Dossier 57

Gewissen statt Gehorsam

von Gernot Lennert, Michael Behrendt, Jürgen Rose, Gerd Greune und Friedhelm Schneider, Rudi Friedrich

Beilage zu Wissenschaft und Frieden 2/2008 Herausgegeben von W&F, der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (IWIF) e.V., der DFG/VK, der Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung e.V., dem AK Darmstädter Signal, dem Europäischen Büro für Kriegsdienstverweigerung (EBCO) und Connection e.V.

Kriegsdienstverweigerung

Antimilitaristisch-pazifistisches Konzept und Menschenrecht

von Gernot Lennert

In der frühen Neuzeit nahmen einige christliche Gruppierungen das Gewaltlosigkeitsideal erheblich ernster als die etablierten Großkirchen. Mennoniten, Hutterer und später Duchoborzen kamen zum Schluss, dass Kriegsdienst nicht nur Priestern, sondern allen Gläubigen untersagt sei. Christen dieser Art waren die ersten staatlich anerkannten Kriegsdienstverweigerer.1 Ein allgemeines Recht auf Kriegsdienstverweigerung für alle forderten sie nicht. Im Unterschied zu den anderen historischen Friedenskirchen, wie die pazifistischen gewaltlos orientierten protestantischen Gruppen genannt werden, strebten die Quäker - oder Society of Friends - nicht danach, sich gottgefällig, unpolitisch und sektiererisch von einer sündhaften Welt zu isolieren. Sie waren entscheidend an der Gründung der ersten Friedensgesellschaften Anfang des 19. Jahrhunderts in Großbritannien und Nordamerika beteiligt und trugen die Idee der Kriegsdienstverweigerung in die Gesellschaft. Immer häufiger verweigerten Menschen außerhalb der Friedenskirchen den Militärdienst. Seit dem 1. Weltkrieg begannen Staaten allmählich, Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen rechtlich zu tolerieren. Vorreiter waren, vereinfachend dargestellt, protestantisch geprägte Staaten Nordwesteuropas und Nordamerikas; katholische Länder in Europa folgten erst widerstrebend in den 1960er und 1970er Jahren. In Lateinamerika verbreitet sich der Gedanke der Kriegsdienstverweigerung vor allem seit den 1990er Jahren. Bis heute wird in Europa Kriegsdienstverweigerung in orthodox geprägten Ländern sowie in der Türkei gesellschaftlich und staatlich am meisten abgelehnt und verfolgt. In einer wachsenden Zahl von Ländern - von Portugal bis zur Ukraine - wurde dagegen der Kriegsdienstzwang abgeschafft.2

Menschenrecht oder Ausnahmerecht?

In jüngster Zeit ist immer häufiger von Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht die Rede, sowohl in der Friedensbewegung als auch bei Menschenrechtsorganisationen. Doch bei genauerer Betrachtung stellt sich heraus, dass Kriegsdienstverweigerung trotzdem nur als Ausnahmerecht begriffen wird.3 Die staatliche Zwangsrekrutierung wird nicht grundsätzlich in Frage gestellt, das Recht der Militärdienstverweigerung wird an das Vorhandensein einer Überzeugung, auf die Überprüfung dieser Überzeugung sowie an den Zwang zum Ersatzdienst für Militärdienstverweigerer gebunden. Reduziert man die Kriegsdienstverweigerung auf die Verweigerung aus Gewissensgründen, dürfen nur Menschen, die sich auf Gewissensgründe berufen, den Kriegsdienst verweigern, andere nicht. Egal wie liberal die entsprechende Gewissensprüfung gehandhabt wird, wird damit das Recht auf Kriegsdienstverweigerung als Ausnahmerecht für Menschen mit einer bestimmten Motivation definiert, nicht als Menschenrecht für alle.

Menschenrechtsorganisationen lehnen z.B. auch die Folter ab. Was würde geschehen, wenn auf Foltervermeidungswillige die Kriterien für Kriegsdienstverweigerung analog angewendet würden? Dann müssten sie sich gefallen lassen, dass überprüft wird, ob ihr Wunsch nach Folterverschonung einer ethischen Überzeugung entspringt. Wenn sie dann als berechtigt anerkannt würden, von Folter verschont zu bleiben, müssten sie aber noch, um in der Analogie zur Militärdienstverweigerung zu bleiben, eine Ersatzrepression über sich ergehen lassen. Was im Kontext von Folter absurd wirkt, gilt bezüglich des Kriegsdienstzwangs vielen als selbstverständlich.

Doch warum wird Kriegsdienstverweigerung als Ausnahmerecht und nicht als Menschenrecht begriffen? Ein Faktor ist das staatliche Interesse an Zwangsrekrutierung für Krieg. Staat und Militär wollen Kriegsdienstverweigerung nur als Ausnahme von der Regel akzeptieren. So ist es in einigen Menschenrechtskonventionen ausdrücklich formuliert: Sklaverei, Leibeigenschaft und Zwangsarbeit sind verboten, aber Militärdienst und Militärersatzdienst sind von diesem Verbot ausgenommen.4 Es bleibt die Frage, warum auch Friedensorganisationen diese Ansicht vertreten.

Gewissensfreiheit oder Recht auf Leben und Freiheit?

Da das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in den klassischen Menschenrechtsdeklarationen nicht separat erwähnt wird, muss es entweder neu postuliert oder aus anderen bereits akzeptierten Menschenrechten abgeleitet werden. Wenn ein Mensch zu Kriegsdiensten zwangsrekrutiert werden soll, entsteht angesichts der damit verbundenen Freiheitseinschränkung und der Gefährdung von Leib und Leben ein Interessenkonflikt, so dass es nahe liegt, die lebensgefährliche Freiheitsberaubung mit dem Verweis auf das Recht auf Leben und Selbstbestimmung abzulehnen. In diese Richtung gingen die Levellers 1648/1649 in England.5 In der politischen Kultur der angelsächsischen Länder lebt das Bewusstsein fort, dass Zwangskriegsdienst ein schwerer Eingriff in die Freiheit des Individuums ist. Kriegsdienstzwang wird als zeitweilige Notwendigkeit gesehen, aber kaum als an sich positiv.

In Kontinentaleuropa galt in der Tradition der Französischen Revolution über die ideologischen Grenzen von rechts bis links Zwangsmilitärdienst als Pflicht des Staatsbürgers, ungeachtet der militärischen Erforderlichkeit. Das Militär wurde Schule der Nation. Diese staatsvergötternde totalitäre Dienstideologie gibt es in der älteren militärischen und in der jüngeren zivilen Variante, in der zwar der Militärdienst kritisch gesehen oder gar ablehnt wird, aber nicht der Zwang zum Dienst. Zivile Zwangsdienste erscheinen in diesem Weltbild als etwas Nützliches und Erstrebenswertes, als zweite Schule der Nation.6

Im internationalen und im einzelstaatlichen Recht ist üblich geworden, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht vom Recht des Einzelnen auf Leben und Freiheit, sondern von der Gedanken-, Religions- oder Gewissensfreiheit abzuleiten. Dementsprechend spricht man in den meisten Sprachen nach dem Vorbild des englischen »conscientious objection« von Verweigerung aus Gewissensgründen. Im Deutschen werden bei »Kriegsdienstverweigerung« die Gewissensgründe mitgedacht.

Die Gedanken, dass es Kriegsdienstverweigerer gibt, die zu Recht abgelehnt werden, oder dass Militärdienstverweigerern zu Recht ein Ersatzdienst aufgezwungen wird, sind auch in der Friedensbewegung weit verbreitet. Verinnerlicht ist auch der militärlegitimierende Sprachgebrauch, z.B. »Wehrdienst«.7

Unterschiedliche Sicht in der Friedensbewegung

Die geschilderte Geisteshaltung lässt sich jedoch keineswegs nur damit erklären, dass gedankenlos das vorherrschende Denken übernommen wird. Ideologische Unterschiede und machtpolitische Interessen kommen hinzu. Der sozialdemokratische oder marxistische Antimilitarismus, der besonders programmatisch von Karl Liebknecht formuliert wurde, kritisiert ähnlich wie der liberale Antimilitarismus lediglich Auswüchse des Militärwesens, strebt aber ein anderes, revolutionäres, den eigenen Interessen oder auch dem bestehenden Staat dienendes Militär an, keineswegs die Abschaffung des Militärs. Lediglich im radikalen Antimilitarismus, wie er besonders deutlich von Anarchosyndikalisten in den Niederlanden artikuliert wurde, wurde Militär grundsätzlich abgelehnt und ausgehend vom Gedanken des Generalstreiks auch die Kriegsdienstverweigerung propagiert.8 Seitdem haben sich diese Strömungen miteinander verbunden, voneinander gelernt und sich weiterentwickelt. Heute überschneiden sich radikaler Antimilitarismus, Pazifismus und die Idee der Gewaltfreiheit weitgehend.

Doch die ursprünglichen Strömungen sind immer wieder erkennbar. Kriegsdienstverweigerung wird zumindest in der deutschen Friedensbewegung mehrheitlich weder als Menschenrecht noch als Mittel der Politik begriffen. In breiteren Bündnissen, in Ostermarschaufrufen und dergleichen spielt Kriegsdienstverweigerung in der Regel keine Rolle.9 Verweigerer bestimmter Kriege, die den Dienst in bestimmten Armeen verweigern, können durchaus willkommen sein. Kriegsdienstverweigerung an sich wird aber gerne ignoriert oder als unpolitisches Individualproblem abgetan, namentlich von denjenigen, die zwangsrekrutierenden Regierungen und politischen Bewegungen ideologisch verhaftet sind.

Gewissensgründe oder antimilitaristisch-pazifistische Zielsetzung?

Pazifismus, so wie er z.B. von der pazifistischen Internationalen »War Resisters" International«10 verstanden wird, ist nicht nur eine Bewegung gegen zwischenstaatlichen Krieg, sondern gegen Gewalt schlechthin. Verletzung von Menschenrechten, nicht-kriegerische physische und strukturelle Gewalt und Repression müssten aus pazifistischer Sicht ebenso abgelehnt werden wie Krieg. Die Beschränkung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung auf Gewissensgründe führt konzeptionell zu Gewissensprüfungen, Zwangsdienst für anerkannte Verweigerer, staatlicher Repression in Form von Militärdienstzwang oder Inhaftierung nicht anerkannter Verweigerer sowie Diskriminierung nicht-religiöser Verweigerer.

Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen muss notwendigerweise ein Ausnahmerecht für Menschen mit einer bestimmten Motivation oder einem bestimmten Persönlichkeitsbild bleiben. Damit wird garantiert, dass es immer Menschen geben wird, die mangels nachweisbarer Gewissensentscheidung und der erwünschten Persönlichkeitsmerkmale zum Militär gezwungen werden können. Eine solche Personalbestandsgarantie fürs Militär kann aus pazifistisch-antimilitaristischer Perspektive nicht erstrebenswert sein. Wer die Abschaffung von Krieg und Militär als Ziel hat, kann nicht wollen, dass auch nur eine einzige Person, egal wie gewissensmotiviert oder gewissenlos sie ist, Militärdienst leistet. Wer Krieg und Militär ablehnt, müsste sich sowohl aus menschenrechtlichen als auch aus pazifistisch-antimilitaristischen Erwägungen für das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung für alle unabhängig von Gesinnung und Motivation und ohne jede Bestrafung einsetzen.

Anmerkungen

1) Zur Geschichte der Kriegsdienstverweigerung: Guido Grünewald (1979): Geschichte der Kriegsdienstverweigerung. DFG-VK Extra Nr. 4. Essen; Devi Prasad (2005): War is a Crime against Humanity. The Story of War Resisters" International. WRI, London; Wolfgang Zucht (1982): Widerstand bis zum Äußersten leisten ..., in: Widerstand gegen die Wehrpflicht. Texte und Materialien. Weber, Zucht & Co./Zündhölzchen, Kassel/Korntal, S.7-16.

2) Vgl. Gernot Lennert (2004): Kriegsdienstverweigerung in der Europäischen Union und in den Beitrittsländern, in: Wissenschaft und Frieden. 23. Jg., Nr. 2, S.43-46.

3) Ausführlicher bei Gernot Lennert (2007): Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen und Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung: Ein Widerspruch, in: Wolfram Beyer (Hg.): Kriegsdienste verweigern - Pazifismus aktuell. Libertäre und humanistische Positionen. Oppo-Verlag, Berlin, S.26-55 sowie in Forum Pazifismus Nr. 15 3. Quartal 2007 S.3-15 (unter dem Titel: Ein gravierender Widerspruch: Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen und Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung).

4) Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten des Europarats von 1950. Art. 4; Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte der UN, Art. 8.

5) Vgl. Gernot Lennert (1987): Die Diggers. Grafenau, vor allem S.17-23, 127.

6) Vgl. Gernot Lennert (1998): Rekrutierung im Krieg im Spannungsverhältnis staatlichen Anspruchs und individueller Selbstbestimmung, in: Kriegsdienstverweigerung und Asyl in Europa. (hg. von Connection e.V., Niedersächsischer Flüchtlingsrat e.V., Förderverein Pro Asyl e.V. u.a.) Offenbach, S.4-7.

7) In Bezug auf das zwischenstaatliche Verhältnis suggeriert »Wehrdienst«, dass die Kriegsdienstleistung der Verteidigung diene. Allerdings haben gerade deutsche sogenannte Wehrdienstleistende schon viele Angriffskriege geführt. Im Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Staat ist der Begriff ebenfalls abwegig. Wehrdienst leisten gerade diejenigen, die sich am wenigsten gegen die Zwangsrekrutierung zur Wehr setzen.

8) Ausführliche Gegenüberstellung in: Sozialgeschichte des Antimilitarismus. Graswurzelrevolution Nr. 117/118 (1987).

9) Eine Ausnahme sind die Mainz/Wiesbadener Ostermarschaufrufe der vergangenen Jahre (vgl. www.dfg-vk-mainz.de).

10) www.wri-irg.org.

Dr. Gernot Lennert ist Mitglied der Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK)

Totalverweigerung

Ungehorsam gegen Zwangsrekrutierung und Krieg

von Michael Behrendt

Im Gegensatz zu wenigen aktiven Soldaten, die für ihre punktuelle Gehorsamsverweigerung große Aufmerksamkeit bekommen, finden Totalverweigerer verhältnismäßig wenig Unterstützung. Sie sind grundsätzlich nicht bereit, auf Befehl zu töten. Für dieses Verhalten wird ihnen von offizieller Seite oft vorgeworfen, sie handelten gewissenlos und müssten dafür bestraft werden. Die »gewissenlose Handlung« ist die Aufkündigung des Gehorsams.

Berufs- und Zeitsoldaten, die mit dem Militär langfristige »Arbeitsverträge« eingegangen sind, werden dann nicht bestraft, wenn sie aus Gewissensgründen den Gehorsam in einer konkreten Situation verweigern, ohne grundsätzlich den Kriegsdienst als solchen in Frage zu stellen und grundsätzlich bereit sind, den Dienst fortzusetzen. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG-Urteil 2 WD 12.04) hat in seiner Entscheidung vom 21.06.2005 festgestellt, dass die Gehorsamspflicht eines Soldaten durch das Grundrecht auf Gewissensfreiheit begrenzt wird. Trifft ein Soldat eine »geschützte Gewissensentscheidung«, hat er Anspruch auf eine »gewissensschonende Handlungsalternative«. Freiwillige Soldaten sollen mit dieser Regelung die Möglichkeit bekommen, ohne Bestrafung innerhalb der Truppe anderweitig eingesetzt zu werden. Gegen ihren Willen rekrutierte Totalverweigerer haben diese Möglichkeit nicht, denn jeder Einsatz in der Truppe wird von ihnen abgelehnt. Die einzige »gewissensschonende Handlungsalternative« wäre die sofortige Entlassung.

