Worum es eigentlich geht…
Debatte zu Wissenschaftsverständnis in der Friedens- und Konfliktforschung
Hier antworten Werner Ruf und Josef Mühlbauer auf die Repliken in W&F 2/2023 zum Dossier 96 (Beilage zu 1/2023) »Quo vadis, Friedensforschung?« Die sich daraus entspinnende Debatte führt beide Autoren zurück zur Frage nach dem Wissenschaftsverständnis und der Einordnung der Aufgabe und Zielsetzung von politischer Wissenschaft – mit zwei unterschiedlichen Blickwinkeln.
Unabhängigkeit einer politischen Wissenschaft
Eine Entgegnung
von Werner Ruf
In dieser Entgegnung mag ich mich zu den Reaktionen auf meinen Beitrag »Die Friedensforschung und der Markt« in Dossier 96 (W&F 1/2023) verhalten. Vorweg gleich eine kleine Anmerkung, die vielleicht auch mit unserer schnelllebigen Zeit zu tun hat, zu der anscheinend auch (zu) schnelles Lesen gehört: Der Verweis von Christoph Weller auf Loriots Rennbahn, der in gewisser Weise zur Metapher für die Interpretation und Demontage meines Beitrags gemacht wird, trifft mich nicht. Die Frage „Quo Vadis?“ wurde nicht von mir sondern von den Herausgeber*innen des Dossiers gestellt, das Tendenzen und Aufgaben der Friedensforschung (kritisch) behandeln will. Zur Überprüfung meines Artikels taugt die so konstruierte Fragestellung also nicht. Der Vorwurf des verengten Blicks fällt so voll auf den Autor zurück.
Ich will auch nicht additiv auf die zahlreichen Stellen eingehen, an denen meine Position polemisch überzogen wird, um sie dann demontieren zu können. Ich glaube, unser Konflikt liegt tiefer, er liegt im Wissenschaftsverständnis. Nicht die (kontroverse) Existenz einer Pluralität von „vielfältigen Konfliktlinien […][innerhalb eines] Forschungsfeldes“ weisen dessen Wissenschaftlichkeit aus, sondern der Beitrag (insbesondere einer Gesellschaftswissenschaft) zur gesellschaftlichen Transformation – in diesem Falle zu einer konfliktärmeren Gesellschaft oder gar zu einer friedlicheren Welt. Nicht die Existenz eines Pluralismus (über dessen Grenzen noch zu diskutieren wäre) charakterisiert diese Disziplin, sondern die ihr inhärente Normativität! Es geht also keinesfalls um den „richtigen Weg zum Sieg“ (Weller 2023, S. 38) im Gerangel von unterschiedlichen Ansätzen, sondern um die Frage, ob und wie diese Disziplin einen Beitrag zur „guten Gesellschaft“ (Arnold Bergstraesser) zu leisten vermag.
Deshalb betrifft die von mir aufgeworfene Frage auch nicht die Friedensforschung als einzige Disziplin. Vielmehr bezieht sie sich auf die Situation der Wissenschaft im Zeitalter des Neoliberalismus im Allgemeinen, auch wenn sie exemplarisch die Friedensforschung behandelt: Die Frage der Selbstbestimmung der Wissenschaft. Mit der Konzentration auf Drittmittelfinanzierung als Existenzbedingung und als Messlatte für Wissenschaftlichkeit werden Richtlinien eingezogen, die bereits weit im Vorfeld der Bewilligung und Durchführung von Forschungsprojekten bestimmen, was sowohl wichtig als auch wissenschaftlich ist – und was eben nicht. Dass die Drittmittelfinanzierung sich auf Struktur und Rangplatz ganzer Fächer, auf die Arbeitsbedingungen insbesondere von Nachwuchswissenschaftler*innen etc. auswirkt, braucht hier nicht noch einmal ausgeführt zu werden. Dass sie im Falle der Friedensforschung von besonderer Relevanz ist, liegt auf der Hand, beschäftigt diese sich doch mit Themen, die von unmittelbarer Aktualität und angesichts möglicherweise menschheitsbedrohender Waffensysteme von höchster Relevanz sind. Das Ringen um politisch adäquate und verantwortbare Antworten auf friedens- und konfliktrelevante Probleme ist deshalb meines Erachtens ohne ethische Bezüge nicht denkbar. Unvermeidbar hat deshalb Friedensforschung eine normative Dimension.
