W&F 1996/4

Zur neuen Rolle der Bundeswehr

von Arbeitskreis »Darmstädter Signal«

Mit dem »Darmstädter Signal« wandte sich im September 1983 eine Gruppe von 20 Zeit- und Berufssoldaten und Mitarbeiter/Innen der Bundeswehr erstmals an die Öffentlichkeit, um ihr NEIN zur Stationierung neuer Atomraketen in Ost und West zum Ausdruck zu bringen. Hieraus entwickelte sich der Arbeitskreis Darmstädter Signal (Ak ds) mit mehr als 200 Mitgliedern. Der Arbeitskreis hat im Oktober in Erfurt ein Positionspapier »Zur neuen Rolle der Bundeswehr« verabschiedet, das wir im folgenden dokumentieren:

Mit großer Besorgnis stellen wir fest, daß sich die Bundeswehr hinsichtlich ihres Auftrags genau in die Richtung entwickelt, vor der wir Soldaten des Ak ds immer gewarnt haben:

Nach Beendigung der Blickkonfrontation besteht für Deutschland jetzt und in absehbarer Zukunft keine militärische

Bedrohung. Dennoch unterhält Deutschland mit 340.000 Soldaten einen Streitkräfteumfang, der weder militärisch noch finanziell gerechtfertigt ist.

Deutsche Soldaten dürfen nunmehr mit einfachem Mehrheitsbeschluß des Bundestages überall in der Welt kämpfen, nur für die Verteidigung unseres eigenen Vaterlandes gilt weiterhin Art. 115a des Grundgesetzes, wonach der Bundestag mit 2/3-Mehrheit den Verteidigungsfall feststellen muß.

Deutsche Truppen werden zu internationalen militärischen Einsätzen entsandt, ohne auf diese schwierigen Aufgaben ausreichend vorbereitet zu sein. Während beispielsweise skandinavische Länder oder Österreich ihre Soldaten in speziellen Zentren jahrelang auf derartige Einsätze vorbereiten, durchlaufen Bundeswehrsoldaten lediglich einige Wochenkurse.

Statt die für Auslandseinsätze vorgesehenen »Krisenreaktionskräfte« einzusetzen, besteht z.B. das deutsche Kontingent für den I F O R (Implementation forces)-Einsatz zu großen Teilen aus Soldaten anderer Einheiten der Bundeswehr, die dazu kurzfristig abkommandiert wurden. Selbst aus Ausbildungseinheiten werden bedenkenlos Kompaniechefs, Kompaniefeldwebel oder erfahrene Zugführer herausgelöst, ohne an die Folgen für den Ausbildungs- und Dienstbetrieb zu denken.

Insgesamt ist die Bundeswehr zum Instrument einer Politik geworden, die

  • statt der Lösung der wahren Ursachen vieler Konflikte überwiegend das eigene internationale Prestige im Auge hat;
  • Menschenrechtsverletzungen nachdrücklich nur dann anprangert, wenn ein weiterer internationaler militärischer Einsatz begründet werden soll;
  • bei Rüstungsgeschäften in Kauf nimmt, daß auch deutsche Soldaten mit deutschen Waffen getötet werden.

Statt sich dafür einzusetzen, Menschenrechtsverletzungen, die auch von Soldaten weltweit begangen werden, überall zu verfolgen, wird darüber nachgedacht, wie man für die Soldaten der Bundeswehr einen besonderen »Ehrenschutz« gesetzlich schaffen könne. Das nötige Selbstbewußtsein, sich als Staatsbürger in Uniform auch mit radikalen Kritikern unseres Berufs auf demokratische Weise selbst auseinanderzusetzen, wird uns Soldaten damit abgesprochen.