Erste Fälle von Totalverweigerung (TKDV) wurden in den 1970er Jahren bekannt. In den 1980er Jahren, der Hochzeit der Friedensbewegung, verweigerten jährlich mehr als hundert Wehrpflichtige total und in den 1990er Jahren wurden jährlich noch ungefähr 30 Fälle öffentlich. Aktuell gibt es nur noch Einzelfälle, die Unterstützung und die Öffentlichkeit suchen. Unter TKDV ist die konsequente Ablehnung und Verweigerung des Kriegsdienstes und aller damit verbundenen und daraus resultierenden Zwänge zu verstehen. In der BRD ist der Kriegsdienst durch die Wehrpflicht organisiert, und damit kann jeder männliche Staatsbürger zum Kriegsdienst zwangsverpflichtet werden. Die Motivationen für die TKDV sind unterschiedlich. Sie reichen von der ausschließlich religiösen Begründung, die sich auf ein absolutes Tötungsverbot beruft, über ethisch-moralische, politische, antimilitaristische bis hin zu anarchistischen Motiven, die dem Staat als Träger des Militärs grundsätzlich das Recht absprechen, über die individuelle Existenz und das Leben des Einzelnen bestimmen zu können.

In jüngster Zeit treten zwei Gründe in den Vordergrund. Durch den Umbau der Bundeswehr zur Interventionsarmee wird die Wehrpflicht an die Erfordernisse der Streitkräfte angepasst. Die Armee benötigt für ihre Auslandseinsätze weniger zwangsrekrutierte Amateure. Die Wehrpflicht muss nach dem Gleichheitsgrundsatz (Art 3 GG) des Grundgesetzes organisiert werden. Wenn aber der Bedarf der Truppe pro Jahr mit rund 60.000 Personen aus einen Gesamtpool von deutlich über 400.000 Wehrpflichtigen gedeckt werden kann, dann fühlen sich die wenigen Einberufenen zu Recht ungerecht behandelt. Daraus werden die aktuellen Motive für eine Totalverweigerung deutlich: einerseits die Kritik an der Transformation der Bundeswehr zur Interventionsstreitkraft und die damit verbundene Kriegsführung der BRD in Auslandseinsätzen, andererseits die schwindende Akzeptanz gegenüber der Wehrpflicht, die durch die Wehrungerechtigkeit als Lotteriespiel wahrgenommen wird.

Nach Art. 4 Abs. 3 Grundgesetz darf niemand gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst an der Waffe gezwungen werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes gibt es nur die Möglichkeit, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern. Die Verweigerung des waffenlosen Kriegsdienstes ist juristisch nicht möglich. Staatlich anerkannte Kriegsdienstverweigerer unterliegen, genau wie Soldaten, der Kriegsdienstpflicht und müssen diese durch die Ableistung des Ersatzdienstes erfüllen. Eine grundsätzliche Verweigerung ist nach geltendem Recht nicht möglich. Die Verweigerung der Zwangsdienste wird als Straftatbestand gewertet und kann als Fahnenflucht bzw. Dienstflucht mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden. Weitere Straftatbestände wie eigenmächtige Abwesenheit und Gehorsamsverweigerung bzw. Nichtbefolgen von Anordnungen, die jeweils mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden können, werden ebenfalls regelmäßig verfolgt.

Ziviler Ungehorsam im Rahmen der Wehrpflicht

Die Wehrpflicht beschränkt sich nicht auf die Einberufung zum Wehr- oder Zivildienst. Der Einberufung geht ein bürokratischer Ablauf voraus, den manche Wehrpflichtige und potentielle Totalverweigerer boykottieren. Er beginnt damit, dass die potentiellen Wehrpflichtigen bereits als Jugendliche im Alter von 17 Jahren durch das Landeseinwohnermeldeamt erfasst werden. Daran schließt sich der erste Kontakt durch die Kreiswehrersatzämter (KWEA) mit dem »Fragebogen zur Musterungsvorbereitung« und der schriftlichen »Meldung von Erkrankungen« an.

Bei der Erfassung sollen die vorhandenen Daten der Meldeämter durch die zukünftigen Wehrpflichtigen schriftlich mitgeteilt bzw. bestätigt werden. Die Daten werden gleichzeitig an die KWEA weitergeleitet. Die Informationen durch den Rücklauf des Fragebogens zur Musterungsvorbereitung sollen der Behörde die weitere Einberufungsplanung erleichtern. Die schriftliche Meldung von Erkrankungen soll die Musterung vereinfachen und beschleunigen. Wehrpflichtige können die Erfassung nicht verhindern, sie können lediglich die Korrektur falscher Daten verweigern. Wird das Ausfüllen der Fragebögen verweigert, kann das mit einem Bußgeld bestraft werden, und die polizeiliche Vorführung ins KWEA ist möglich.

Nach der Erfassung werden die Wehrpflichtigen zur Musterung ins KWEA geladen. Bei der Musterung werden die Wehrpflichtigen auf ihre körperliche Kriegsverwendungsfähigkeit militärmedizinisch untersucht. Wehrpflichtige können die Musterung verweigern, indem sie der Ladung nicht folgen. Auch hier stehen als Sanktionsmöglichkeiten Bußgelder und die polizeiliche Vorführung bereit. Vor Ort kann die Untersuchung verweigert werden, was zu einer »Musterung nach Augenschein« führt. Das heißt: Nur die Tatsache, dass der Wehrpflichtige im KWEA von einem Musterungsarzt gesehen wurde, entscheidet über seine Kriegsverwendungsfähigkeit. Seit 2005 besteht die Möglichkeit, Musterungsunwillige, bei denen eine polizeiliche Vorführung nicht möglich ist, nach Aktenlage - also ohne jede medizinische Grundlage - tauglich zu mustern. Diese Gesetzesverschärfung deutet darauf hin, dass die Bereitschaft der Wehrpflichtigen, sich mustern zu lassen, in den vergangenen Jahren gesunken ist. Mit rechtskräftiger Musterung ist die Einberufung möglich.

Nach der Musterung wird die Eignungs- und Verwendungsfeststellung (EUF) im KWEA mit Hilfe des militärpsychologischen Dienstes durchgeführt. Die EUF dient dazu, besondere Fähigkeiten und Schwächen zu erkennen, um die Wehrpflichtigen militärisch am sinnvollsten einsetzen zu können. Nach der EUF sollen die Wehrpflichtigen nach ihrer Bereitschaft für Auslandseinsätze befragt werden. Auch die EUF kann verweigert werden. Das ist ebenfalls bußgeldbewehrt, und die polizeiliche Vorführung ist möglich.

Totalverweigerung

Ab dem Einberufungstermin zum Wehr- bzw. Zivildienst verlässt der betroffene Wehrpflichtige den Sanktionsrahmen der Ordnungswidrigkeiten und betritt den juristischen Raum der strafbaren Handlung.

Bei der Bundeswehr

Mit der Einberufung zur Bundeswehr steht jeder Totalverweigerer vor der Entscheidung, ob er der Einberufung Folge leistet und in der Kaserne alle Befehle verweigert (Gehorsamsverweigerung) oder ob er der Einberufung überhaupt nicht folgt (eigenmächtige Abwesenheit, Fahnenflucht). Im zweiten Fall muss er mit einer »Zuführung« durch Polizei oder Feldjäger rechnen. Manche Totalverweigerer stellen sich selbst, um Ort und Zeitpunkt des Zugriffs durch Polizei und Feldjäger zu beeinflussen und öffentlichkeitswirksam vorzubereiten.

Disziplinierung: Selbstjustiz der Militärs

Gehorsamsverweigerung bei der Bundeswehr kann mit Disziplinararrest bis zu 21 Tagen am Stück bestraft werden. Die etwa 10 m² große Arrestzelle ist normalerweise mit einem Stuhl, Tisch, WC und Pritsche ausgestattet. Die Pritsche soll tagsüber hochgeklappt sein. Hoch gelegene vergitterte Milchglasfenster verhindern den Außenkontakt. Der Umgang des Wachpersonals ist auch mit den vorhandenen Regelungen weitestgehend willkürlich und unterscheidet sich von Bewacher zu Bewacher. Dem Arrestierten steht täglich maximal eine Stunde bewachter Hofgang zu. Einmal wöchentlich darf er für höchstens eine Stunde Besuch empfangen.

Die willkürliche Ausgestaltung der Umstände - mal »lockerer« Arrest, mal strenge Auslegung - hat sich als effektives Mittel starker Zermürbung bewährt. Unsicherheiten gelten in der Psychologie als einer der intensivsten Stressfaktoren. Isolation ist als Form des Reizentzugs dazu geeignet, die Wahrnehmung und den Wirklichkeitsbezug herabzusetzen oder zu verschieben. Solche Bedingungen können als Misshandlung oder unter Umständen als Folter bezeichnet werden.

Verglichen mit den Bedingungen in anderen Haftanstalten ist der Bundeswehrarrest deutlich schärfer. Totalverweigerer werden mehrmals hintereinander mit Disziplinararresten bestraft, um Gehorsam zu erzwingen. Das führt zu Gesamtarrestzeiten von üblicherweise drei mal drei Wochen, teilweise auch noch mehr. Der Negativrekord liegt bei insgesamt mehr als 100 Tagen Arrest. Unter solchen Bedingungen können, in Extremfällen Anzeichen vorübergehender Haftpsychosen auftreten. Die Bundeswehr versucht, das Mittel des Disziplinararrests dazu zu nutzen, um den Willen des Totalverweigerers zu brechen.

Entweder nach dem Willen der Vorgesetzten oder nach der Entscheidung über einen Arrestantrag durch das zuständige Truppendienstgericht oder auf Weisung des Kriegsministeriums wird die Strafaktion, die der Bundeswehrarrest gegenüber Totalverweigerern darstellt, fortgesetzt oder beendet. Der Totalverweigerer hat die Möglichkeit, gegen die Disziplinarmaßnahme Beschwerde einzulegen. Die Beschwerde wird jedoch dann von dem selben Verantwortlichen im Truppendienstgericht bearbeitet, der der Disziplinarmaßnahme zugestimmt hat.

Es folgt nach den Disziplinarmaßnahmen ein Dienstverbot und/oder die Entlassung aus der Truppe. Da der Totalverweigerer während seines Zwangsaufenthalts in der Armee durch sein widerständiges Verhalten nach den geltenden Gesetzen straffällig geworden ist, schließt sich ein Strafprozess an, bei dem es bisher immer zu Verurteilungen kam. Vereinzelte erstinstanzliche Freisprüche wurden in der Berufungsinstanz aufgehoben. Durch juristische Interpretationsspielräume kam es in der Vergangenheit zu Mehrfacheinberufungen von Totalverweigerern und daraus resultierend zu Doppelbestrafungen.

Im Zivildienst

Grund für die TKDV im Zivildienst ist die persönliche Erkenntnis, dass der Zivildienst als Ersatzdienst ebenfalls Kriegsdienst ist. Als anderer Grund kann angenommen werden, dass man der zusätzlichen Bestrafung durch die Bundeswehr, dem Disziplinararrest, ausweicht. Bei Dienstantritt im Zivildienst und Gehorsamsverweigerung (§ 54 ZDG »Nichtbefolgen von Anordnungen«) drohen erstens Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren in Analogie zum Wehrstrafgesetz. Darüber hinaus gibt es auch disziplinarische Maßnahmen wie Soldentzug (bis zu vier Monatssolde) und Stubenarrest bis zu 30 Tagen, der jedoch nicht mit den Bedingungen in der Bundeswehr vergleichbar ist. In der Regel kommt es »nur« zur strafrechtlichen Verfolgung und Verurteilung wegen Dienstflucht. Auch durch das Bundesamt für den Zivildienst (BAZ) kann es zur erneuten Einberufung kommen, insbesondere dann, wenn dem Totalverweigerer in der Urteilsbegründung keine Gewissensentscheidung gegen den Zivildienst attestiert wurde. In diesen Fällen kann es auch zu einer Doppelbestrafung durch die Gerichte kommen.

Soziale Kontrolle

Weitere Probleme neben der Kriminalisierung bestehen im unterschiedlichen Grad der gesellschaftlichen Ächtung: jahrelanger Stress mit Behörden und juristische Auseinandersetzungen, Probleme mit Freunden, Eltern oder Arbeitgebern.

Nach den Verfahren, die Zeit und Geld rauben, droht eine erneute Heranziehung zum Zivil- bzw. Wehrdienst, die ein neues Verfahren mit erneuter Bestrafung zur Folge haben kann.

Gesellschaftliche Ausgrenzung oder Ächtung zum Beispiel durch Politiker, faktische Berufsverbote bis hin zur Psychiatrisierung (nicht selten wird Totalverweigerern die »geistige Reife« abgesprochen oder »geistige Verwirrtheit« unterstellt) sind Aspekte, die selten betrachtet werden.

Aktuelle Praxis in der Truppe

Nach dreieinhalbjähriger Unterbrechung wurden 2007 wieder Totalverweigerer zur Bundeswehr einberufen. Die von uns begleiteten Totalverweigerer Jonas G. und Alexander H. wurden nach zweimal verhängten Arreststrafen entlassen: Jonas G., der zum April 2007 einberufen war, wurde nach 42 Tagen Arrest auf Weisung des »Bundesministers der Verteidigung« entlassen. Bei Alexander H., einberufen zum 1. Juli 2007, hat das zuständige Truppendienstgericht Süd nach 25 Tagen Arrest (7 und 18 Tage) einen Antrag auf Verhängung eines dritten Arrestes abgelehnt.

Moritz K., zum Oktober 2007 einberufen, wurde während des laufenden vierten Arrestes überraschend am 11. Dezember 2007 aus der Bundeswehr entlassen. Die Entlassung erfolgte „mit Zustimmung des Verteidigungsministers“. Bis dahin musste er 55 Arresttage absitzen. Nach seiner Einberufung trat er den Kriegsdienst nicht an. Feldjäger führten ihn Mitte Oktober der Truppe zu. Insgesamt wurden vier so genannte Disziplinararreste in Höhe von 7, 14, 20 und 21 Tagen gegen ihn verhängt.

Aus der Entscheidung des Kommandeurs, Division Luftbewegliche Operationen, auf Weisung des Bundesministers der Verteidigung vom 29. Juni 2007 gegen Jonas G.: „Militärische Ordnung ist ein entscheidendes Element für den Erhalt der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr (...) Eine Gefahr für die militärische Ordnung liegt u.a. vor, wenn das pflichtwidrige Verhalten des Soldaten die Gefahr der Wiederholung und Nachahmung in sich birgt. In Ihrem Falle sehe ich eine Wiederholungs- und Nachahmungsgefahr, da ihre Totalverweigerung anderen Soldaten nicht verborgen bleibt, (...) so liegt nach der Rechtsprechung eine ernstliche Gefahr für die militärische Ordnung vor, die eine sofortige Entlassung rechtfertigt.“

Sinngemäß gleiche Argumente können genauso zur weiteren Arrestierung und nicht zur Entlassung führen, wie der Beschwerdebeschluss des Truppendienstgerichts Nord gegen Malik S. zeigt. Beschluss des Truppendienstgericht Nord vom 10.08.2002, Disziplinarbeschwerdesache gegen Malik S.: (...) „hätte nämlich ohne die Anordnung (gemeint ist die sofortige Festnahme und Arrestierung, d. V.) die Gefahr bestanden, dass der Beschwerdeführer auf unbestimmte Zeit vor den Angehörigen des Regiments weiter beharrlich an seinem Fehlverhalten festhält, (...) Aber auch die Verhängung von weiteren 21 Tagen Disziplinararrest selbst sind nicht zu beanstanden. (...) Allein die Tatsache, dass der Beschwerdeführer durch den bisher verbüßten Disziplinararrest (14, 21 und 21 Tage Arrest, d. V.) noch nicht zur Einsicht gekommen ist, lässt sich nicht schließen, dass eine weitere Einwirkung aussichtslos ist.“ Die Beschwerde von Malik S. richtete sich gegen den vierten Arrest mit 21 Tagen Dauer. Nach 80 Tagen Arrest wurde ein Dienstverbot ausgesprochen.

