Zivilklausel in NRW und überall
von Senta Pineau
Die kürzliche Streichung der Zivilklausel aus dem Hochschulgesetz in Nordrhein-Westfalen und die Kampagne für deren Erhalt fallen zusammen mit dem zehnjährigen Jubiläum der Entstehung der so genannten Zivilklauselbewegung. Zeit für eine politische Bestandsaufnahme.
Wir schreiben das Jahr 2008. Milliarden Euro werden aus dem Stegreif zur Rettung von Banken verpulvert, während zuvor massiv Sozialabbau betrieben wurde. Die Unveränderbarkeit einer unerfreulichen Gesellschaft steht massiv in Frage.
In dieser Zeit kommt auf Einladung des Verteidigungsministeriums und der Commerzbank der »Celler Trialog« zusammen; es trifft sich die Crème de la Crème aus Wirtschaft, Bundeswehr und Politik. Die Teilnehmer*innen eint unter anderem das Ziel, „das Verständnis für die Auslandseinsätze der Bundeswehr verbreitern zu können“, die „Intensivierung der zivil-militärischen Zusammenarbeit“ voranzutreiben sowie gemeinsam darauf hinzuwirken, „dass der sicherheitspolitische Dialog auch in Forschung und Lehre, insbesondere an unseren Hochschulen, gestärkt wird“ (Celler Trialog 2008). Kurzum: In Celle soll der in der Bevölkerung verbreiteten Ablehnung militärischer Einsätze entgegengewirkt werden.
Auch die neoliberale Hochschulpolitik stößt zu dieser Zeit an Grenzen. Die Ökonomisierung von Bildung und Wissenschaft und das menschen- und wissenschaftsfeindliche Leitbild der »unternehmerischen Hochschule« geben 2009 Anlass für den bundesweiten Bildungsstreik. Der steigende Druck auf die Hochschulen und ihre Mitglieder, verwertungskonform zu studieren und zu forschen – im Zweifel für den Krieg –, führt zu einer Renaissance der kritischen Auseinandersetzung mit den gesellschaftspolitischen Zielen von Bildung und Wissenschaft. In Karlsruhe kommt es zu einer studentischen Abstimmung für die Ausweitung der Zivilklausel des ehemaligen Kernforschungszentrums auf die gesamte Uni. Es folgen weitere Abstimmungen, u.a. in Köln und Frankfurt. Dies ist der Beginn der »Zivilklauselbewegung«.
Krise heißt Entscheidung: für den Frieden
An der Uni Köln konstituierte sich 2010 der »Arbeitskreis Zivilklausel«. Es war gerade gelungen, in NRW die Gebührenfreiheit des Studiums zurückzuerkämpfen. Die Auseinandersetzung der Aktiven mit dem Sozialpakt der Vereinten Nationen, der die Gebührenfreiheit des Studiums politisch begründet, hatte dafür große Bedeutung. Darin heißt es, „dass die Bildung auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und des Bewusstseins ihrer Würde gerichtet sein und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten stärken muss“ und „dass die Bildung es jedermann ermöglichen muss, eine nützliche Rolle in einer freien Gesellschaft zu spielen, dass sie Verständnis, Toleranz und Freundschaft unter allen Völkern und allen rassischen, ethnischen und religiösen Gruppen fördern sowie die Tätigkeit der Vereinten Nationen zur Erhaltung des Friedens unterstützen muss“ (UN-Sozialpakt 1966, Artikel 13).
Der Anspruch, Wissenschaft und Bildung sollten dazu beitragen, als mündige Persönlichkeit Bedeutung zu erlangen für die Schaffung einer menschlichen, friedlichen Welt, war persönlich und politisch überzeugend und in Köln Grundlage für nachhaltiges Engagement.
Die Zivilklauselbewegung hing über die Jahre an der Arbeit eines kleinen Kreises von Aktiven. Umso bemerkenswerter ist, wie gut es ihr gelungen ist, politische Maßstäbe zu setzen. Hatten sich im Jahr 2009 zwölf Hochschulen einer friedlichen Wissenschaft verpflichtet, sind es mittlerweile über 60 (zivilklausel.de 2019).
In NRW wurde 2014 die Festschreibung der friedlichen Ausrichtung der Wissenschaft im Hochschulgesetz erkämpft: „Die Hochschulen entwickeln ihren Beitrag zu einer nachhaltigen, friedlichen und demokratischen Welt. Sie sind friedlichen Zielen verpflichtet und kommen ihrer besonderen Verantwortung für eine nachhaltige Entwicklung nach innen und außen nach. Das Nähere zur Umsetzung dieses Auftrags regelt die Grundordnung.“ (HZG NRW 2014) Alle staatlichen Hochschulen in NRW verpflichteten sich im Zuge dessen zu diesen Entwicklungsaufgaben.
