W&F 2017/1

Zu böse für Frieden durch Frieden?

Über widerstreitende Menschenbilder

von Albert Fuchs

Wenn es beim Thema »Krieg und Frieden« ums Grundsätzliche geht, wird der Glaube an (militärische) Gewalt als letztes Mittel, Frieden zu schaffen oder zu erhalten, vielfach damit begründet, der Mensch als solcher sei zu böse für Frieden durch Frieden. Es wird also ein »pessimistisches« Menschenbild zur Stützung dieses Glaubens bemüht. Was heißt das genauer, und welche Bedeutung haben Menschenbilder für Vorstellungen von Frieden und Friedenschaffen?

Das Adjektiv »böse« im Titel dieses Beitrags verweist auf eine moralische Qualität, ist demnach strikt zu unterscheiden von »schlecht« im naturhaften Sinn – wie etwa eine Krankheit schlecht ist für das Befinden oder die Lebenserwartung eines Menschen oder wie eine Wetterlage schlecht ist für ein Freizeitvorhaben. »Gut« und »böse« im ethischen Sinn qualifizieren originär menschliches Handeln, und zwar den (zielbewussten) Umgang mit naturhaft Gutem und naturhaft Schlechtem, insbesondere im Hinblick auf Mitmenschen. Auf etwas Wesenhaftes »jenseits« der Fähigkeit, gut oder böse zu handeln, kann Böses nicht zurückverfolgt werden. Erst im abgeleiteten Sinn kann von Menschen gesagt werden, sie seien gut oder böse – dann nämlich, wenn sie grundsätzlich und bei nahezu allen Gelegenheiten entsprechend handeln.

Bei alltagssprachlich formulierten Menschenbildern werden derartige Differenzierungen eher vernachlässigt. Denn Menschenbilder sind in der Regel ab­strakte philosophische oder theologische Vorstellungen davon, was den Menschen und die menschliche Gesellschaft im Wesentlichen ausmacht. Obgleich ihnen eine allgemeine und zeitlose Gültigkeit unterstellt wird, sind sie kulturrelativ und zeitgebunden, werden im Laufe der Entwicklung immer wieder neu entworfen und bearbeitet. Zumindest im gleichen Maße wie den Versuch einer Bestim­mung der menschlichen Natur beinhalten sie idealisierende Umschreibungen dessen, was in einer Trägergesellschaft als menschliches Ideal gilt oder gelten soll. Aufgrund dieses normativen Aspekts erhalten Menschenbilder politische Relevanz. Eine solche Relevanz ergibt sich aber auch aus ihrem Legitimierungspotenzial für bestehende gesellschaftliche und politische Verhältnisse.

Überlegungen dieser Art legen nahe, dass der oft scheinbar nur in unterschiedlichen militär- und sicherheitspolitischen Präferenzen bestehende Gegensatz zwischen Pazifismus und Militarismus tief verankert sein dürfte in gegensätzlichen Menschenbildern. Nur um diesen Krieg und Frieden betreffenden Aspekt von Menschenbildern geht es hier. In welchem Sinn aber soll von Pazifismus und Militarismus die Rede sein?

Seit Anfang des 20. Jahrhunderts ist das Kunstwort »Pazifismus« als zusammenfassende Bezeichnung für alle Friedenskonzepte, Teilziele und friedenspolitischen Ansätze der Friedensbewegungen und -organisationen in Gebrauch. Pazifismus als Doktrin ist demzufolge kein einheitliches Gebilde; in der rund 200-jährigen Geschichte der pazifistischen Bewegungen hat sich eine Positionsfamilie entwickelt, in der das Pazifismuskonzept uneinheitlich verwendet bzw. kontrovers bestimmt wird. Die Hauptfacetten – »kein Krieg«, »nicht Töten« und »ohne (physische oder psychische) Gewalt« (vgl. Holmes 2014; Moseley o.J.) – werden in unterschiedlichen Bewegungen und Organisationen unterschiedlich gewichtet. Als Begriffskern und kleinsten gemeinsamen Nenner kann man die grundsätzliche, insbesondere politisch-moralische Ablehnung von Krieg und militärischer Gewalt als Mittel zur Austragung politischer Konflikte ansehen, zumal dieser Aspekt von den anderen Facetten impliziert wird (sie aber nicht eindeutig impliziert). Die positive, auch handlungsbezogene Seite der pazifistischen Perspektive mag in einer Formel wie „Frieden durch Frieden und nur durch Frieden“ prägnant zum Ausdruck kommen.

