W&F 2015/4

Zivile Aggression

Die Ukraine, die deutsche Außenpolitik und die Friedensbewegung

von Velten Schäfer

Die deutsche Ukrainepolitik seit 2011 lässt sich in drei Phasen einteilen: die Förderung der Opposition bis zur Legitimierung der Platzbesetzer in der heißen Phase des Umsturzes, dann eine kurze Phase des diplomatischen Versagens, in der die Bundesregierung nichts für einen friedlichen Übergang von der alten zur neuen Regierung tat, und schließlich eine dritte Phase, die bis heute anhält, in der die Bundesregierung versucht, die allzu zerstörerischen Dynamiken des von ihr selbst angefachten Konflikts zu bremsen. Die Friedensbewegung muss sich damit auseinandersetzen, dass zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit, zum Instrument aggressiven außenpolitischen Handelns uminterpretiert, zu einer gewalttätigen Eskalation von Konflikten beitragen kann.

Im Verlauf des Jahres 2014 bekam man Angst beim Verfolgen der Nachrichten. Könnte es misslingen, den Ukraine-Konflikt einzuhegen? Erinnerte nicht schon dessen Herd auf der Krim an das »Great Game« des 19. Jahrhunderts? Zugleich traten reihenweise Politiker/innen auf, um »mehr Verantwortung« für Deutschland zu fordern. Ganz neu war dies ebenso wenig wie der entsprechende rhetorische Mix aus geopolitischem Determinismus – ein Land von der Größe, Kraft und Lage Deutschlands könne gar nicht anders, als eine »aktivere Rolle« einzunehmen – und der Anrufung einer »Werte«-Mission. Es fiel aber auf, dass »Verantwortung« von Regierungskreisen, mächtigen Multiplikatoren und selbst Teilen der Opposition immer expliziter auch als kriegerische Gewalt buchstabiert wurde.

So bestand das zurückhaltendste Postulat in Bundespräsident Joachim Gaucks viel zitierter Rede zur Eröffnung der Münchner Sicherheitskonferenz im Januar 2014 in dem Halbsatz, zum „äußersten Fall“ dürfe „weder aus Prinzip ‚nein' noch reflexhaft ‚ja'“ gesagt werden. Wagner (2015) weist darauf hin, dass diese Rede keine persönliche Meinung darstellte, sondern „bis hin zu wortgleichen Formulierungen“ auf das vom Auswärtigen Amt finanzierte Projekt »Neue Macht, neue Verantwortung« der Stiftung Wissenschaft und Politik sowie des German Marshall Fund zurückgeht, an dem ausgesuchte Mitglieder der politischen, diplomatischen und publizistischen Elite mitgewirkt hatten. Und als etwas später die grünennahe Heinrich-Böll-Stiftung zu einer außenpolitischen Konferenz lud, nannte es deren Vorstand Ralf Fücks eine „Regression“ deutscher Außenpolitik, dass man sich seit dem Kosovokrieg nur noch zögerlich an militärischen Operationen beteilige. Dem offiziellen Tagungsbericht (Arndt 2014) ist zu entnehmen, dass dies allgemein geteilt wurde – wie auch der Aufruf, die Bundesrepublik müsse „ihren gesamten außenpolitischen Werkzeugkasten sehr viel engagierter nutzen“.

Gaucks Vortrag ließ aufhorchen – weit über den Kreis seiner üblichen Gegner/innen hinaus. In der kritischen Politologie ist schon von einem »Gauckismus« die Rede: Pfeifer und Spandler (2014) beschreiben so ein neues „Amalgam aus geopolitischen Prämissen und protestantisch geprägter Moral“; Wagner (2015) sieht in diesem Zusammenhang die Renaissance eines „Militärchauvinismus“ mehr oder minder traditioneller Bauart heraufziehen. Inwiefern aber entspricht dieser neuen Rhetorik wirklich auch eine neue Politik? Was ist eigentlich drin in jenem »außenpolitischen Werkzeugkasten« und wie benutzt Deutschland diese Instrumente? Was kann daraus für eine kritische Öffentlichkeit, für die Friedensbewegung gefolgert werden? Diesen Fragen versucht der folgende Text am Beispiel des deutschen Agierens im Ukrainekonflikt nachzugehen, das sich im Groben in drei Phasen zu unterteilen lassen scheint.

