Zivilgesellschaft und die UNO
Kritik, Verankerung, Zukunftsperspektiven
von Susanne Schmelter
Seit über 75 Jahren bietet das UN-System ein Forum zur multilateralen Konfliktregelung und hat wichtige Erfolge erzielt: etwa bei Abkommen zur Rüstungsbeschränkung, Einsätzen zur Friedenssicherung und Nothilfe. Druck aus der Zivilgesellschaft, von NGOs und durch Proteste, spielte dabei des Öfteren eine entscheidende Rolle. Trotz Erfolgen ist die Frustration über die UN und ihre Versäumnisse, internationale Kooperation und gewaltfreie Konfliktaustragung zu ermöglichen, gewachsen. Welche Möglichkeiten und Hindernisse gibt es für zivilgesellschaftliches Engagement, die Foren des multilateralen Dialogs mit Leben zu füllen?
Zeitgleich zum 40-Jahres-Symposium von W&F am 6./7. Oktober 2023 in Bonn eskalierte die Gewalt in Israel-Palästina in einen neuen Krieg. Die Anschläge und das Massaker der Hamas und die darauf folgende kollektive Bestrafung der Zivilbevölkerung Gazas durch das israelische Militär sorgen seitdem täglich für Entsetzen. Die UNO befasste sich in ihrer Geschichte mit keinem Konflikt so häufig und intensiv wie mit dem israelisch-palästinensischen, doch gescheiterte Friedensverhandlungen, missachtete Resolutionen und permanente Völkerrechtsverstöße haben insbesondere unter der betroffenen Zivilbevölkerung zu massiven Enttäuschungen geführt. Heute wird in der öffentlichen Entrüstung und den zahlreichen Stellungnahmen kaum noch an die UNO appelliert. Dabei hätten die UN-Institutionen durchaus die Möglichkeit, Friedenspläne zu oktroyieren und Völkerrechtsbruch zu sanktionieren, doch bleiben sie oft weit hinter ihren Möglichkeiten und eigentlichen Zielen zurück. Es greift allerdings zu kurz, die UNO als solche für dieses Scheitern zu kritisieren, denn es sind die derzeit 193 Mitgliedsstaaten, die der UNO ihre Bedeutung und Durchsetzungskraft verleihen.
Zivilgesellschaft und ihre Vertretung in den UN-Institutionen
Im Bereich von internationaler Kooperation und Konfliktbearbeitung wird neben staatlichen Akteuren oft »die Zivilgesellschaft« adressiert. Allerdings ist oft nicht eindeutig, wer oder was damit gemeint ist. Andreas Zumach verwies (beim Panel »Zivilgesellschaft und die UN« auf dem W&F Symposium in Bonn) darauf, dass es den Begriff »Zivilgesellschaft« vor Ende des Kalten Krieges praktisch nicht gab. Bis dahin handelte es sich eher um „thematische Druckbewegungen wie etwa die Frauenbewegung, Umweltbewegung, Anti-Atomkraftbewegung, die Friedensbewegung oder die damals so genannte Dritte-Welt-Solidaritätsbewegung“. Videoausschnitte zur Erinnerung an die Gründungszeit von W&F (am Vorabend) veranschaulichten dies eindrucksvoll: Bei Demonstrationen gegen den NATO-Doppelbeschluss versammelten sich allein in Bonn rund 150.000 Menschen, bundesweit mehrere hunderttausend Friedensbewegte.
Ab Anfang der 1990er Jahre seien zunehmend neue Begrifflichkeiten wie etwa »Soziale Bewegungen« und schließlich »Zivilgesellschaft« in der Forschung verwendet worden, führte Zumach aus und erinnerte, dass damals mit Zivilgesellschaft vor allem Organisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch im Menschenrechtsbereich oder große Organisationen wie die Women’s International League for Peace and Freedom (WILPF) gemeint waren. Seit 2000 wurde es jedoch schwieriger mit der Begrifflichkeit: Nach drastischen Budgetkürzungen innerhalb der UNO, bei denen zehn Prozent der Stellen ohne Diskussion über Priorisierungen gekürzt wurden, erklärte der damalige Generalsekretär Kofi Annan in Davos, neue »stakeholder« in der Gesellschaft zu brauchen und appellierte damit auch an die Verantwortung multinationaler Konzerne. Der sogenannte »Global Compact« bezog nicht nur klassische Menschenrechtsorganisationen ein, sondern auch Wirtschaftskonzerne, die sich fortan mit neun sehr allgemein gehaltenen Verpflichtungen zu Menschenrechtsfragen als zivilgesellschaftliche Akteure und UN-Partner begreifen durften. Viele Nichtregierungsorganisationen (NGOs) kritisierten den Mangel an verbindlichen Standards des »Global Compact«, einige, darunter auch Amnesty International, schlossen sich dem Pakt jedoch auch an.