Die wenigen bekannten Fälle lassen eine empirische Aussage nicht zu. Deutlich wird aber bei einem Vergleich von Disziplinarmaßnahmen und deren Begründungen, dass der Willkür Tür und Tor offen stehen. Seit langem wird von Totalverweigerern und Unterstützergruppen darauf hingewiesen, dass Disziplinararrest gegen Totalverweigerer ein ungeeignetes Mittel ist und nur als Bestrafung zusätzlich zur gerichtlichen Verurteilung gelten kann. Da für Totalverweigerer im Gegensatz zu Soldaten in der Truppe keine gewissenschonende Handlungsalternative möglich ist, der Disziplinararrest keinen Strafcharakter haben darf, bleibt nur die sofortige Entlassung aus der Bundeswehr ohne vorherige Arrestierung.

Gerichtsurteile

In den aktuellen Fällen kam es im Strafverfahren nicht zur Verhängung einer Freiheitsstrafe, sondern von Arbeitsstunden, wobei die Staatsanwaltschaft gegen das Urteil gegen Alexander H. in die Berufung ging, es ist somit nicht rechtskräftig.

Sowohl Jonas G. als auch Alexander H. wurden nach Jugendstrafrecht verurteilt. Nach Erwachsenenstrafrecht wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Freiheitsstrafe verhängt worden. Der Prozess gegen Moritz K. steht noch aus.

Solidarität und Unterstützung

Totalverweigerer verdienen Solidarität und Unterstützung, da ihr ziviler Ungehorsam friedenpolitische Relevanz hat. Eine Solidarisierung vor Ort, dort wo der Totalverweigerer seiner Freiheit durch Arrest beraubt wird, ist wichtig und nötig. Persönliche Briefe an den TKDVer, Protestbriefe an die Kaserne, die Vorgesetzten und die Verantwortlichen in Verwaltung und Politik, machen deutlich, der Gefangene ist nicht allein, sein Anliegen wird geteilt und unterstützt. Besuche, Kundgebungen und Flugblätter vor der Kaserne sind praktische Beispiele für Solidaritätsarbeit. Briefe an Politiker, Petitionen an den Wehrbeauftragen und den Petitionsausschuss, alleine schon, um auf die unmenschliche Behandlung durch die Arrestierung aufmerksam zu machen, können unterstützen, sofern der TKDVer mit diesen Aktivitäten einverstanden ist. Öffentlichkeitsarbeit im allgemeinen und speziell auf regionaler Ebene kann eine Diskussion im Sinne der Motive für die TKDV bewirken und einen Schutz vor Übergriffen gegen den Totalverweigerer herstellen.

weitere Infos: http://www.kampagne.de/Wehrpflichtinfos/Totalverweigerung.php

Michael Behrendt ist Mitarbeiter der Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung e.V. (www.asfrab.de)

Situationsbezogene Kriegsdienstverweigerung und Gehorsamsverweigerung in der Bundeswehr

von Jürgen Rose

„Die Erfahrung aus Vietnam hat gelehrt, dass Widerstand innerhalb der Armee eine mächtige Kraft ist, um imperiale Ambitionen zu begrenzen und einen illegitimen Krieg zu beenden.“

David Cortright (2005): Soldiers in Revolt: GI Resistance During the Vietnam War. Chicago, S.279.

In Zeiten des Global War on Terror, des Präventivkrieges, der Völkerrechtsverbrechen, Folterexzesse und der Aushöhlung fundamentaler Menschen- und Bürgerrechte mag die allzu oft menschenverachtende und mörderische Realität militärischer Gewaltanwendung den Verdacht erwecken, bei dem Terminus »Soldat« handle es sich um ein Akronym, das ausbuchstabiert bedeutet: »Soll ohne langes Denken alles tun«. Zusätzlich Vorschub leistet einer solchen Perzeption, dass gerade die in der NATO verbündeten westlichen Demokratien, darunter auch die Bundesrepublik Deutschland, ihre Streitkräfte immer häufiger für Einsätze missbrauchen, die durch völkerrechtliche Mandate entweder nicht hinreichend oder gar nicht abgedeckt sind. Kaum zu überschätzende Relevanz besitzen darüber hinaus die seit der Endphase des Kalten Krieges von der militärischen Führung der Bundeswehr systematisch vorangetriebenen Bestrebungen zur Etablierung eines »neotraditionalistischen Kämpfer-Kultes«, der die Kriegstüchtigkeit der Bundeswehr als Maß aller Dinge definierte. Im Kern erhebt diese Position die Vorstellung vom Soldaten als eines kriegsnah ausgebildeten, allzeit bereiten, selbstlos dienenden und unbedingt gehorchenden Kämpfertypen zur fraglos zu akzeptierenden Norm.1 Nachgerade idealtypisch hat der (immer noch) amtierende Inspekteur des deutschen Heeres, Generalmajor Hans-Otto Budde, das unter den Vorzeichen der aktuellen Globalisierungskriege präferierte Soldatenbild auf den Punkt gebracht, als er ausführte: „Wir brauchen den archaischen Kämpfer und den, der den High-Tech-Krieg führen kann.“ 2

Noch viel unverblümter verdeutlichte ein Kampfgefährte Buddes aus gemeinsamen Fallschirmjägertagen, was dieser wirklich meinte: „Diesen Typus müssen wir uns wohl vorstellen als einen Kolonialkrieger, der fern der Heimat bei dieser Existenz in Gefahr steht, nach eigenen Gesetzen zu handeln.“ Denn, so fährt er fort: „Eine ‚neue Zeit" in der Militärstrategie und Taktik verlangt natürlich einen Soldatentypen sui generis: Der ‚Staatsbürger in Uniform" ... hat ausgedient.“ 3

Ungeachtet solcher für eine demokratische Streitkräftekultur verheerenden Parolen aus reaktionären Generalskreisen hat - die zeitweilig durchaus intensiv geführten öffentlichen Debatten zeigen dies4 - nicht nur in der Zivilgesellschaft das Problembewusstsein im Hinblick auf die völker- und verfassungsrechtliche Legitimität der in jüngerer Zeit vom Zaun gebrochenen Interventions- und Präventivkriege zugenommen. Wie die erkleckliche Anzahl von Gehorsamsverweigerungen in den Reihen diverser Interventions- und Besatzungsarmeen illustriert, ist auch unter den »Handwerkern des Krieges«, welche die von der politischen Führung erteilten Kampfaufträge ausführen sollen, die Sensibilität dafür gewachsen, dass sowohl die völkerrechtliche Ächtung des Krieges schlechthin als auch dessen in jüngster Zeit nochmals bekräftigte Kriminalisierung im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofes gravierende Implikationen sowohl für die rechtlichen als auch für die moralischen Dimensionen soldatischen Handelns bergen.

Die fundamentale Frage, die jeder und jede sich in diesem Spannungsfeld von Gehorsamspflicht, Rechtstreue und Gewissensfreiheit bewegende Militärangehörige individuell für sich beantworten muss, lautet: Wie darf oder soll oder muss ich als prinzipiell dem Primat der Politik unterworfener Soldat handeln, wenn meine politische Leitung und militärische Führung mich in einen Krieg befiehlt, in dem unvermeidlich Menschen getötet und verwundet werden, wenn es sich dabei möglicherweise oder gar offensichtlich um einen Angriffskrieg handelt - stellt letzterer doch ein völkerrechtliches Verbrechen dar.

Für den betroffenen Militärangehörigen existiert keine Möglichkeit, sich dieser existentiell bedeutsamen Problematik zu entziehen. Denn spätestens seit dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal nach dem Zweiten Weltkrieg entfällt der Rekurs auf die übergeordnete politische und militärische Autorität als Exkulpation: Dort wurde nämlich verbindlich festgeschrieben, dass kein Soldat ungesetzliche Befehle ausführen darf. Der rechts- und moralphilosophische Begründungsnexus hierfür basiert in Anlehnung an Immanuel Kant auf der Erkenntnis, dass für jegliches menschliche Handeln das je eigene Gewissen den Maßstab bildet und setzt. Für den Umgang mit der soldatischen Verantwortung impliziert dies zwingend die Nichtigkeit des Rückzugs auf erhaltene Befehle zur Legitimation irgendwelchen soldatischen Handelns. Indem ein Soldat einen Befehl ausführt, macht er einen fremden Willen zu seinem eigenen und bevor er diesen seinen eigenen Willen durch sein Handeln realisiert, muss er dessen Legitimität an seinem eigenen Gewissen prüfen.

Die in der Tradition der Aufklärung verwurzelte moderne Rechtsphilosophie fand ihren Niederschlag in den sogenannten Nürnberger Prinzipien. Letztere flossen in der Folge zum einen in unterschiedliche nationale wehrrechtliche Gesetzeswerke ein5; zum anderen wurden sie auch auf völkerrechtlicher Ebene bekräftigt. So wird im »Verhaltenskodex zu politisch-militärischen Aspekten der Sicherheit«, den die Staats- und Regierungschefs der Teilnehmerstaaten der KSZE im Dezember 1994 in Budapest vereinbarten, stipuliert: „30. Jeder Teilnehmerstaat wird die Angehörigen seiner Streitkräfte mit dem humanitären Völkerrecht und den geltenden Regeln, Übereinkommen und Verpflichtungen für bewaffnete Konflikte vertraut machen und gewährleisten, dass sich die Angehörigen der Streitkräfte der Tatsache bewusst sind, dass sie nach dem innerstaatlichen und dem Völkerrecht für ihre Handlungen individuell verantwortlich sind. 31. Die Teilnehmerstaaten werden gewährleisten, dass die mit Befehlsgewalt ausgestatteten Angehörigen der Streitkräfte diese im Einklang mit dem einschlägigen innerstaatlichen Recht und dem Völkerrecht ausüben und dass ihnen bewusst gemacht wird, dass sie nach diesem Recht für die unrechtmäßige Ausübung ihrer Befehlsgewalt individuell zur Verantwortung gezogen werden können und dass Befehle, die gegen das innerstaatliche Recht und das Völkerrecht verstoßen, nicht erteilt werden. Die Verantwortung der Vorgesetzten entbindet die Untergebenen nicht von ihrer individuellen Verantwortung.“6

Dieser über alle Stufen der militärischen Hierarchie hinweg für jeden Soldaten - gleich ob Vorgesetzter oder Untergebener - geltende Rechtssatz individueller Verantwortlichkeit für sein Tun und Lassen wurde und wird von hochrangigen militärischen Führern immer wieder anerkannt und bekräftigt. So postulierte der vormalige Generalinspekteur der Bundeswehr, General Klaus Naumann, gar eine soldatische Pflicht zur Gehorsamsverweigerung, als er in seinem Generalinspekteursbrief 1/1994 ausführte: „In unserem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit und Ethik stehen dem Gehorsamsanspruch des Dienstherrn das Recht und die Pflicht zur Gehorsamsverweigerung gegenüber, wo eben diese Rechtsstaatlichkeit und Sittlichkeit mit dem militärischen Auftrag nicht mehr in Einklang stehen, der Soldat damit außerhalb der freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung gestellt würde.“7

Diese im Hinblick auf den klassischen Auftrag zur Landes- und Bündnisverteidigung formulierten und zudem primär auf die von der Bundeswehr beschworene Tradition der militärischen Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 gegen die Hitlertyrannei abzielenden Überlegungen mochten zunächst noch rein theoretisch und abstrakt erscheinen. Aber wenn sowohl die Ausübung der Befehlsgewalt als auch das bloße Ausführen empfangener Befehle strikt an das geltende innerstaatliche Recht einerseits, das Völkerrecht andererseits gebunden sein sollten, war a priori nicht auszuschließen, dass Soldaten oder Soldatinnen sich von Fall zu Fall weigerten, an militärischen Aktionen teilzunehmen, wenn diese erkennbar völkerrechtswidrig oder auch nur völkerrechtlich zweifelhaft und umstritten waren. Prompt gewann denn auch diese Problematik nach dem Ende des Kalten Krieges und seit die Bundeswehr Deutschland vorgeblich auch auf dem Balkan oder gar am Hindukusch verteidigt, eine zunächst nicht erahnte Brisanz, als nämlich einzelne Bundeswehrsoldaten beschlossen, statt bedenkenlos Befehle von Vorgesetzten auszuführen, die sie für unvereinbar mit Grundgesetz- und Völkerrechtsnormen hielten, lieber ihrem Gewissen und Diensteid zu folgen. All jene Kriegsdienstverweigerer im wahrsten Sinne des Wortes handelten unter Inkaufnahme hoher persönlicher Risiken - immerhin stellen Gehorsamsverweigerung und Ungehorsam nach dem deutschen Wehrstrafgesetz mit Freiheitsentzug bewehrte Straftaten dar.

So weigerte sich bereits 1999 während des völkerrechtswidrigen Luftkriegs der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien ein gutes Dutzend Luftwaffenpiloten, mit ihren ECR-TORNADOs die ihnen befohlenen Luftangriffsmissionen zur »Unterdrückung der gegnerischen Luftabwehr«, wie es im einschlägigen Militärjargon heißt, zu fliegen. Der Vorgang blieb damals weitgehend unbeachtet, da es mit den Luftwaffenpiloten zu einer stillschweigenden Einigung kam - hauptsächlich wohl deshalb, weil der Bundesregierung an einem medienwirksamen Prozess durch alle Instanzen bis möglicherweise vor das Bundesverfassungsgericht oder den Europäischen Gerichtshof nicht gelegen sein konnte. In der Folgezeit indes sollte die Bundeswehrführung weitaus weniger Behutsamkeit im Umgang mit widerständigem Verhalten von Soldatinnen und Soldaten an den Tag legen, wie einige signifikante Fälle demonstrieren, die im Hinblick auf ihre rechtliche Bewertung und fallweise Sanktionierung besondere Relevanz besitzen und daher im folgenden näher beleuchtet werden sollen. Der erste davon betrifft den Bundeswehrmajor Florian Pfaff, der zweite den Autor selbst und der dritte die Sanitätssoldatin im Dienstgrad eines Hauptfeldwebels Christiane Ernst-Zettl. Verbrieft sind darüber hinaus mehrere Fälle von anerkannten und abgelehnten Kriegsdienstverweigerungen von aktiven und ehemaligen Soldaten und Soldatinnen bis hinauf in die Offiziersränge, die ausdrücklich die kriegerischen Missionen der Bundeswehr als Begründung für ihre Gewissensentscheidungen benennen.

