Dossier 37

Irak: UN-Sanktionen und Menschenrechte

von Steffen Rogalski und Jutta Burghardt / Andreas Zumach

zum Anfang | Die Luftangriffe gegen Irak führen in eine gefährliche Sackgasse

von Andreas Zumach

Was ist das Völkerrecht Linken, Grünen, Friedensbewegten noch wert? Diese Frage stellt sich angesichts der Debatte über die schweren US-amerikanisch-britischen Luftangriffe auf Ziele im Irak vom 16. Februar. Selbst KritikerInnen dieser Maßnahmen ließen erschreckende Ahnungslosigkeit erkennen beziehungsweise die Verdrängung einiger simpler Tatsachen, an die hier noch einmal erinnert sei als Grundlage für alle folgenden Erörterungen: Die Luftangriffe waren ein eindeutigvölkerrechtswidriger Kriegsakt. Es gibt keine Resolution des UNO-Sicherheitsrates oder irgendeine andere völkerrechtliche Grundlage für diese oder andere militärische Maßnahmen gegen Irak. Dasselbe gilt für die Einrichtung und Durchsetzung der »Flugverbotszonen« und damit auch für das von den USA und Großbritannien reklamierte »Recht« ihrer Kampfpiloten auf »Selbstverteidigung« gegen irakische Flugabwehrraketen. Auch die Resolution 688 des Sicherheitsrates zum Schutz der irakischen Kurden und Schiiten sieht weder militärische noch andere Zwangsmaßnahmen vor. Die Angriffe von 16. Februar gegen Ziele in der Nähe Bagdads und außerhalb der beiden »Flugverbotszonen« bedeuten eine militärische Eskalation. Zumindest im Vergleich mit den letzten 26 Monaten, in denen US-amerikanisch-britische Kampfflugzeuge »lediglich« zwei bis drei mal wöchentlich (und von der Weltöffentlichkeit weitgehend ignoriert) irakische Bodenziele ausschließlich innerhalb der beiden »Flugverbotszonen« bombardierten. Mitte Dezember 98 hatten die Amerikaner und Briten vier Tage lang Ziele im ganzen Land und auch in der Stadt Bagdad bombardiert. Öffentlich begründeten die Regierungen in Washington und London die Luftangriffe vom 16. Februar zunächst mit der Behauptung, der Irak habe in der Region um Bagdad in den letzten Monaten neue Militäranlagen in Betrieb genommen und den Luftabwehrbeschuss gegen US-amerikanische und britische Kampfflugzeuge verstärkt. In den Tagen nach den Luftangriffen wurden zur weiteren Rechtfertigung ausgesuchte Medien und Journalisten (in Deutschland: FAZ und Welt) mit angeblichen »neuen Erkenntnissen« des CIA, des britischen Geheimdienstes sowie des Bundesnachrichtendienstes versorgt. Laut diesen »neuen Erkenntnissen« habe das Regime von Saddam Hussein seit 1999 Rüstungsprogramme für atomare, chemische und biologische Waffen reaktiviert und über Tarnfirmen u.a. in Indien eine rege Aktivität zum Einkauf von Materialien für diese Programme entwickelt. Zudem habe das Regime neue Raketenabschussbasen an der Grenze zu Syrien installiert, von denen sich Israel erreichen lasse. Die Verbreitung dieser »neuen Geheimdiensterkenntnisse« hatte außerdem den Effekt, die Bedrohungsbehauptungen zu untermauern, mit denen Washington die Notwendigkeit eines Raketenabwehrsystems begründet. All die Behauptungen und Rechtfertigungen Washington und Londons für die Luftangriffe lassen sich international nicht überprüfen, da die UNO-Waffeninspektoren Irak infolge der US-amerikanisch-britischen Luftangriffe vom Dezember 1998 verlassen mussten. Es fallen jedoch einige Widersprüche auf. So hat die CIA auf ihrer Internet-Webseite noch im letzten Jahr erklärt, es gebe keine Anzeichen für eine Wiederaufnahme irakischer Massenvernichtungsprogramme.