Militärisch-industrieller Komplex ist »not amused«
Winter 2014: Gerhard Elsbacher vom Konzern MBDA Missile Systems beklagt auf einer Konferenz zur »Angewandte[n] Forschung für Verteidigung und Sicherheit«, die Geschäftsbedingungen hätten sich durch die Ausgrenzung militärischer Forschung an manchen Hochschulen aufgrund der Erfolge der Zivilklauselbewegung verschlechtert (Borchers 2014). Im Jahr 2016 beschließt das Bundeskabinett das »Strategiepapier der Bundesregierung zur Stärkung der zivilen Sicherheitsindustrie in Deutschland«. Darin steht: „Die Bundesregierung wird daher insbesondere mit den Ländern, Forschungs- und Wissenschaftseinrichtungen sowie Hochschulen in einen ergebnisoffenen Dialog über die Verwendung von sog. Zivilklauseln treten.“ (Bundesregierung 2016)
Frühjahr 2017: Vor dem Hintergrund wachsender Kritik an den Aufrüstungsplänen der NATO sowie sich zuspitzender Konflikte um den Ausstieg aus der Braunkohle am Hambacher Forst kündigt die frisch gewählte CDU/FDP-Landesregierung von NRW an, sie wolle die Friedensklausel aus dem NRW-Hochschulgesetz streichen.
Die Zivilklausel wirkt
Auf eine Große Anfrage der Grünen im NRW-Landtag im Jahr 2018 wurden vier rüstungsrelevante Projekte gemeldet, die an Hochschulen in NRW nicht durchgeführt oder abgebrochen wurden (Landtag NRW 2018), weil Hochschulmitglieder durch die Zivilklausel ermutigt wurden, »Nein!« zu sagen. Darunter war eine Machbarkeitsstudie an der RWTH Aachen zum Bau einer Panzerfabrik in der Türkei, unter Beteiligung des Rüstungskonzerns Rheinmetall. Die RWTH äußerte sich wie folgt zu dem Projekt: „Rückblickend war es ein Fehler seitens des Auftragnehmers, überhaupt ein Ergebnis zur Verfügung zu stellen. Die RWTH fühlt sich nicht nur im Sinne der Gesetzgebung der friedlichen Forschung verpflichtet und betreibt keine Rüstungsforschung. Das betont die Hochschule mit aller Deutlichkeit. Entsprechend wurde der Auftrag auch vor Abschluss beendet.“ (RWTH Aachen 2017)
Daran wird deutlich: Zivilklauseln sind eine Ermutigung für Hochschulmitglieder, ihre Arbeit am Allgemeinwohl auszurichten und dafür politische Konfliktfähigkeit zu entwickeln.
Politische Offensive aus der Abwehr
Der abwegige Versuch von CDU/FDP, wachsende Ansprüche an eine demokratische, friedliche und nachhaltige Gestaltung der Welt technokratisch zu »streichen«, haben die Kölner Aktiven als Chance bewertet, den Spieß politisch umzudrehen und
- durch Aufklärung neue öffentliche Aufmerksamkeit zu schaffen für die Aktualität und Notwendigkeit einer Wissenschaft, die zur Verwirklichung einer friedlichen, nachhaltigen und demokratischen Welt beiträgt,
- die erkämpfte und viel zu wenig bekannte Zivilklausel im Hochschulgesetz und an allen Hochschulen in NRW hochschulintern und öffentlich bekannter zu machen,
- die interessengeleitete Politik von Schwarz-Gelb zu entlarven und
- die politischen Ambitionen und das Selbstbewusstsein der gesellschaftlichen Gegenkräfte zu stärken.
Der erste Schritt dahin war die Veranstaltungsreihe »Die Hochschule zwischen Aufklärung und Profitinteressen – Verantworung der Wissenschaft für Frieden, Demokratie und Nachhaltigkeit« an der Uni Köln im Wintersemester 2018, mit Wissenschaftler*innen und Vertreter*innen der Gewerkschaft, der Friedensbewegung und der Umweltbewegung. Ihr folgte die Broschüre »Wissenschaft für Nachhaltigkeit, Frieden und Demokratie – Stimmen für den Erhalt der Zivilklausel in NRW« (Uni-Aktionsbündnis Köln et al. 2019), die mit einer Auflage von 11.000 Exemplaren große Verbreitung fand. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Volker Pispers, Dogan Akhanli, Vertreter*innen der DFG-VK, der GEW, der türkischen Akademiker für den Frieden, von Ende Gelände sowie der evangelischen Kirche kommen darin zu Wort und begründen, warum sie die Beibehaltung der Zivilklausel für gesellschaftlich erforderlich halten.
