethischen Diskurses in Wissenschaft und Technologie auf diesem neuen Paradigma aufzubauen.

Wir wissen, daß die Praxis des ethischen Diskurses in verschiedenartiger Weise behindert wird: der Mythos von der wertfreien Wissenschaft, das wissenschaftliche Establishment, persönlicher Ehrgeiz, Konkurrenz, Loyalität gegenüber Forschungsgruppen und -gemeinschaften, die Interessen des Berufsstandes, Beziehungen zum militärisch-industriellen Komplex, Finanzierungspolitik – sie alle stehen im Weg.

Daher geht jeder von uns ein persönliches Risiko ein, einige Risiken sind relativ klein, andere weitreichend und existentiell.

Inmitten dieses wahnsinnigen Wettlaufs müssen wir zurücktreten, um die Mechanismen der Zerstörung, die uns antreiben – unsere eigene geistige und emotionale Programmierung ebenso wie die äußeren Zwänge – zu erkennen, und aus unseren eigenen Quellen der Freundlichkeit und des Mutes schöpfen.

Altes und neues Denken in der Wissenschaft

Die meisten von uns haben eine verschwommene Vorstellung von der »modernen Wissenschaft«, die ihren Ursprung als Forschungsprogramm in Westeuropa im 17. Jh. hat.

Ich werde den Versuch machen, die Denkweise, die mit der westlichen Wissenschaft verbunden ist, in den Begriffen des mechanistischen Weltbildes zu skizzieren, das sich weit über die Physik hinaus erstreckt. Einige ihrer Aspekte waren: Die Realität ist ihrer Natur nach atomistisch. Materielle Phänomene sind voneinander in Zeit und Raum getrennt. Es gibt eine eindeutige Beziehung zwischen Ursache und Wirkung in Form einer linearen Kausalität. Mit Hilfe analytischen Denkens können trennbare Probleme isoliert werden. Die Analyse, die auf zeitlosen, universellen Gesetzen beruht, wird von einem unbeteiligten Beobachter durchgeführt, mit wiederholbaren Ergebnissen; Beobachter sind als Menschen austauschbar. Dieses mechanistische Weltbild und die mit ihm verbundenen Prozesse gesellschaftlicher Umsetzung und technologischer Entwicklung hatten ihren Platz in einer Welt, in der diese Annahmen gerechtfertigt schienen.

Mit ihm entstand das Rollenmodell des Wissenschaftlers und Ingenieurs mit klaren Vorstellungen von ihrer Verantwortlichkeit. Eine grundlegende Unterscheidung war die zwischen Beobachtung und Anwendung, die Trennung von Forschung und Technologie. Insbesondere die »reine« Forschung bewegte sich außerhalb der Reichweite von Wertediskussionen. Reine Forschung wurde von »angewandter« Forschung getrennt, die mit der Technologie verbunden war. In der Technologie gab es wiederum eine klare Unterscheidung zwischen Produktion und Anwendung. Was produziert wurde, war wertfrei, seine »gute« oder »schlechte« Anwendung lag nicht in der Verantwortung der WissenschaftlerInnen.

Lassen Sie mich die traditionelle Haltung gegenüber Wissenschaft und Ethik skizzieren: Ethische Richtlinien lassen sich in Form universeller Gesetze ausdrücken. Das Ideal der Wissenschaft besteht in der Suche nach der objektiven Wahrheit, unter klarer Trennung zwischen objektiven Fakten und subjektiven Werten, die jeweils dem Reich des Verstandes bzw. des Gefühls zugeordnet sind. Die Realität wird durch Entdeckungen nicht berührt; der Beobachter bleibt außerhalb der Beobachtung, folglich ist Beobachtung wertfrei. Technologie mit vorausberechenbaren Wirkungen für festumrissene Zwecke kann entwickelt und angewendet werden, ohne den globalen Kontext zu beeinflussen. Nicht interessengeleitete Entwicklungsarbeit kann deutlich geschieden werden von interessengeleiteter; wünschenswerte Anwendung ist klar trennbar von Mißbrauch. Die Natur ist der Ausbeutung durch den Mann unterworfen (die Einschränkung auf »Mann« ist beabsichtigt). Wir können über die Ressourcen grenzenlos verfügen, daher ist die Nutzung der Ressourcen kein Gegenstand der Ethik. Der ethische Standpunkt: allgemeine ethische Richtlinien beachten, die Wissenschaft selbst steht außerhalb der Ethik.