Welche Interessen Washington und London tatsächlich mit den Luftangriffen verfolgten, ist unklar. Offensichtlich ist nur, dass US-Präsident Bush gleich zu Beginn seiner Amtszeit Härte demonstrieren wollte. Dafür spricht auch die offensive Art, mit der die Angriffe in Washington publik gemacht wurden. Darüber hinaus ist aber zunächst keine kohärente Strategie der neuen Administration erkennbar – weder hinsichtlich des Irak-Problems, noch mit Blick auf den damit eng und unlösbar verknüpften israelisch-palästinensischen Konflikt. Stattdessen wurden Widersprüche deutlich. Außenminister Colin Powell ließ erkennen, dass er – im Unterschied zu Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Vizepräsident Dick Cheney – zumindest zu diesem Zeitpunkt gegen die Eskalation der Luftangriffe war.

In weiten Teilen der US-Luftwaffe gelten die Luftangriffe schon lange als ein militärisch nutzloses und äußerst kostspieliges Unternehmen. Allein die Maßnahmen zur Durchsetzung der südlichen »Flugverbotszone« kosteten im Haushaltsjahr 2000 über 1,4 Milliarden US-Dollar. Powell hat verlauten lassen, er strebe eine »Modifizierung« der Sanktionen an: Die Importe humanitärer und anderer ziviler Waren in den Irak sollen erleichtert, die Maßnahmen gegen die Einfuhr militärischer Güter verschärft werden. Hardliner im Kongress lehnen dieses Vorhaben als »Aufweichung« der Sanktionen ab. Ähnliche Vorbehalte kamen von Cheney und Rumsfeld. Dabei müssten der Vizepräsident und der Verteidigungsminister ähnlich wie Präsident Bush ebenfalls eine Modifizierung des Sanktionsregimes gegen Irak anstreben. Denn alle drei sind in hohem Maße den Interessen der US-amerikanischen Erdölindustrie verpflichtet. Diese will die Ausbeutung der irakischen Erdölvorhaben nicht weiter europäischen, russischen und asiatischen Konzernen überlassen, die im Zuge der seit rund zwei Jahren laufenden »illegalen« Unterminierung der Sanktionen bereits wieder ins Geschäft mit dem Irak gekommen sind bzw. ihre Ausgangsbasis für künftige Geschäfte erheblich verbessert haben.

Die Luftangriffe vom 16. Februar haben die Chancen für eine vom UNO-Sicherheitsrat offiziell abgesegnete und von den USA kontrollierte Modifizierung der Sanktionen allerdings eher verringert als erhöht. Die Reaktionen fast in der gesamten arabischen Welt fielen weit kritischer aus, als die Bush-Administration einkalkuliert hatte. Die in Washington schon seit geraumer Zeit mit Argwohn beobachtete politische und wirtschaftliche Annäherung Syriens, Ägyptens, Jordaniens und anderer arabischer Staaten an Irak wurde durch die Angriffe weiter forciert. Saddam Hussein fühlt sich bestärkt und zeigt sich noch weniger bereit, über eine Wiederzulassung von Waffeninspektoren auch nur ernsthaft zu diskutieren. Das wurde bei den Gesprächen des irakischen Außenministers mit UNO-Generalsekretär Kofi Annan Ende Februar in New York deutlich. Eine Wiederzulassung von Waffeninspekteuren wäre aber wiederum die Vorbedingung, die Bagdad erfüllen müsste, damit Powell in Washington eine Modifizierung der Sanktionen durchsetzen kann. Führende Vertreter der Republikaner im Kongress legen die Schwelle für eine Zustimmung Bagdads sogar noch höher mit ihrer Forderung, ein künftiges Waffeninspektionsteam solle nur noch aus US-Amerikanern und Briten bestehen. Mit ihrer neuen Politik hinsichtlich des israelisch-palästinensischen Konflikts hat die Bush-Administration das Regime in Bagdad zusätzlich bestärkt. Saddam Hussein nutzt bereits die Intifada seit September letzten Jahres dazu, sich in der arabischen Welt – wie bereits Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre – als Führer im Kampf gegen Israel zu profilieren. Nachdem die Bush-Administration klargemacht hat, dass sie den Oslo-Prozess aufgegeben hat und die Regierung Sharon nicht einmal zur Einhaltung der Zusagen ihrer Vorgänger drängen wird, hat die Gewalteskalation zugenommen, und sie dürfte sich noch weiter verschärfen Das wiederum wird die Kritik in den arabischen Staaten an den USA weiter verstärken und deren Wiederannäherung an den Irak zusätzlich beschleunigen. Die Sackgasse, in die sich die Bush-Administration bereits innerhalb der ersten vier Wochen ihrer Amtszeit im Nahen Osten manövriert hat, ist sehr tief. Und weder die Europäer noch sonst wer sind bereit oder in der Lage, einen Ausweg aufzuzeigen. Neue Luftangriffe und eine weitere militärische Eskalation scheinen derzeit unausweichlich.

