Zurück zu den Wurzeln
Frieden als Herausforderung für Studium und Lehre in den Naturwissenschaften
von Jürgen Scheffran
Verglichen mit der Situation vor 40 Jahren hat sich die naturwissenschaftliche Friedenslehre geändert. Stand zunächst die Verflechtung von Naturwissenschaft und Krieg im Vordergrund, so wurde zunehmend naturwissenschaftlich-technisches Wissen genutzt, um rüstungsbezogene Fragen zu analysieren und friedenspolitische Alternativen zu entwickeln. Auf Grundlage eigener Erfahrungen zeichnet Jürgen Scheffran nach, wie die Beschäftigung mit Frieden, Konflikten, Aufrüstung und Abrüstung in die Lehre und das Studium der Naturwissenschaften kam.
Dass die wissenschaftlich-technische Entwicklung nicht nur die Mühseligkeit menschlicher Existenz erleichtern soll (Brecht), sondern auch die Menschheit gefährdet, war schon Albert Einstein bewusst. Vor einer studentischen Abrüstungsversammlung Anfang der 1930er Jahre stellte er fest: „Die letzten Generationen haben uns in der hochentwickelten Wissenschaft und Technik ein überaus wertvolles Geschenk in die Hand gegeben, das Möglichkeiten der Befreiung und Verschönerung unseres Lebens mit sich bringt […]. Dies Geschenk bringt aber auch Gefahren für unsere Existenz mit sich, wie sie noch niemals schlimmer gedroht haben.“ (Einstein 1934, S. 48f.) Er folgerte daraus das ethische Postulat für die zivilisierte Menschheit und die aktive Teilnahme an der Lösung des Friedensproblems. Solche Zusammenhänge zu vermitteln, war in der naturwissenschaftlichen Ausbildung und Lehre lange ein Tabu.
Anfänge im Kalten Krieg
Während des Physikstudiums vor vier Jahrzehnten an der Universität Marburg wurde mir die Ambivalenz des eigenen Faches bewusst. Angesichts komplexer globaler Herausforderungen, von der Umweltzerstörung bis zur Kriegsgefahr, wurde es dringlich, Fragen zu Umwelt, Frieden und Komplexität in Studium, Lehre und Forschung zu integrieren. Um die damals „voraussehbare Realität“ neuer Bedrohungen zu vermeiden, erwuchs die Notwendigkeit, mit verschiedenen Fachgebieten zusammen zu arbeiten und zu lernen.
Zu Beginn der 1980er Jahre wurde die Stationierung neuer Atomraketen in Europa zum alles beherrschenden Thema, und die Friedensbewegung erfasste auch die Hochschulen. Da damals eine naturwissenschaftliche Friedenslehre nicht zum Studium gehörte, waren studentische Initiativen ein Weg zum selbstorganisierten Lernen. Ein Schlüsselerlebnis war für mich das Seminar »Physik und Rüstung«, das im Sommersemester 1982 und im folgenden Wintersemester am Marburger Fachbereich Physik auf Initiative von Studierenden und mit Unterstützung durch Prof. Olaf Melsheimer durchgeführt wurde. Damit wollten wir erreichen, dass gesellschaftspolitische Inhalte wie die Friedensfrage und die Gefahren des nuklearen Wettrüstens zur normalen Physikausbildung gehören.
Das Seminar kann als erster Versuch einer naturwissenschaftlichen Friedensbildung gelten, um bei den Studierenden das Verständnis physikalischer Grundlagen der Rüstungstechnik zu entwickeln und die Verantwortung der Wissenschaft zu thematisieren. Themen des Seminars waren: Wissenschaft und Krieg in der Geschichte und die Erklärung der »Göttinger 18«; Nuklearwaffen und Neutronenbombe; Folgen des Atomkriegs und Elektromagnetischer Impuls (EMP); Cruise Missiles, Pershing II und SS20 sowie Laserwaffen, Überwachungs- und Informationssysteme (vgl. Physik & Rüstung 1982/83). Das »merkwürdige Schweigen« über die Verflechtung von Physik und moderner Kriegführung zeigte uns ein Artikel von Woollett (1980): „Die Hälfte aller Physiker und Ingenieure machen Forschung und Entwicklung; davon die Hälfte ist mit Forschung und Entwicklung für Rüstungszwecke beschäftigt.“ Es wurde deutlich, dass Naturwissenschaft und Technik sich von einer »Produktivkraft« zu einer »Destruktivkraft« entwickelten (Scheffran 1982/83).