Das 20. Jahrhundert hat erlebt, wie diese Denkweise als universeller Rahmen für die Wahrnehmung der Welt zusammengebrochen ist. Um 1920 mußte das mechanistische Weltbild in der physikalischen Forschung aufgegeben werden. Die Beschaffenheit der »Probleme«, mit denen sich die Wissenschaft beschäftigte, änderte sich grundlegend. Sie waren nicht länger trennbar innerhalb von Raum und Zeit, sondern umfaßten systemische gegenseitige Abhängigkeiten scheinbar isolierter Phänomene. Man entdeckte, daß der Beobachter konstitutiv für die Beobachtung ist, und daß die Fragen, die wir stellen, die Antworten vorbestimmen, die wir erhalten. Lineare Kausalität wurde durch zirkuläre Kausalität verschiedener Komplexitätsgrade ersetzt. Rekursive Formen der Organisation mit aufeinander bezogenen Ebenen der Beschreibung kommen in den Blick.

Wissenschaft als menschliches Konstrukt

In der Wissenschaft gibt es keine objektive Wahrheit, sondern wir konstruieren selbst, was wir verstehen. Unsere Wahrnehmung ist von Natur aus selektiv, sie ist abhängig von unserem Blickwinkel und spiegelt unsere Kultur, unsere Geschichte und unsere persönlichen Erfahrungen wider. Die Wissenschaft selbst ist eine Kultur, die sich international über den ganzen Erdball ausdehnt. Ihre Annahmen, Arbeitsmethoden und Tabus, die uns geformt haben, gehören noch dem alten Denken an und geben dem neuen keinen Raum. Wir wissen heute, daß die Erfindung als Grundelement der Wissenschaft an die Stelle der Entdeckung tritt: wir entdecken keine universellen Gesetze, sondern wir erfinden Formen der Beschreibung. Alle Beobachtung ist an den Beobachter gebunden; sie wird in den Begriffen des Beobachters formuliert und spiegelt spezifische Bedürfnisse, Werte und Interessen wider. Doch auf der Grundlage dieses Verständnisses müssen wir handeln, wenn wir uns mit der Wissenschaft beschäftigen.

Die Technologie ist explodiert. Wir leben in ihr, sind von ihr geformt, in ihr verwurzelt und von ihr abhängig. Sie beeinflußt die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen, wie wir unser gesellschaftliches Leben einrichten, wie wir unsere grundlegenden Entscheidungen treffen. Unsere Entscheidungen gründen sich auf Technologie, und Entwicklung und Anwendung von Technologie beruhen auf Entscheidungen. Die Technologie bringt vollkommen unberechenbare systemische Auswirkungen mit sich, von denen der gesamte Weltzusammenhang betroffen ist. In allen Systementwicklungen ist die Entwicklung verknüpft mit der Anwendung. Es gibt keine klar definierbare »wünschenswerte Anwendung«. Wir müssen uns über die wünschenswerte Anwendung während der Entwicklung auseinandersetzen und uns dabei auf Werte stützen.

Wir haben die fundamentale Erfahrung gemacht, daß alle natürlichen Ressourcen begrenzt, viele Ressourcen erschöpft sind und daß die Natur geschützt werden muß. Das gesamte Szenario hat sich geändert.

Wir haben das heilige Gleichgewicht, das sich in so schöner Weise in der lebendigen Natur offenbart, gestört. Gleichgewicht kann nicht ohne Selbstbeschränkung wiederhergestellt werden, die sich auf eine heilende Vision für das Überleben der Menschheit gründet.

Elemente einer heilenden Vision

Die Entwicklung einer heilenden Vision setzt voraus, daß wir unsere Blindheit überwinden. Befangen sein in geistigen Konstrukten und ausblenden, was wir nicht sehen können. Wir können nicht sehen, daß wir Teil einer zerstörerischen Maschinerie sind in einem wahnwitzigen Wettrennen, das sehr leicht im Selbstmord der Menschheit enden könnte. Wir können nicht sehen, das wir vorangetrieben werden, indem wir uns in konkurrenzorientierte Machtspiele hineinziehen lassen. Blindheit ist untrennbar mit der selektiven Natur unserer Wahrnehmung verbunden. Wir können dieser grundsätzlichen Bedingung nicht entgehen; aber wir können, wie Heinz von Foerster uns immer wieder erinnert, lernen zu sehen, daß wir blind sind. Dann, so argumentiert er, sind wir nicht mehr blind.

Ethik verlangt von uns, Anstrengungen zu machen, auf diesem Weg unsere Blindheit zu überwinden. Die Übernahme eines komplizierten Regelwerks ist nicht erforderlich. Es geht um das Bemühen, die Vielfalt der Perspektiven, unsere gegenseitige Abhängigkeit von anderen Menschen wie von allen anderen Formen des Lebens zu verstehen – und daß wir ein Teil dieser Welt sind.