Andreas Zumach arbeitet als freier Journalist in Genf/Schweiz.

zum Anfang | Das Dilemma der Sanktionen gegen den Irak

von Steffen Rogalski

Die lückenhafte Abrüstung der irakischen Massenvernichtungswaffen und die notwendige Kontrolle des diktatorischen Herrschaftsregimes geben Anlass zur Aufrechterhaltung der Sanktionen, die extremen Leiden der Bevölkerung in Folge der Sanktionen sind aber ein Anlass um selbige aufzuheben. Das ist das Dilemma, vor dem die internationale Staatengemeinschaft gegenwärtig steht.

Der vorliegende Bericht gibt einen Überblick über Ursachen, Durchführungsbestimmungen und Folgen der UNO-Sanktionen gegenüber dem Irak.

  • Es werden die Ziele der Sanktionen erläutert, die Sanktionen selbst werden auf ihre Praktikabilität untersucht und in einen »sanktionstheoretischen« Kontext gestellt.
  • Es geht um die Ergebnisse im Bereich der Abrüstung der irakischen Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägersysteme und um die »Wandlungsfähigkeit« des Irak bzw. des irakischen Herrschaftsregimes.
  • Geschildert werden die negativen humanitären Auswirkungen von Krieg und Sanktionen auf die irakische Bevölkerung und die Infrastruktur des Landes.

Die Ziele der Sanktionen und ihre Realitätstüchtigkeit – sanktionstheoretische und friedenspolitische Implikationen