Als bellizistisches Gegenstück gilt eine Position, wie sie mit dem altrömischen Motto „Wenn du Frieden willst, bereite Krieg vor“ auf den Punkt gebracht ist. Einen Gegensatz im strengen Sinn aber stellt die militaristische Gewaltfriedens­idee dar, nach dem Leitsatz „Wenn du Frieden willst, führe Krieg“. Nun folgt auf Kriegsvorbereitung im bellizistischen Sinn zwar nicht notwendigerweise Krieg. Kriegführung erfordert jedoch entsprechende Vorbereitungen. Die aber haben auf der Mentalitätsebene Kriegführungsbereitschaft zur Voraussetzung und bedingen auf der materiellen und sozialen Ebene einen Verbrauch von Ressourcen, der u.U. nicht weniger destruktiv ist als manifeste kriegerische Gewalt. Hinzu kommt, dass der Militarismusbegriff in der einschlägigen (sozialwissenschaftlichen) Literatur als etablierter Gegenbegriff zum Begriff des Pazifismus gilt. Hier soll daher im Weiteren nur von einem Gegensatz Militarismus-Pazifismus die Rede sein.

Bei Auseinandersetzungen um Militär und Krieg sind Verweise auf das gegnerische und das eigene Menschenbild vielfach Instrument der Auseinandersetzung in Form von spiegelbildlich gegensätzlich konnotierten Verweisungen: Das je eigene Bild wird positiv gekennzeichnet, das der Gegenseite negativ. Aus objektivierend-sozialwissenschaftlicher Perspektive ist das Problemfeld kaum bearbeitet. Im Bereich der sozialpsychologischen Einstellungsforschung beispielsweise ist erst in jüngerer Zeit der eine oder andere Beitrag zu finden, in dem Vorstellungen von der Natur des Menschen als Komponente des Einstellungskomplexes Militarismus-Pazifismus ernst genommen werden und in einschlägige Untersuchungsinstrumente eingehen (z.B. Cohrs and Nelson 2012).

Der Einstellungsforschungsansatz aber ist insofern ergänzungsbedürftig, als er individualpsychologisch orientiert ist. Das heißt, es geht im Wesentlichen um die Bestimmung der Position einzelner Personen auf dem hypothetischen Militarismus-Pazifismus-Kontinuum. Eine Menge von Personen gleicher oder ähnlicher Position auf diesem Kontinuum bildet aber nur dann eine genuine soziale Einheit, wenn nahezu alle vom Bestehen dieser Gemeinsamkeit ausgehen, es sich also um mehr oder weniger bewusst geteilte Vorstellungen handelt. Damit ist die seit den 1970er Jahren entwickelte sozialpsychologische Theorie »sozialer Repräsentationen« (z.B. Moscovici 1981) angesprochen. Dieser Ansatz macht den sozialen und kulturellen Hintergrund von Wissen, Einstellungen, Werten und Verhaltensweisen zum Gegenstand empirischer Forschung; er wäre insofern wie kaum ein anderer geeignet, diesen Hintergrund militaristischer und pazifistischer Einstellungen auszuleuchten. Entsprechende Arbeiten liegen bisher (nach Kenntnis des Autors) nicht vor. Hilfsweise soll hier das Menschenbild zweier Leitfiguren unseres Perspektiven-Gegensatzes skizziert und kurz unter dem Gesichtspunkt der Friedensrelevanz kommentiert werden.