Subtile Einflussnahmen sichtbar machen
Wenn mir unterstellt wird, mir fehle der „intensive Kontakt mit der aktuellen Friedens- und Konfliktforschung“ (ebd.), so mag das stimmen. Ob die mir unterstellte falsche Sicht auf die Dinge durch Kontakt mit den aktuellen (etablierten) Friedensforscher*innen geheilt worden wäre, bezweifle ich. Denn es geht ja nicht darum herauszufinden, was »falsch« und »richtig« ist. Die Frage ist und bleibt, was Friedensforschung leisten soll(te) und, vor allem, wie sie sich selbst versteht. Daraus ergibt sich auch die Frage nach ihren (vor allem finanziellen) Existenzbedingungen und nach möglichen Auswirkungen der Finanzierung bzw. der Förderer*innen auf Auswahl, Fragestellung und Ergebnis von Forschungsprojekten.
Nach der Methode ‚haltet den Dieb‘ wird mir unterstellt, ich wolle „suggerieren, dass mit der Bereitstellung von Steuermitteln […] unmittelbar Einfluss auf die Inhalte und Ergebnisse von Forschung und Lehre sowie die Erkenntnisinteressen der Forschenden genommen würde. Das ist Quatsch.“ Wir sind uns einig: das wäre Quatsch! Das Wort „unmittelbar“ stammt allerdings nicht von mir, sondern von Christoph Weller. Forschung auf Kommando würde außerdem jedes Ergebnis von vornherein unglaubwürdig machen und disqualifizieren und jede wissenschaftliche Karriere ruinieren. Ich habe in meinem Text Wert darauf gelegt, auf die subtilen Mechanismen zu verweisen, die wir aus der Praxis der Antragsstellung doch alle kennen; die Schere im Kopf mit zu bedenken, die dazu führt, dass bestimmte Formulierungen in Anträgen bis hin zu Hinweisen auf verwendete Literatur mit wissendem Blick auf die Bedürfnisse und Interessen des Drittmittelgebers gewogen werden; dass an den relativ kleinen Kreis der zu erwartenden Gutachter*innen gedacht wird; dass sich die Institutsleiter*innen bei Antragstellung oft auch ihrer sozialen Pflicht gegenüber den prekär beschäftigten Wissenschaftler*innen bewusst sind, deren schiere Existenz von der Genehmigung oder Verlängerung eines Projekts abhängt usw. Auch hier, bitte, etwas genauer lesen und keinen absurden Pappkameraden aufbauen, um dann auf ihn einzuschlagen. Das ist weder seriös noch wissenschaftlich.
Unabhängigkeit und demokratische Praxis
Eine normative Sozialwissenschaft ist unmittelbar mit dem Konzept von Demokratie verbunden. Wer seine (wissenschaftliche) Existenz durch Alimentierung auf dem Markt (= Drittmittelgeber*innen) sichern muss, verliert seine Selbstbestimmung, gerät in die Gefahr stromlinienförmiger Einpassung in den herrschenden Diskurs. Dies impliziert nicht nur die mögliche Vereinnahmung eines Projekts sondern einer ganzen Disziplin in legitimatorische Prozesse, es behindert auch Pluralismus und notwendige selbstkritische Reflexion – alles Voraussetzungen für Aufklärung und demokratische Willensbildung.
