Zwangsdienst
Anachronismus in einer demokratischen Gesellschaft
von Bernhard Nolz und Wolfgang Popp
Wehr- und Zivildienst sind staatliche Zwangsdienste, auf deren Abschaffung aus friedenspädagogischer Sicht hingearbeitet werden sollte. Das derzeitige Recht auf Kriegsdienstverweigerung befreit junge Menschen nicht aus der Zwangssituation. Das Prinzip Freiwilligkeit sollte den Rahmen für Gemeinschaftsdienste im demokratischen Staat setzen. Mit dem Modell eines Freiwilligen Zivilen Friedensdienstes wird eine attraktive Form dafür vorgestellt.
Die Diskussion um staatlich verordnete Dienste hat nicht nur mit der Legitimationskrise der Bundeswehr zu tun, der erst der Feind verloren ging und die jetzt auch noch – nach französischem Vorbild – die bisher zwangsweise zugeführten Wehrpflichtigen preisgeben soll. Die Diskussion hat auch ihre Begründungen in der allgemeinen Politikkrise. Regierungs- und Oppositionspolitiker wissen sich nicht mehr anders zu helfen, als im Innern den Sozialstaat Zug um Zug zu zerstören und nach außen auf eine glaubwürdige Menschenrechtspolitik zu verzichten, indem in der Staatenwelt einerseits mit militärischer Präsenz politische Stärke demonstriert wird und andererseits hemmungslos auf allen Ebenen um Aufträge für den Wirtschaftsstandort Deutschland gebuhlt wird. Wenn der einst verächtlich gemachte und nur gnädigst gewährte Zivildienst unterdessen avanciert ist zu einem unverzichtbaren Institut zur Deckung angeblich unbezahlbarer Personallücken im Kranken-, Alten- und Behinderten-Pflegebereich und an anderen sozialen »Brennpunkten« oder wenn gar der Bundeskanzler den Aufbau eines »Zivilen Hilfskorps für humanitäre Auslandseinsätze« propagiert, dann bestätigen sich darin die alten Denk- und Handlungskategorien von staatsbürgerlicher Gefolgschaft und machiavellistischem Staatszwang.
Junge Menschen unter Druck
Die Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden (PPF) haben 1994/95 in dem Aufruf »Gegen den neuen Militarismus – Für einen aktiven Pazifismus« eine friedenspolitische Position eingenommen. Sie verpflichten sich gegenüber den Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, mit denen sie zusammenarbeiten:
- „sie in ihrer Kritik an jedem militärischen und nationalistischen Denken zu bestärken und ihnen friedliche Alternativen positiv erlebbar zu machen;
- sie zur eigenen Entwicklung rationaler, ziviler und gewaltfreier Alternativen der gesellschaftlichen Lebensgestaltung zu ermutigen und zu befähigen;
- sie anzuregen, über die Bedeutung von Wehrpflicht und Kriegsdienstverweigerung in diesem Zusammenhang nachzudenken und sie zu unterstützen, wenn sie den Kriegsdienst verweigern;
- ihnen auch bei der Entscheidung für einen zivilen Friedensdienst praktische Hilfe zu bieten und sie vor Diskriminierung zu schützen.“
Eine solche Selbstverpflichtung wirkt um so glaubwürdiger, wenn die jungen Menschen sie in den Worten und Taten der Pädagoginnen und Pädagogen »wiederfinden« können. Den Realitätsdruck der Wehrpflicht auf die individuellen Entscheidungen kann Solidarität nicht nehmen, höchstens mildern. Dieser Realitätsdruck kommt aus vielen sich kompliziert verbindenden Richtungen: sei es die schamlose Werbung der Bundeswehr mit ihren Berufsziel- und Abenteuer-Idyllen, die sich die Perspektivlosigkeit der heutigen Jugendlichen zunutze macht; seien es die verstärkten Agitationen der Jugendoffiziere in den Schulen, vor allem in Ostdeutschland; seien es die oft subtilen Hindernisse, durch die ein Auftritt von Kriegsdienstverweigern in den Schulen erschwert wird. In solchen Fällen können Pädagoginnen und Pädagogen Öffentlichkeit herstellen und Aufklärung betreiben. Sie können dabei Akzente setzen und Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen Mut machen.