Thomas Hobbes und der »negative Frieden«

Als exemplarisch für die »sicherheitslogische« militaristische Perspektive kann das Bild vom Menschen (und der Gesellschaft) gelten, das Thomas Hobbes (1588-1679) in seinem staatsphilosophischen Hauptwerk »Leviathan« (1651/1984) zeichnet. Hobbes versteht den Menschen nicht als »ursprünglich gesellig«, sondern als nach Selbsterhaltung und Bedürfnisbefriedigung strebendes Einzelwesen in einer Situation fundamentaler Konkurrenz mit anderen Einzelnen um begrenzte Güter. Soziale Beziehungen kommen vor allem in der Gestalt von Macht zur Geltung, verstanden als Potenzial zu letztlich gewaltförmiger Sicherung und Steigerung eigener Bedürfnisbefriedigung. Macht erfordert Machterhalt und bedingt damit ein verbreitetes Streben nach Machterweiterung. Das wiederum führt zur Verschärfung des Grundkonflikts.

Nicht zuletzt dank der ständigen Exponiertheit des Lebens eines jeden sind die konkurrierenden Individuen grundsätzlich gleich und leben in der gleichen Hoffnung, ihre Ziele zu erreichen. Wenn aber ein bestimmtes Wertobjekt von mehreren Menschen gleichzeitig begehrt wird, jedoch unmöglich gleichzeitig zu besitzen und zu genießen ist, kommt es unweigerlich zum Kampf. Von Natur aus hat jeder das Recht auf alles, was er zur seiner Selbsterhaltung und Bedürfnisbefriedigung braucht. Doch dieses »Naturrecht« eignet sich nicht als Regulativ; vielmehr führt das »Recht aller auf alles« zum »Krieg aller gegen alle« – bei beständiger Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes.

Ein Ausweg aus diesem miserablen »Naturzustand« erschließt sich, wenn Todesfurcht und Begehren die menschliche Vernunft in ihren Dienst nehmen. Dann kann durch einen Vertrag zwischen den Individuen, der die gesamte je eigene Macht und Stärke und alle »natürlichen Rechte« auf einen Menschen oder auf eine Versammlung von Menschen überträgt, eine politische Friedensordnung gestiftet werden. Durch vollständige Unterwerfung unter diesen Souverän entsteht eine alle Glieder der Gemeinschaft zwingende Gewalt, die die Sicherheit ihrer Mitglieder und deren Freiheit, ihre Ziele zu verfolgen, zu gewährleisten vermag. Der so kreierte Gewaltmonopolist Staat (Leviathan) ist ein von den Individuen verfertigtes Artefakt. Nachdem sie ihn aber geschaffen haben, können die Einzelnen ihm gegenüber keine Rechte mehr geltend machen. Mit dem Wegfall des intendierten Schutzes entfällt allerdings die dieses Schutzes wegen eingegangene Gehorsamsverpflichtung.

In Fragen von Recht und Moral gilt Hobbes weithin als früher Rechtspositivist. Erst mit dem »Gesellschaftsvertrag« wird ihm zufolge die Rede von Recht und Unrecht, Gut und Böse sinnvoll. Andererseits meint er, aus dem Selbsterhaltungsbedürfnis ergäbe sich ein grundlegendes und allgemeines »Gesetz der Natur« (lex naturalis): Dem Menschen ist es verboten, etwas zu tun, was sein Leben vernichten oder ihn lebenserhaltender Mittel berauben kann, und zu unterlassen, wodurch es am besten zu erhalten ist. Demgemäß haben sich alle um Frieden zu bemühen, solange Hoffnung auf Frieden besteht, dürfen sich aber sämtliche Mittel und Vorteile des Krieges verschaffen, falls Frieden nicht erreichbar ist. Des Weiteren sollen die Einzelnen freiwillig, falls andere ebenfalls dazu bereit sind, auf ihr Recht auf alles verzichten, soweit sie das um des Friedens und der Selbstverteidigung willen für notwendig halten. Doch selbst ein so allgemeines moralisches Prinzip wie die hier anklingende »Goldene Regel«, andere zu behandeln, wie man selbst behandelt werden will, hält Hobbes für ungeeignet, auch nur minimale Sicherheit zu gewährleisten. Erst die Furcht vor einer mit Zwangsgewalt ausgestatteten Macht, welche die Nicht-Beachtung solcher »natürlichen Gesetze« unter Strafe stellt, macht diese wirkmächtig.