Das habe ich mit Verweis auf die Statuten der Deutschen Stiftung Friedensforschung und ihrer Förderpraxis zu illustrieren versucht. Thomas Held und Ulrich Schneckener haben dagegen protestiert (ebd., 2023). Die Zusammensetzung der Gremien der DSF, die von ihr geförderten Projekte kann jede und jeder selbst auf der Homepage der DSF nachlesen. Er/sie mag dann entscheiden, ob meine Zweifel an Freiheit und Unabhängigkeit der Friedensforschung aus der Luft gegriffen sind. Die in meinem Beitrag geäußerte Kritik trifft auch das jährliche Friedensgutachten. Als weitere Stütze für meine These von der zunehmenden Abhängigkeit bzw. Selbstunterwerfung der Friedensforschung unter die (antizipierten) Interessen öffentlicher Förderer verweise ich zusätzlich auf die Homepages der das Gutachten herausgebenden Institute, auf denen in unterschiedlicher Präzision und Vollständigkeit die Förderer der Institute ausgewiesen sind.
Plädoyer für eine politische Wissenschaft
Ja, Friedensforschung ist politisch – und sie soll es sein! Jene Friedensforschung, für die Christoph Weller spricht oder zu sprechen antritt, präsentiert sich bewusst scheinbar unpolitisch, was wohl »Wissenschaftlichkeit« unterstreichen soll. Gerade hinter diesem Schleier ist sie aber eminent politisch. Wenn sich Friedensforschung – und das zeigen insbesondere die beiden letzten Friedensgutachten – im Kern als Verstärker der Regierungspolitik versteht, verzichtet sie nicht nur auf ihre wichtige kritische Funktion, sie verzichtet auch auf ihre gesellschaftliche und innovative Aufgabe und Verantwortung als angewandte Sozialwissenschaft. Das zeigt sich letztlich auch in der Wahrnehmung dieser Gutachten durch die Gesellschaft: Ihre Erkenntnisse tangieren die Öffentlichkeit nicht (mehr), liefern sie doch keinen Kontroversen befördernden Diskussionsstoff. Der Aufwertung dieser Ergebnisse hilft auch der feierliche Rahmen ihrer Vorstellung im Saal der Bundespressekonferenz nicht – vielleicht sogar im Gegenteil. Zum Beleg für diese Aussage sei nur vergleichsweise auf den Jahresbericht des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI verwiesen, der ziemlich zeitgleich mit dem letzten Friedensgutachten vorgestellt wurde und – ganz im Gegensatz zum deutschen Friedensgutachten – internationale Beachtung findet.
Im Interesse einer kritischen und innovativen Friedensforschung sollte gefragt werden, warum die etablierte Friedensforschung ihr gesellschaftspolitisch transformatives Potential ebenso wenig wahrnimmt wie die ihr innewohnende Aufgabe, für eine bessere, gewaltärmere Welt zu forschen und zu publizieren, um „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren“ (Präambel der Charta der Vereinten Nationen). Dies war und ist die Intention meines Beitrags zu einer notwendigen Diskussion über Sinn und Ziel, genauer: über das Selbstverständnis von Wissenschaft im Allgemeinen und von Friedensforschung im Besonderen. Es geht darum, diese zurückzuholen in die demokratische Öffentlichkeit. Hinter dem Disput mit Christoph Weller stehen politische Ordnungs- und Zielvorstellungen, die wohl unvereinbar bleiben. Diese offenzulegen wäre der erste Schritt zu mehr Transparenz (auch der Friedensforschung) und zur Rückkehr der Sozialwissenschaften in die Gesellschaft, an deren Gestaltung sie mit ihren Befunden ja teilnehmen. Solche Friedensforschung könnte mehr sein als eine weitere akademische Disziplin. Sie könnte und müsste mit der Friedensbewegung interagieren, deren Impulse aufnehmen, ihre normative Zielsetzung klar benennen, wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse in die Zivilgesellschaft einbringen und einen Beitrag leisten zur Gestaltung einer besseren, friedlicheren Welt.