Auch im Hinblick auf die Entwicklung neuer europäischer und weltweiter Sicherheitsstrukturen vermissen wir Soldaten vom Ak ds hoffnungsvolle Ansätze:

  • Die unsensibel geführte Diskussion über die geplante Erweiterung der NATO gefährdet die Zusammenarbeit mit Rußland.
  • Die Chance zur Entwicklung eines europäischen Systems kollektiver Sicherheit auf der Grundlage der Organisationen für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) scheint vertan. Die NATO als Verteidigungsbündnis aus der Phase der Blockkonfrontation ist nicht geeignet, diese Aufgaben zu erfüllen.
  • Die UNO wird mehr und mehr in die Rolle des »Erfüllungsgehilfen« der NATO gedrängt. Statt das zwangsläufige Scheitern der Blauhelm-Mission in Bosnien auf den mangelnden Friedens- und Verständigungswillen der verschiedenen Großmächte zurückzuführen, wirft man der UNO Unfähigkeit vor und legitimiert so die NATO als Instrument zukünftiger Konfliktlösungen.
  • Umfassende Reformen der UNO sind nicht erkennbar. Weiterhin wird der Weltsicherheitsrat dominiert von wenigen atomaren Großmächten, weiterhin gibt es keinen militärischen UN-Führungsstab und keine den Vereinten Nationen direkt unterstellten Streitkräfte. Bemühungen zur nichtmilitärischen Konfliktvorbeugung lassen sich kaum erkennen.
  • Durch die unveränderte Politik der Industriestaaten verstärken sich globale Verteidigungskämpfe und Fluchtbewegungen.

Der Auftrag von Streitkräften in unserer Zeit

Streitkräfte sind grundsätzlich nur zur Landesverteidigung gerechtfertigt. Sie müssen nicht-angriffsfähig strukturiert sein!

Sie jedoch als alleinigen und unverzichtbaren Ausdruck staatlicher Sicherheit zu betrachten, hieße, die Augen zu verschließen vor den nicht-militärischen Problemen, die die Selbstbestimmung der Völker bedrohen, besonders Hunger, Energieknappheit, Bevölkerungswachstum, soziale Ungerechtigkeit und ungleiche Bildungschancen.

Ziel muß die konsequente Verringerung aller Streitkräfte auf der Welt sein!

Jeder Soldat auf dieser Welt ist ein Soldat zuviel!

Der Einsatz von Soldaten zur Sicherung nationaler Interessen wie z.B. zum „Schutz des (sogenannten) freien Welthandels oder der strategischen Rohstoffreserven“ (aus: Verteidigungspolitische Richtlinien der Bundesregierung 1992) ist weder politisch noch moralisch gerechtfertigt, und stellt einen Rückfall in kolonialistisches Handeln dar!

Für zivile Aufgaben wie Katastrophen- oder Umweltschutz, Entwicklungshilfe oder polizeiliche Arbeit sind Streitkräfte wenig geeignet. Diese, für die Lösung weltweiter Konflikte zweifellos wichtigen Aufgaben, müssen von anderen Kräften bewältigt werden.

Friedenssicherung gelingt am besten in einem System kollektiver Sicherheit. Für unseren Kontinent bietet sich die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) als Rahmen an. Die Osterweiterung der NATO lehnen wir ab. Parallel zum Ausbau der OSZE sind NATO und WEU im gleichen Maße aufzulösen. Diese Verteidigungsbündnisse aus der Phase der Blockkonfrontation sind historisch und ideologisch vorbelastet und überholt, die WEU ist darüberhinaus als militärischer Arm der zentralistisch-bürokratischen Europäischen Union derzeit aufgrund der weitgehenden Machtlosigkeit des Europäischen Parlaments nicht demokratisch kontrollierbar.

Die UNO muß als globales System kollektiver Sicherheit politisch gestärkt und ausgebaut werden. Hierzu sind tiefgreifende Reformen der UNO erforderlich:

  • Die Möglichkeiten der UNO zur Konflikt-Vorbeugung und zur Krisenfrüherkennung müssen deutlich ausgebaut werden.
  • Die Besetzung des Weltsicherheitsrates muß ausgewogener erfolgen.
  • Das Vetorecht der Großmächte muß abgeschafft werden.
  • Zur Durchführung von friedenserhaltenden UN-Einsätzen sind Streitkräfte einem UN-Führungsstab ständig in ausreichender Stärke und Verlegefähigkeit zu unterstellen. Ziel sind gemeinsam ausgebildete Spezialeinheiten, die die Möglichkeiten der UNO zur Konflikteindämmung stärken.
  • Die Unterstellung von nationalen Streikräften unter alleinigen UN-Befehl muß gemäß Art. 43 der UN-Charta durch Sonderabkommen geregelt sein.