Die nach Hobbes durch Konstruktion des Leviathans gestiftete Friedensordnung beruht auf der Todesfurcht und dem Begehren des Individuums. Der fundamentale Wert ist Sicherheit im Sinne des Schutzes vor einem gewaltsamen Tod. Damit läuft diese Friedenskonzeption lehrbuchhaft auf einen »negativen Frieden« im Sinne Galtungs (1975) hinaus. Die zwischenstaatlichen Beziehungen hat Hobbes allerdings nur am Rande im Blick; er scheint den Naturzustand diesbezüglich für unüberwindbar zu halten. Manche Vertreterinnen und Vertreter der »realistischen« (außen-) politischen und politikwissenschaftlichen Schule sehen gleichwohl in einer Übertragung seines Modells auf die »anarchische« internationale Bühne eine bzw. die einzige Möglichkeit zwischenstaatlicher Friedenssicherung. Die Bedeutung der hobbesschen Perspektive für die herrschende militärgestützte »Sicherheitslogik« ist kaum zu bestreiten (vgl. Jaberg 2014).

Das Kernproblem stellt das »Sicherheitsdilemma« dar. Es besteht im Wesentlichen darin, dass Versuche eines Staates, mit militärischen Mitteln für seine Sicherheit vor Übergriffen eines anderen Staates zu sorgen, leicht zu dessen zunehmenden Unsicherheit und zu entsprechenden Gegenreaktionen führen können, unabhängig von den tatsächlichen ursprünglichen Absichten. Das Ergebnis ist mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Spirale zunehmender beidseitiger Unsicherheit (vgl. Wikipedia 2016). Verstärkt wird diese »Self-fulfilling prophecy«-Dynamik (Merton 1968) durch den Mechanismus der Akteur-Beobachter-»Perspektivendivergenz« (Jones und Nisbett 1971): Eigene Handlungen und Maßnahmen werden grundsätzlich als defensiv und gerechtfertigt wahrgenommen und auf äußere Umstände (insbesondere auf das gegnerische Handeln) zurückgeführt, die zu beobachtenden gegnerischen aber als (potenziell) bedrohlich und nicht rechtfertigungsfähig interpretiert und der Bösartigkeit des Gegners zugeschrieben.

Mohandas K. Gandhi und »positiver Frieden«

Als grundlegendes und umfassendes Gegenmodell zur hobbesschen Konstruktion kann man Mohandas K. Gandhis (1869-1948) Satjagraha-Praxis und -Philosophie verstehen (Gandhi 1983; 1996). Die Wortschöpfung »Satjagraha« (Festhalten an der Wahrheit) zur Kennzeichnung des gesamten Ansatzes verweist auf dieses ganz andere Bild vom Menschen und der Gesellschaft. Gandhi glaubte aus religiöser Überzeugung an die Einheit allen Lebens und damit an die grundsätzliche Vereinbarkeit aller wesentlichen menschlichen Interessen und Bestrebungen. Konflikte und Auseinandersetzungen sind in dieser Perspektive oberflächliche Störungen einer tiefgründigen Harmonie. Erkenntnis und Realisierung dieser Harmonie hält Gandhi für jeden Menschen in dem Maße für möglich, wie er oder sie seinem/ihrem Bedürfnis nach Wahrheit im umfassenden Sinn folgt.

Dabei ist Gandhis Denken und Handeln recht skeptisch und geradezu experimentalistisch getönt. Da alle Sachverhalte viele Seiten haben, ist jede spezifische Annäherung an die Wahrheit grundsätzlich fragmentarisch und irrtumsanfällig und daher vorläufig. Gerade in politisch-praktischen (und religiösen) Belangen muss es daher pluralistisch und kooperativ zugehen. Die eigenen Einsichten müssen Gefährten einleuchten und vor allem auch (politische) Gegenspieler überzeugen. Konfliktbearbeitung im Besonderen ist nach Gandhi, wenn sie gelingen soll, als zutiefst dialogischer Prozess des zwangsfreien Erstreitens einer einvernehmlichen Lösung zu verstehen, als Freisetzung einer allen Parteien gerecht werdenden »höheren Wahrheit«.