Mit der darauf folgenden Unterschriftenkampagne »Wissenschaft für Nachhaltigkeit, Frieden und Demokratie – Die Zivilklausel in NRW erhalten!« konnten die Aufklärungs- und Protestaktivitäten weiter entfaltet werden. Mehr als 90 Persönlichkeiten und Organisationen der Umweltbewegung, der Friedensbewegung, aus Gewerkschaft und Kultur sowie 60 Wissenschaftler*innen aus NRW forderten als Erstunterzeichner*innen die Beibehaltung der Zivilklausel im NRW-Hochschulgesetz. Innerhalb von zwei Monaten schlossen sich ihnen 11.000 Menschen an und stellten sich gemeinsam den politischen Herausforderungen der Zeit: „Wie gelingt es, dass kein Mensch mehr an Hunger sterben muss und Solidarität und demokratische Teilhabe gesellschaftlich umfassend verwirklicht werden? Was sind Ursachen für Krieg und Gewalt und was Voraussetzungen für ein gleichberechtigtes, friedliches Zusammenleben? Wie kann die globale Aufrüstung gestoppt, wie zivile Konfliktlösung und das Völkerrecht gestärkt werden? Welche ökonomischen Interessen stehen einer nachhaltigen Entwicklung entgegen, wie können natürliche Ressourcen geschont und produktiv gemacht statt verschwendet werden? Die gesellschaftliche Beantwortung dieser Fragen duldet keinen Aufschub, die Wissenschaft spielt hierfür eine zentrale Rolle.“ (Zivilklausel erhalten 2019)
Am 11. Juli 2019 beschloss die schwarz-gelbe Landesregierung das neue Hochschulgesetz. Darin enthalten: die Option für die Hochschulen in NRW, die Zivilklauseln aus ihren Grundordnungen zu streichen. In den Zentralen von CDU, FDP und Rheinmetall in Düsseldorf werden allerdings nicht die Korken geknallt haben, denn dieser Beschluss ist nicht mehr als ein Pyrrhussieg.
Eine zivile Entwicklung ist Angelegenheit aller
Mit der Kampagne für die Beibehaltung der Zivilklausel ist es gelungen, die Kritik an Rüstungsforschung sowie das Engagement für allgemeinwohlorientierte Hochschulen und friedensstiftende Wissenschaften politisch erheblich zu dynamisieren. Das Bündnis aus studentischer Bewegung, Friedensbewegung, Umweltbewegung, Gewerkschaften und kritischen Wissenschaftler*innen konnte ausgebaut werden, weil das Anliegen einer prinzipiellen gesellschaftlichen Veränderung leitend und somit verbindend war. So wurde der Angriff der Landesregierung auf kritische Wissenschaften und damit auf eine progressive Entwicklung der Welt mit erweiterten Ambitionen auf gesellschaftliche Veränderung und Solidarität auch über die Hochschulgrenzen hinaus beantwortet. Überdies wurde durch die Kampagne eine breite überregionale Berichterstattung zur NRW-Zivilklausel angestoßen. Die neuen Enthüllungen von SPIEGEL ONLINE machen am Beispiel der Forschung an deutschen Hochschulen für das US-Verteidigungsministerium die Tragweite der Versuche deutlich, die Wissenschaft für das weltweite Wettrüsten zu vereinnahmen (Himmelrath und Dambeck 2019).
Wie gegenwärtig das Erfordernis von Friedens- statt Kriegsforschung ist, wird auch an einer Stellungnahme des Wissenschaftsrates deutlich, der sich diesen Sommer nachdrücklich für eine Stärkung der Friedens- und Konfliktforschung ausgesprochen hat (Wissenschaftsrat 2019).
Die Hegemonieverschiebung in den Hochschulen selbst ist auch beachtlich. Zum Beispiel hat der Senat der Hamburger Hochschule für angewandte Wissenschaften die NRW-Unterschriftenkampagne unterstützt und alle Hochschulmitglieder angeschrieben, damit sie es ihm gleich tun. Dadurch bekommen die Kämpfe für eine Zivilklausel für den Hamburger Hafen und im dortigen Landeshochschulgesetz ebenfalls Aufwind. In Berlin und Sachsen-Anhalt werden aktuell die Hochschulgesetze novelliert, die Einführung einer Zivilklausel nach NRW-Vorbild steht dort auf der Tagesordnung.