Literatur
Weller, Ch. (2023): „Wo laufen sie denn?“ Widerspruch zu »Die Friedensforschung und der Markt« von Werner Ruf. W&F 2/2023, S. 36-38.
Held, Th.; Schneckener, U. (2023): Ein Zerrbild der DSF. W&F 2/2023, S. 35-36.
Werner Ruf war von 1982 bis 2003 Professor für Internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Kassel und gehörte mehrere Jahre dem Vorstand der AFK an.
Wohin laufen sie denn? Zum Frieden!
Dritte Alternative und ein breiter, präskriptiver Friedensbegriff
von Josef Mühlbauer
Das Dossier 96 »Quo vadis, Friedensforschung?« (W&F 1/2023) hat eine produktive Debatte ausgelöst, die in Gegendarstellungen und Repliken (vgl. W&F 2/2023) mündete. Es geht um nichts Geringeres als um das Selbstverständnis der Friedensforschung seit der von Kanzler Scholz ausgerufenen »Zeitenwende«. Die zentralen Fragen, um die sich die Kontroversen drehen, lauten: In wessen Dienst stellen sich Friedensforscher:innen in Kriegszeiten? Und wie ist deren Verhältnis zu Staat und Markt zu bewerten? In diesem Streit um die „Dienstbarkeit der Intellektuellen“1 zwischen den liberal-konstruktivistischen (Weller 2023) und historisch-materialistischen (Ruf 2023) Ansätzen der Friedens- und Konfliktforschung möchte ich einen »dritten«, einen herrschaftskritischen Ansatz in den Diskurs einbringen, in der Hoffnung die Polemik abzubauen und die Reichweite und Komplexität der Debatte aufzeigen zu können.
Autonomie der Wissenschaften?
Mit der Frage, „ob eine Entwicklung der Friedensforschung weg von ihrer kritischen Intention hin zu mehr Legitimation offizieller Politik stiller Teil jener Zeitenwende ist, die sich schleichend aus der zunehmenden Abhängigkeit (nicht nur) dieser Forschung vom – beschränkten – Markt der Drittmittel ergibt“, eröffnet Ruf eine alte Debatte um die Autonomie der Wissenschaften gegenüber Staat, Markt und Macht. An entscheidenden Stellen seiner Argumentation verkürzt Ruf (2023, S. 4-6) jedoch seine Kritik auf die dichotome Gegenüberstellung von »traditioneller« („systemkonform optimierend“) und »kritischer« („kritisch hinterfragend“) Friedensforschung. Erstere stehe durch die „Initiierung von Forschungsvorhaben, die Vergabe von Projekten oder auch die Bewilligung von Studiengängen […] fest in staatlicher Hand“ (ebd, S. 5) und somit zugleich „im Dienst der Herrschenden“ (ebd, S. 4). Wenn wir die Polemik entschärfen und (wissenschaftliche) Positionen verstehen wollen, lohnt es sich hier, die theoretische Verortung von Rufs Komplexitätsreduktion und Dichotomisierung zu analysieren, statt einen Ideologieverdacht in den Raum zu werfen (Weller 2023, S. 38).
Historisch-materialistische Ansätze, wo sich Ruf auch mit Rekurs auf die »Frankfurter Schule« positioniert hat (2023, S. 3), verfallen oftmals in ein pessimistisches, teleologisches und dichotomes (Wissenschafts-)Verständnis von Basis und Überbau. Demzufolge gelingt die Rechtfertigung der (Staats-)Macht, also der Basis, durch die ideologischen Apparate, worin die Wissenschaften ihren Platz nehmen. In der marxistischen Tradition wird der Staat oftmals als reines Herrschaftsinstrument und somit als homogene Einheit begriffen. Auch wenn diese dichotome Darstellung von Basis und Überbau verkürzt ist, sollte man mit Krippendorff zu Recht fragen, welche Rolle die etablierten bzw. staatlich finanzierten Friedensforscher:innen (Krippendorff 2009, S. 115) nach der »Deutschen Katastrophe« des Zweiten Weltkriegs im Einsatz für den Ausstieg Deutschlands aus der (imperialen) Machtpolitik spiel(t)en. Wie reagierten die etablierten Friedensforscher:innen auf die Militarisierung Deutschlands und auf die Tatsache, dass Deutschland bald die größte konventionelle NATO-Armee mit noch nie zuvor gesehenen Rüstungsetats aufweist?