Öl ins Feuer

Eine erste Phase beginnt Jahre vor dem Winter 2013/2014. Um 2011 leitet Viktor Janukowitsch – 2010 in einer als korrekt eingestuften Wahl Präsident der Ukraine geworden – eine außenpolitische Kursänderung ein. Neben den weiter laufenden Verhandlungen über eine EU-Assoziierung vollzieht der stark von der russischsprachigen Minderheit im Osten des Landes getragene Präsident eine deutliche Annäherung an Moskau; schon kurz nach seinem Amtsantritt unterzeichnet er einen langfristigen Vertrag über die russische Flotte auf der Krim. Was dann geschieht, beschreibt die DAAD-Stipendiatin Iryna Solonenko (2013), die in Frankfurt (Oder) im Umfeld des von der Böll-Stiftung geförderten Promotionskollegs »Externe Demokratieförderung und Zivilgesellschaft im post-sozialistischen Europa« arbeitete, affirmativ-beratend: Die EU setzt auf die (west-) ukrainische Opposition.

Man habe, so Solonenko, um 2011 „eingesehen, dass in Ländern wie der Ukraine für die erfolgreiche Implementierung von Reformen interner Druck und innenpolitische Nachfrage mindestens so wichtig sind wie Anreize und Sanktionen von außen“. In diesem Sinne habe Brüssel ab 2011 im Kontext der „Aufstände in der arabischen Welt“ seine Politik der „Partnerschaft mit der Gesellschaft“ intensiviert und u.a. die „Fazilität für Zivilgesellschaft, die reformorientierte NGOs unterstützen soll“, sowie den »Europäischen Fonds für Demokratie« eingerichtet. Von 2011 bis 2013 habe allein die »Fazilität« 37 Millionen Euro in die »Zivilgesellschaft« der östlichen Nachbarstaaten gepumpt. Ab 2011 hätten „mehr und mehr NGOs ihre Kapazitäten dafür“ eingesetzt, „dass die Ukraine diese wichtige Chance nicht endgültig verpasst“. Es häuften sich die Anzeichen, schreibt Solonenko wenige Monate vor den Maidan-Ereignissen, „dass sich eine Form systematischeren Drucks auf politische Entscheidungsträger entwickelt“.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Es greift viel zu kurz, den »Maidan« nur auf diese Politik der »pro-westlichen Landschaftspflege« zurückzuführen und ihn pauschal als extern finanzierten Staatsstreich einzustufen. Solche Bewegungen lassen sich weder einfach von außen »aufbauen« noch sind sie punktgenau zu steuern. Sie haben erhebliche Eigendynamiken, »der Westen« ist für viele Akteure aus verschiedenen Gründen politisch und ökonomisch attraktiv. Die unterstützten Organisationen und Strömungen sind weder einfach Einflussagenten noch steht bei ihnen die Außenpolitik notwendigerweise an erster Stelle; oft kümmern sie sich um reale soziale Probleme. Dennoch ist die »Maidan«-Bewegung bereits in der Entstehung nicht ohne das Kräftefeld denkbar, das von außen aufgebaut wurde, und schon gar nicht ihr »Sieg« ohne den dann demonstrativen Schulterschluss westlicher Regierungen mit einer Bewegung, die sich über Wochen auf einem zentralen Platz verbarrikadierte und schon frühzeitig durch zunehmende Militanz zu der dramatischen Zuspitzung beitrug.

Während diese Politik einer Einbindung der »Zivilgesellschaft« nach dem Lehrbuch jüngerer »Soft Power«-Strategien (Nye 2004, Maaß 2015) ein EU-Projekt war und ist, tat sich Berlin besonders darin hervor, die Platzbesetzer in der heißen Phase zu legitimieren und den Konflikt so weiter anzuheizen. Als sich Anfang Dezember 2013 mit dem damaligen Außenamtschef Guido Westerwelle (FDP) der offizielle außenpolitische Repräsentant jenes Landes dort zeigte, das im Osten Europas als EU-Hauptmacht gilt, war die Entscheidung de facto gefallen. Keine westliche Regierung ging so weit in ihrer Einmischung wie die deutsche. Mehrfach wurde mit dem tatsächlich chancenlosen Ex-Sportstar Vitali Klitschko sogar der kommende Präsident präsentiert. Sollte einmal die Vorgeschichte eines neuen Krimkriegs geschrieben werden müssen, verdient Westerwelle ein Kapital darin.