Am 2. August 1990 besetzten irakische Truppen Kuwait, was der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als Aggression und Bruch des Friedens verurteilte. Er forderte den Irak mit Resolution 660 zum sofortigen und bedingungslosen Rückzug auf. Als dies nicht geschah, wurden mit Resolution 661 vom 6. August 1990 umfassende Wirtschaftssanktionen verhängt, die das Einstellen jeglichen Finanz- und Wirtschaftsverkehrs beinhalteten. Dies konnte als eine entschiedene Warnung für ein entschlossenes Handeln der UNO-Mitgliedstaaten gesehen werden. Es war eine diplomatische und politische Ausnahmesituation, denn der UNO-Sicherheitsrat war sehr aktiv und verabschiedete bis zur letzten Warnung 12 Resolutionen. Am 29. November 1990 wurde Resolution 678 verabschiedet, die ein Ultimatum setzte: Wenn der Irak nicht bis zum 15. Januar 1991 alle Resolutionen umgesetzt hätte, die sich auf die Okkupation Kuwaits bezogen, würden alle Mitgliedstaaten, die mit der legitimen Regierung Kuwaits kooperierten, autorisiert „alle notwendigen Mittel“ einzusetzen, um dies vom Irak zu erzwingen und die Sicherheit und den Frieden in der Region wiederherzustellen. Es folgten zahlreiche diplomatische Initiativen, um den Irak zum Rückzug zu bewegen. Die irakische Ökonomie war durch den vorangegangen Iran-Irak-Krieg, das Anwachsen der Auslandsverschuldung und vor allem durch ihre Abhängigkeit vom (nun gestoppten) Ölexport, der über 90 % der irakischen Exporteinnahmen und etwa 50 % des Bruttosozialproduktes ausmachte, unter erheblichem Druck. Diplomatie, Drohung mit dem Militäreinsatz und Sanktionen wirkten zusammen. Einige Wissenschaftler meinten, dass allein schon die wirtschaftlichen Daten eine ideale Sanktionssituation zeigten und der Irak bald einlenken würde. Doch diese Erwartung erwies sich aus zwei Gründen als falsch: Zum einen ist die Zeit bis zur Wirkung von UNO-Sanktionen sehr lang (in vorangegangenen Fällen mit bedeutenden politischen Zielen wie bei Rhodesien und Südafrika 15 respektive 23 Jahre), zum anderen war die friedenspolitisch motivierte Annahme falsch, dass Sanktionen den Militäreinsatz ersetzen würden. Die Sanktionen dienten als Ergänzung und Vorbereitung zu einem Militärschlag. Einen Tag nach Ablauf des Ultimatums begann eine Koalition von Staaten mit einer groß angelegten militärischen Offensive, heute »Zweiter Golfkrieg« genannt, die bereits am 28. Februar 1991 mit der Befreiung Kuwaits und einer verheerenden militärischen Niederlage des Iraks endete. Damit war das politische Hauptziel (der Res. 660) erreicht, aber die Sanktionen wurden in der Folge fortgesetzt und durch Kontrollbestimmungen bzw. Waffenstillstandsbedingungen ergänzt.

Mit Resolution 687 vom 3. April 1991, die der Irak widerwillig anerkennen musste (und folgenden Resolutionen) wurde er unter eine langfristige internationale Kontrolle gestellt. Die Hauptziele der Resolution 687 bestehen primär im haftbar Machen des Irak für Kriegsschäden und in der Sicherstellung der Kontrolle über die Rüstung des Irak. Nicht nur die Vernichtung von Massenvernichtungswaffen und deren Trägersystemen war ein Hauptziel der UNO, sondern auch die Kompensation der Kriegsschäden und die korrekte Begleichung von Auslandsschulden. Wie dies ein Land schaffen soll, das selbst vom Krieg zerstört und von umfassenden Sanktionen betroffen ist, blieb unklar. Zur Kontrolle schuf die UNO folgende Sonderorganisationen:

  • eine Beobachtertruppe an der irakisch-kuwaitischen Grenze (UNIKOM);
  • eine Sonderkommission, die die Vernichtung von irakischen Massenvernichtungswaffen und deren Trägersystemen (mit einer Reichweite von über 150 Kilometern) überwacht (die sog. UNSCOM);
  • eine Kommission zur Grenzfestlegung
  • und eine Kommission zur Verwaltung eines Fonds für Reparationen bzw. Kriegsentschädigungen.

Damit entstand das umfassendste und härteste Sanktionsregime in der Geschichte der UNO. Und das wurde im Laufe der Zeit noch ausgebaut.

Nach der brutalen Niederwerfung von Aufständen im Norden und Süden des Irak und mangelnder Anerkennung von UNO-Bestimmungen wurden zusätzliche Beschlüsse gefasst, um die Aggressionsfähigkeit des Irak weiter einzuschränken: Mit Resolution 715 (1991) wurde die Aufhebung der Sanktionen an die Errichtung eines langfristigen Rüstungskontroll- und Verifikationsprogramms zur Verhinderung der Herstellung verbotener Massenvernichtungswaffen gebunden. Zuvor wurde mit Resolution 688 die Einstellung von Repressionen, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen als ein weiteres UNO-Ziel verankert, das letztlich auch die Grundlage für die (völkerrechtlich nicht legitimierte) Durchsetzung von Flugverbotszonen ist.