Theoretische Verortung und ihre Folgen
Als Antwort auf die heutige Situation und die militarisierte, versicherheitlichte Diskursverengung der scheinbar alternativlosen »Zeitenwende« antwortete das Dossier 96 – und so auch Ruf. Inhaltlich wurde von Weller hierzu keine Stellung bezogen. Ganz im Gegenteil hat Weller mit einem Loriot-Zitat über Pferderennen das gesamte Dossier 96 als Einladung zu „bekenntnishafte[n] Statements über den einen, richtigen Weg“ tituliert (S. 36). Er selbst argumentiert im dichotomen Muster von »richtig« und »falsch«, indem er die Frage im Titel des Dossiers »Quo Vadis, Friedensforschung?« als eine Falsche bezeichnet (ebd.). Eine Feststellung kann durchaus falsch sein, aber eine Frage? Gibt es in der Wissenschaft eindeutig richtige und falsche Fragen?
Das Dossier 96 fragt nach Trends, Tendenzen sowie „über die Frage nach Möglichkeiten, Limitierungen und Abhängigkeiten heutiger Friedensforschung“ (S. 2). Gerade Weller muss doch hegemoniale Diskurskonstellationen, normative Wertvorstellungen und die Macht- und Herrschaftsverhältnisse innerhalb diskursiver Räume der Wissenschaft verstehen, plädiert er doch für den „vernünftigen Grundsatz: Keine Waffen in Spannungsgebiete (…) statt eines verkürzten militärstrategischen Denkens, das auf Gewaltmittel fixiert ist“ (2022). Eine mittlerweile sehr vereinsamte Position im wissenschaftlichen, medialen bzw. öffentlichen Diskurs. Doch nicht nur in Hinblick auf den Ukrainekrieg sind eine Diskursverengung und eine Versicherheitlichung des Diskurses zu beobachten, sondern eben auch in der Friedens- und Konfliktforschung (vgl. Mühlbauer 2023). Auch wenn es nicht die eine Friedensforschung gibt, lohnt es sich, den diskursiven Trend der Disziplin zu analysieren bzw. zu hinterfragen.
Um nun gleichermaßen Wellers theoretische Vorannahmen verstehen zu wollen, betrachte ich einige Schriften der letzten Jahre. Wellers „Reflexive Politikberatung“ (2017) – ein Konzept, welches ich im liberalen, problemorientierten Peacebuilding der »Global Governance«-Ansätze verorte – möchte, „gegen die Rhetorik der Alternativlosigkeit“, den Diskurs vervielfältigen und beharrt auf einem „bescheidenen, praxisorientierten“, d.h. engen2 Friedensbegriff (Weller 2020, S. 17f.). Der umgekehrte Vorwurf der Ideologisierung ließe sich auch gegen Weller ins Feld führen: Reicht das beratende, bunte Aufzeigen von wissenschaftlichen Produkten am freien Markt der Wissenschaft aus? Spielt das nicht den Tendenzen der Pragmatisierung, Merkantilisierung und Neoliberalisierung der Wissenschaft in die Hände? Und ist diese konstruktivistische Entpolitisierung, die ein gleichwertiges Nebeneinander einander moralisch, ethisch und politisch gleicher Optionen akzeptabel werden lässt, nicht gerade mindestens genauso problematisch? Oder sollte man nicht viel eher, wofür ich am Ende noch argumentieren werde, den antagonistischen und umkämpften (Salzborn 2015) bzw. kolonialen (Brunner 2020, Exo 2023, S. 17) Charakter von der (Re-)Produktion und Etablierung von Wissen und Wissenschaft hervorheben? Ein breiter Begriff des Friedens würde diese Dimensionen aufmachen können.