Diplomatisches Versagen

In der ersten Phase des Konflikts betrieb Berlin also eine ausgesprochen offensive Politik gegen eine korrupte, aber legitime Regierung, die einen unliebsamen außenpolitischen Kurs einschlagen wollte. Die deutsche Politik, die auf einen Regimewechsel zielte, schien aufzugehen und wurde von Westerwelles Amtsnachfolger Frank-Walter Steinmeier (SPD) fortgesetzt. Die Ernte sollte im »Kiewer Vertrag« vom Nachmittag des 21. Februar 2014 eingefahren werden.

Das Abkommen zwischen Präsident Viktor Janukowitsch, dem späteren Ministerpräsidenten Arsenij Jazeniuk, der nationalistischen Partei Swoboda sowie Berlins Favoriten Klitschko wurde von Steinmeier, dem polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski sowie einem hohen Beamten aus Paris gegengezeichnet. Es sah die Außerkraftsetzung der Janukowitsch-Verfassung von 2010, die Wiedereinsetzung der Juschtschenko-Verfassung von 2004, die Erarbeitung einer neuen Verfassung, eine internationale Untersuchung der Todesschüsse auf dem Maidan sowie vorgezogene Präsidentschaftswahlen vor. Doch noch am selben Abend fand der Sturm auf den Präsidentenpalast statt. Steinmeier, Sikorski und der französische Emissär hatten zwar beim so genannten Maidan-Rat für das Abkommen geworben, für seine Umsetzung aber nichts getan. Kaum war Steinmeier in Berlin aus dem Flugzeug gestiegen, standen die Zeichen auf Eskalation.

Damit begann eine zweite Phase des Konflikts, die nur wenige Wochen andauerte und spätestens Mitte März endete, als auf Rathausdächern im Osten der Ukraine russische Fahnen auftauchten und das vom Westen nicht anerkannte Krim-Referendum stattfand. In dieser Zeit, am besten am Morgen nach dem Putsch in Kiew, hätte man Druck auf die neuen Machthaber aufbauen müssen, um eine Übergangsregierung der nationalen Versöhnung zu schaffen und Teile des Abkommens zu retten. Wäre etwas derartiges gelungen, hätte Russland keine Handhabe gehabt, derart massiv in einem Konflikt zu intervenieren.

Bekanntlich kam es anders: Die »westlichen« Staaten, besonders auch Deutschland, behandelten die zunächst kaum rechtmäßige Regierung, an der extreme Nationalisten auf sicherheitsrelevanten Posten beteiligt waren, wie einen normalen Partner. In Berlin wurde sogar gedrängt, man müsse das EU-Assoziierungsabkommen nun schnell abschließen. Als Russlands Präsident Wladimir Putin wenig später die Angliederung der Krim feierte, war gerade dies sein zentrales und populäres Argument: Der Westen habe so „unprofessionell“ gehandelt, dass man sich in vitalen Sicherheitsfragen nicht auf ihn verlassen könne.

Der Autor weiß nicht, wie in diesen entscheidenden Tagen im Auswärtigen Amt diskutiert wurde. Von deeskalierenden diplomatischen Initiativen allerdings wurde nichts bekannt. Einem Brief Steinmeiers an die SPD-Basis zufolge unterschätzte man die mit Händen zu greifende Dynamik des Konflikts in Berlin geradezu grotesk: „Die Welt ist aus den Fugen. Niemand hätte im vergangenen Jahr die Krisendynamik erahnen können, die unsere Außenpolitik heute auf eine harte Probe stellt“, heißt es darin im September 2014. Dabei hatte Moskau bereits nach der einseitigen Legitimierung des Kosovo gegen das russische Veto im UN-Sicherheitsrat zu verstehen gegeben, man fühle sich nun gleichfalls nicht mehr an die Unverletzlichkeit von Grenzen gebunden.