Von den USA und Großbritannien wurde eine zusätzliche Agenda eingeführt, in der sie die vollständige Aufhebung der Sanktionen an die exakte Erfüllung aller dieser Forderungen gebunden haben. Zu dieser Politik gehört die militärische Eindämmung des Irak durch die USA. Es geht um das versteckte Hauptziel der USA (das niemals offiziell ein UNO-Ziel war), die »hidden agenda«: die Beseitigung oder Niederhaltung des irakischen Herrschaftsregimes. Gefordert wird ein andauerndes Wohlverhalten des Irak, bei dem er seine »friedlichen Absichten« ständig zu beweisen hat (Baur, 1998:20ff). Solche kaum zu realisierenden Forderungen sind dann gleichzeitig der Hebel um eine Aufhebung der Sanktionen durch ein Veto Großbritanniens und/oder der USA im Sicherheitsrat zu verhindern.

Das Sanktionsregime kann auch im Bereich der Kontrolle der Abrüstung von irakischen Massenvernichtungswaffen als sehr hart angesehen werden. Mit Res. 707 vom 15. August 1991 wurde unter Berufung auf Kapitel VII der UNO-Charta vom Irak verlangt, den Inspektorenteams der Sonderkommission UNSCOM und der Internationalen Atomenergiebehörde sofortigen, bedingungslosen und uneingeschränkten Zugang zu allen Gebieten, Einrichtungen, Ausrüstungen, Unterlagen und Transportmitteln zu gewähren, die sie zu inspizieren wünschen. Gleichzeitig soll der Irak sofort alle Versuche der Verheimlichung und jede Bewegung und Zerstörung von Material oder Ausrüstung einstellen, die sich auf Programme für Massenvernichtungswaffen und ballistische Raketen oder Material dazu beziehen. Er wird außerdem aufgefordert, auf jegliche Fragen der UNSCOM und der IAEO und deren Inspektorenteams zu antworten. Nach dem der Irak zunächst häufig kooperierte, ohne dass die Sanktionen im Wesentlichen gelockert worden wären, kam es zu erheblichen Störungen der Inspektionen ab 1997; nach der Krise um die Inspektion von Präsidentenpalästen am 5. August 1998 stellte die irakische Seite ihre Kooperation ein. Mit dem Beharren auf einer restlosen Erfüllung aller UNO-Forderungen sieht sich der Irak in seiner Souveränität bedroht. Wahrscheinlich ist er auch mit der Aufklärung des Verbleibs von Restbeständen von Massenvernichtungswaffen überfordert. Dies kann aus friedenspolitischer Sicht für die Bewertung seiner Lage nicht ausschlaggebend sein, der Irak konnte sich aber aus seiner Sicht unmöglich in eine Situation begeben, in der umfassende Sanktionen mit einem kompletten Rüstungs- und Technologiekontroll- sowie Überwachungssystem (in der Form und mit den Autoritäten der UNSCOM) beliebig verlängerbar waren.

Das verweist auf ein für alle UNO-Sanktionen typisches Problem1: Selbst wenn die Staatengemeinschaft übermächtig ist und ihre Entschlossenheit, ihre Sanktionsziele zu erreichen auch deutlich signalisiert, kann das betroffene Herrschaftsregime durch Gegenmaßnahmen die Effektivität der Sanktionen verringern und damit die Sanktionsperiode und auch den eigenen Machterhalt verlängern. Durch Schmuggel und Abwicklung von verdecktem Handel über dritte Staaten (Umweghandel), Mobilisierung binnenwirtschaftlicher Ressourcen, Außenhandelsrestriktionen und Propaganda zum Abfangen der politischen Effekte der Wirtschaftsblockade können die Verluste durch entgangenen Handel und deren wirtschaftliche und politische Folgen abgemildert werden. Durch wirtschaftliche Umstrukturierungen mit Staatseingriffen und Subventionen sowie einer Propaganda zur Förderung der Opferbereitschaft der Bevölkerung kann negativen Effekten von Wohlfahrtsverlusten teilweise entgegengewirkt werden. Auf der externen Ebene, die durch vielfältige Formen der internationalen Isolierung geprägt sein mag, ist es wahrscheinlich, dass ein sanktionierter Staat finanzielle und andere Anreize bietet, die Sanktionen zu unterlaufen und sich erheblich bemüht, Gegenallianzen und eine Gegenpropaganda aufzubauen. Dies ist in unterschiedlichem Ausmaß auch beim Irak erkennbar. Wie bei allen wichtigen Sanktionsfällen geht es um die Frage, wie sich ein bestimmtes Herrschaftsregime aufrecht erhalten lässt, also schließlich um eine Existenzfrage. In solchen Fällen lenkt deswegen kein Herrschaftsregime ohne weiteres ein.