Gandhi deutet diesen Prozess als Ausübung von »Ahimsa« (wörtlich »Nicht-Verletzen«), als (aktive) Gewaltfreiheit – ein Verständnis von Einfluss und Macht, das der hobbesschen Reduktion auf Gewalt diametral entgegensteht. Dabei kann die eigene Obrigkeit der Gegner sein und demzufolge das Erstreiten einer höheren Wahrheit auch zivilen Ungehorsam einschließen. Niemals aber und gegenüber niemandem ist Wahrheit mit Gewalt zu erreichen oder durchzusetzen; denn wer Gewalt anwendet, sieht sich im Besitz der Wahrheit und verwickelt sich in einen unheilbaren Widerspruch von Ziel und Mittel – in dessen Folge die Mittel das Ziel korrumpieren.

Bei der Suche nach Wahrheit im politischen Bereich spielt die moralische Seite eine zentrale Rolle, mit dem persönlichen Gewissen als Letztinstanz. Unter Umständen entsteht das Dilemma, entweder die eigene Wahrheit unter gegnerischem Druck zu verraten oder die des Gegners zu diskreditieren. Eine Lösung sucht Gandhi in konsequenter Ahimsa. Das aber erfordert, dass der »Satjagrahi«, der gewaltfreie Aktivist, bereit ist zu »Tapasja« (wörtlich »Selbst-Leiden«), d.h. dazu, sich auch persönlichem Leiden auszusetzen oder gar den eigenen Tod in Kauf zu nehmen, um das Gewissen des Gegners zu erreichen.

Um einem groben Missverständnis der Konzeption Gandhis als individualethischem Hochleistungsprogramm vorzubeugen, seien die auf das Gemeinschaftsleben bezogenen Leitideen »Sarvodaja« (Wohlfahrt für alle), »Swaraj« ((kollektive) Freiheit und Selbstbestimmung) und »Swadeshi« (kommunale ökonomische Selbstorganisation) wenigstens erwähnt. Als funktionales Äquivalent der Agenturen der staatlichen Zwangsgewalt entwarf er mit seinem Schüler Vinoba Bhave die »Shanti Sena«, Friedensbrigaden, die durch gewaltfreie Konfliktbearbeitung gemäß den Satjagraha-Prinzipien Ordnungsfunktionen wahrnehmen soll(t)en, wie sie herkömmlicherweise Polizei und Militär zugedacht sind.

Gandhis Satjagraha-Praxis und -Philosophie kann als positive Friedenskonzeption im Sinne der galtungschen Typologie gelten. Bereits persönliche Ahimsa wollte Gandhi, anders als im Jainismus, seiner Referenzreligion, nicht vorwiegend negativ als Gewaltverzicht verstanden und ausgeübt wissen, sondern als positive Kraft tätiger Liebe. Insbesondere die auf das Gemeinschaftsleben bezogenen Konzepte Wohlfahrt für alle, (kollektive) Freiheit und Selbstbestimmung und (kommunale) ökonomische Selbstorganisation sind Zielkomponenten einer konstruktiven Programmatik. Allerdings gehört die Abwehr der betreffenden Unwerte, vor allem der Schutz vor direkter Gewalt und Unterdrückung, dazu. Damit entspricht Gandhis Konzeption weitgehend der Leitidee des »gerechten Friedens« im zeitgenössischen friedensethischen Diskurs der christlichen Kirchen (in Deutschland). Im Gegensatz zur herrschenden großkirchlichen Auffassung soll der Widerstand aber selbst bei existentieller Bedrohung durch militärische Großgewalt grundsätzlich gewaltfrei sein.

Auf den ersten Blick scheint diese Position klar und eindeutig zu sein. Gandhi unterscheidet allerdings vier Entwicklungsstufen auf dem Weg zur Gewaltfreiheit: von feiger Unterwerfung über gewaltsamen Widerstand und passiven Widerstand zu aktiver Gewaltfreiheit. Und trotz seiner vielfach bekundeten Überzeugung, Gewaltfreiheit sei der Gewalt unendlich überlegen, glaubte Gandhi, dass er einer Person, die sich angesichts massiven Unrechts vor der Wahl zwischen Feigheit und Gewalt sieht, zu gewaltsamem Widerstand raten würde. Wiederholt stellte er auch eigene Hilfsdienste (als Sanitäter) beim britischen Militär in das Licht solcher Überlegungen.