Moderation ohne Akzente

Das Handeln Deutschlands in dieser entscheidenden Phase war von diplomatischer Kopflosigkeit geprägt. Dass Berlin das Februarabkommen, das einen friedlichen Übergang hätte bringen können, ohne Weiteres fallen ließ, wurde zum Wendepunkt. Danach spitzte sich der Konflikt mit dem Krim-Referendum, dem Massaker von Odessa sowie den aus Russland (wohl nicht nur regierungsseitig) unterstützten Sezessionsbewegungen zunächst dramatisch zu.

In dieser dritten, andauernden Phase traten die USA offen auf den Plan. Nun wird zunehmend mit dem klassischen Instrumentarium von »Hard Power« – hier Sanktionen, militärische Drohgebärden und teils Waffenlieferungen, dort massive Hilfe für die Sezessionisten – gearbeitet. Und nun (erst) veränderte sich Berlins Haltung spürbar: Die Bundesregierung, die erst forsch auf Eskalation gesetzt und dann eine europäische Lösung verspielt hatte, nimmt jetzt die Rolle einer Bremserin und Moderatorin ein. Im einsetzenden Wirtschaftskrieg trat Berlin eher zögerlich auf; zugleich versuchte man nicht ganz ohne Erfolg, die Falken aus Übersee und der östlichen EU zu bremsen. Das – wenn auch stets prekäre – Einfrieren des Konflikts um die »Volksrepubliken« von Lugansk und Donezk (»Minsker Abkommen« vom September 2014 und Februar 2015) ist durchaus auch ein deutscher Erfolg.

Allerdings setzt Berlin ganz im Gegensatz zur Rhetorik der »Verantwortung« keinerlei Akzente. So wird (zumindest nicht nachvollziehbar) bei ukrainischen Verletzungen der »Minsk-Abkommen« kein Druck auf die Regierung in Kiew ausgeübt, während vermeintlich oder tatsächlich von Moskau ausgehendes Zuwiderhandeln skandalisiert und sanktioniert wird. Obgleich das Völkerrecht kein Dekalog ist und, wie der Hamburger Rechtsprofessor Reinhard Merkel (2014) lesenswert in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung dargelegt hat, auch anders ausgelegt werden kann, beharrt Berlin darauf, die »völkerrechtswidrige Annexion« der Krim durch den »Aggressor« Russland sowie die Verletzung der »territorialen Unversehrtheit« der Ukraine zu brandmarken. Wenn damit eine »Rückgabe« der Krim gemeint ist, so ist das utopisch, nicht nur gegenüber der Regierung Putin, sondern gegenüber allen Folgeregierungen. Eine Normalisierung der Ukraine scheint ohne eine – wie auch immer konstruierte – Berücksichtigung des Status quo auf der Krim undenkbar. Womöglich könnte eine solche Perspektive Moskau dazu bewegen, auf eine Überführung der »Volksrepubliken« in Autonomieregionen innerhalb der Ukraine hinzuwirken. Allerdings gewinnen auch diese an Eigendynamik. Ob der Kreml, wenn er wollte, die Sezessionsbewegung dort noch einfach zurückpfeifen könnte, scheint offen.

»Smart Power« und der Abschied von Galtung

Inwiefern finden sich nun in diesem Handeln Anzeichen einer »gauckistischen« Wende? Marschiert ein neuer »Militärchauvinismus«? Gibt es, wie Albrecht von Lucke (2014) zur Gauck-Rede anmerkt, einen „Wechsel von einer Kultur der Zurückhaltung zu einer ‚Kultur der Kriegsfähigkeit' (Josef Joffe)“ und einen „Wechsel von einer Kultur der Werte zu einer Kultur der Interessen“? Wäre, wie Spandler und Pfeifer (2014) schreiben, dem zunehmend waffenstarrenden Diskurs eine Revitalisierung des „Friedensmachtkonzepts“ entgegenzusetzen? Ich meine, dass sich aus der Analyse des deutschen Agierens im Ukrainekonflikt für die Friedensbewegung etwas ganz anderes ergibt: nämlich die Folgerung, dass solche Gegenüberstellungen nicht mehr greifen und daher weitreichende, nicht unproblematische Diskussionen anstehen.