Wenn man die älteren, bedeutenden Fälle von UNO-Sanktionen, Rhodesien und Südafrika, betrachtet, hing der Erfolg der Politik letztlich von vier entscheidenden politischen Faktoren ab:

  • von der Existenz einer bedeutenden langjährigen Opposition, die das Herrschaftsregime durch politischen Widerstand, aber auch teilweise durch Guerillakrieg schwächte;
  • von der Fähigkeit der internationalen Gemeinschaft, durch eine menschliche und moralische Isolierung psychologischen Druck auf das Herrschaftsregime auszuüben, seine Ideologie zu entblößen und die Wandlungsfähigkeit des Herrschaftsregimes durch einen kritischen Dialog zu provozieren;
  • von der Einsichtsfähigkeit des Herrschaftsregimes, dass der wirtschaftliche und politische Preis für die Sanktionen auf Dauer zu hoch ist, sich ihr Herrschaftssystem nicht mehr halten lässt und Reformen erforderlich sind;
  • von der Herausbildung eines Verhandlungsprozesses (nur zum Teil mit internationaler Unterstützung) zwischen Regime und Opposition über einen friedlichen Systemwandel und die Abgabe politischer Herrschaft im Gegenzug zur Erhaltung von ökonomischen Grundlagen bzw. Privilegien der ehemaligen Elite.

Insgesamt gesehen sind UNO-Sanktionen nicht aus sich selbst heraus, aus der Anwendung bestimmter Techniken und der Erfüllung von quasi-technischen Zielen, effektiv. Es gibt ein komplexes Zusammenspiel verschiedenster Einflussfaktoren und Funktionsbedingungen. Die überragende Macht der Sanktionssender bzw. der UNO-Mitgliedstaaten und die Verletzlichkeit des sanktionierten Landes reicht allein nicht zur Erklärung der Faktoren, die für den politischen Wandel hauptsächlich verantwortlich sind, aus.

Hinzu kommt die Frage nach der generellen Legitimität von Sanktionen und nach ihren humanitären bzw. moralischen Grenzen. Umfassende Sanktionen können in Entwicklungsländern zu erheblichen Einschränkungen wirtschaftlicher und sozialer Menschenrechten (insbes. Recht auf Nahrung und medizinische Versorgung) führen, die rechtlich und rein humanitär nicht mehr vertretbar, unverhältnismäßig zu den angestrebten Zielen der Staatengemeinschaft sind und sich u.U. auch auf die Ziele des Sanktionsprozesses kontraproduktiv auswirken. Umfassende und harte Sanktionen können die zivilgesellschaftliche Entwicklung hemmen und zur Einschränkung der Handlungsfähigkeit oppositioneller Kräfte führen. Im Ergebnis leidet die Bevölkerung unter den Sanktionen und kann gleichzeitig nicht zum Erreichen der Sanktionsziele beitragen. Gleichzeitig sind harte Sanktionen ein Anlass für das Herrschaftsregime, härter gegen die Opposition vorzugehen und eine gesamtgesellschaftliche Solidarität, »Treue« gegenüber dem Herrschaftsregime einzufordern. Resultat dieses Prozesses sind Ohnmacht und Lethargie und damit eine mangelnde Wandlungsfähigkeit des Gesellschaftssystems. Die Gesellschaft ist durch die umfassenden Sanktionen gefangen, ohne dass sie die Situation positiv verändern könnte. Dies wirft insgesamt die Frage nach der Legitimität eines solchen Sanktionsregimes auf. Auch kann in einem solchen Fall m.E. nicht automatisch von einer Zivilisierung außenpolitischer Mittel gesprochen werden, nur weil man auf den Einsatz von Militär größtenteils verzichtet.