Zudem plädiert Weller (u.a. 2017, S. 177) für eine distanzierte, objektive, unpolitische und scheinbar emotionslose Grundhaltung des Beobachtens von Konflikten samt der Reflexion des jeweiligen eigenen Beobachtens. Sprechen wir also von einem „fiktiven Nullpunkt“ (Castro-Gomez 2005, S. 3) der vermeintlich objektiven, wertfreien und neutralen Beobachtungsposition über Konflikte, Gewalt und Kriege? Sind wir wirklich in dieser „quasi-göttlichen“ Position (vgl. Haraway 1988, S. 581)? Verfallen konstruktivistische und liberale Ansätze nicht hierbei in einen scheinbar harmonischen, konsensorientierten und unkritischen »Wissenschaftsaberglauben« (um Karl Jaspers zu paraphrasieren), bei dem „der zwanglose Zwang des besseren Arguments“ am freien Markt der Wissenschaft sich durchsetzen wird? Das erweckt zudem den Anschein, dass wissenschaftliche Diskurse in einem a-historischen, kontext-freien, politisch neutralen, absolut objektiven »Standort aller Standorte« entstehen.
Die Frage von »quo vadis« ist angesichts der Fragen danach, inwieweit die Wissenschaften frei von Machtverhältnissen und frei von der Sphäre des Politischen sind, eine durchaus berechtigte. Die Entscheidungen dazu, welche Methoden oder Theorien auf gewisse Konflikte, Kriege oder sonstige Problemstellungen angewandt werden, werden nicht im luftleeren Raum gefällt. Sie stützen sich auch weniger auf empirisch gesicherte und »objektive« Erkenntnisse, sondern beruhen auf zukünftigen Versprechungen (damit implizit auf normativen Ansprüchen, Menschen- und Weltbildern) und somit vor allem auf Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Wohin könnte also ein dritter Weg der Friedensforschung laufen, der diese Problematik zu beheben antritt?
Wohin laufen sie denn?
In Anlehnung an feministische Standpunktheorien (Harding 2016), kritische Friedensforscher:innen des »Local Turns« (Richmond und Mac Ginty 2013) und herrschaftskritische Ansätze (Exo 2023; Brunner 2020) soll Wissenschaft nicht nur deskriptiv, sondern auch präskriptiv, d.h. auch normsetzend, arbeiten. Sie beschreiben damit nicht nur die epistemischen Praktiken und deren Beziehungen zu Macht und sozialer Organisation. Sie zeigen darüber hinaus, dass »objektiv« nicht gleich wertneutral heißt. Es braucht also aus epistemologischer Sicht die Zuwendung zum lokalen und situierten Wissen, insbesondere der Subalternen. Und als Resultat muss hier mit einem breiten, emanzipativen (Richmond), positiven (Galtung), komplexitäts-orientierten (Jaberg) Friedensbegriff gearbeitet werden, nur so wird man den verschiedenen intersektionalen Unterdrückungskategorien von race, Klasse, Gender etc. in der Analyse »objektiv« gerecht. Mit diesem post- bzw. dekolonialen, feministischen und herrschaftskritischen Verständnis von Wissen(-schaft) können Leerstellen, teleologische (sowohl marxistische, als auch liberale) Fortschrittsnarrative, Herrschaft bekräftigende Praktiken der Unterdrückung und Ausbeutung sowie mit dieser verbundene koloniale Komplizenschaft (auch kritischer) westlicher Wissenschaftler:innen verdeutlicht und dekonstruiert werden. Jenseits vom liberalen Peacebuilding und jenseits einer marxistischen Reduktion von Gewaltstrukturen auf ökonomische Gesellschaftsverhältnisse hat Exo (2023, S. 18) wichtige Impulse geliefert, wie ein breiter, präskriptiver Friedensbegriff als Antwort auf die – von Brunner (2023, S. 47) festgestellte – diskursive, kognitive und affektive Militarisierung fungieren kann.