Die augenscheinliche Widersprüchlichkeit löst sich weitgehend auf, wenn man derartige Einlassungen als Ausdruck der Beförderung des Gewissens zur politisch-moralischen Letztinstanz versteht und als Ausdruck des Postulats, dass die persönliche Motivation ausschlaggebend ist für die moralische Qualität des Handelns (vgl. Pontara 1967). Etwas weiter gedacht aber muss eine solche Subjektivierung den gesamten Ansatz in Sackgassen führen. Wenn etwa manifeste Gewalt (»Himsa«) dank des »guten Willens« der Handelnden als Gewaltfreiheit (Ahimsa) gelten kann, sodass beispielsweise mit solcher Ahimsa Verletzte und Getötete keine Gewaltopfer mehr sein sollen, steht nicht nur die Entsprechung von Mittel und Ziel in Frage, sondern Gewaltfreiheit gerät zum Selbstwiderspruch. Eine andere Sachgasse tut sich auf, wenn selbst-erklärte »politische Pazifisten« mit »extremen Ausnahmesituationen« reihenweise rechnen, die das Gewaltfreiheitsprinzip suspendieren, aber nicht recht anzugeben wissen, welche Situationsmerkmale solche Ausnahmesituationen ausmachen sollen, und dann bestenfalls auf kriteriologische Fragmente der Bellum-iustum-Theorie zurückgreifen, vor allem auf das Kriterium des »letzten Mittels«.

Für agnostisch Gestimmte oder Atheisten mag Gandhis religiöse Verwurzelung ein weltanschauliches Hindernis darstellen, sich auf seine Ideen und »Experimente mit der Wahrheit« ernsthaft einzulassen und sie unvoreingenommen zu prüfen. Sein Gottesverständnis ist allerdings ausgesprochen ökumenisch in einem denkbar weiten, jedenfalls Religionen mit nicht personalistischem Gottesverständnis einschließenden Sinn. Andererseits wurden im vergangenen Jahrhundert größere gewaltfreie Bewegungen vor allem von ausgeprägt religiösen Menschen inspiriert. Was einen eventuellen »Mehrwert der Religion« ausmachen könnte, ist insofern eine respektable wissenschaftliche und politisch-kulturelle Herausforderung. Schließlich ist zu unterscheiden zwischen Gewaltfreiheit als konkreter Taktik, als genereller Strategie und als Lebensform. Nur als Lebensform ist Gewaltfreiheit ein Wert in sich und als solcher am ehesten religiös konnotiert.

Rückblick und Ausblick

Auch Hobbes und Gandhi, deren Menschenbilder hier ersatzweise als typisch für Militarismus und Pazifismus nachgezeichnet wurden, sind nicht erkennbar um sprachliche Differenzierung in dem eingangs erläuterten Sinn bemüht. Eine quasi-moralische Qualifizierung des Menschen kommt aber – wenngleich eher indirekt – auch bei ihnen zum Ausdruck. Hobbes operiert jedenfalls hintergründig mit wesenhafter Schlechtheit (Egozentrik = Bösartigkeit?) des Menschen. Zwar werden Recht und Moral erst durch den Gesellschaftsvertrag konstituiert, zugleich bleibt ihre Durchsetzung auf die mit eben diesem Vertrag begründete Zwangsgewalt des Leviathan angewiesen. Dagegen setzt Gandhi auf eine ebenfalls wesenhafte Gutheit des Menschen, allerdings nicht auf faktische, sondern auf potenzielle, auf eine Gutheit, die über die (moralische) Selbstentwicklung des Einzelnen in und mit der Gesellschaft verlaufen muss.