Für alle diese Sachverhalte ist der Irak ein Musterbeispiel. Er ist außerdem ein Fall, in dem die Öffentlichkeit dringend über die Problematiken und die enormen negativen humanitären Auswirkungen aufgeklärt werden muss. Gleichzeitig gilt es Möglichkeiten eines politischen Erfolges und Alternativen zu der bisherigen Politik eines harten Sanktionsregimes zu diskutieren, die realpolitisch durchsetzbar und funktional sind. Für den Fall des Irak muss die Sanktionspolitik so revidiert werden, dass sie nicht mehr als „Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“ (Braunmühl, 1998) begriffen werden kann.

Die unzureichenden Möglichkeiten des innenpolitischen Wandels

In der Folge der Sanktionen sind im Irak eine enorme Verschlechterung des gesamten sozialen Gefüges und ein starker sozialer Abstieg zu beobachten: Die zum »Herrschaftslegitimationszentrum« gehörenden Sunniten, unter ihnen hochausgebildete Leute, Technokraten, Lehrer und auch Journalisten, sollen im Laufe der Zeit verarmt sein. Dies betrifft sogar Personen aus der Elite der Baath-Partei und des Militärs. Die Ausreise von hochgebildeten Leistungsträgern wie Wissenschaftlern, Professoren und Ingenieuren wurde mit einer Gebühr von 5 Mio. Dinar belegt, um eine weitere Abwanderung zu verhindern. Für normale Bürgerinnen und Bürger wurde die Gebühr von 6.000 auf 200.000 Dinar angehoben. Die sozialen Folgen des Niedergangs sozialer und moralischer Einstellungen in der irakischen Bevölkerung sind nicht mehr zu übersehen: steigende Kriminalität, Wucherpreise, offene Prostitution, weit verbreitete Korruption, Abnehmen bürgerlicher Tugenden und sinkender Schulbesuch der irakischen Jugend. Oft müssen Kinder zum Betteln und Stehlen auf die Straße geschickt werden, obwohl darauf drakonische Strafen stehen (Cordesman/Hashim,1997: 14ff).

Ein Überleben des irakischen Regimes ist durch die Maßnahmen erklärlich, die als eine Art Krisenprävention vom Herrschaftsregime Saddam Husseins ergriffen wurden. Nach dem Zweiten Golfkrieg ist es ihm gelungen, durch Versprechen von Reformen, scheinbare Rückbesinnung auf den Islam und Einbinden von bekannten Persönlichkeiten den Schein eines politischem Wandels aufzubauen. Im Frühjahr 1991 wurden politische Reformen angekündigt, die die Rolle der Baath-Partei reduzieren und ein Mehrparteiensystem einführen sollten. Von Anfang an waren diese Reformen aber so minimal, dass praktisch keine politischen Veränderung eintraten Im Gegenteil: Saddam Hussein trat in seinen Reden Vorstellungen von westlicher Demokratie und anderen Formen politischer Liberalisierung entgegen und machte klar, dass niemand aus dieser politischen Richtung mit Führungspositionen im politischen, sozialen und kulturellen Leben des Landes rechnen könne. Durch geschicktes Manövrieren innerhalb des Regierungsapparates wurde außerdem ein Wandel des absolutistischen Systems verhindert. Eine weitere Herrschaftstechnik war es, erfolglosen Ministern auch eine Teilschuld an der ökonomischen Misere zuzuweisen. Dies mag dem Zentrum der irakischen politischen Elite noch mehr das Gefühl vermittelt haben, dass es auf absehbare Zeit keine Alternative zu Saddam Hussein geben dürfte. Viele der sunnitischen Führungseliten machen den Westen, besonders die USA, verantwortlich für die systematische Zerstörung des Irak als moderner Regionalmacht. Es heißt deshalb auch, sunnitische Intellektuelle, die in privaten Gesprächen aus ihrer Gegnerschaft zu Saddam Hussein kein Hehl machten, seien oftmals weitaus nationalistischer oder »anti-imperialistischer« als dieser, sie stünden nicht für Reformen oder Demokratie (Cordesman/Hashim, 1997: 16ff).