Major Florian Pfaff

Soweit bekannt, handelt es sich bei dem Bundeswehrmajor Florian Pfaff8 um den einzigen Soldaten in den gesamten deutschen Streitkräften, der sich Befehlen widersetzte, durch deren Ausführung er sich wissentlich an dem von den USA und Großbritannien angezettelten Angriffskrieg gegen den Irak - der renommierte deutsche Rechtsphilosoph Reinhard Merkel hatte diesen als „völkerrechtliches Verbrechen“9 gebrandmarkt - beteiligt hätte. Konkret hatte Major Pfaff den Auftrag, an der Entwicklung eines Software-Programms zu arbeiten, von dem weder er selbst noch sein von ihm dahingehend befragter Vorgesetzter ausschließen konnten, dass dieses direkt oder indirekt auch zur logistischen und informationstechnischen Unterstützung des Irak-Krieges hätte Verwendung finden können. Nachdem die Kampfhandlungen im Irak begonnen hatten, erklärte der Major seinen Vorgesetzten klipp und klar, er werde keinerlei Befehlen nachkommen, durch deren Ausführung er sich der Mitwirkung an der „mörderischen Besetzung des Irak durch die USA (und andere)“10 schuldig machen würde.

Umgehend wurde gegen den Major im April 2003 ein gerichtliches Disziplinarverfahren eingeleitet, in dessen Verlauf er am 9. Februar 2004 durch die 1. Kammer des Truppendienstgerichts Nord zum Hauptmann degradiert wurde. Gegen diese erstinstanzliche Entscheidung legten sowohl Anklage als auch Verteidigung Berufung beim Bundesverwaltungsgericht in Leipzig ein. Fast anderthalb Jahre später, am 21. Juni 2005, hob der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts das Urteil der 1. Kammer des Truppendienstgerichts Nord auf, wies die Berufung des Wehrdisziplinaranwalts als unbegründet zurück und sprach den Major Florian Pfaff mit einer durchaus spektakulär zu nennenden Urteilsbegründung11 von einem der schwerwiegendsten Vorwürfe frei, die gegen einen Soldaten erhoben werden können: dem der Gehorsamsverweigerung nämlich.

Von Beobachtern mit einer gewissen Spannung erwartet worden war insbesondere die völkerrechtliche Beurteilung des Irak-Kriegs durch die Bundesverwaltungsrichter. All jene Beobachter, die erhofft hatten, das Bundesverwaltungsgericht würde den Irak-Krieg eindeutig als völkerrechts- und verfassungswidrig brandmarken und dem Soldaten Pfaff bescheinigen, er wäre zur Gehorsamsverweigerung gemäß Soldatengesetz (§ 11) und Wehrstrafgesetz (§ 5) verpflichtet gewesen, mochten vielleicht enttäuscht worden sein. Dazu bestand indes kein Anlass. Denn mit einer solchen Entscheidung hätte das Gericht lediglich die bestehende Rechtslage bestätigt und den Handlungsspielraum von Soldaten zur Gehorsamsverweigerung einzig auf die Fälle eingeschränkt, wo die Völkerrechtswidrigkeit eines Krieges für jedermann eindeutig erkennbar und unumstritten wäre. Mit ihrer Entscheidung aber erweiterten die Richter den Ermessensspielraum diesbezüglich erheblich, nämlich bereits auf all die Fälle, wo auch nur Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer militärischen Intervention bestehen (S.72). Wenn in einem solchen Fall künftig ein deutscher Soldat in einen Gewissenskonflikt gerät und diesen ernsthaft und glaubwürdig darlegen kann, braucht er Befehlen nicht zu gehorchen, durch deren Ausführung er in jene Aktionen innerhalb rechtlicher Grauzonen verwickelt würde. Mit dieser Rechtsprechung nahm das Bundesverwaltungsgericht im Hinblick auf die Legalität bewaffneter Einsätze der Bundeswehr de facto eine Beweislastumkehr vor: Nicht der Soldat muss beweisen, dass seine Gehorsamsverweigerung rechtlich geboten war, sondern zuallererst muss die Bundesregierung den von ihr in den Kampf entsandten »Staatsbürgern in Uniform« darlegen, dass der diesen erteilte Auftrag den Normen des Völkerrechts und des Grundgesetzes entspricht (S.116). Dabei legte das Gericht die rechtlichen Hürden für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte sehr hoch, indem es nämlich die Zulässigkeit militärischer Gewaltanwendung strikt auf die in der UN-Charta vorgesehenen Fälle (Kap. VII und Art. 51) begrenzte: „Ein Staat, der sich - aus welchen Gründen auch immer - ohne einen solchen Rechtfertigungsgrund über das völkerrechtliche Gewaltverbot der UN-Charta hinwegsetzt und zur militärischen Gewalt greift, handelt völkerrechtswidrig. Er begeht eine militärische Aggression.“ (S.73) Und, so das Gericht weiter im Hinblick auf die deutschen Unterstützungsleistungen für den angloamerikanischen Angriffskrieg am Golf: „Eine Beihilfe zu einem völkerrechtlichen Delikt ist selbst ein völkerrechtliches Delikt.“ (S.81)

Für die Bundeswehr als Parlamentsarmee sind die Implikationen des Leipziger Urteilsspruches höchst bedeutsam, folgt daraus doch: Der Primat der Politik gilt lediglich innerhalb der Grenzen von Recht und Gesetz, jenseits davon herrscht der Primat des Gewissens. Denn, so das Bundesverwaltungsgericht: „[I]m Konflikt zwischen Gewissen und Rechtspflicht [ist] die Freiheit des Gewissens ‚unverletzlich" ... .“ (S.106) Nicht zuletzt hat somit das höchste Verwaltungsgericht der Bundesrepublik Deutschland durch sein Urteil die eingangs erwähnte Maxime des ehemaligen Generalinspekteurs Klaus Naumann bekräftigt.

Oberstleutnant Jürgen Rose

Da die Bundeswehrführung alles unternahm, um das Pfaff-Urteil totzuschweigen und in seiner Bedeutung auf einen skurrilen Einzelfall herunterzuspielen12, blieb die Nagelprobe auf die Tragfähigkeit dieser epochalen Jurisdiktion noch zu erbringen. Der Zeitpunkt hierfür war am 15. März 2007 gekommen, als der Autor dieses Beitrages seinem Disziplinarvorgesetzten im Wehrbereichskommando IV in München einen »Dienstlichen Antrag« vorlegte, in dem es hieß: „Im Hinblick auf die von der Bundesregierung getroffene Entscheidung, Waffensysteme TORNADO der Bundesluftwaffe zum Einsatz nach Afghanistan zu entsenden (Antrag der Bundesregierung vom 8.2.2007 - BT-Drs. 16/4298), den daraufhin am 9. März 2007 erfolgten Zustimmungsbeschluss des Deutschen Bundestages sowie die mittlerweile ergangene Befehlsgebung des Streitkräfteunterstützungskommandos zur Umsetzung dieser Entscheidung erkläre ich hiermit, dass ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren kann, den Einsatz von TORNADO-Waffensystemen in Afghanistan in irgendeiner Form zu unterstützen, da meiner Auffassung nach nicht auszuschließen ist, dass ich hierdurch kraft aktiven eigenen Handelns zu einem Bundeswehreinsatz beitrage, gegen den gravierende verfassungsrechtliche, völkerrechtliche, strafrechtliche sowie völkerstrafrechtliche Bedenken bestehen. Zugleich beantrage ich hiermit, auch von allen weiteren Aufträgen, die im Zusammenhang mit der «Operation Enduring Freedom» im allgemeinen und mit der Entsendung der Waffensysteme TORNADO nach Afghanistan im besonderen stehen, entbunden zu werden.“13

Vorausgegangen war diesem Antrag eine nahezu ein Jahr zuvor abgegebene »Dienstliche Erklärung«, in der unter anderem stand: „In Anerkennung des Primats der Politik und verpflichtet meinem Eid, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen sowie Recht und Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen, erkläre ich hiermit, dass ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren kann, Befehle auszuführen, die gegen das Völkerrecht oder das deutsche Recht verstoßen. Ich berufe mich dabei auf Artikel 4, Absatz 1 des Grundgesetzes sowie auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts Leipzig zur Gewissensfreiheit von Soldaten vom 21. Juni 2005 (BVerwG 2 WD 12.04).“14Diese Erklärung war unbeanstandet zur Personalakte genommen worden.

Die Weigerung, zur logistischen Unterstützung des TORNADO-Einsatzes in Afghanistan beizutragen - konkret ging es um die Sicherstellung der Versorgung mit Flugbetriebskraftstoff auf dem Einsatzflugplatz in Mazar-i-Sharif - war noch am Abend desselben Tages Gegenstand der Berichterstattung im ARD-Fernsehmagazin PANORAMA, wurde tags darauf in einer Vielzahl von Radiosendern verbreitet und stand in fast sämtlichen Zeitungen der Republik zu lesen. Nicht zuletzt aufgrund der ungeahnten Publizität der Angelegenheit sowie eines durch die Bundestagsabgeordneten Willy Wimmer (CDU) und Peter Gauweiler (CSU) beim Bundesverfassungsgericht angestrengten Organstreitverfahrens gegen den TORNADO-Einsatz entschied die zuständige militärische Führung umgehend, den Antragsteller fortan »gewissenschonend« in einer anderen Abteilung seiner Dienststelle einzusetzen, ganz so wie dies im einschlägigen Gewissensfreiheitsurteil des Leipziger Bundesverwaltungsgerichtes normiert worden war. Mit einer gewichtigen Einschränkung freilich, denn in seinem schriftlichen Bescheid führte der zuständige Disziplinarvorgesetzte aus: „Wie ich Ihnen im persönlichen Gespräch am 16. März 2007 mitgeteilt habe, handelt es sich bei dieser Entscheidung über Ihre neue Verwendung ausdrücklich nicht um die Anerkennung der in Ihrem Schreiben vom 15. März 2007 genannten Gründe. Darüber wird - gegebenenfalls auch im Zusammenhang mit einer möglichen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts - zu einem späteren Zeitpunkt entschieden.“15

Zwar wurde die Organklage der beiden Bundestagsabgeordneten vom Bundesverfassungsgericht kurz darauf aus formalen Gründen zurückgewiesen, doch brachte die Bundestagsfraktion der PDS/Die Linke die Angelegenheit erneut auf die Agenda, so dass eine höchstrichterliche Entscheidung unumgänglich wurde. Am 3. Juli 2007 wiesen die Karlsruher Verfassungsrichter die Klage mit einer in weiten Teilen als skandalös zu bewertenden Begründung ab. Geradezu ins Auge springen musste indessen, dass das Gericht in seiner Begründung, mit der es die Klage abwies, zwar einerseits eine Eloge auf die NATO und deren ISAF-Mission abgab, sich andererseits aber auffällig distanziert und einsilbig zu der in dem zentralasiatischen Land parallel stattfindenden »Operation Enduring Freedom« äußerte. Unverkennbar lässt dies darauf schließen, was das höchste deutsche Gericht von jenem »Kreuzzug gegen den Terror« hält, den US-Präsident George W. Bush ausgerufen hatte: nämlich rein gar nichts.

Nicht zuletzt diesem Umstand dürfte es zuzuschreiben sein, dass in Sachen »TORNADO-Verweigerung« über die bereits erwähnte Verfügung vom 16. März 2007 hinaus keine weitere offizielle Entscheidung über diesen Vorgang seitens vorgesetzter Dienststellen inklusive des Bundesministeriums der Verteidigung erfolgte. Einiges spricht demzufolge für die Annahme, dass seitdem im Berliner Bendlerblock in der Tat jene „Angst vor der Massenverweigerung“16 in der Armee grassiert, auf die der ehemalige Leiter des Planungsstabes im Verteidigungsministerium, Dr. Hans Rühle, etwas alarmistisch in seiner ansonsten eher nüchtern-illusionslose Analyse hinwies, wo er messerscharf die Implikationen des im Juni 2005 am Bundesverwaltungsgericht in Leipzig vom 2. Wehrdienstsenat gesprochenen Urteils zur Gewissensfreiheit von Soldaten herausarbeitet hatte. Empirisch unterfüttert wird diese These durch den Umstand, dass sich zum einen „bereits mehrere Dutzend Bundeswehrsoldaten, die ihre Aktivitäten in Afghanistan nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinbaren können, bei ihren Anwälten nach Möglichkeiten für eine anderweitige Verwendung innerhalb der Truppe erkundigt“17 haben und zum anderen auch beim »Arbeitskreis Darmstädter Signal«, als einer dessen Sprecher der Autor fungiert, entsprechende Anfragen eingingen.

Erneute und wiederum hochbrisante Aktualität dürfte die Option der Gehorsamsverweigerung unter den Rahmenbedingungen der weiterhin andauernden »Operation Enduring Freedom« im Hinblick auf die sogenannte »Quick Reaction Force« gewinnen, für die ab Juli 2008 zusätzlich mindestens 250 weitere SoldatInnen der Bundeswehr an den Hindukusch entsandt werden sollen. Zwar werden diese Kräfte dem »Regional Command North« der ISAF unterstellt und sollen auch primär für die vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mandatierte ISAF-Mission zum Einsatz kommen - aber eben nicht ausschließlich. Überall indes, wo deutsche SoldatInnen für den völkerrechts- und zugleich verfassungswidrigen »Global War on Terror« missbraucht werden sollen, sind der Gehorsamsverweigerung Tür und Tor weit geöffnet.

Hauptfeldwebel Christiane Ernst-Zettl

Der Fall der Sanitätssoldatin Christiane Ernst-Zettl betrifft nicht wie die Fälle zuvor das ius ad bellum, sondern das ius in bello, das Recht im Kriege, genauer gesagt: das humanitäre Völkerrecht. Letzteres zählen die Völkerrechtler zum sogenannten ius cogens, d. h. zum immer und überall zwingend einzuhaltenden Recht. Den Anlass für den Konflikt lieferte der bis heute andauernde völkerrechtswidrige Einsatz von Sanitätspersonal der Bundeswehr für Wach- und Sicherungsdienste, die sogenannte Lagersicherung, im Rahmen des Krieges in Afghanistan. Dabei geht es nicht um die Bewachung ausschließlich von Sanitätseinrichtungen, wie zum Beispiel eines Feldlazaretts, die völkerrechtlich durchaus zulässig ist, sondern um die umfassende militärische Absicherung der Garnisonen der multinationalen Streitkräfte. Hierfür wurden Sanitätssoldaten sogar am Maschinengewehr als Kämpfer eingesetzt, nachdem ihnen zuvor das Ablegen der Rotkreuzarmbinden befohlen worden war. Christiane Ernst-Zettl leistete als Hauptfeldwebel der deutschen Sanitätstruppe vom 24. Februar bis 27. April 2005 Dienst in Afghanistan. Eingesetzt war sie in der Klinikkompanie des Sanitätseinsatzverbandes im 7. Kontingent der »International Security Assitance Force« (ISAF) der NATO. Am 16. April 2005 wurde die Bundeswehrsanitäterin zum völkerrechtswidrigen Dienst an der Waffe befohlen, als sie im Rahmen der militärischen Absicherung von Camp Warehouse, der in Kabul gelegenen Garnison der multinationalen ISAF, Personenkontrollen an afghanischen Frauen vornehmen sollte, welche die ISAF als lokale Arbeitskräfte beschäftigt. Hierbei sollte sie ihre Rot-Kreuz-Armbinde ablegen, woraufhin Ernst-Zettl beim Sicherungszugführer, einem Oberleutnant, vorstellig wurde, um ihm zu melden, dass sie im Sinne des humanitären Völkerrechts Nichtkombattant sei und daher für Sicherungsaufgaben nicht eingesetzt werden dürfe. Allein für ihre Meldung und den damit verbundenen Versuch, sich an die Bestimmungen der Genfer Konventionen zu halten, wurde die Soldatin mit einer Disziplinarbuße von 800 Euro belegt und »repatriiert«, das bedeutet, strafweise nach Deutschland zurückkommandiert. Die Begründung dafür wirkt bizarr: Sie hätte mit ihrem Verhalten den Sicherungszugführer verunsichert und so den ordnungsgemäßen Dienstablauf behindert.