Um ähnliche Seminare zur Friedensbildung an anderen Universitäten zu ermöglichen, wurden unsere ausgearbeiteten Vorträge in einem Band zusammengefasst, zum Teil in Handarbeit gedruckt und so bis 1983 in drei Auflagen mehr als 10.000 Exemplare bundesweit verteilt – mit Unterstützung durch das »Forum Naturwissenschaftler für Frieden und Abrüstung« sowie die Fachschaft Physik in Karlsruhe. An vielen Hochschulen fanden Lehrveranstaltungen zu Wissenschaft und Rüstung statt, und beim Kongress der »Mainzer 23« im Juli 1983 kamen rund 3.000 Menschen zusammen. Ihr Interesse wurde verstärkt durch die sich zuspitzende Nachrüstungsdebatte und die sogenannte »Star-Wars«-Rede von US-Präsident Ronald Reagan vom 23. März 1983, der die Wissenschaft aufrief, ein Abwehrsystem gegen Nuklearraketen zu errichten. Die Debatte über diese »Strategic Defense Initiative« (SDI) beherrschte die folgenden Jahre und wurde beim Göttinger Kongress gegen die Weltraumrüstung 1984 thematisiert wie auch 1986 beim Hamburger Kongress »Wege aus dem Wettrüsten«. Diese größeren Foren brachten die friedenspolitische Debatte nicht nur in den Naturwissenschaften in Gang, sondern mit verschiedenen Akzenten auch in anderen Disziplinen. Dies veranlasste Paul Schäfer in der ersten Ausgabe dieser Zeitschrift W&F 1983 die „Veränderung der Wissenschaftskultur und Institutionalisierung“ zu fordern sowie den „Aufbau eines Systems wissenschaftlicher Anerkennung von Leistungen, die sich auf die Friedensproblematik beziehen. Einbringung der Probleme in Forschungsprogramme, Curricula, Kongresse, Förderungsgremien. Bildung neuer Organisationen“ (Schäfer 1983).
Verstetigung naturwissenschaftlicher Friedensaktivitäten
Tatsächlich gab es in den folgenden Jahren zahlreiche interdisziplinäre Lehrveranstaltungen, die die meisten Fächer umfassten und viele Studierende und Lehrende in die Diskussion von Friedensfragen einbanden. Zeitweise fanden bundesweit über 20 Ringvorlesungen zur »Verantwortung für den Frieden« statt, mit über 200 Vorträgen. Durch die Gründung lokaler und fachbezogener Organisationen für den Frieden (Medizin, Naturwissenschaften, Psychologie, etc.) erfolgte eine Verstetigung. Naturwissenschaftliches Wissen über Krieg und Frieden wurde der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, z. B. über die Reichweite und Zielgenauigkeit von Raketen, die Überprüfbarkeit von Atomwaffentests oder die Machbarkeit und Risiken von SDI.
Ranga Yogeshwar äußerte 1984 in W&F die Hoffnung, bei den Friedensvorlesungen könne es sich um den möglichen „Beginn einer breiten Bewegung an den Hochschulen“ handeln, vielleicht eine neue Form des „Studium Generale“ (Yogeshwar 1984). Die Verantwortungs- und Friedensthematik müsse Teil des regulären Unterrichts und Lehrstoffs sein.
Für viele Studierende und Lehrende war es überraschend, die engen Verbindungen zwischen ihrer Ausbildung und der Forschung für militärische Zwecke festzustellen. Es sei schwierig, „sich einen Forschungsbereich vorzustellen, der nicht mit militärischen Bedürfnissen in Zusammenhang gebracht werden kann“ (Gonsior 1984). Dies betraf besonders Orte wie Stuttgart, die durch eine Konzentration natur- und ingenieurwissenschaftlichen Einrichtungen gekennzeichnet waren (Nitsch 1985) – und oft bis heute sind. Solche Erkenntnisse förderten den Widerstand gegen die Militarisierung der Wissenschaft, was sich in der »Darmstädter Verweigerungsformel« ebenso zeigte wie in Erklärungen tausender Wissenschaftler*innen an Hochschulen und Forschungseinrichtungen in den USA und der Bundesrepublik.
Die wachsende Expertise zu Friedensfragen bereitete den Boden für die naturwissenschaftliche Friedensforschung, u.a. durch ein Stipendienprogramm der VW-Stiftung über Rüstungskontrolle. Daraus ergab sich die Möglichkeit der Förderung meiner Physik-Promotion in Marburg zur modellgestützten Untersuchung von Raketenabwehr, Abrüstung und Stabilität, die Ende 1989 abgeschlossen wurde, zeitgleich mit dem zu Ende gehenden Kalten Krieg. Aus dem Stipendienprogramm wurde ab 1988 eine institutionelle Förderung naturwissenschaftlich orientierter Forschungsgruppen in Darmstadt, Hamburg, Bochum und Kiel, die die sozialwissenschaftliche Friedens- und Konfliktforschung ergänzte. Aus dem fachbereichsübergreifenden Bündnis von Lehrenden an der Uni Marburg wurde auf Initiative des Soziologen Ralf Zoll das Zentrum für Konfliktforschung gegründet.