Institutionalisierte Teilhabe
Der Bereich im UN-System, in dem die Partizipation von NGOs zumindest formal am weitreichendsten geregelt ist, ist der Bereich Menschenrechte. In der Menschenrechtskommission, seit 2006 Menschenrechtsrat, haben NGOs ein formales Teilnahmerecht, Rederecht und auch das Recht, Anträge zu stellen. Abstimmen können sie nicht, das Stimmrecht liegt weiterhin bei den Staaten. Diese Teilhabemöglichkeiten auch in andere Gremien der UN auszuweiten, wäre eine wichtige Komponente, um den Schutz von Menschenrechten noch besser zu gewährleisten: NGOs könnten so verstärkt für die Rechte der zivilen Bevölkerung eintreten – gerade wenn die Staaten diese Pflichten nicht ausreichend wahrnehmen oder wenn multinationale Wirtschaftsunternehmen Menschenrechtsstandards untergraben. Allerdings versuchen immer mehr Staaten (z.B. China, Pakistan, Saudi-Arabien) in Reaktion auf die Erfolge und Berichte von Menschenrechtsorganisationen, die Partizipationsrechte und Einflussmöglichkeiten von NGOs bei multilateralen Verhandlungen innerhalb und außerhalb des UN-Systems einzuschränken.
Erfolge für die Zivilgesellschaft
Auch wenn es diskussionswürdig ist, welche Gruppen sich unter dem Label der »Zivilgesellschaft« bei UN-Foren präsentieren und akkreditieren, lässt sich festhalten, dass die wichtigsten internationalen Abkommen seit Ende des Kalten Krieges nur durch starkes Engagement globaler Koalitionen von NGOs innerhalb wie außerhalb der UNO zustande kamen.
Einige Erfolge zivilgesellschaftlichen Drucks aus den vergangenen Jahren:
- Der völkerrechtlich verbindliche Vertrag über das Verbot von Atomwaffen von 2017, der 2021 ratifiziert wurde, darf als größter Erfolg der Friedensbewegung angesehen werden.
- Eine breite internationale Koalition von über 1.000 NGOs setzte sich für den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) ein, der 1998 eingerichtet und 2003 ratifiziert wurde.
- Das Kyoto-Rahmenabkommen (1997) und die Klimaverträge von Paris (2016).
- Das bilaterale Abkommen zwischen der Sowjetunion und USA zur Abrüstung von Kurz- und Mittelstreckenraketen (INF-Vertrag), 1987 unterzeichnet, 1998 ratifiziert.
- Die Abkommen zur Ächtung von Anti-Personenminen (1997) und von Streumunition (2008) kamen auf Druck einer internationalen Koalition von NGOs außerhalb der UNO zustande und haben seitdem 122 Unterzeichnerstaaten gewonnen.
Aktionsformen und -formate
Während der Unterhalt von Organisationen oft aufwendig sei (Zeit, Geld, Energie, Reisen), wirke der Druck »daheim«, also auf die Vertreter der eigenen Regierung, oft am effektivsten, fasste Zumach zusammen. Die Diplomaten und gewählten Vertreter würden so in ihrem Abstimmungsverhalten durch die Stimmung in der Bevölkerung beeinflusst.
Aktionen, die von großen NGOs direkt an den Orten multilateraler Verhandlungen an die UN-Gremien gerichtet werden, hätten da oft weniger Auswirkungen. Doch es gäbe auch beachtliche Beispiele für NGO-Engagement am Ort der Verhandlungen: Zumach führte hier die Verhandlungen zum Giftmüllabkommen an. Greenpeace habe damals kurz vor Verhandlungsbeginn in einer sehr medienwirksamen Aktion Behälter von Giftmüll direkt vor den Konferenzort gebracht (»Toxic Trade Campaign«). Das habe die Diplomaten derart beeindruckt, dass schließlich – und nach mehreren Sondersitzungen der europäischen Staaten – eine Mehrheit für das Verbot zum Export gewonnen wurde.
Andere Aktionen, wie etwa eine Mahnwache, die über 20 Jahre in Genf gegen ein geheimes Abkommen protestierte, wonach die WHO kein Recht hat, sich um Opfer radioaktiver Strahlung zu kümmern, haben allerdings nichts bewirkt – es fehlte der zivilgesellschaftliche Druck in den relevanten Mitgliedsländern. Auch im Falle Syriens mangelte es an nennenswertem zivilgesellschaftlichen Druck, um zum Ende des Krieges und zu einer Vereinbarung zu kommen.