Skandalöserweise wurde die Beschwerde der Soldatin gegen ihre Maßregelung vom zuständigen Truppendienstgericht Süd abgewiesen. Dessen absurde Begründung lautete im Kern: „Ihr musste klar sein, dass der Sicherungszugführer diese Frage nicht sofort klären konnte ... und sie hat diesen damit bewusst instrumentalisiert.“18 Weil sie nämlich - so das Gericht - die Angelegenheit drei Tage zuvor schriftlich ihrem Disziplinarvorgesetzten gemeldet und darauf noch keinen Bescheid erhalten hätte. Die Richter sahen darin einen „Missbrauch ihrer Rechte zu Lasten eines Kameraden“, warfen ihr vor, den Dienstbetrieb gestört zu haben, und attestierten ihr obendrein, dass ihr Handeln „ein bedenkliches Licht auf ihren Charakter“ würfe. Wie das Gericht expressis verbis betonte, wurde ihr freilich „kein Ungehorsam vorgeworfen“, obwohl sie sich mehrfach ostentativ geweigert hatte, dem ihr erteilten Befehl Folge zu leisten, das international anerkannte Schutzzeichen des Roten Kreuzes, das sie am Arm trug, abzulegen. Da es sich bei der gegen sie verhängten Disziplinarbuße gemäß Wehrdisziplinarordnung lediglich um eine „einfache Disziplinarmaßnahme“ handelte, war gegen die letztinstanzliche Entscheidung des Truppendienstgerichtes kein weiteres Rechtsmittel mehr gegeben.

Ohne die komplexe völkerrechtliche Gemengelage, wie sie aus den vier Genfer Abkommen von 1949 sowie den beiden Zusatzprotokollen aus dem Jahr 1977 resultiert, an dieser Stelle en detail abhandeln zu können, lässt sich resümierend doch konstatieren, dass die Perfidie der geschilderten Verfahrensweise darin liegt, dass Soldaten hierdurch abgeschreckt werden, sich mit den rechtlichen oder auch moralischen Implikationen ihres Handelns auseinander zu setzen. Darüber hinaus illustriert der vorliegende Fall - ganz ähnlich wie die einschlägigen Verfahren vor dem Karlsruher Bundesverfassungsgericht - erneut die Ohnmacht des Bürgers mit und ohne Uniform gegenüber den immer offener zutage tretenden Tendenzen der Exekutive zum habituellen Völkerrechtsbruch. Das deprimierende Resultat der Causa Ernst-Zettl: Eine völkerrechtstreue Soldatin wurde sang- und klanglos abgestraft, im Bundesministerium der Verteidigung lachen sich die Völkerrechtsverbieger ins Fäustchen und in Afghanistan liegen weiterhin die Sanitäter hinterm Maschinengewehr, um sich ihre Kundschaft selbst zu schießen. Glorreiche Zeiten am Hindukusch.

Anmerkungen

1) Vgl. Kielmansegg, Johann Adolf Graf von: „Der Krieg ist der Ernstfall“, in: Truppenpraxis Nr. 3/1991, S.304 - 307; Müller, Morgan von: „Wer kämpfen nicht gelernt hat, kann auch nicht kämpfen“, in: Truppenpraxis Nr. 3/1991, S.309f.

2) Budde, Hans-Otto (Interviewter), in: Winkel, Wolfgang: Bundeswehr braucht archaische Kämpfer. Hans-Otto Budde soll das Heer in die Zukunft führen - Porträt eines Weggefährten, in: Welt am Sonntag vom 29. Februar 2004.

3) Ebd.

4) Vgl. hierzu insbesondere Ambos, Kai/Arnold, Jörg (Hg.) (2004): Der Irak-Krieg und das Völkerrecht, Berlin; Lutz, Dieter S.†/Gießmann, Hans J. (Hg.) (2003): Die Stärke des Rechts gegen das Recht des Stärkeren, Baden-Baden.

5) So zum Beispiel in das Soldatengesetz (§ 10 und § 11) und das Wehrstrafgesetz (§ 5, § 19, § 20, § 21, § 22; § 32; § 33 und § 34. Im Vereinigten Königreich sind Soldaten verpflichtet, jeden rechtswidrigen Befehl zu verweigern. In Dänemark und Frankreich müssen Soldaten alle offenkundig rechtswidrigen Befehle verweigern. Darüber hinaus sind sie berechtigt, alle sonstigen rechtswidrigen Befehle nicht zu befolgen. In Belgien, Luxemburg, den Niederlanden, Polen und Spanien müssen wie in Deutschland Soldaten alle Befehle verweigern, durch die eine Straftat begangen würde. Während jedoch in den Niederlanden ein Soldat sämtliche rechtswidrigen Befehle verweigern darf, sind Soldaten in Deutschland, Luxemburg und Spanien nur dazu berechtigt, einen engeren Kreis rechtwidriger Befehle zu verweigern. Hierzu gehören insbesondere Befehle, die gegen die Menschenwürde verstoßen (vgl. hierzu Nolte, Georg (2002): Studie Vergleich Europäischer Wehrrechtssysteme, Göttingen 2002 sowie Groß, Jürgen (2005): Demokratische Streitkräfte, Baden-Baden).

6) Auswärtiges Amt (Hrsg.) (1998): Von der KSZE zur OSZE. Grundlagen, Dokumente und Texte zum deutschen Beitrag 1993-1997, Bonn, S.267f.

7) Naumann, Klaus: Generalinspekteursbrief 1/1994, Bonn 1994.

8) Zur Causa Pfaff vgl. u. a. Bachmann, Hans Georg (2006): Militärischer Gehorsam und Gewissensfreiheit, in: Zetsche, Holger/Weber, Stephan (Hrsg.): Recht und Militär. 50 Jahre Rechtspflege der Bundeswehr, Baden-Baden 2006, S.156-168 sowie mit Verweisen auf weitere Urteilskommentierungen Ladiges, Manuel: Irakkonflikt und Gewissenskonflikte, in: Wissenschaft & Sicherheit online - Texte des Bundesverbands Sicherheitspolitik an Hochschulen, Nr. 02/2007 vom 22. März 2007.

9) Merkel, Reinhard: Krieg. Was Amerika aufs Spiel setzt. Ein Präventivkrieg mag der Logik imperialer Macht entsprechen. Aber er untergräbt das Rechtsbewusstsein der Menschheit, in: Die Zeit Nr. 12/2003. An der Illegalität des Irak-Krieges nach allen etablierten völkerrechtlichen Kriterien existieren nach herrschender juristischer Meinung längst keinerlei Zweifel mehr (vgl. die überwältigende Mehrheit der Beiträge in Ambos, Kai/Arnold, Jörg (Hrsg.) und Lutz, Dieter S.†/Gießmann, Hans J. (Hrsg.) in Fußnote 4).

10) Pfaff, Florian zit. n. Bundesverwaltungsgericht: Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 21. Juni 2005 - BVerwG 2 WD 12.04, S.103, [http://www.bundesverwaltungsgericht.de/media/archive/3059.pdf, 05.12. 2007].

11) Vgl. ebd., 72. Hieraus auch die folgenden Zitate.

12) Vgl. Andreas Flocken: »Globale Verteidigung«. Von der Entgrenzung des militärischen Auftrags und der Freiheit des Gewissens, in: S+F Sicherheit und Frieden, Heft 4/2006, S.204 - 209.

13) Rose, Jürgen: Aufklären, damit die anderen bomben können. Dokumentation. Antrag des Oberstleutnants Jürgen Rose, von allen dienstlichen Aufgaben bei einem Tornado-Einsatz in Afghanistan entbunden zu werden, in: Freitag - Die Ost-West-Wochenzeitung, Nr. 12/2007, S.7.

14) Rose, Jürgen: Dienstliche Erklärung vom 1. Mai 2006, dokumentiert in: Jürgen Rose/(ms): Soldaten-Verweigerung gegen völkerrechts- oder grundgesetzwidrige Befehle, in: FriedensForum Nr. 3/2006, S.9.

15) Wehrbereichskommando IV Süddeutschland - Chef des Stabes: Schreiben vom 16. März 2007.

16) Rühle, Hans: Angst vor der Massenverweigerung. Warum die Bundesregierung mit allen Mitteln versucht, die Bundeswehr aus dem Süden Afghanistans herauszuhalten, in: Süddeutsche Zeitung vom 28. März 2007, S.2.

17) Hörstel, Christoph R. (2007): Sprengsatz Afghanistan. Die Bundeswehr in tödlicher Mission, S.36.

18) Truppendienstgericht Süd: Beschluss in der Disziplinarbeschwerdesache - Az: S 10 BLc 4/05 - München, 31.08.2005, S.15.

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.

Arbeitskreis Darmstädter Signal

Im September 1983 beschlossen 20 Offiziere und Unteroffiziere der Bundeswehr (Bw) bei ihrem ersten Treffen im Darmstadt einen friedenspolitischen Aufruf: das DARMSTÄDTER SIGNAL. Sie wandten sich nicht nur gegen die »Nach«-Rüstung mit Atomraketen in West- und Ost-Europa, sondern forderten eine kleinere, nicht angriffsfähige Bundeswehr und den Abbau aller Massenvernichtungsmittel von deutschem Boden und weltweit. Für Soldaten der Bw sollte das »Leitbild vom Staatsbürger in Uniform« endlich verwirklicht werden. Bis heute ist der Ak DS das einzige kritische Sprachrohr von ehemaligen und aktiven Offizieren und Unteroffizieren der Bundeswehr. Der Ak DS äußert sich zu aktuellen Fragen des Einsatzes der Bundeswehr und der Rolle des Militärs in der Demokratie.

http://www.darmstaedter-signal.de

Kriegsdienstverweigerung in Europa

Fortschritte - Probleme - Herausforderungen

von Gerd Greune und Friedhelm Schneider

In den zurückliegenden 50 Jahren hat die Einbeziehung des Rechts auf Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen in internationale Menschenrechtsstandards beachtliche Fortschritte gemacht.

In den Menschenrechtsbestrebungen nach 1945 führt das Thema der Militärdienstverweigerung zunächst über zwei Jahrzehnte ein Schattendasein. 1967 ist der Europarat die erste europäische Institution, die dieses Grundrecht in den Blick nimmt. Von Anfang an leiten die Europarats-Parlamentarier die Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen als logische Konsequenz aus Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention ab, der das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit festlegt.1 Weitere Entschließungen folgen.2 Die Forderung nach einer freiheitlichen Ausgestaltung des Rechts auf Militärdienstverweigerung und nach einem zivilen Alternativdienst ohne Strafcharakter ist bis heute auf der Tagesordnung des Europarats geblieben. Die letzte umfassende „Empfehlung zur Ausübung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung in den Mitgliedsstaaten des Europarates“ betont im Mai 2001 „i. das Recht, als Verweigerer aus Gewissensgründen zu jedem beliebigen Zeitpunkt vor, während oder im Anschluss an den Wehrdienst registriert zu werden; ii. das Recht für Berufssoldaten, die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer zu beantragen; iii. das Recht für alle Wehrpflichtigen, Information über die Verweigerung aus Gewissensgründen zu erhalten; iv. das Ableisten eines rein zivilen Ersatzdienstes, der weder abschreckend sein noch Strafcharakter haben darf.“ 3

Dass die Militärdienstverweigerung europäischen Menschenrechtsstandards gemäß geregelt ist, wird für Neumitglieder des Europarates seit einiger Zeit als ein Aufnahmekriterium geltend gemacht und überprüft.

Eine ähnliche Entwicklung lässt sich für den Bereich des Europäischen Parlaments feststellen. Maßgebliche Dokumente sind hier die großen Resolutionen, die die Abgeordneten Macciocchi4 (1983), Schmidbauer5 (1989), De Gucht6 (1993) und Bandres/Bindi7 (1994) als Berichterstatter vorbereitet haben. Die wiederkehrenden Jahresberichte über die Menschenrechte in der EU üben regelmäßig öffentliche Kritik an Ländern, die sich gravierende Verstöße gegen das Recht auf Militärdienstverweigerung zuschulden kommen lassen.

Die Verankerung dieses Rechts als Menschenrecht entspricht dem erklärten Willen der für Europa maßgeblichen politischen Institutionen. Aus diesem Grunde benennt die Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Art. 10 Abs.2 das Recht auf gewissensbedingte Militärdienstverweigerung explizit als Bestandteil der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit: „Das Recht auf Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen wird nach den einzelstaatlichen Gesetzen anerkannt, welche die Ausübung dieses Rechts regeln.“ Die sachgemäße Auslegung dieses Grundrechtsartikels wird davon abhängen, dass sie dem für sein Zustandekommen konstitutiven gemeinsamen politischen Willen der europäischen Institutionen Rechnung trägt und neben dem in Art. 21 verfügten Diskriminierungsverbot die in Art. 52 niedergelegte Wesensgehaltsgarantie berücksichtigt. Demnach dürfen nationale Gesetze den Wesensgehalt der in der Charta anerkannten Freiheitsrechte nicht einschränken. Am 12. Dezember 2007 wurde die EU-Grundrechtscharta nach einer wechselvollen Vorgeschichte durch die Präsidenten von Parlament, Rat und Kommission proklamiert und unterzeichnet. Jo Leinen, im Europäischen Parlament Vorsitzender des Ausschusses für Konstitutionelle Fragen, unterstreicht in diesem Zusammenhang: „Mit Artikel 10 Absatz 2 ist das Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen als Bestandteil der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit erstmals in einem Europäischen Vertrag festgeschrieben. Die Charta der Grundrechte in der EU ist die erste völkerrechtlich verbindliche Kodifizierung auf dem Gebiet der Menschenrechte, die das Recht zur Kriegsdienstverweigerung als Bestandteil der Gewissensfreiheit ausdrücklich anerkennt. Ich freue mich, dass dieser zivilisatorische Fortschritt, wonach jede Bürgerin und jeder Bürger das Recht hat, unter Berufung auf das Gewissen die staatliche Verpflichtung zum Militärdienst abzulehnen, auf europäischer Ebene konsensfähig geworden ist. Vor dem Hintergrund, dass zur Zeit immer noch 10 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union an einer Pflicht zum Militärdienst festhalten, ist das nicht selbstverständlich...Aber auch in den übrigen Staaten mit Freiwilligenarmeen erwächst aus der Grundrechte-Charta die Pflicht, ihren Soldatinnen und Soldaten das Recht zur Verweigerung des Militärdienstes einzuräumen. Weil jede Soldatin und jeder Soldat dem eigenen Gewissen verantwortlich ist und bleibt, muss die Gewissensfreiheit auch in bestimmten Konfliktsituationen und Einsätzen gewährleistet sein.“ 8

Ähnlich wie der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 9) ist auch dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Art. 18) das Recht auf Militärdienstverweigerung nur indirekt als Bestandteil der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit zu entnehmen. 1993 revidiert der UN-Menschenrechtsausschuss seine bis dahin aufrecht erhaltene Weigerung, das Recht auf Militärdienstverweigerung als impliziten Bestandteil des Bürgerrechtspakts anzuerkennen. In seinem Allgemeinen Kommentar Nr. 22 zu Artikel 18 des Bürgerrechtspakts führt er aus: „Der Pakt bezieht sich nicht ausdrücklich auf ein Recht der Verweigerung aus Gewissensgründen, doch der Ausschuss ist der Überzeugung, dass ein solches Recht aus Artikel 18 abgeleitet werden kann, insofern als die Verpflichtung, tödliche Gewalt anzuwenden, ernsthaft in Konflikt mit der Gewissensfreiheit und dem Recht, die eigene Religion oder Weltanschauung zu bekunden, geraten kann.“ 9

Bereits seit 1987 bekräftigt die UN-Menschenrechtskommission die Militärdienstverweigerung als legitime Ausübung des Menschenrechtes auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit.10 In ihren Resolutionen fordert die Kommission immer wieder freiheitliche Standards für ein nicht diskriminierendes Verweigerungsrecht ein. Zuletzt widmete sie sich einer Übersicht über gelungene Praxisbeispiele (»best practices«) im Umgang mit der Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen.11

Kein umfassender Rechtsschutz

Obwohl positive Entwicklungen zu verzeichnen sind, bleibt die Situation der Kriegsdienstverweigerer, gesamteuropäisch betrachtet, weit von einem umfassenden Rechtsschutz entfernt.