In einem Versuch, den Kern aller Religionen zu charakterisieren, hat der Anthropologe Gregory Bateson kürzlich die menschliche Bezogenheit das „Wesen des Heiligen“ genannt. Welchem Glauben wir als Individuen auch angehören, welche Lehren auch immer uns Inspiration und Orientierung geben, vielleicht ist dies eine Verständigungsebene.

Ethik bietet utopische Szenarios für eine wünschenswerte Gestaltung der menschlichen Angelegenheiten. Solche Szenarios inspirieren Gemeinschaften und setzen Paradigmen für unser Leben. Ich möchte heute als eine Vision vorschlagen: Gemeinsames Leben auf der Erde. Dafür müßten wir lernen, unsere Bezogenheit nicht zu mißbrauchen, sondern zu feiern. Es würde bedeuten, den Anderen zu respektieren. Autonomie und Selbstbestimmung zu fördern. Versöhnung zwischen den Menschen und mit der Natur. Vielfalt zulassen. Ressourcen erhalten und teilen. Die Gemeinschaft unterstützen. Gefahren vorbeugen. Sorge tragen um alle lebendigen Wesen. Raum für sinnvolle Entscheidungen schaffen. Wachstum beschränken.

Lassen Sie uns in unserer Forschung und systemischen Praxis einige Elemente dieser heilenden Vision erforschen. Lassen Sie uns einen Entwurf machen für unser gemeinsames Überleben.

Entwurf für Bewahrung und Entwicklung

Gewöhnlich werden unterschiedliche Szenarios unserer Fähigkeit zur Veränderung diskutiert: es gibt das deterministische Szenario, das von der Vorherbestimmung durch die Evolution ausgeht, und das Szenario, das sich von der Selbstorganisation tiefere Einsichten erhofft. Es gibt die Gegenüberstellung von »rationalen« und »irrationalen« Dingen, die in der öffentlichen Diskussion nicht vereinbar sind. Es gibt die Idee von dem männlich aggressiven, individuellen Streben nach Herrschaft, gegenüber dem nachgebenden Weiblichen, das in der Gemeinschaft das Leben umsorgt. Es gibt die Idee vom sozialen Konflikt und vom Klassenkampf. Von nationalen und kulturellen Bindungen.

Wenn wir Verantwortung übernehmen wollen, müssen wir über all dies hinausgehen. Einen Entwurf fürs Überleben zu machen erfordert, daß wir alle zusammenarbeiten und unsere unterschiedlichen Vorstellungen einbringen, während wir zugleich die Sichtweise des Anderen ernst nehmen. Die kulturelle Perspektive und die Notwendigkeit, in Würde zu überleben.

Ich sehe einige verheerende Tendenzen der Entwicklung:

  • Zulassen partiellen unbeschränkten Wachstums,
  • Unterdrückung der Vielfalt und Störung des Gleichgewichts,
  • Zerstörung der physischen Bedingungen des Lebens auf der Erde,
  • Versuch globaler Kontrolle einer nicht beherrschbaren Komplexität,
  • Delegieren verantwortlicher Entscheidungen des Menschen an Maschinen.

Einige besorgte Wissenschaftler haben einfache und wirksame Konzepte angeboten, um die Vertretbarkeit technologischer Optionen vor diesem tristen Hintergrund zu diskutieren. Kurt Schumacher zum Beispiel schlägt als Alternative zur globalen Kontrolle das Konzept der kleinen Systeme vor. Ivan Illich hat den Begriff des »geselligen und unbeschwerten Handwerkszeugs« geprägt, als Basis für die Beurteilung bestimmter Technologien in ihrem Wert für den Menschen. Heinz von Foerster schlägt eine ethische Richtlinie vor: Handle immer so, daß sich deine Wahlmöglichkeiten erweitern. Sie hängt direkt mit dem Entwurf zusammen.

Diese und andere Ideen können wir als Sprachelemente in unserer interkulturellen, wertorientierten Diskussion verwenden. Sie müssen konkretisiert und an den jeweiligen Orten den Problemen, um die es geht, angepaßt werden. Ich kann nicht versuchen, dies für die Vielfalt von Problemen und Disziplinen, die hier vertreten sind, zu leisten.

Ich arbeite in der Computerwissenschaft, in der ich einen auf den Menschen ausgerichteten Ansatz für Technologie-Design entwickele. In meiner Forschung bin ich auf tiefgehende ethische Fragen gestoßen, die mit dem Entwurf computergestützter Systeme zu tun haben. Ich sehe sie als paradigmatisch an für viele ethische Fragen, die sich aus Wissenschaft und Technologie ergeben. Ich würde sogar so weit gehen: wir leben im Zeitalter der Entwürfe. Wir brauchen einen Entwurf, unsere begrenzten Ressourcen mit Vorsicht zu nutzen, um unsere Lebensbedingungen zu erhalten und die Entfaltung höherer Qualität zu fördern; Einen Entwurf einer dialogischen Haltung, die die Bedürfnisse des Anderen ernst nimmt, dies scheint mir der einleuchtende Weg zu sein. Dies ist der Kern von Wissenschaft und Ethik. Locker verbundene, kleine computergestützte Systeme, die die menschliche Gemeinschaft pfleglich behandeln und verantwortliches menschliches Handeln ermöglichen.