In NRW haben sich mittlerweile alle Universitäten zu den Zivilklauseln in ihren jeweiligen Grundordnungen bekannt. An vielen Orten ist die Diskussion über die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft neu aufgelebt. So gibt es an der TH Köln inzwischen eine Initiative für die Einführung einer umfassenderen Zivilklausel. In Bochum und Wuppertal wird beraten, die Zivilklausel mit einer Ethikkommission zu flankieren.
Die Zivilklausel ist zwar aus dem NRW-Hochschulgesetz gestrichen, Schwarz-Gelb hat damit den Kampf für demokratische, zivile und nachhaltige Forschung und Lehre aber lediglich in die einzelnen Hochschulen verlegt und trägt so ungewollt zu einer weiteren Politisierung bei. Dies ist angesichts der zusätzlichen Milliarden für Rüstungsforschung, die durch die anhaltende Militarisierung der Europäischen Union und das NATO-Aufrüstungsziel von 2 % locken, auch dringend erforderlich.
Geschichte wird gemacht
An jeder Stelle der Aufrüstungs- und Kriegskette kann diese gebrochen werden. Bei Google protestierten letztes Jahr mehrere tausend Mitarbeiter*innen dagegen, dem US-Militär zuzuarbeiten. In den letzten Monaten stellten sich Hafenarbeiter*innen in Italien, Spanien und Frankreich gegen den Transport von Rüstungsgütern nach Saudi-Arabien. In Hamburg ist ein Volksentscheid für die Einführung einer Zivilklausel für den Hafen in Planung.
Das Engagement für die Zivilisierung menschlicher Arbeit trifft ein gesellschaftliches Erfordernis, das sich immer mehr Menschen zu eigen machen. Und tatsächlich brauchen wir Zivilklauseln nicht nur für Hochschulen, sondern ebenso für Häfen, Banken und Betriebe. Das restaurative Gebot der Zeit nach 1989, man solle »der Politik« das Politikmachen überlassen und das Leben auf den eigenen privaten Nahraum reduzieren, verliert zunehmend an einschüchternder Kraft. Hier zeigt sich ein gesellschaftlicher Umbruch, den jeder befeuern kann.
Literatur
Borchers, D. (2014): IT-Wehrforschung in Deutschland – Den Standort erhalten. heise online, 6. Februar 2014.
Die Bundesregierung (2016): Strategiepapier der Bundesregierung zur Stärkung der zivilen Sicherheitsindustrie in Deutschland. Verabschiedet am 21.12.2016.
Celler Trialog (2008): Celler Appell. Abrufbar auf bundeswehr.de.
Generalversammlung der Vereinten Nationen (1966): Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt). Verabschiedet am 16. Dezember 1966.
Himmelrath, A.; Dambeck, H. (2019): Millionen vom Pentagon für deutsche Unis. SPIEGEL ONLINE, 22.6.2019.
HZG NRW 2014 – Hochschulzukunftsgesetz Nordrhein-Westfalen. Vom Landtag beschlossen am 16.9.2014.
Initiative Hochschulen für den Frieden – Ja zur Zivilklausel (2019): Liste aktueller Zivilklauseln. zivilklausel.de.
Landtag Nordrhein-Westfalen (2018): Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage 5 der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Drucksache 17/2612 vom 13.9.2018.
RWTH Aachen University (2017): Statement der RWTH Aachen zur Machbarkeitsstudie für ein Werk in Karasu, Türkei. Pressemitteilung vom 4.9.2017.
Uni-Aktionsbündnis Köln, Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, GEW Studis NRW (2019): Wissenschaft für Nachhaltigkeit, Frieden und Demokratie – Stimmen für den Erhalt der Zivilklausel im NRW-Hochschulgesetz. März 2019; uni-aktionsbuendnis.uni-koeln.de.
Wissenschaftsrat (2019): Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Friedens- und Konfliktforschung. Drs. 7827-19 vom 12.7.2019.
Zivilklausel erhalten (2019): Die Zivilklausel in NRW erhalten! weact.campact.de, 15.5.2019.
Senta Pineau ist aktiv im Uni-Aktionsbündnis Köln, Mitgründerin des dortigen Arbeitskreises Zivilklausel und war von 2016 bis 2019 studentische Vertreterin im Senat der Universität. Sie ist Mitglied bei ver.di und in der SPD.