In den Mitgliedsländern des Europarates wird seit 1967 das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nur außerordentlich zurückhaltend umgesetzt. In vielen Ländern befinden sich in den 1960er und 1970er Jahren Pazifisten im Gefängnis, weil ihre Gewissensentscheidung nicht anerkannt worden ist. In Deutschland und Frankreich beginnt erst in den 1980er Jahren eine allmähliche Liberalisierung des Grundrechts auf KDV. In der Schweiz gibt es erst seit 1996 einen Rechtsanspruch auf KDV. In Griechenland wird 1998 das Recht auf Gewissensfreiheit gegenüber dem Militärdienst gesetzlich anerkannt und zugleich wird der Zivildienst als Strafdienst ausgestaltet. In Zypern schließlich wurde im Jahre 2005 ein militärisch kontrollierter Zivildienst eingeführt, der die Kriegsdienstverweigerer massiv gegenüber den Soldaten benachteiligt. Die Türkei lehnt das Recht auf KDV ab und wird deshalb regelmäßig von der Europäischen Kommission gemahnt, gesetzliche Regelungen zu schaffen. Hier wird selbst die Berichterstattung über das Recht auf Militärdienstverweigerung mit Strafe bedroht und zahlreiche Journalisten bereits angeklagt. In den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, in denen gesetzliche Regelungen eingeführt wurden, werden überwiegend Verweigerer aus religiösen Gründen anerkannt. Auffällig ist, dass die orthodoxen Kirchen generell die Gewissensfreiheit von Kriegsdienstverweigerern nicht unterstützen und eine restriktive Gesetzgebung eher befürworten.

Der Europarat hat im westlichen Balkan, vor allem in Bosnien-Herzegovina, in den 1990er Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen, um einen zivilen Ersatzdienst aufzubauen, der zugleich auch zur Harmonisierung der Wehrgesetzgebung in der Föderation und der Serbischen Republik beitragen sollte. Die gesetzliche Regelung des Rechts auf KDV in Bosnien-Herzegowina sollte zugleich auch Voraussetzung für die Mitgliedschaft in dem »Partnership for peace« Programm der NATO sein. Am Ende des Weges stand nach heftigem Streit zwischen Sarajevo und Banja Luka die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht 2006. In Serbien melden sich seit drei Jahren jährlich 50% der Wehrpflichtjahrgänge zum Zivildienst, nicht zuletzt, weil die Lebensbedingungen in den Kasernen recht bescheiden sind und der Zivildienst in der eigenen Gemeinde durchgeführt werden kann.

Im Jahre 2002 hat die Generaldirektion für Menschenrechte des Europarats eine Broschüre herausgegeben, die die Absicht verfolgt, „eine breite Öffentlichkeit sowie nationale Einrichtungen auf die Probleme von Militärdienstverweigerern aufmerksam zu machen.“ 12 Darin wird festgestellt, dass in einigen Ländern Fortschritte bei der Behandlung von Kriegsdienstverweigerern zu beobachten sind, während andere Staaten die Einrichtung eines Zivildienstes ablehnen oder an diskriminierende Bedingungen knüpfen. Mit Nachdruck betont das Europarats-Dokument: „Es genügt nicht, nationale Regelungen zu haben, die sich an den vom Europarat festgelegten Grundsätzen zur Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen orientieren. Es geht vor allem darum, dass diese Regelungen tatsächlich in die Praxis umgesetzt werden.“ 13

Von den 192 Mitgliedsstaaten der UNO, die fast alle eine Armee unterhalten, akzeptieren nur etwa 30 ein Recht auf Militärdienstverweigerung - wobei damit über die freiheitliche Qualität der jeweiligen gesetzlichen Regelungen noch keine Aussage gemacht ist. Aktuell halten 27 der 46 Europarats-Mitgliedsstaaten an der Wehrpflicht fest. In 14 der 27 europäischen Wehrpflichtstaaten liegt die Zuständigkeit für die Durchführung des Ersatzdienstes beim Verteidigungsministerium, 16 Länder stellen das Anerkennungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer unter militärische Aufsicht, nur 18 Länder sehen einen Zivildienst außerhalb des Militärs vor. Eine nicht-diskriminierende, mit der Militärdienstzeit identische Dauer des Zivildienstes findet sich in drei europäischen Staaten, in 21 Ländern müssen Kriegsdienstverweigerer länger dienen als die Wehrpflichtigen beim Militär. Obwohl der Europarat das Recht auf Anerkennung als Militärdienstverweigerer aus Gewissensgründen auch für Berufssoldaten eingefordert hat, haben nur zwei seiner 46 Mitgliedsstaaten entsprechende Vorkehrungen getroffen.

Das Recht auf Gewissensfreiheit wird durch die geänderten Rahmenbedingungen für militärische Einsätze erneut rechtlich strapaziert. Irak-Krieg-Verweigerer aus den USA sitzen in US-Militärgefängnissen in Deutschland; kurdische Verweigerer aus der Türkei bemühen sich - oft vergeblich - um Schutz in den Mitgliedsländern der EU, um nicht am Krieg gegen eigene Landsleute teilnehmen zu müssen.

Eine neue Dimension: Der NATO-Krieg gegen den Terror

Nachdem die USA die Terroranschläge vom 11. September 2001 als militärischen Angriff gewertet haben, stellte der Nato-Rat am 12. September 2001, den »Bündnisfall« fest. Der Bundestag hat am 19. September 2001 eine Entschließung verabschiedet, die diese Erklärung des Nato-Rates ausdrücklich begrüßt. Bündnisfall bedeutet, dass der »Verteidigungsfall« nach Artikel 115a festgestellt werden könnte. Deutschland wäre dann im Kriegszustand. Dies hätte auch weitreichende Folgen für Wehrpflichtige.

Soldaten und Auslandseinsätze

Alle freiwillig dienenden Soldaten (Berufs-, Zeitsoldaten, Freiwillig Wehrdienst Leistende) können zu jedem Einsatz abkommandiert werden. Es bedarf keiner vorherigen Zustimmung des einzelnen Soldaten. Nach der Rechtsauffassung der derzeitigen Bundesregierung sind „auch Soldaten im Grundwehrdienst verpflichtet, im Rahmen der verfassungsmäßigen Aufgaben der Bundeswehr überall dort Dienst zu leisten, wo es erforderlich ist“, also auch im Ausland. Allerdings ist es Praxis, dass sie dort „ausschließlich aufgrund freiwilliger Meldung eingesetzt werden“. (Drucksache des Bundestages 14/3893, S.14) In einer sicherheitspolitisch zugespitzten Situation kann von dieser Praxis abgewichen werden.

Reservisten und Auslandseinsätze

Wehrpflichtige gehören nach ihrer Dienstzeit zur Reserve und können zu Wehrübungen einberufen werden. Hat ein Reservist eine »Erklärung zur Teilnahme an besonderen Auslandsverwendungen« unterschrieben, kann er zu einer maximal siebenmonatigen Auslandswehrübung einberufen werden. Seine Erklärung kann er nur bis zur Einberufung zurückziehen. Nach einer Einberufung ist der Widerruf ausgeschlossen. Dies gilt bis zum Ablauf des Jahres, in dem er das 45. Lebensjahr, mit Unteroffiziers- oder Offiziersdienstgrad bis zum Ablauf des Jahres, in dem er das 60. Lebensjahr vollendet.

Wehrpflicht im Bereitschaftsdienst und Bereitschaftsfall

Die Bundesregierung kann auch verfügen, dass Reservisten zu unbefristeten Wehrübungen einberufen werden und ohne parlamentarische Zustimmung den Bereitschaftsfall anordnen. Die Kreiswehrersatzämter können dann Zurückstellungen, die nach § 12 Absatz 2 und 4 des Wehrpflichtgesetzes vorgenommen wurden (Vorbereitung auf das geistliche Amt, Berufsausbildung, zweiter Bildungsweg etc.), widerrufen. Widersprüche gegen Musterungsbescheide verlieren jetzt ihre aufschiebende Wirkung, gesetzlich vorgeschriebene Anhörungen vor der Einberufung finden jetzt nicht mehr statt. Wehrpflichtige, die sich im Ausland aufhalten, können zur unverzüglichen Rückkehr aufgefordert werden, und jeder Grenzübertritt ist genehmigungspflichtig. Der Bereitschaftsfall hat allerdings keine Auswirkungen auf anerkannte Kriegsdienstverweigerer.

Wehrpflicht und Spannungsfall

Nach Eintreten des Spannungsfalls kann eine »Sonderregelung für Verteidigungsangelegenheiten« im Verwaltungsverfahrensgesetz (§ 95) in Kraft treten. Unabkömmlichkeitsstellungen für Wehrpflichtige werden auf Tätigkeiten beschränkt, die für den Weiterbetrieb kriegsnotwendiger Betriebe oder Aufgaben notwendig sind.

Spannungsfall/Verteidigungsfall

Nach Artikel 12a können sowohl im Spannungs- als auch im Verteidigungsfall Wehrpflichtige, die sich weder im Wehr- noch Zivildienstverhältnis befinden, für „Zwecke der Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung in Arbeitsverhältnisse verpflichtet werden“. Allerdings ist hier zwischen dem Spannungsfall nach Artikel 80a Absatz 1, der eine Entscheidung des Bundestages voraussetzt, und nach Artikel 80a Absatz 3 zu unterscheiden. Letzterer wird aufgrund einer Entscheidung durch ein internationales Gremium festgestellt. Das ist der Bündnisfall.

»Notstandsgesetze« können bei Eintritt des Spannungsfalles oder im Verteidigungsfall in Kraft treten und hebeln in grundlegenden Bereichen die Grundrechte aller Bürger und Bürgerinnen aus. Aber auch unabhängig von der formellen Feststellung des Spannungsfalls kann der Bundestag nach Artikel 80a Absatz 1 die Anwendung der Notstandsgesetze beschließen, die ansonsten nur im Spannungsfall oder Verteidigungsfall zugelassen sind. Dies wird als »Teilnotfall« bezeichnet.

Anträge auf Kriegsdienstverweigerung, die von nicht einberufenen Ungedienten gestellt werden, verlieren im Verteidigungs- und Spannungsfall einschließlich des Bündnisfalls ihre Einberufung hemmende Wirkung. Über diese Anträge entscheiden dann die Ausschüsse für Kriegsdienstverweigerung (§ 8 Kriegsdienstverweigerungsgesetz). Antragsteller können trotzdem vor der Entscheidung über ihren Antrag zum Wehrdienst einberufen werden. Jedoch hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 24. April 1985 entschieden, dass man im Kriegsfall nach einem KDV-Antrag nur zu einem waffenlosen Dienst verpflichtet werden darf.

Wehrpflicht, KDV und Verteidigungsfall

Nach Feststellung des Verteidigungsfalles unterliegen alle Wehrpflichtigen bis zum 31. Dezember des Jahres, in dem sie das 60. Lebensjahr beenden, der Wehrpflicht (§ 3 Absatz 5 Wehrpflichtgesetz). Für aktive Soldaten wird die Dienstzeit auf unbestimmte Zeit erweitert, Reservisten können zu einem unbefristeten Wehrdienst einberufen werden (§ 4 Absatz 1 Satz 4 Wehrpflichtgesetz), auch zu Einsätzen rund um den Globus. Ungediente Wehrpflichtige gehören zur Ersatzreserve und können im Verteidigungsfall zur Bundeswehr einberufen werden. Die Ausweitung der Wehrpflicht gilt auch für anerkannte Kriegsdienstverweigerer. Sie können ebenfalls bis zum 60. Lebensjahr zu einem unbefristeten Zivildienst einberufen werden, unabhängig davon, ob sie bereits Zivildienst geleistet haben oder noch nicht - so § 79 Absatz 1 Zivildienstgesetz. Ein Kriegsdienstverweigerer, der noch vor Feststellung des Verteidigungsfalles seine Anerkennung beantragt hat, über dessen Antrag aber noch nicht entschieden ist, kann sofort zum Zivildienst einberufen werden (Wehrpflichtgesetz § 48 Absatz 2 Satz 2). Alle erfolgten Zurückstellungen vom Wehr- oder Zivildienst, ausgenommen solche aus gesundheitlichen Gründen, treten außer Kraft (Wehrpflichtgesetz § 48 Absatz 2 Satz 3 und § 79 Absatz 4 Zivildienstgesetz). Einberufungen zum unbefristeten Wehrdienst und zwar zum sofortigen Dienstantritt können ohne Einhaltung einer Frist erfolgen (§21 Absatz 3 Wehrpflichtgesetz).

Die neue NATO-Doktrin vom 24. April 1999 enthielt bereits Aufgabenstellungen, deren völkerrechtliche und gesetzliche Legitimation umstritten war. Der Kosovo-Krieg und der NATO Einsatz in Afghanistan führen nach Auffassung kirchlicher Organisationen dazu, dass es für alle Soldatinnen und Soldaten die Möglichkeit zu situationsbezogener Kriegsdienstverweigerung geben müsse. Dafür gibt es bisher keine rechtliche Grundlage. Um ihren friedensethischen Aussagen gerecht zu werden, sollten die Kirchen diese Problematik vermitteln und sich für die rechtliche Anerkennung situationsbezogener Kriegsdienstverweigerung einsetzen.

Notwendige Lobby-Arbeit

Die Durchsetzung des Rechtes auf Kriegsdienstverweigerung braucht die Unterstützung der Zivilgesellschaft.