Generell orientieren sich die diplomatischen Vertretungen – zumindest aus demokratischen Staaten – an der Stimmung ihrer Wählerschaft und sind damit durch Protest »zuhause« leichter zu beeinflussen. Um die Stimmung bzw. das Abstimmungsverhalten direkt am Ort der Verhandlungen zu beeinflussen, braucht es strategisch kluge und medienwirksame Aktionen.
Beispiel Syrien: Zivilgesellschaft zwischen Vernachlässigung und »local turn«
Im Falle Syriens zeigt sich das ambivalente Verhältnis von zivilgesellschaftlichen Akteuren und der UNO besonders deutlich: Als die Proteste 2011 in Syrien begannen, waren die wenigen existierenden zivilgesellschaftlichen Organisationen und Interessenvertretungen streng vom Regime reglementiert und freie Meinungsäußerung war kaum möglich. Als die Menschen mit den Rufen nach Freiheit und Würde auf die Straße gingen, brach sich ein oft kreativer Aktivismus Bahn. Syrische »Aktivisten« fanden fortan als Vertreter der syrischen Zivilgesellschaft auch international Gehör – doch wurde der Wunsch nach einer Öffnung des Landes und einer Geltendmachung internationaler Normen auch für Syriens Bevölkerung bitter enttäuscht.
Zu den sogenannten Genfer-Verhandlungsrunden (2012, 2014, 2016, 2017) wurden auch zahlreiche Aktivisten und Vertreter der Opposition eingeladen. Allerdings einigten sich die Konfliktparteien mitnichten auf eine politische Lösung; allenfalls Zugeständnisse des Regimes zur Errichtung humanitärer Korridore wurden als »Erfolge« verbucht – obwohl dessen Abriegelung von Wohngegenden (wie auch die Verwendung von Chemiewaffen und Fassbomben) Verstöße gegen das Völkerrecht darstellen. Den UN-Vermittlern gelang es angesichts der Blockaden im Sicherheitsrat nicht, einen Friedensplan durchzusetzen. Auch in weiteren Formaten außerhalb der UNO (Astana-Formate, u.a.) gelang kein Durchbruch, die Beteiligung der Zivilgesellschaft schwankte jeweils deutlich.
Aufbauend auf ihrer Forschung zur syrischen Diaspora, schilderte Maria Hartmann auf dem W&F-Symposium, wie syrische Menschenrechtler dennoch beharrlich an die UN-Institutionen appellierten. Zuletzt wirkten Menschenrechtsorganisationen immerhin erfolgreich auf eine unabhängige UN-Institution für die Verschwundenen (»UN Independent Institution on Missing Persons in the Syrian Arab Republic«) hin. Strafrechtlich relevante Erfolge wurden allerdings andernorts erwirkt: So gelang 2022 unter Berufung auf das Weltrechtsprinzip die Verurteilung zweier syrischer Kriegsverbrecher vor dem Oberverwaltungsgericht in Koblenz. Bei aller Bedeutung dieser Erfolge würden sie doch nicht ausreichen, um der eklatanten Straflosigkeit, mit der das Regime agiert, etwas entgegenzusetzen, so Hartmann. Dies habe verheerende Signalwirkungen auch für andere Machthaber und biete keine Rückkehrperspektive für die vielen Geflüchteten.
Bei meiner Forschung im Libanon zur Flucht aus Syrien (Schmelter 2021) konnte ich die um sich greifende Rechtlosigkeit der Zivilbevölkerung noch auf einer anderen Ebene beobachten: Obwohl der politische Aktivismus, der im Zuge der Proteste aufkeimte, im Exil neue Möglichkeiten zur Organisation fand, drängte die kriegsbedingte humanitäre Notlage die Aktivisten oft zu einer humanitären Ausrichtung ihres Engagements. Dies geht im Sinne der Finanzierungslogik gewöhnlich mit einem Bekenntnis zum humanitären Prinzip der »Neutralität« einher. Das Eintreten für Bürgerrechte oder einen rechtebasierten Status im Exil stand dann nicht mehr im Vordergrund. Dies führt in der Konsequenz zu einer Entpolitisierung der Möglichkeiten von Zivilgesellschaft, sich im Rahmen internationalisierter Strukturen und Zusammenhänge Gehör zu verschaffen.