Der entscheidende und mit allen gesetzlichen Legitimationen und ungebrochenen Traditionen ausgestattete staatlich verordnete Dienst ist der Kriegsdienst. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung gilt als ihm nachgeordnet und wird nur in wenigen Staaten als Menschenrecht anerkannt. Als Ersatzdienst für Verweigerer bleibt der Zivildienst nationalen Militärplanungen unterworfen und wird folglich von Rationalisten als »Kriegsdienst ohne Waffe« bezeichnet. Viele Zivildienstleistende machen sich darüber keine Illusionen, aber akzeptieren das kleinere Übel, wohl wissend, daß Bürger, die sich dem staatlichen Zwangsdienst im zivilen Bereich unterworfen haben, wie Reservisten des Kriegsdienstes mit der Waffe jederzeit zur Teilnahme an Kriegsplanungen, z.B. Manövern, und an Kriegshandlungen mobilisiert werden können. Mit Jugendlichen wären in diesem Zusammenhang vor allem drei Fragen zu thematisieren: Kann Totalverweigerung mit der Folge, weitere Zwangsmaßnahmen des Staates ertragen zu müssen, eine sinnvolle Haltung sein? Wie können Bürgerinnen und Bürger verhindern, daß sie im Krieg von Soldaten skrupellos als Geiseln instrumentalisiert und getötet werden? Wie können Kinder und Jugendliche davor geschützt werden, daß sie zwangsrekrutiert werden?
Töten als Beruf?
Staatstragend gesehen ist die Einrichtung einer Berufsarmee die Alternative zum staatlichen Zwangsdienst, dem Kriegsdienst mit oder ohne Waffe. Dagegen wird historisch argumentiert, daß Berufsarmeen dazu tendieren, sich zu verselbständigen, einen Staat im Staat zu bilden, während ein Heer auf der Grundlage allgemeiner Wehrpflicht demokratisch kontrolliert werden könne und die Individuen zu Bürgern in Uniform mache. Auch Jugendliche können diese Argumentation als historische Mogelpackung erkennen: Wann immer eine Armee sich im Sinne eines Staates im Staat verselbständigt hat, geschah dies letztlich mit Zustimmung und/oder Unterstützung der politisch mächtigen Kräfte (und meist der Regierung selbst). Daß dagegen die allgemeine Wehrpflicht garantiert, daß die Armee sich nicht als Staat im Staat etabliert und Eigeninteresssen (gewaltsam) durchsetzt, ist nachweislich falsch. Wehrpflichtige haben noch keinen Oberst oder General daran gehindert zu putschen!
Mit der pazifistischen Fundamentalkritik an jeglicher Armee und ihren Angehörigen, die Kurt Tucholsky mit dem Schlagwort »Soldaten sind Mörder« beschrieben hat, müssen sich auch Jugendliche und junge Erwachsene immer wieder auseinandersetzen. Die Einbeziehung dieser Kritik entlarvt manches Argument als manipulative politische Rhetorik bzw. als Verschleierung spezieller militaristischer (und damit immer machtpolitischer) Interessen. Was die Bundeswehr und ihre Soldaten betrifft, wird man solange das Konzept »Bürger in Uniform« als mißlungen betrachten müssen, wie grundlegende demokratische Bürgerrechte für Bundeswehrsoldaten außer kraft gesetzt sind. Die Unterstellung von Geheimnisverrat dient als »Totschlagargument« gegen Demokratisierungsforderungen bei der Bundeswehr.
Gewissensentscheidung als Dauergewissen
Es ist höchste Zeit, in einer demokratischen Öffentlichkeit und speziell mit den betroffenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen über Desertion zu diskutieren und sie zu betrachten als situativ gebotene und demokratisch zu legitimierende Handlung in einem Gewissenskonflikt des einzelnen, in dem das Leben anderer auf dem Spiel steht und in dem der einzelne sich der Tötung anderer schuldig machen kann. Es gibt kein legitimiertes Töten, kein Staat, keine Heeresleitung und kein Militärminister kann die Verantwortung für das Töten von Menschen übernehmen. Die Verantwortlichkeit des einzelnen für sein Handeln kann dem Menschen nicht genommen werden. Hier stößt die Macht des staatlich verordneten Zwanges an ihre menschenrechtlichen Grenzen. Wenn Desertieren im Krieg die einzige Möglichkeit ist, sich einem Zwang, den man mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann, zu widersetzen, so muß dieses Verhalten entkriminalisiert werden. Denn das derzeitige aus einer üblen militärgeschichtlichen Tradition überkommene Verständnis von Desertion als einer strafwürdigen, moralisch zu verurteilenden, kriminellen und »unehrenhaften« Handlung kollidiert mit dem Grundrecht der Gewissensfreiheit, das sich gerade auf Entscheidungssituationen wie die Teilnahme an Kriegshandlungen oder am Töten bezieht und eine freie Gewissensentscheidung garantieren will. Und die stellt sich für einen Soldaten immer wieder. Desertion, das zeigen die Berichte aus dem Krieg in Ex-Jugoslawien, wäre der Normalfall, wenn Menschen menschlich bleiben wollen. Dennoch werden Deserteure hier wie dort wie Kriminelle behandelt und staatlichen Zwangs- und Verfolgungsmaßnahmen unterworfen.