Anmerkungen
1) Die Debatte findet man exemplarisch bei Krippendorff (2009) oder vor allem auch bei Basaglia et al. (1980).
2) Eng gefasster Frieden ist hier nach Weller nicht als die Abwesenheit von Krieg zu verstehen, sondern als problemorientierte, zivile Konfliktregulierung.
Literatur
Basaglia, F.; Basaglia, F. (1980): Befriedungsverbrechen: über die Dienstbarkeit der Intellektuellen. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt.
Brunner, C. (2020): Epistemische Gewalt. Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne. Bielefeld: transcript.
Brunner, C. (2023): Stell dir vor, es ist Krieg… Diskursive, kognitive und affektive Militarisierung. W&F 2/2023, S. 47-49.
Castro-Gómez, S. (2005): Aufklärung als kolonialer Diskurs. Humanwissenschaften und kreolische Kultur in Neu Granada am Ende des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M.: Johann Wolfgang Goethe-Universität.
Exo, M. (2023): Impulse für ein Neudenken von Frieden – Jenseits von Liberalismus, Staat und Status Quo. Dossier 96, W&F 1/2023, S. 17-20.
Haraway, D. (1988): Situated knowledges. The science question in feminism and the privilege of partial perspective. Feminist Studies 14(3), S. 575-599.
Harding, S. (2016): Whose science? Whose knowledge? Thinking from women’s lives. New York: Cornell University Press.
Krippendorff, E.(1985): Staat und Krieg. Die historische Logik der politischen Unvernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Krippendorff, E. (2009): Die Kultur des Politischen. Wege aus den Diskursen der Macht. Berlin: Kadmos.
Mühlbauer, J. (2022): Unsichtbare Mauern – der Universitätsbetrieb aus einer intersektionalen Perspektive. Strukturelle und handlungstheoretische Hürden. Zeitschrift des Instituts für Politikwissenschaft, Politix 49/2022, S. 43-46.
Richmond, O.; Mac Ginty, R. (2013): The local turn in peace building: A critical agenda for peace. Third World Quarterly 34(5), S. 763-783.
Ruf, W. (2023): Die Friedensforschung und der Markt. W&F 1/2023, S. 3-5.
Salzborn, S. (2015): Kampf der Ideen. Die Geschichte politischen Theorien im Kontext. Baden-Baden: Nomos.
Weller, C. (2007): Machiavellische Außenpolitik: altes Denken und seine US-amerikanische Umsetzung. In: Hasenclever, A.; Wolf, K.-D.; Zürn, M. (2007): Macht und Ohnmacht internationaler Institutionen: Festschrift für Volker Rittberger. Frankfurt a. M.: Campus, S. 81-114.
Weller, C. (2017): Friedensforschung als reflexive Wissenschaft: Lothar Brock zum Geburtstag. Sicherheit und Frieden 35(4), S. 174-178.
Weller, C. (2020): Frieden ist keine Lösung. Ein bescheidener Friedensbegriff für eine praxisorientierte Konfliktforschung. In: W&F. 2020/2. S. 15-18.
Weller, C. (2022): Wie konnte es nur so weit kommen? Wie ein Friedens- und Konfliktforscher den Krieg in der Ukraine einschätzt. Watson.de, 28.02.2022.
Weller, C. (2023): „Wo laufen sie denn“? Widerspruch zu »Die Friedensforschung und der Markt« von Werner Ruf. W&F 2/2023, S. 36-38.
Josef Mühlbauer studierte Politikwissenschaften und Philosophie und veröffentlichte zuletzt das Buch »Zur imperialen Lebensweise« (Mandelbaum Verlag). Zudem führt er Interviews und organisiert Friedenskonferenzen für das Varna Institute for Peace Research (auf YouTube unter Varna Peace Institute zu sehen).