Das hobbessche Menschenbild ist selbst für einen lediglich negativen (Abschreckungs-) Frieden eher kontraproduktiv: Menschliche Natur und internationale Anarchie garantieren, dass die Sicherheitsprekarität unüberwindbar ist. Doch es bleibt auch nicht beim Ewigselben; vor allem die von Hobbes kaum in Rechnung gestellte (waffen-) technologische Entwicklung treibt eine allgemeine und verschärfte Verunsicherheitlichung voran.

Die Friedensrelevanz von Gewaltfreiheit als Taktik wie als Strategie der Konfliktbearbeitung – ob mit oder ohne Bezug auf Gandhi – ist aus der objektivierenden wissenschaftlichen Sicht selbst nicht politisch involvierter Forscherinnen und Forscher spätestens seit den Arbeiten beispielsweise von Semelin (1995) und Chenoweth und Stephan (2011) empirisch gut belegt. Eine vergleichbare Relevanz kann man andererseits Gandhis Perspektive einer tiefgreifenden Gesellschaftsreform (bisher) kaum attestieren. Das mag u.a. damit zu tun haben, dass sein Beispiel umso weniger verpflichtend wurde, je mehr es sich abhob von den Denk- und Handlungsmöglichkeiten der Mehrheit seiner Gefolgschaft. Zu bedenken ist aber auch, dass Ideale definitionsgemäß nur approximativ zu erreichen sind, Gandhis Ideale ihre Zukunft also noch vor sich haben könnten.

Die von Jaberg (2014) erörterten Möglichkeiten aber, die Tücken des hobbesschen Ansatzes zu mildern – insbesondere selbstreflexive Wende, Perspektivenübernahme und Erfindung und Implementierung einer inklusiven Sicherheitskonzeption –, können und sollten aus pazifistisch-»friedenslogischer« Sicht als Schritt in Richtung der eigenen Idealvorstellungen verstanden und anerkannt werden.

Literatur

Chenoweth, D.; Stephan, M.J. (2011): Why civil resistance works. New York: Columbia University Press.

Cohrs, C. J.; Nelson, L.L. (2011): Militaristic attitude. In: D.J. Christie (ed.): The Encyclopedia of Peace Psychology. Malden, MA: Wiley-Blackwell.

Galtung, J. (1975): Gewalt, Frieden und Friedensforschung. In: Galtung, J.: Strukturelle Gewalt. Reinbek: Rowohlt, S. 7-36.

Gandhi, M. (1983): Mein Leben. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Gandhi, M. (1996): Für Pazifisten. Münster: LIT.

Hobbes, T. (1651/1984): Leviathan. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Holmes, R.L. (2013): Violence and nonviolence. In: Cicovacki, P. (ed.): The ethics of nonvio­lence. New York etc.: Bloomsbury, S. 149-167.

Jaberg, S. (2014): Sicherheitslogik – Eine historisch-genetische Analyse und mögliche Konsequenzen. In: Friedenslogik statt Sicherheitslogik. W&F-Dossier 75, S. 8-11.

Jones, E.E.; Nisbett, R.E. (1971): The actor and the observer – Divergent perceptions of the causes of behavior. In: Jones, E.E. et al. (eds.): Attribution – Perceiving the causes of behav­ior. Morristown, NJ: General Learning Press, S. 79-94.

Merton. R.K. (1967): Die Eigendynamik gesellschaftlicher Voraussagen. In: Topitsch, E. (Hrsg.): Die Logik der Sozialwissenschaften. Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch, S. 144-160.

Moscovici, S. (1981): On social representations. In: Forgas, J.P. (ed.): Social cognition. New York: Academic Press, S. 181-209.

Moseley, A. (o.J.): Pacifism. Internet Encyclopedia of Philosophy; iep.edu

Pontara, G. (1965): The rejection of violence in Gandhian ethics of conflict resolution. Journal of Peace Research, 2, S. 197-215.

Semelin, J. (1995): Ohne Waffen gegen Hitler. Frankfurt a.M.: Dipa.

Wikipedia (2016): Security dilemma. Stand 29.10.2016.

Prof. Dr. Albert Fuchs ist Hochschullehrer für Kognitions- und Sozialpsychologie i.R., Mitglied des Beirats von W&F und bei Pax Christi u.a. engagiert.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2017/1 Facetten des Pazifismus, Seite 10–13