Dass die Konsensbildung im Bereich der europäischen Institutionen zugunsten des Rechtes auf Kriegsdienstverweigerung so weit vorangekommen ist, ist nicht zuletzt dem Engagement zahlreicher Nichtregierungsorganisationen zu verdanken. Auf internationaler Ebene sind hier neben den Quäkervertretungen in Brüssel und Genf besonders Amnesty International (AI), War Resisters" International (WRI) und das Europäische Büro für Kriegsdienstverweigerung (EBCO) zu nennen, die ihrerseits ein Netzwerk von Mitgliedsverbänden in der Mehrzahl der europäischen Länder haben und so Lobby-Arbeit auf europäischer wie einzelstaatlicher Ebene betreiben.14 Ebenfalls hilfreich waren in der zurückliegenden Zeit u.a. unterstützende Resolutionen der Konferenz der Menschenrechts-Nichtregierungsorganisationen beim Europarat15 und des Europäischen Jugendforums16. Auf kirchlicher Seite hat sich die Konferenz Europäischer Kirchen im Mai 2001 für die Aufnahme des Rechts auf Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen in die Europäische Menschenrechtskonvention ausgesprochen. In ihrer jüngsten Friedensdenkschrift unterstreicht die Evangelische Kirche in Deutschland ausdrücklich den besonderen Stellenwert der Kriegsdienstverweigerung: „Die evangelische Kirche betrachtet die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen als Menschenrecht und setzt sich dafür ein, es auch im Bereich der Europäischen Union verbindlich zu gewährleisten. Als Menschen- und Grundrecht besitzt die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen Vorrang auch gegenüber demokratisch legitimierten Maßnahmen militärischer Friedenssicherung oder internationaler Rechtsdurchsetzung. Dies gilt unabhängig von der Wehrform.“ 17 Die Denkschrift spricht sich für den Schutz auch der situationsbezogenen Kriegsdienstverweigerung aus und hält zum Verhältnis von Militärdienst und Kriegsdienstverweigerung fest: „Militärdienst ist eine staatsbürgerliche Pflicht, die dem Menschenrecht auf Gewissensfreiheit ethisch nicht gleichrangig ist.“ 18 Auch wenn der Hinweis auf zivilgesellschaftliche Zusammenhänge hier nur exemplarisch möglich ist, bleibt festzuhalten, dass komplementär zur institutionellen Verankerung der Gewissensfreiheit die gesellschaftliche Lobby-Arbeit für die Akzeptanz des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung von entscheidender Bedeutung ist.

Konkrete Aufgaben

Bei der Durchsetzung des Menschenrechts auf Militärdienstverweigerung aus Gewissengründen sind weiterhin gravierende Defizite zu verzeichnen. Hier Abhilfe zu schaffen, gehört zu den dringlichen Aufgaben politischen Engagements.

Das Recht auf Militärdienstverweigerung aus Gewissengründen muss explizit Eingang in völkerrechtlich verbindliche Vertragswerke finden, wie es als erster Schritt für den Geltungsbereich der EU-Grundrechtscharta gelungen ist. Entsprechend den langjährigen Forderungen von Europarat, Europäischem Parlament, Kirchen und Menschenrechts-NROs ist darauf hinzuwirken, dass der Schutz der Kriegsdienstverweigerung über ein Zusatzprotokoll in die Europäische Menschenrechtskonvention integriert wird. Nur so kann bewirkt werden, dass die restriktive Rechtsprechung des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofes in Fragen der Militärdienstverweigerung sich ändert.

Zu den großen Herausforderungen von Friedensethik und Menschenrechtsschutz gehören die Achtung der Kriegsdienstverweigerer im Ernstfall bewaffneter Konflikte und das Recht auch von Berufssoldaten, zu einer inneren Entwicklung zu stehen, die sie zu einer Revision ihrer früheren Dienstverpflichtung bringt. Der Schutz der Gewissensfreiheit muss auch für Fälle situativer oder selektiver Kriegsdienstverweigerung gelten.19

Kriegsdienstverweigerer und Deserteure, die durch die Behörden ihres Landes Verfolgungen ausgesetzt sind, müssen ohne den Nachweis zusätzlicher Verfolgungsgründe einen Anspruch auf Asyl erhalten.

Der Schutz der Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen gehört zu den durch UNO, Europarat und Europäisches Parlament proklamierten Menschenrechtsstandards. Solange dennoch ein wirksamer Rechtsschutz für Kriegsdienstverweigerer nicht gewährleistet ist, ist eine umfassende Amnestie für Kriegsdienstverweigerer zu fordern.

Von den politisch Verantwortlichen unseres Landes ist zu erwarten,
- dass sie, entsprechend den oben skizzierten Ansätzen, die internationale Durchsetzung des Menschenrechts auf Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen fördern,
- dass sie sich für die Aufnahme des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen in die Europäische Menschenrechtskonvention einsetzen,
- dass sie die positiven Erfahrungen des deutschen Staates mit Kriegsdienstverweigerung und Zivildienst in die internationale Diskussion einbringen.

Übersicht über die Lage des Militärdienstes und der Kriegsdienstverweigerung
in den Mitgliedsländern des Europarates
Mitgliedsland Wehrpflicht
(keine Wehrpflicht seit …)
Dauer des Militärdienstes Recht auf KdV seit … Dauer des Zivildienstes
Albanien ja 12 Monate 1998 (Verfassung) 12 Monate
Armenien 1 ja 18 Monate 1994 36 Monate
Azerbaijan 2 ja 18 Monate 1995 (Verfassung)  
Belarus ja 18 Monate 1994  
Belgien 1995      
Bosnien-Herzegowina 2006      
Bulgarien 2008      
Dänemark ja 4-12 Monate (ø 9 Monate) 1917 gleiche Dauer
Deutschland ja 9 Monate 1949/1956 9 Monate
Estland ja 8 Monate 1994 12 Monate
Finnland 3 ja 180-360 Tage    
(ø 8,5 Monate) 1931 395 Tage    
Frankreich 2001      
Georgien 4 ja 18 Monate 1997 36 Monate
Griechenland ja 12 Monate 1997 23 Monate
Großbritannien 1960      
Irland niemals      
Island niemals      
Italien 2006      
Kroatien 2008      
Lettland 2007      
Litauen ja 12 Monate 1990 18 Monate
Luxemburg niemals      
Malta niemals      
Mazedonien 2007      
Moldawien ja 12/13 Monate 1994 (Verfassung) Freikauf möglich
Montenegro 2007      
Niederlande 1996      
Norwegen 5 ja 12 Monate 1995 12 Monate
Österreich ja 6 Monate 1975 6 Monate
Polen ja 12 Monate 1988 18 Monate
Portugal 2005      
Rumänien 2007      
Russland 6 ja 12 Monate seit 1992 (Verfassung der Sowjetisch  
Föderalen Republik von Russland)        
seit 1993 (Verfassung der FR Russlands) 21 Monate      
Schweden ja 7,5 Monate 1920 7,5 Monate
Schweiz ja max. 260 Tage 1992/1996 max. 390 Tage
Serbien 7 ja 6 Monate 1994/2003 9 Monate
Slovakische Republik 2006      
Slowenien 2003      
Spanien 2001      
Tschechische Republik 2006      
Türkei 8 ja 18 Monate nein nein
Ukraine ja 18 Monate 1992 doppelte Länge
Ungarn 2006      
Zypern ja 25 Monate 2005 34 Monate
Anmerkungen Tabelle
1) Armenien hat eine Rekordzahl von religiösen Kriegsdienstverweigerern im Gefängnis, obwohl es gegenüber dem Europarat aus dem Jahre 2004 eine Zusage gibt, alle Gewissensgefangenen freizulassen. Gegenwärtig sind 72 Zeugen Jehovahs inhaftiert; die durchschnittliche Gefängnisstrafe liegt bei zweieinhalb Jahren. Ein sog. alternativer Zivildienst steht jedoch unter der vollständigen Kontrolle des armenischen Generalstabs und wird von Militärpolizei überwacht und nach Militärstrafrecht geregelt. Pazifisten werden gezwungen, Militäruniformen zu tragen. Zeugen Jehovahs und Molokans sind bereit, einen tatsächlichen Zivildienst abzuleisten - aber Armenien läßt dies nicht zu.
2) Anfang 2007 beschloss das Azerbaijanische Parlament Änderungen im Wehrpflichtgesetz und befreite jene, die für behinderte Personen sorgen, an Universitäten promovieren oder Väter von zwei Kindern sind, von der Wehrpflicht. Zuvor musste man mindestens drei minderjährige Kinder vorweisen. 2007 richtete sich die Azerbaijanische Armee vollständig nach NATO Standards aus. Dies wird auch die Wehrpflicht betreffen, erklärte Verteidigungsminister Novruzov.
3) Jährlich befinden sich etwa 50 KdVer im Gefängnis aufgrund der Nichtableistung der Überlänge des Zivildienstes.
4) Die KdV Erklärung kann max. bis 10 Tage nach der Einberufung abgegeben werden. Bisher gibt es kein Zivildienstgesetz. Jährlich sind 38.857 männliche Personen wehrpflichtig.
5) Im Jahre 2006 gab es 10.234 Militärdienstleistende und 1.298 Kriegsdienstverweigerer.
6) Im 1. Halbjahr 2006 wurden 124.550 Wehrpflichtige einberufen, 319 KdVer gezählt und 275 zum Zivildienst einberufen.
7) 50% aller Wehrpflichtigen leisten Zivildienst.
8) 2 KdVer im Jahr 2006 and 4 KdVer 2007 haben öffentlich ihre Kriegsdienstverweigerung erklärt. Es gibt keinen Zivildienst. Anklagen wurden auch gegen Journalisten erhoben, die über das Recht auf KdV Artikel veröffentlichten. Enver Aydemirhas ist der erste türkische Verweigerer, der sich auf seinen muslimischen Glauben beruft.

Anmerkungen

1) Resolution 337(1967) zum Recht auf KDV aus Gewissensgründen Abschnitt A.2. Ähnlich formuliert die Bandres-Bindi-Resolution des Europäischen Parlaments, s. Anm. 7.

2) So 1977 die Empfehlung 816 (1977) der Parlamentarischen Versammlung zum Recht auf Militärdienstverweigerung, 1987 die Empfehlung R (87)8 des Ministerkomitees betreffend die Verweigerung der Militärdienstpflicht, 1994 Resolution 1042 (1994) zu Deserteuren aus den Republiken des früheren Jugoslawien, 2001 die Empfehlung 1518 (2001) der Parlamentarischen Versammlung „Ausübung des Rechts auf Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen in den Mitgliedsstaaten des Europarates“. Zuletzt wird in Empfehlung 1742 (2006) „Menschenrechte von Mitgliedern der Streitkräfte“ das Recht bekräftigt, jederzeit, auch als Berufssoldat, den Militärdienst aus Gewissensgründen zu verweigern.

3) Empfehlung 1518 (2001) Ziffer 5. Der Wortlaut der Empfehlung findet sich u.a. in der Europarats-Broschüre H(2002)2 „Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen“, deren Absicht es ist, „eine breite Öffentlichkeit sowie nationale Einrichtungen auf die Probleme von Militärdienstverweigerern aufmerksam zu machen“ (http://www.coe.int/t/e/human_rights/objcond.pdf).

4) Entschließung vom 7. Februar 1983 zur Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen

5) Entschließung vom 13. Oktober 1989 über Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen und Zivildienst

6) Entschließung vom 11. März 1993 über die Achtung der Menschenrechte in der Europäischen Gemeinschaft, s. besonders Ziffer 46.-53.

7) Entschließung vom 19. Januar 1994 über die Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen in den Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft

8) Jo Leinen: Das Europa der Bürgerrechte garantiert ausdrücklich die Gewissensfreiheit zur Militärdienstverweigerung, Presse-Information vom 15.01.2008 (www.joleinen.de, deutscher Text), EBCO-Newsletter The Right to Refuse to Kill, Edition Spring 2008 (www.ebco-beoc.org, englische Version)

9) Zitiert nach Dokument E/CN.4/2006/51 der UN-Menschenrechtskommission vom 27.02.2006, Ziffer 12.

10) Siehe u.a. die Resolutionen 1995/83, 1998/77,2002/45 der UN-Menschenrechtskommission

11) Siehe Dokument E/CN.4/2006/51 der UN-Menschenrechtskommission vom 27.02.2006 (Analytischer Bericht des Amtes des Hohen Kommissars für Menschenrechte betreffend die besten Verfahrensweisen im Zusammenhang mit der Verweigerung des Militärdienstes aus Gewissensgründen). In Nachfolge der früheren UN-Menschenrechtskommission konstituierte sich im Juni 2006 der neu gebildete UN-Menschenrechtsrat, von dem bisher keine Entschließungen zum Thema Militärdienstverweigerung vorliegen.

12) Europarat/Generaldirektion für Menschenrechte und Rechtsangelegenheiten: Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen, Dokument H(2002)2, Nachdruck 12/2007, S.8 (http://www.coe.int/t/e/human_rights/objcond.pdf)

13) Ebenda S.6

14) Einen wohl eher unbeabsichtigten Beleg für die Wirksamkeit dieser bewusstseinsbildenden politischen Arbeit zitiert der WRI Newsletter CO UPDATE No 37/2008: Ersin Kaya, ein Major der türkischen Streitkräfte, beklagt in einem Zeitschriftenartikel, dass der Fall des vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof erfolgreichen Kriegsdienstverweigerers Osman Murat Ülke dazu benutzt werde, um Propaganda gegen die Wehrpflicht zu machen. Kaya fährt fort: „Einige NROs tragen auf die eine oder andere Weise zu dieser Propaganda bei. Diese Organisationen (z.B. EAK, WRI, EBCO etc.) stellen durch ihre Websites und internationalen Konferenzen Öffentlichkeit her und können manchmal beträchtlichen Einfluss auf die EU-Politik ausüben.“ Der Autor kommt zu dem Schluss, dass die Kriegsdienstverweigerung unvereinbar mit der türkischen Kultur sei, und empfiehlt, die Websites von Kriegsdienstverweigerer-Organisationen zu schließen. [Artikel in: Stratejik Arastirmalar Dergisi No. 8 , September 2006].

15) Vgl. aktuell das im April 2008 erschienene OSZE-Handbuch "Menschenrechte und Grundfreiheiten von Streitkräftebediensteten", Warschau, Kap.10 Resolution zur Anerkennung des Rechts auf Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen vom 25.09.2001, http://www.coe.int/t/e/ngo/public/groupings/human_rights/documents/2001/20010925rap.asp#TopOfPage, Appendix II

16) Resolution zur Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen vom 9./10.11.2007, dokumentiert in EBCO-Newsletter The Right to Refuse to Kill, Edition Spring 2008 (www.ebco-beoc.org)

17) Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2007, S.43

18) Ebenda S.44, vgl. Anm. 18

19) Besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang das richtungsweisende Bundesverwaltungsgerichtsurteil zum Fall des Bundeswehrmajors Florian Pfaff, der seine Mitarbeit an einem militärischen IT-Projekt verweigerte, um nicht eine Unterstützungsleistung für den völkerrechtswidrigen Irakkrieg zu erbringen. In den Leitsätzen des Urteils heißt es: 8. „Hat ein Soldat eine von dem Grundrecht der Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) geschützte Gewissensentscheidung getroffen, hat er Anspruch darauf, von der öffentlichen Gewalt nicht daran gehindert zu werden, sich gemäß den ihn bindenden und unbedingt verpflichtenden Geboten seines Gewissens zu verhalten, Diesem Anspruch ist dadurch Rechnung zu tragen, dass ihm eine gewissenschonende diskriminierungsfreie Handlungsalternative bereitgestellt wird...“ In den Entscheidungsgründen wird betont: „Selbst im Verteidigungsfall ist die Bindung der Streitkräfte an die Grundrechte...gerade nicht aufgehoben.“ (S.. 113) [Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 21. Juni 2005 BVerwG 2 WD 12.04]

Gerd Greune ist ehemaliger DFG-VK Vorsitzender (1980-1990) und seit 2003 Präsident des Europäischen Büros für Kriegsdienstverweigerung in Brüssel. Friedhelm Schneider vertritt die Evangelische Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer (EAK) im Vorstand des Europäischen Büros für Kriegsdienstverweigerung (EBCO) und ist dessen Delegierter beim Europarat.