Keine allgemeingültigen Antworten

Aber ich kann, niemand kann allgemeingültige Antworten auf ethische Dilemmata in der wissenschaftlichen Arbeit geben: Wird alles, was einmal gedacht wurde, früher oder später auch getan? Müssen wir bestimmte Richtungen der Forschung aufgeben? Könnten wir uns auf eine wertorientierte (humanistische?) Ausrichtung in Forschung und Entwicklung einlassen? Können (müssen) niedere Dinge zugunsten der höheren Dinge vernachlässigt werden? Ist die Natur ein Gegenstand der Ethik? Welche Formen des Eingriffs in die Natur sind sicher? Wo fängt meine Verantwortung an und wo hört sie auf? Was nützt es, wenn wir uns an ethische Normen halten, während andere…? Meiner Ansicht nach sind diese Fragen prinzipiell nicht zu entscheiden. Wir entscheiden sie, indem wir unseren eigenen Standpunkt einnehmen, hier und jetzt, und weiterhin in unserer täglichen Praxis.

Die entscheidende Frage also ist: Wie können wir ethische Praxis fördern – in unserer Umgebung? in unserer wissenschaftlichen Gemeinschaft? in der Gesellschaft als ganzes?

Zur wissenschaftlichen Arbeit gehört, Entscheidungen zu treffen: Wir müssen zusammen auf ihre Veränderung hinarbeiten. Wir könnten Grundsätze erarbeiten, durch die wir uns gesellschaftlichen Mechanismen verpflichten, die die Änderungen, die wir wünschen, befördern. Das betrifft sowohl Lehre wie Forschung, die Verteilung der Gelder, das Setzen von Forschungszielen und die Anwendung von Forschungsmethoden.

Grundsätze haben mit Engagement und Selbstbeschränkung zu tun. Gesellschaftliche Mechanismen sind diskursiv. Sie betreffen Forschungsumfelder, wissenschaftliche Gemeinschaften, Fördereinrichtungen, die Zusammenarbeit mit der Öffentlichkeit, Entscheidungen über Technologie-Design und seine Anwendung. Lassen Sie uns damit beginnen, ethische Richtlinien in der Wissenschaft und bei Entwürfen zu befolgen. Lassen Sie uns Netzwerke betroffener WissenschaftlerInnen bilden. Wenn wir uns zu gemeinsamen Handeln zusammenfinden, wissen wir nicht, ob wir Erfolg haben. Aber wir können hoffen.

Dokumentation

Forschung für den Frieden

In seiner Sitzung vom 19.12.1991 hat der Senat der Ruhr-Universität Bochum folgende Beschlußvorlage einstimmig angenommen:

„Die Ruhr-Universität Bochum hat sich in Artikel 2 Absatz 2 ihrer Verfassung dazu verpflichtet, in Forschung und Lehre zu Sicherung und Erhalt des Friedens beizutragen. Vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrung, daß durch Kriege politische Konflikte nicht gelöst werden können, sowie im Bewußtsein der Verantwortung aller in der Wissenschaft Tätigen für die Folgen ihres Forschens und Lehrens erklärt der Senat der Ruhr-Universität Bochum:

  • Gemäß der Verpflichtung, zu Sicherung und Erhalt des Friedens beizutragen, sollen an der Ruhr-Universität keine Forschungs- und Entwicklungsvorhaben durchgeführt werden, die erkennbar Angriffskriegen dienen.
  • Alle an der Ruhr-Universität in der Wissenschaft Tätigen sind aufgerufen, ihre Forschungsvorhaben sowie Kooperationsvereinbarungen mit Dritten dahingehend zu prüfen, ob sie kriegerischen Zwecken dienen, und diese gegebenenfalls abzulehnen.
  • Generell liegt es in der Verantwortung aller in der Wissenschaft Tätigen, die politischen, ökologischen und sozialen Folgen ihrer eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit zu reflektieren und daraus in Forschung und Lehre Konsequenzen zu ziehen.“

Dieser Beitrag basiert auf dem Vortrag, den Chr. Floyd auf dem Kongress »Challenges: Science and Peace in a Rapidly Changing Environment« in Berlin am 29.11.91 gehalten hat.
Dr. Christiane Floyd ist Professorin am Fachbereich Informatik der Universität Hamburg.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1992/1 Wissenschaft und Verantwortung, Seite