Es ist an der Zeit, daß sich in unserer Gesellschaft ein demokratisches Verständnis von der Legitimität und Vertretbarkeit des Desertierens in individueller Verantwortung des einzelnen durchsetzt.
Zivil: demokratisch – sinnvoll – sozial
Der Zivildienst als Ersatzdienst zur Ableistung der Wehrpflicht ohne Waffe ist ein staatlicher Zwangsdienst. Er stellt somit keine wirkliche Alternative zum Wehrdienstzwang dar, zumal drei Monate länger gedient werden muß. Als Zwangsdienst ist er auch nicht reformierbar. Trotzdem steht außer Frage, daß durch den Einsatz von Zivildienstleistenden in vielen sozialen Bereichen sinnvolle und sozial notwendige gesellschaftliche Arbeit unterstützt und z.T. sogar erst möglich wird. Solange staatliche Zwangsdienste nicht abgeschafft sind, sollten Pädagoginnen und Pädagogen soziale Phantasie entwickeln und versuchen, Pläne für den Einsatz von Zivildienstleistenden in der Schule und in den außerschulischen Bereichen aufzustellen. In den vielfältigen pädagogischen Arbeitsbereichen ließen sich noch am ehesten die Fähigkeiten, die Kriegsdienstverweigerer mit ihrer Gewissensentscheidung unter Beweis gestellt haben, aufnehmen und weiterentwickeln. Frage- und Infragestellungspotentiale der Kriegsdienstverweigerer bzw. Zivildienstleistenden befähigen sie, Tendenzen des Militaristischen, Hierarchischen, Undemokratischen und Antidemokratischen aufzuspüren und zur Diskussion zu stellen. Auch dabei können ihnen Pädagogen und Pädagoginnen helfen. Je deutlicher die Notwendigkeiten personeller Unterstützung für die Bewältigung dringender sozialer Aufgaben den verantwortlichen Politikern vor Augen geführt wird, desto größer erscheint die Aussicht, daß gesamtgesellschaftlich umgesteuert werden kann zugunsten stattlicher Investitionen in Humankapital. In den Bildungseinrichtungen ist schon lange die Einrichtung von Friedensagenturen überfällig. Sie könnten nicht nur Impulse für anti-militaristische Aktionen und für eine Entwicklung von friedenskulturellen Aktivitäten geben. Eine Hauptaufgabe könnte sein, Jugendliche und junge Menschen bei ihrer Gewissensentscheidung zu unterstützen und sie zu beraten, wie sie ihren Zivildienst gestalten könnten.
Aller Dienst Ende
Die Diskussion um die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht für Männer und Frauen nach Abschaffung der Wehrpflicht und des Zivildienstes wurde vor allem 1994 heftig und kontrovers geführt. Dabei versuchten die politischen Gruppierungen sich beim Verschweigen des Zwangscharakters einer allgemeinen Dienstpflicht gegenseitig zu übertreffen: Dienstpflicht als Frauenemanzipation, als politische Bildung, zur Rettung der Umwelt, Dienstpflicht als Errungenschaft der Französischen Revolution, als Hüterin der Demokratie, als (neue) Schule der vereinten Nation! Dann lehnte der CDU-Parteitag in Hamburg einen entsprechenden Antrag mit knapper Mehrheit ab. Die allgemeine Dienstpflicht hat offenbar noch zu sehr den Stallgeruch des NS-Staates, als daß sie sich demokratisch legitimieren könnte. Umgekehrt aber läßt sich doch nachfragen und diskutieren, wie denn der staatlich verordnete allgemeine Wehr- oder Zivildienst für Männer zu legitimieren ist, wenn die allgemeine Dienstpflicht als mit den Prinzipien der Demokratie nicht vereinbar angesehen wird.