Etablierung der naturwissenschaftlichen Friedenslehre
1988 wechselte ich zur »Interdisziplinären Forschungsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit« (IANUS) an die TU Darmstadt, in Erwartung, den Fokus mehr auf Abrüstung und globale Herausforderungen zu richten. Die mit der Rüstungskonversion und dem UN-Gipfel zur Nachhaltigkeit 1992 in Rio verbundenen Hoffnungen auf eine Friedensdividende wurden durch neue Konflikte und Aufrüstung zerstört. Damit verbundene Friedensthemen fanden Eingang in die interdisziplinäre Forschung und Lehre bei IANUS.
Die neuen Forschungsgruppen vernetzten sich bundesweit (Kronfeld et al. 1993) und gründeten 1996 den »Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit« (FONAS), mit dem Ziel, die mathematischen, natur- oder technikwissenschaftlichen Arbeiten über Abrüstung, internationale Sicherheit und Frieden in Forschung, Lehre und Politikberatung zusammenzuführen (Neuneck 1999). Zu den zahlreichen Themen gehörten die Früherkennung, Ambivalenzanalyse und Eindämmung technologischer Rüstungsdynamik; Vorschläge für Nichtverbreitung, Rüstungskontrolle, Abrüstung, Konversion und Verifikation; Analyse und Modellierung komplexer Systeme, globaler Umweltveränderungen und internationaler Sicherheit.
Studierende und Auszubildende sammelten praktische Erfahrungen auch im Arbeitskreis »Physik und Abrüstung« bei der Deutschen Physikalischen Gesellschaft sowie in internationalen Netzwerken wie den »Pugwash Conferences«, der auf Nachwuchsförderung orientierten »Summer School on Science and Global Security« oder im »International Network of Engineers and Scientists for Global Responsibility« (INES/INESAP).
Etappen der Etablierung und Professionalisierung naturwissenschaftlicher Friedensforschung und -lehre waren die Förderung durch die 2000 gegründete Deutsche Stiftung Friedensforschung, die Einrichtung einer Stiftungsprofessur 2004 für das Carl Friedrich von Weizsäcker-Zentrum für Naturwissenschaft und Friedensforschung (ZNF), der Darmstädter Informatik-Lehrstuhl »Wissenschaft und Technik für Frieden und Sicherheit« (PEASEC) und die Physik-Juniorprofessur »Nukleare Verifikation und Abrüstung« an der RWTH Aachen. Damit verbunden war die Einrichtung friedensbezogener Masterprogramme und Lehrveranstaltungen an den Universitäten von Hamburg, Marburg, Hagen, Darmstadt und Aachen, die zahlreichen Studierenden und dem wissenschaftlichen Nachwuchs vielfältige Facetten des forschenden Friedenslernens und der Ambivalenzanalyse eröffneten.
Über die Jahre entwickelte sich auch ein entsprechendes Angebot an Lehrbüchern, das Naturwissenschaften und Friedensthemen verknüpfte, z. B. „Physik, Militär und Frieden“ (Forstner/Neuneck 2018), „Information Technology for Peace and Security“ (Reuter 2019) sowie „Naturwissenschaft, Rüstung, Frieden“ (Altmann et al. 2017). Letzteres vermittelt friedensrelevantes Basiswissen in vier naturwissenschaftlichen Disziplinen (Physik, Chemie, Biologie, Informatik). Für ein naturwissenschaftliches Lehrangebot werden darin verschiedene Lernziele angestrebt:
- grundlegende naturwissenschaftliche Begriffe und Arbeitsweisen;
- Bedeutung von Naturwissenschaft und Technik für Rüstung und Krieg, Abrüstung und Frieden;
- damit verbundene wissenschaftstheoretische und gesellschaftliche Grundsatzfragen;
- Technikbewertung und Technikfolgenabschätzung, unter Einbeziehung ethisch-normativer Regeln.
Interdisziplinäre Verbindung von Umwelt und Frieden
Im Lauf der Zeit spielte die interdisziplinäre Verknüpfung natur- und sozialwissenschaftlicher Friedensthemen eine zunehmende Rolle, was sich auch in meiner eigenen Biographie zeigte. Neben der Beschäftigung mit der Rüstungstechnik untersuchte ich seit Beginn der 1990er Jahre zunehmend globale Sicherheits-Herausforderungen wie Umwelt, Energie und Klima, ab 2001 am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und 2004-2009 in der ACDIS-Forschungsgruppe an der University of Illinois. Hier durfte ich an der gut besuchten Vorlesung »Nuclear Weapons, Nuclear War & Arms Control« mitwirken, zusammen mit den Physikern Frederic Lamb, Jeremiah J. Sullivan und zeitweise Martin Kalinowski. Mit ihrem Start im Jahr 1982 ist dies die am längsten laufende Vorlesung dieser Art in den USA und weist auf die Parallelen der Entwicklungen in den USA und Deutschland hin.