Zumindest muss beim »Interesse« differenziert werden. Das Agieren Berlins mag im strategischen Interesse einer Treue zur NATO liegen, die in diesem Konflikt ihr 1990 errungenes Monopol auf das Leben-Machen und Sterben-Lassen von Staaten verteidigt. Deutschlands ökonomisches Interesse wird aber grob verletzt, was sich im defensiven Verhalten der Kapitalverbände manifestiert, das traditionellen Imperialismustheorien geradezu Hohn spricht. Offenbar kann eine Interessen und Kompromisse abwägende Politik dem Frieden dienlicher sein als eine gesinnungsethische, auf »Werten« basierende. Nicht umsonst erwiesen sich gerade gewisse Teile der Grünen als besonders aggressiv. Schon weil Werthaltungen subjektiv sind, ist die Gegenüberstellung von »Werten« und »Interessen« prekär. Zu den erhellenden Passagen jener Gauck-Rede gehört die Feststellung, dass viele zwischen »Werten« und geostrategischen Interessen des »Westens« keinen Widerspruch sehen. »Wir« sind nun mal die Guten.

Der Konflikt zeigt ferner, dass auch eine normative Gegenüberstellung »friedlicher« und »kriegerischer« Mittel erodiert. Auch mit zivilen Mitteln lässt sich ausgesprochen aggressiv auftreten. Um das Argument zuzuspitzen: In zeitgenössischen Konzepten von »Smart Power«, die »harte« und »weiche» Macht flexibel verzahnen, besteht zwischen Künstlerstipendium, NGO-Förderung, Warenboykott und Bombenangriff ein nur gradueller Unterschied. Das wirklich neue, gefährliche, im Ukrainekonflikt offensiv genutzte Instrument im »Werkzeugkasten« stammt nicht aus der militaristischen Rumpelkammer, sondern aus dem Repertoire der »Soft Power«: Es ist die »Partnerschaft mit der Zivilgesellschaft« in als »Störer« identifizierten Ländern. Diese ist erstens geeignet, unkontrollierbare innere Spannungen zu fördern, die erhebliche innere wie äußere Eskalationsgefahren bergen. Eine solche Politik gezielter Verzahnung von Regierungshandeln und gesellschaftlichem Engagement kann zudem im Sinne ihrer erklärten Ziele kontraproduktiv sein: Sie bringt etwa das Eintreten für Minderheitenrechte in den permanenten Verdacht, Teil einer externen Regimewechselstrategie zu sein. Sie trägt zu einer zusätzlichen Politisierung selbst harmloser Anliegen bei und kann in den Zielländern Repression noch verschärfen. Um in Zukunft Menschenrechts- oder Gewerkschaftsinitiativen zu stützen, müssten neue Rahmen gefunden werden. Als Feature des Regierungshandelns von Staaten oder Staatenbündnissen ist dieses Instrumentarium nachhaltig kontaminiert.

Für die Friedensbewegung ist von Bedeutung, dass dieser zivilgesellschaftliche Interventionismus formal auf Praxen transnationaler Vernetzung sozialer Bewegungen fußt, die nun in internationales Regierungshandeln übersetzt werden. Es ist kein Zufall, dass etwa in Deutschland entsprechende Agenden von Rot-Grün aufgesetzt wurden; 2004 entstand etwa das im Wortsinn absurde Institut eines »Regierungskoordinators« für die »zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft«.

Auf die feindliche Übernahme von Grassroots-Politiken kann die Friedensbewegung auf zwei Arten reagieren: Sie kann, wozu nicht nur Teile der Grünen sondern auch der Linkspartei zu neigen scheinen, die Selektivität dieses Interventionismus skandalisieren: Druck wird nur dort gemacht, wo es passt. Das ist dann nichts anderes als die Forderung nach noch mehr, wenn auch (zunächst) ziviler, Intervention. Die Alternative wäre eine anti-interventionistische Neuaufstellung, die freilich kategorial sein müsste, um zu mobilisieren. Überprüft werden müsste dann die traditionelle Neigung der Linken zu »idealistischen« Auffassungen internationaler Politik. Kommt nicht das Hoffen auf die Verrechtlichung und Institutionalisierung derselben dem Reiten eines toten Pferdes gleich, seit nicht nur der »Westen« Völkerrecht und Vereinte Nationen nur noch als eine Option betrachtet, sondern auch Russland seinen durch Schwäche begründeten internationalen Legalismus der 1990er und frühen 2000er Jahre aufgibt?