Konsequenzen

für die Bundeswehr

Spätestens innerhalb der nächsten 10 Jahre ist der Personalumfang stufenweise und sozial verträglich auf ca. 1/3 der jetzigen Stärke abzubauen, weil

  • unser Land nicht mehr militärisch bedroht ist,
  • aus strukturellen Gründen das Prinzip der Wehrpflichtarmee nicht mehr aufrecht erhalten werden kann (Wehrgerechtigkeit),
  • immer komplexere und schwierigere Aufgaben besser ausgebildete Soldaten erfordern (klassische friedenserhaltende Einsätze),
  • durch freiwerdende Finanzmittel Gelder für vorbeugende Konfliktregelung und soziale Dienste verfügbar werden.

Daher ist die Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee umzuwandeln.

Der Zugang von Frauen muß zu allen Bereichen der Bundeswehr möglich sein. (Diese Forderung wird von einer Minderheit im Ak ds abgelehnt.)

Der Dienst in den Streitkräften muß für die Soldaten attraktiv sein und auch den Anforderungen der modernen Arbeitswelt entsprechen:

Die Mitbestimmungsrechte für Bundeswehrangehörige sind auszubauen (z.B. im Beurteilungswesen, Mitbeurteilung durch Gleichgestellte und Untergebene). Die Weiterentwicklung von Prinzipien zeitgemäßer Menschenführung (Anwendung des kooperativen Führungsstils, ziviler Umgangston in militärischen Einrichtungen), familienfreundliche Dienstgestaltung, demokratische politische Bildung (Vorrang vor anderen Diensterfordernissen, Einbeziehung ziviler Lehrkräfte, Teilnahme aller Vorgesetzter) und konsequente Ausbildung in nationalem und internationalem Recht (z.B. Kriegsvölkerrecht) sowie Fremdsprachenausbildung müssen Schwerpunkte des dienstlichen Alltages sein. Glaubwürdige Demokratie verlangt den freien und ungehinderten Gedankenaustausch über moralisch-ethische Grundfragen des Soldatenberufs.

Die medizinische (Friedens-) Versorgung von Soldaten muß dem zivilen Standard entsprechen.

UN-Einsätze der Bundeswehr

Vorrang vor jedem UN-Einsatz von Bundeswehrsoldaten hat für Deutschland das nachdrückliche Eintreten für nicht-militärische Maßnahmen der Konfliktvorbeugung und -beilegung!

Auch nach Reform der UNO sollte der Deutsche Bundestag nur nach ausgiebiger Prüfung und nur in Einzelfällen einer Entsendung deutscher Soldaten zu UN-Missionen zustimmen!

Dabei ist zu berücksichtigen:

  • Sollten in der jeweiligen Krisenregion deutsche Interessen (wirtschaftlich, politisch, historisch) nachhaltig berührt werden, muß auf die Entsendung deutscher Streitkräfte verzichtet werden.
  • Soldaten der Bundeswehr dürfen nur für klassische friedenserhaltende (Blauhelm-)Einsätze der UNO zur Verfügung gestellt werden! Für Einsätze wie etwa den Golfkrieg darf die Bundeswehr nicht zur Verfügung stehen, da hier die UNO für fragwürdige Großmachtinteressen instrumentalisiert wurde.

Frieden mit Waffen »erzwingen« zu wollen, ist eine gefährliche Illusion!

Frieden »erzwingen« kann man nur durch frühzeitiges Erkennen von Krisen, entschlossenes und einmütiges Handeln der Weltgemeinschaft, Stop aller Rüstungsexporte, Wirtschafts- und Energie-Embargos, etc.