Durch den Wechsel 2009 auf die Geographie-Professur für »Klimawandel und Sicherheit« an der Universität Hamburg ergab sich ein vielfältiges Lehrspektrum an der Schnittstelle umwelt- und sicherheitspolitischer Themen – die aus interdisziplinären Perspektiven betrachtet wurden, von Klima- und Ressourcenkonflikten bis zu Konfliktmodellen und biologischen Grundlagen der Friedensforschung. Hier konnten sich zahlreiche Studierende als Teil ihrer berufsqualifizierenden Ausbildung mit Friedensthemen beschäftigen.
Seit den Anfängen hat sich die Landschaft naturwissenschaftlicher Friedenslehre erheblich geändert. Die damals konstatierte „vorraussehbare Realität“ ist längst manifest geworden und führt zu immer neuen Krisen, in denen sich die nukleare Bedrohung mit anderen Risiken verbindet, was eine interdisziplinäre Betrachtung erfordert. Die Belegung friedensbezogener Lehrveranstaltungen wurde zur Normalität, auf Kosten der Eigeninitiative und der kritischen Auseinandersetzung. Jüngere Entwicklungen wie die von der »NatWiss«-Initiative forcierte Zivilklausel-Bewegung an den Universitäten oder die Zusammenarbeit von Fridays for Future und Scientists for Future brachten frischen Wind in die Landschaft und mobilisierten Studierende und Lehrende für Lehrveranstaltungen, fast wie seinerzeit die Friedensbewegung.
Die kritische Beschäftigung mit der Ambivalenz der Wissenschaft bleibt wichtig, um die Wurzeln nicht zu vergessen (Scheffran 2018). Bis heute steht für viele Studierende die Begeisterung über ihr Fach im Vordergrund, während die Beschäftigung mit den Konsequenzen wie Krieg, Gewalt und Umweltzerstörung verunsichert. Diese Konfrontation ist auch weiter notwendig – ein Plädoyer für eine vertiefte und etablierte Friedenslehre auch und gerade in den Naturwissenschaften. Bis heute ist das keine Selbstverständlichkeit.
Literatur
Altmann, J. et al. (2017): Naturwissenschaft – Rüstung – Frieden. Basiswissen für die Friedensforschung. Wiesbaden: Springer.
Einstein, A. (1934) Mein Weltbild. Hrsg. Seelig, C. (2005), Zürich: Europa-Verlag.
Forstner, Ch.; Neuneck, G. (Hrsg.) (2018): Physik, Militär und Frieden. Physiker zwischen Rüstungsforschung und Friedensbewegung. Wiesbaden: Springer Spektrum.
Gonsior, B. (1984): Den Frieden lehren. W&F 5/1984.
Kronfeld, U. et al. (Hrsg.) (1993): Naturwissenschaft und Abrüstung. Forschungsprojekte an deutschen Hochschulen. Münster: Lit-Verlag.
Neuneck, G. (1999): Eine kurze Geschichte von FONAS. FONAS Newsletter 1, S. 3-10.
Nitsch, J. (1985): Friedensforum Stuttgarter Wissenschaftler. W&F 3/1985.
Physik & Rüstung (1982/1983) Physikalische Aspekte rüstungstechnologischer Entwicklungen. Seminar am Fachbereich Physik, Universität Marburg, Auflage 1/2/3.
Reuter, Ch. (Hrsg.) (2019): Information technology for peace and security. IT applications and infrastructures in conflicts, crises, war, and peace. Wiesbaden: Springer Vieweg.
Schäfer, P. (1983): Entrüstete Wissenschaft? W&F 1/1983.
Scheffran, J. (1982/83): Zum Verhältnis von Wissenschaft und Krieg in der Geschichte. In: Physik und Rüstung, S. 6-65.
Scheffran, J. (2018): Militarisierung oder Zivilisierung? Ambivalenz der Wissenschaft in der Krise. W&F 2/2018.
Woollett, E.L. (1980): Physics and modern warfare: the akward silence. In: Amer. J. Phys. 48(2), S. 104-111.
Yogeshwar, R. (1984): Den Frieden lehren. W&F 4/1984.
Jürgen Scheffran ist Geographie-Professor für »Klimawandel und Sicherheit« im Klimacluster an der Universität Hamburg und Redaktionsmitglied von W&F.