Friedensdienstpflicht
Als »Äquivalent zur Bundeswehr« wird in den letzten Jahren vor allem von der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg die Einrichtung eines Zivilen Friedensdienstes vorgeschlagen: Wehrpflichtige Männer, aber auch Frauen sollen eine Art Grundausbildung in gewaltfreier Konfliktaustragung ableisten. Der Staat soll zwar die Aufsicht über die Rahmenpläne dieser Grundausbildung behalten und diese (weitgehend) finanzieren; die organisatorische und inhaltliche Verantwortung soll aber in der Hand freier Trägereinrichtungen liegen. Neben der Bundeswehr soll damit eine zweite »sicherheitspolitische Option« geschaffen werden, die „bewaffneten Bedrohungen von innen und von außen mit gewaltfreien Mitteln begegnen kann.“ In der Tat böte ein solches Konzept jungen Erwachsenen, die weder einen Kriegsdienst mit der Waffe noch einen ohne Waffe mit ihrem Gewissen vereinbaren können, eine Möglichkeit, sich einem allgemeinen Dienst zu unterwerfen. Dennoch wäre mit Jugendlichen vor einer entsprechenden Entscheidung zu diskutieren, ob und unter welchen Bedingungen sie sich zu Fachleuten gewaltfreier Konfliktlösungen qualifizieren wollen, wenn dahinter nach wie vor eine Philosophie steht, die Kriegsdienst, d.h. die Befähigung zu gewaltförmiger Konfliktlösung, als gleichwertig neben den Zivilen Friedensdienst stellt.
Prinzip Freiwilligkeit
Der »Bund für Soziale Verteidigung« hat demgegenüber ein Modell eines Freiwilligen Zivilen Friedensdienstes geschaffen, ein „staatlich geförderter und finanzierter freiwilliger Dienst, der Männer und Frauen jeden Alters dazu befähigen soll, mit gewaltfreien Mitteln planvoll in Krisen und gewaltsame Konflikte einzugreifen.“ Die Freiwilligen sollen von der Wehrpflicht und anderen Diensten befreit sein, ohne Rücksicht auf die Dauer ihres Friedensdienstes. Träger sind auch hier freie Organisationen oder Institutionen, die lediglich staatlichen Rahmen- und Kontrollbedingungen unterworfen sind. Unabhängig davon, ob neben diesem freiwilligen Friedensdienst der zwangsweise Wehr- bzw. Zivildienst beibehalten oder abgeschafft wird, steht im Vordergrund dieses Modells ein Prinzip der Freiwilligkeit. Denn erst Freiwilligkeit ermöglicht den Individuen soziales und politisches Lernen, weil sie nur so hinter der Sache stehen können, für die sie sich entschieden haben.
Auch hier haben Pädagogen und Pädagoginnen derzeit wohl eher noch Informationsdefizite, nicht zuletzt vielleicht auch deshalb, weil sie sich in den Sog einer heute modischen pessimistischen Beurteilung der Jugend ziehen lassen, der nachgesagt wird, sie sei nur auf eigene Vorteile aus und zu keinen sozialen Leistungen bereit. Jugendliche müßten deshalb zu Leistungen für das Gemeinwohl (wie immer sie gestaltet sind) verpflichtet werden, denn wer Rechte für sich in Anspruch nehme, müsse auch Pflichten auf sich nehmen. Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden allerdings setzen dem eine optimistischere und vertrauensvolle Einschätzung der Jugend entgegen: Wenn Jugendliche und junge Erwachsene ihre demokratischen Rechte begriffen haben und in deren Wahrnehmung ernstgenommen werden, sind sie bereit, auch Pflichten gegenüber der Gesellschaft zu übernehmen. Dafür müssen sie aussichtsreiche Perspektiven haben, die sie in offenen Lernprozessen zusammen mit den Lehrenden diskutieren und öffentlich durchzusetzen versuchen müssen. Dazu gehört entscheidend, daß das gesellschaftliche Engagement junger Menschen öffentlich anerkannt und angemessen honoriert wird, sowohl ideell als auch materiell. Wenn sich das Prinzip der Freiwilligkeit in einer Vielfalt von Arbeitsfeldern eines Zivilen Friedensdienstes realisieren läßt, dann fördert dies auch das Wachsen einer zivilen Gesellschaft auf nationaler und internationaler Ebene. Sie bildet das Fundament eines lebenswerten und erfüllten Lebens der heutigen Jugendlichen auch für die Zukunft.
Bernhard Nolz und Wolfgang Popp arbeiten in Siegen im Schul- bzw. Hochschulbereich. Sie sind Mitglieder der Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden (PPF) und Herausgeber der Zeitschrift „et cetera ppf“.