Wo diese Voraussetzungen fehlen, können Soldaten keinen »Frieden« herbeischießen!

  • Die Bundeswehr sollte Einheiten aufstellen, die ausschließlich für Blauhelm-Missionen vorgesehen sind. Diese Soldaten der Bundeswehr sind an nationalen und internationalen Ausbildungszentren gründlich und ausreichend zu schulen. Nur so sind ein optimaler Ausbildungsstand, hohe Motivation, Teamgeist, Sprachkenntnisse, schnelle Einsatzfähigkeit und eine Sensibilität für die besonders schwierigen Anforderungen im Einsatz (z.B. Umgang mit Zivilisten und fremden Kulturen, Befähigung zur gewaltfreien Konfliktbewältigung) zu erreichen.
  • Ändern sich während eines aktiven Blauhelm-Einsatzes die Voraussetzungen (z.B. Nicht-Akzeptanz durch die Konfliktparteien, mangelnde materielle und personelle Unterstützung vor Ort), sind die UN-Soldaten konsequent aus dem Krisengebiet abzuziehen.

Wo der Friedenswille fehlt, kann kein Soldat der Welt Frieden erhalten!

Deutsche Impulse zur friedlichen Konfliktlösung

Wegen der besonderen Vergangenheit Deutschlands, und unserer festen Überzeugung, daß der Einsatz militärischer Mittel die teuerste, gefährlichste und schlechteste Form der Konfliktlösung darstellt, fordern wir, daß sich die Bundesrepublik verpflichtet, auf neuen Wegen ihrer internationalen Verantwortung gerecht zu werden:

  • Deutschland stellt ein unbewaffnetes »Friedenskorps« auf, das allein der Katastrophen- und humanitären Hilfe dienen soll, dieses Korps soll in Umfang, Einsatzbereitschaft und Mobilität weltweit beispielgebend sein und der UNO schnell und unbürokratisch zur Verfügung stehen.
  • Deutschland baut seine Friedens- und Konfliktforschung massiv aus und setzt sich dafür ein, daß die Vereinten Nationen stärker als bisher Konflikt-Vorbeugung betreiben. Außerdem wird ein »Zentrum für Krisen-Früherkennung« eingerichtet, das
    • dem Bundesaußenminister untersteht
    • zur Wahrnehmung seiner Aufgaben auf moderne Aufklärungstechniken (z.B. Satelliten), nachrichtendienstliche Erkenntnisse, und einen Stab von erfahrenen Mitarbeitern zurückgreifen kann
    • Krisen frühzeitig erkennt, analysiert und der Bundesregierung Handlungsalternativen anbietet
  • Da Konflikte zumeist tiefsitzende wirtschaftliche, soziale oder ethnische Ursachen haben, sollte die Bundesrepublik beginnen, hier anzusetzen:

    • Beseitung des Nord-Süd-Gefälles durch aktives Eintreten für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung (z.B. Schuldenerlaß für Entwicklungsländer)
    • Schutz bzw. Wiederherstellung der natürlichen Lebensgrundlagen
    • Verbot von Rüstungsexporten und Militärhilfen
    • Ausbau des Internationalen Gerichtshofs zur Ahndung von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen
  • Da die Gefahr des Einsatzes von Massenvernichtungsmitteln nach wie vor besteht, muß Deutschland sich dafür einsetzen, daß

    • alle ABC-Waffen geächtet werden
    • alle ABC-Waffen aus Deutschland abgezogen werden
    • Deutschland sich an keiner »europäischen A-Waffe« beteiligt
    • die NATO auf den Ersteinsatz von Atomwaffen verzichtet
    • der »Nichtweiterverbreitungsvertrag« von Atomwaffen verstärkt durchgesetzt wird.

Frieden ist nicht das Ende aller Konflikte, sondern der Anfang einer neuen Art und Weise, wie man sie austrägt.

Der Frieden ist der Ernstfall!

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1996/4 Weltweit im Kommen: Die neue Bundeswehr, Seite