Entwickelt werden müsste ein »kritischer Realismus«, der die Welt als Kräftemessen betrachtet, ohne – wie »Realisten« à la Christian Hacke und neuerdings Herfried Münkler – in den Generalstab einzurücken oder sich nach Art des »Antiimperialismus« mit allen zu verbünden, die die Dominanzmächte ärgern. Nicht zurückschrecken dürfte man in diesem Sinne vor einer Neufassung des »positiven« Friedensbegriffs nach Johan Galtung, der nicht nur die Abwesenheit von Krieg zwischen den Staaten umfasst, sondern auch soziale Gerechtigkeit in denselben. Diese einst progressive Begrifflichkeit ist heute Basis jener Praktiken des »Demokratieexports«, die binnen 15 Jahren fast den ganzen arabischen Raum in einen Albtraum verwandelt haben. Stark gemacht werden müssten ihr gegenüber einst als konservativ verstandene Prinzipien wie die Nicht-Einmischung in die Politik souveräner Staaten. Die Abwesenheit von Krieg ist angesichts der vergangenen Jahrzehnte vielleicht bereits ein lohnendes Ziel.

Der Nachteil einer solchen Wendung bestünde u.a. darin, dass sich etwa im politologischen Diskurs kaum Anschlussstellen fänden. Zugleich steht allerdings eine Großzahl der Bundesbürger dem Interventionismus kritisch gegenüber. Der vorliegende Text will trotz seiner pointierten Form kein Manifest darstellen. Er will aber aufzeigen, zwischen welchen Polen diskutiert werden könnte, wenn nicht sogar müsste.

Literatur

Torsten Arndt: Deutsche Außenpolitik – Auf dem Weg zu mehr Verantwortung? Tagungsbericht vom 30.6.2014 auf boell.de.

Joachim Gauck: Deutschlands Rolle in der Welt – Anmerkungen zu Verantwortung, Normen und Bündnissen. Rede des Bundespräsidenten zur Eröffnung der 50. Münchner Sicherheitskonferenz vom 31. Januar 2014.

Albrecht von Lucke: Der nützliche Herr Gauck. Deutsche Blätter für deutsche und internationale Politik 3'14.

Reinhard Merkel: Die Krim und das Völkerrecht – Kühle Ironie der Geschichte. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.4. 2014.

Kurt-Jürgen Maaß (Hrsg.). (2015): Kultur und Außenpolitik – Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Baden-Baden: Nomos.

Joseph S. Nye (2004): Soft Power – The Means to Success in World Politics. New York: Public Affairs.

Hanna Pfeifer und Kilian Spandler: Komplexität aufbauen statt abbauen – Wider eine Politik der neuen deutschen Verantwortung. Huffington Post, 16.10.2014.

Iryna Solonenko: Eher Partner als Geber – die EU und die ukrainische Zivilgesellschaft. Bundeszentrale für politische Bildung, 15.3.2013.

Frank-Walter Steinmeier (2014): [Brief] An die Mitglieder der SPD, 8. September 2014. Der Brief ist dokumentiert als Anhang zu Velten Schäfer: In Steinmeiers Welt – An allem ist nur Russland schuld: Deutschlands Außenminister erklärt seiner Partei den Ukraine-Konflikt. neues deutschland, 12.9.2014, online bei ag-friedensforschung.de.

Jürgen Wagner (2015): Deutschlands (neue) Großmachtambitionen – Von der »Kultur (militärischer) Zurückhaltung« zur »Kultur der Kriegsfähigkeit«. IMI-Studie 02/2015.

Velten Schäfer ist innenpolitischer Redakteur der Tageszeitung »neues deutschland«.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2015/4 Deutsche Verantwortung – Zäsur oder Kontinuität?, Seite 32–35