Kriegsdienstverweigerung und internationale Solidaritätsarbeit

von Rudi Friedrich

Ich „möchte mich bei verschiedenen Menschen bedanken. Sie haben nicht zugelassen, dass meine Geschichte verschwindet. Sie haben mich in den schwierigsten Momenten meines Lebens unterstützt.“ So dankte der US-Kriegsdienstverweigerer Agustín Aguayo für die Unterstützung anlässlich der Verleihung des Stuttgarter Friedenspreises im Dezember 2007.

„Ich muss auf der Hut sein, wenn ich nicht mein Leben im Gefängnis verbringen will. Wie jeder Illegale sehe ich mich vielen Hindernissen ausgesetzt und bin dazu gezwungen, im Untergrund zu leben.“ So schildert der türkische Kriegsdienstverweigerer Ugur Gör 2007 seine Lebenssituation angesichts der drohenden Verfolgung im eigenen Land.

„Ich erfuhr, dass es die Ethiopian War Resisters" Initiative gibt. Als ich sah, dass im Logo das Gewehr zerbrochen ist, machte mich das sehr glücklich. Das entsprach meinem Gefühl und ich kam zur Initiative dazu“, berichtete der äthiopische Deserteur Moges Beyene in einem im Januar 2008 veröffentlichten Interview.

Die drei Beispiele beschreiben die vielfältigen Hintergründe und Lebenslagen von ausländischen Kriegsdienstverweigerern in der Auseinandersetzung mit dem Militär ihres Herkunftslandes und als Schutz- und Asylsuchende im Ausland. Ich will mich im Folgenden weder ausführlich mit den rechtlichen Hintergründen für die Betroffenen beschäftigen noch mit der Situation der deutschen Kriegsdienstverweigerer. Ich will vielmehr kurz beschreiben, welche Gruppen von Verweigerern mit ihren je spezifischen Problemen es gibt und welche Erfahrungen es in der Solidaritätsarbeit gibt:

Migranten, die mit einem ausländischen Pass auf Dauer in Deutschland leben, sind in ihrem Herkunftsland wehrpflichtig. Können sie sich der Wehrpflicht entziehen? Gibt es dort das Recht zur Kriegsdienstverweigerung? Kriegsdienstverweigerer, die diese Fragen nicht klären können und keine befriedigende Antwort finden, sehen sich in einer ausweglosen Lage: Das Konsulat wird die Ausstellung eines neuen Passes verweigern - oder auch die Verlängerung. Ohne Ausweispapiere erlischt die Aufenthaltsberechtigung in Deutschland. Es droht die Abschiebung.

Menschen, die sowohl einen deutschen als auch einen ausländischen Pass haben - so genannte Doppelstaater - sind gleich in zwei Ländern wehrpflichtig. Oft wird die Ableistung des Militär- oder Zivildienstes durch bilaterale Verträge vom anderen Staat anerkannt, aber nicht immer. Griechenland erkennt oft nur die Ableistung des Militärdienstes in Deutschland, nicht aber des Zivildienstes an. Mit anderen Ländern gibt es überhaupt keine bilateralen Verträge, wie mit Serbien oder Marokko.

In Deutschland stationierte ausländische Soldaten, z.B. aus den USA, die den Kriegsdienst verweigern wollen oder sich dem Einsatz in einem Krieg entziehen, sind in ihren Möglichkeiten, an Informationen und Unterstützung zu kommen, stark eingeschränkt. Sie suchen qualifizierte Beratung in ihrer eigenen Sprache.

In verschiedenen Ländern, wie in der Türkei, Kolumbien oder auch Israel, wird die Kriegsdienstverweigerung nicht oder nur unzureichend anerkannt. Illegalisierte und inhaftierte Verweigerer hoffen auf internationale Unterstützung und Lobbyarbeit für ihr Anliegen.

Aufgrund von Zwangsrekrutierung und der Verfolgung von Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren sehen viele ihre einzige Chance in der Flucht. In der Regel gilt aber die Verfolgung als Kriegsdienstverweigerer nicht als Asylgrund. Deutsche Behörden und Gerichte lehnen deren Asylanträge immer wieder ab, da jeder Staat das Recht habe, seine Männer (und auch Frauen) zur Wehrpflicht zu zwingen. Es spielt dabei keine Rolle, ob dort Krieg geführt wird, ob es überhaupt ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt, ob dort ein unterdrückerisches Regime herrscht.

An all diesen Stellen ist Unterstützung nötig. Aufgrund der je nach Herkunftsstaat unterschiedlichen rechtlichen Situation und der Erfahrung, dass deutsche Behörden ihr Anliegen ablehnen, ist eine qualifizierte Beratung möglichst in der Herkunftssprache eine Grundvoraussetzung für eine effektive Solidaritätsarbeit. Erst einmal geht es darum, die Fakten zu kennen, damit sich die Betroffenen darauf hin selbst entscheiden können, wie sie weiter vorgehen. Besonders hilfreich ist es, wenn es eine selbstorganisierte Gruppe gibt, in der sich Verweigerer zusammenschließen. Hier können Erfahrungen ausgetauscht werden und informelle Zusammenhänge entstehen, die auch in prekären Situationen noch Schutz und Hilfe bieten können.

Darüber hinaus ist es mit einer solchen Gruppe möglich, gemeinsame politische Ziele nach außen zu tragen. Sie wenden sich gegen den Krieg in ihrem Herkunftsland, sie wollen die dort möglicherweise aktiven Gruppen unterstützen, sie organisieren Aktionen, um auf die prekäre Lage im Herkunftsland hinzuweisen und die dortige Praxis anzuprangern, sie treten gegenüber Parlamentariern und Institutionen auf, sie fordern gemeinsam Asyl für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure.

Neben all diesen politischen Aktivitäten hat ihr Zusammenschluss aber auch eine andere wichtige Bedeutung: Deserteure und Deserteurinnen, die aufgrund ihrer Flucht vor dem Militär in ihrem Herkunftsland verfemt werden und als »Verräter« gelten, erleben in der Gruppe, dass sie nicht alleine stehen. Gerade dadurch, dass sie mit ihrer Verweigerung an die Öffentlichkeit gehen, gewinnt ihre Entscheidung eine hohe Bedeutung sowie politisches Gehalt und kann so als etwas Positives erlebt werden. Sie gehören zur kleinen Gruppe derjenigen, die sich aktiv für die Durchsetzung der Menschenrechte, für ein Ende des jeweiligen Krieges in ihrem Herkunftsland einsetzen. Sie werden zum Sprachrohr von vielen, die sich bislang nicht trauen, an die Öffentlichkeit zu gehen.

Dabei sehen sich die Exilgruppen in Deutschland besonderen Schwierigkeiten gegenüber. Sie kennen die politischen Verhältnisse in Deutschland nicht, sie müssen sich in einer fremden Sprache mit unbekannten Gesetzen und Regelungen auseinandersetzen, Asylsuchenden wird mit der so genannten Residenzpflicht die Reisefreiheit in Deutschland eingeschränkt, der Krieg im Herkunftsland sorgt auch unter den Flüchtlingen für Polarisierungen oder Misstrauen. Hier sind die Initiativen oft auf Begleitung und Unterstützung von deutschen Gruppen und Organisationen angewiesen. Mit drei Beispielen will ich verdeutlichen, wie Solidaritätsarbeit praktisch aussehen kann.

US-Verweigerer unterstützen - der Fall von Agustín Aguayo

Agustín Aguayo war als Sanitäter im Jahre 2005 mit seiner Einheit in den Irak geschickt worden. Er hatte einen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer gestellt, der jedoch vom Militär abgelehnt wurde. Stattdessen sollte er im September 2006 ein zweites Mal in den Irak gehen. Diesem Einsatz entzog er sich durch Flucht aus dem Militär. Im April 2007 wurde er deswegen zu acht Monaten Haft verurteilt. Jetzt lebt er wieder in den USA und unterstützt die dortigen Antikriegsgruppen.

Zunächst ging es in seinem Fall darum, ihn bei seinem Antrag auf Kriegsdienstverweigerung zu unterstützen. Seit Beginn des Irakkrieges übernimmt das Military Counseling Network in Bammental diese Aufgabe. Zwei Freiwillige aus den USA stehen für Anfragen von SoldatInnen zur Verfügung, begleiten die Kriegsdienstverweigerungsverfahren, stellen Kontakte zu anderen Gruppen, Rechtsanwälten oder Psychiatern her. Insbesondere bei der Öffentlichkeitsarbeit werden sie von Gruppen wie Connection e.V., Stop the War Brigade oder den American Voices Abroad unterstützt.

Agustín Aguayo hatte lange gezögert, an die Öffentlichkeit zu gehen, da er immer auf die Einsicht des US-Militär und damit auf eine Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer gehofft hatte. Erst als ihm der erneute Einsatz im Irak drohte, ging er in die Offensive. Es gelang Connection e.V, erste Kontakte zu Journalisten herzustellen, so dass seine Geschichte im Fernsehen und in verschiedenen Zeitungen veröffentlicht wurde. Zu seinem Prozess waren seine Geschichte und seine Gründe für die Ablehnung des Irakkrieges schließlich breit bekannt geworden.

Zeitgleich startete Connection e.V eine Postkarten- und eine Spendenkampagne. So erreichten ihn in der Haft beim US-Militär in Mannheim mehr als 1.500 Postkarten und Briefe. Sie waren gegenüber dem Militär ein Zeichen des Protestes und für Agustín Aguayo eine äußerst wichtige moralische Unterstützung. Über Spendenkampagnen verschiedener Organisationen konnte ein großer Teil seiner immensen Rechtsanwaltskosten abgedeckt werden.

Die Bedeutung dieses Einzelfalls ist nicht zu unterschätzen. Gerade weil er an die Öffentlichkeit ging, stärkt er in besonderer Weise den Widerstand gegen den Krieg auch innerhalb der Armee. Das gibt auch anderen Mut, ihm zu folgen.

20 Jahre Kampf für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in der Türkei

Vor fast 20 Jahren gingen in der Türkei die ersten Kriegsdienstverweigerer an die Öffentlichkeit. Sie sehen sich einem Teufelskreis der Verfolgung gegenüber. So wurden Verweigerer wie Osman Murat Ülke, Mehmet Tarhan oder Halil Savda nach ihrer Einberufung wegen Befehlsverweigerung angeklagt und verurteilt. Kaum aus der Haft entlassen, werden sie erneut rekrutiert und damit weiter verfolgt. In der Vergangenheit wurden auf diese Weise Kriegsdienstverweigerer bis zu acht Mal verurteilt. Viele sind gezwungen, in der Illegalität zu leben.

Über die Jahre hat sich ein Netz zur internationalen Unterstützung der Verweigerer in der Türkei entwickelt. So gab es Postkartenaktionen, Aktionstage mit Protesten vor türkischen Konsulaten in verschiedenen Ländern, Initiativen beim Europarat, dem Europäischen Parlament. Mit internationalen Konferenzen in der Türkei gelang es immer wieder, die Kriegsdienstverweigerung auch in den türkischen Medien zum Thema zu machen. Im Falle von Osman Murat Ülke wurde Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht.

All dies führte dazu, dass der EGMR die Türkei wegen der Verfolgung der Kriegsdienstverweigerer verurteilte. Die Türkei wurde zudem aufgefordert, die Verweigerer zu legalisieren und die Gesetzeslage zu ändern. Die Frage der Kriegsdienstverweigerung ist auch Thema bei den Verhandlungen zum Beitritt in der Europäischen Union.

Es lässt sich also sagen, dass die Solidaritätsarbeit wirkungsvoll auf den verschiedenen Ebenen durchgeführt worden ist. Allerdings ist nach wie vor keine Änderung der Situation in der Türkei abzusehen. Auch auf dringende Appelle des Ministerausschusses des Europarates, „ohne weiteren Verzug alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen ... und rasch eine Gesetzesreform zu verabschieden“, gibt es keine Reaktion. Das macht ratlos, bedeutet aber in der Tat, dass die Kriegsdienstgegner noch einen langen Atem haben müssen.

Äthiopische KriegsgegnerInnen organisieren sich

Vor gut einem Jahr wandten sich einige äthiopische Flüchtlinge an Connection e.V., weil sie angesichts ihrer eigenen Erfahrungen und der fortgesetzten Kriegspolitik der äthiopischen Regierung gegen Krieg und Militär arbeiten wollten und wollen. Da es in Äthiopien keine allgemeine Wehrpflicht gibt, ist es keine Gruppe von Verweigerern. Sie bezeichnen sich selbst als KriegsgegnerInnen. Einige von ihnen sind aus dem Militär desertiert.

Die Bevölkerung Äthiopiens ist mit einer katastrophalen wirtschaftlichen und sozialen Situation konfrontiert. 44% der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Dennoch wendet die äthiopische Regierung unter dem Premierminister Meles Zenawi 8,4% des Bruttoinlandsproduktes für Militär auf und führt Krieg inner- wie auch außerhalb des Landes: In Somalia, im Ogaden und möglicherweise auch wieder gegen Eritrea. Im Inneren Äthiopiens wird nach wie vor die Opposition verfolgt.

Zunächst kümmerte sich Connection e.V darum, dass die Initiative einen Raum für regelmäßige Treffen hatte, um gemeinsame Forderungen und ihre Arbeit zu entwickeln. Den Aktiven war es zudem wichtig, ihre eigenen Erfahrungen öffentlich zu machen. Connection führte daher mit mehreren längere Interviews durch und veröffentlichten diese schließlich Anfang 2008 gemeinsam mit Hintergrundberichten und Stellungnahmen zur Situation in Äthiopien. Damit ist eine Basis geschaffen, mit der ihre Position deutlich wird und nach außen getragen werden kann. Das geschah gemeinsam mit Pro Asyl und dem Bayerischen Flüchtlingsrat im Rahmen einer Pressekonferenz im Februar 2008.

Das damit vermittelte Gefühl, mit seiner Geschichte und mit seiner Erfahrung nicht alleine zu stehen, das Gefühl, gemeinsam aktiv werden zu können, gibt sehr viel Selbstvertrauen, um die schwierige Situation in Deutschland meistern zu können. Das ist eine wichtige Grundlage, um weiter politisch aktiv zu sein.

Connection e.V. bietet immer wieder Aktionen an, an denen sich Einzelpersonen und Gruppen beteiligen können (siehe Internet: www.Connection-eV.de). Aber letztlich hängt die Unterstützung gerade einzelner Verweigerer davon ab, dass persönliche Kontakte hergestellt und gehalten werden, dass Vertrauen aufgebaut wird und das ein Netz von UnterstützerInnen bereit steht, das mit Menschen, Gruppen und Organisationen zusammen arbeitet, die z.B. vor Ort aktiv werden, dort zu Flüchtlingen Kontakt aufnehmen und mit ihnen solidarisch sind.

Rudi Friedrich ist Mitarbeiter von Connection e.V.

WWW

Weitere Informationen, Literatur und Hilfestellung zum Thema Gehorsamsverweigerung, Kriegsdienstverweigerung und TKDV finden sich unter folgenden Internetadressen

Deutsche Friedensgesellschaft/Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) https://www.dfg-vk.de/willkommen/

Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung e.V. http://www.asfrab.de/

Europäisches Büro für Kriegsdienstverweigerung www.ebco-beoc.org

Evangelische Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer (EAK) http://www.eak-online.de/

Connection e.V. - Internationale Arbeit für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure http://www.connection-ev.de/