Im Libanon hörte ich zudem oft Kritik von Personen, die selbst aus Syrien kamen und sich nun vor Ort für die Versorgung von anderen Geflüchteten engagierten. Während diese Aktivisten bzw. zivilgesellschaftlichen Akteure meist einräumten, dass internationales Engagement an sich wichtig sei, beklagten sie auch, dass ihr Wissen von den Verhältnissen vor Ort nicht ausreichend mit einbezogen werde, dass UN-Engagement abgehoben und überteuert sei. Während sie als lokale Akteure zwar hinsichtlich ihrer Kenntnisse (etwa für sogenannte »needs assessments«) angefragt würden, hätten sie nur wenig Entscheidungsbefugnisse über die Verteilung der Mittel. Verfahrensstandards, Sprache und professionelle Verwaltung wirkten zudem manchmal gar als Ausschlusskriterium für lokale Initiativen, die Interesse an der Kooperation mit internationalen Organisationen gehabt hätten.
In Anbetracht solcher und ähnlicher Kritik hat die Bedeutung lokal verankerter Ansätze auch international zunehmend Beachtung gefunden. Im humanitären Bereich zielt der 2016 von Geberländern und internationalen Organisationen beschlossene »Grand Bargain« u.a. darauf ab, die Vertretung und den Einfluss lokaler Akteure zu stärken – blieb allerdings gerade bei dieser Zielsetzung bis 2023 weit hinter den Erwartungen zurück. Unter dem Stichwort »Localisation« wird auch im Bereich von Entwicklung und Friedenssicherung versucht, möglichst viel Handlungsmacht bei den lokalen Akteuren zu lassen. Begriffe wie »local ownership« und »capacity building« sind dabei prominent geworden. Eine Kritik am Ansatz ist jedoch, dass oft ungeklärt bleibt, was mit lokal genau gemeint ist und wer das Lokale repräsentieren soll. Der zivile Friedensdienst aus Deutschland leistet einige Pionierarbeit in dem Versuch, internationale Kooperation, insbesondere im Bereich der Friedensförderung, partnerschaftlich zu gestalten. Dennoch bleiben Spannungen: Machtungleichgewichte zwischen lokal und international agierenden zivilgesellschaftlichen Organisationen manifestieren sich bspw. in Projektlaufzeiten und Finanzierungsmöglichkeiten – und die Zivilgesellschaft in den Länderprogrammen tritt v.a. als Projektpartner in Erscheinung (Ruppel 2023).
Heterogenes Engagement und eine gemeinsame Vision
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass »die Zivilgesellschaft« sehr heterogen ist, sowohl in ihrer politischen Ausrichtung als auch in ihrem Organisationsgrad. Wohl jedoch scheint beim Sprechen von Zivilgesellschaft – insbesondere im Vergleich zu Bewegungen – eine Konnotation von Organisiertheit mitzuschwingen, die mit einem Trend zur Professionalisierung des Engagements einhergeht. In vielen Fällen ist eine Kenntnis der Abläufe im UN-System bzw. das Verständnis einer bestimmten Programmlogik ausschlaggebend für das Gelingen zivilgesellschaftlichen Engagements im internationalen Rahmen.
Wichtiger als die Professionalität der Organisationsstruktur scheint jedoch das Erfassen der politischen Thematik bzw. das Konfliktverständnis, um auf relevante Prozesse und Entscheidungen bei der UNO bzw. die Entscheidungsträger der staatlichen Vertretungen Einfluss zu nehmen. Eine geschickte Auswahl der politischen Kräfte und der Orte für solche Interventionen sowie eine medienwirksame Inszenierung scheint dafür unerlässlich.
Auch wenn bei der UNO vieles reformbedürftig ist, so bieten ihre multilateralen Foren doch einen Verhandlungsrahmen für globale Themen wie gewaltfreie Konfliktbearbeitung, gerechte Handelsabkommen, Wahrung der Menschenrechte sowie den Schutz natürlicher Lebensgrundlagen und Ressourcen. Sie erlauben außerdem die Vernetzung und Bündelung zivilgesellschaftlicher Kräfte und ermöglichen damit, auch lokales Engagement in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Das Festhalten am Völkerrecht und der Vision eines friedlichen Zusammenlebens gewinnt gerade in Kriegszeiten eine besondere Bedeutung.
Literatur
Ruppel, S. (2023): Lokal verankerte Zivile Konfliktbearbeitung zwischen Partnerschaft und Machtungleichgewicht. Studien des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. Wiesbaden: Springer.
Schmelter, S. (2021): Humanitäres Regieren und die Flucht aus Syrien. Ethnographische Untersuchungen zum Migrations- und Grenzregime im Libanon. Doktorarbeit, Georg-August-Universität Göttingen. DOI: doi.org/10.53846/goediss-8238.
Dr. Susanne Schmelter, Friedens- und Konfliktforscherin und Anthropologin. Nach Studium in Marburg und längeren Forschungsaufenthalten im Nahen Osten, lebt sie nun in Genf, wo sie 2022 »Manara Association for Multilateral Dialogue« gegründet hat; zudem arbeitet sie freiberuflich als Beraterin für Friedensorganisationen.