Opposition und Putschversuchen aus dem Zentrum der irakischen Herrschaftseliten, den sunnitischen Machteliten, ist Saddam Hussein immer wieder mit brutaler Gewalt entgegengetreten (Vgl. Koszinowski, 1996: 73). Saddam Husseins Herrschaftssicherung beruht immer mehr auf Vetternwirtschaft und Patronage. Er umgibt sich mit Verwandten und Freunden aus der Takrit-Region. Diese Mitglieder einer »erweiterten Familie« sind eng an ihn gebunden und erlauben ihm seine persönliche Herrschaft über das Militär, die Sicherheitsdienste, die Baath-Partei und die Regierung. Schlüsselpositionen werden, vermutlich zur Verhinderung der Herausbildung einer störenden Hausmacht, häufig umbesetzt (Cordesman/Hashim 1997:19ff). Zudem nutzt der irakische Staatsapparat ein Netz von Staatssicherheitsdiensten und Geheimdiensten, bei denen im Jahr 1995 ca. 100.000 Menschen beschäftigt waren. Unterstützt werden sie von einzelnen Abteilungen der Baath-Partei und »Volksräten«, die oft mit Rechten ausgestattet sind, die normalerweise nur Polizei und Justiz zustehen (Blair. 1994: 2). Saddam Hussein hat eine persönliche Elitetruppe von mindestens 15.000 Mann zu seinem Schutz sowie eine ausgewählte persönliche Leibwache.

Wer auf einen innenpolitischen Wandel hofft, sollte beachten, dass etwa zwei Millionen Iraker im Ausland leben, darunter ein großer Teil der Opposition. Die ersten größeren Auswanderungswellen gab es schon in den 70er und 80er Jahren. Islamisten, Kommunisten und Kurden wurden damals massiv attackiert und ins Exil gezwungen. Die Opposition gliedert sich im Wesentlichen in folgende Gruppen: Islamisten, arabische Nationalisten, Kurden, Kommunisten und Demokraten sowie Parteien assyrischer und turkomanischer Minderheiten. Die Zufluchtsländer für die Flüchtlinge waren hauptsächlich der Iran für islamistische Gruppen, der kurdische Norden des Irak (oder »Kurdistan«) für Kurden und Kommunisten und Syrien für arabische Nationalisten und Kommunisten (Francke, 1994: 153). Der irakische Staat reagierte auf die interne Opposition und die Aufstände nach dem Golfkrieg mit einer erneuten Welle der Repression und Unterdrückung, so dass z.B. der shiitische Widerstand in den Untergrund gehen musste. Manche shiitischen Gruppen sahen sich sogar gezwungen, ihre Basis in den schwer zugänglichen Sümpfen des Euphrat und Tigris aufzubauen. Der repressive Staatsapparat aus zivilen und militärischen Geheimdiensten ist so umfassend, dass einige irakische Oppositionelle von einem »Terror-Netzwerk« (al-Khafaji, 1994: 20ff) reden.

Die Chancen der Opposition, die »Kreise der Macht« im Irak zu stören und eine politische Alternative aufzubauen, sind momentan gering. Die Opposition ist politisch zerstritten und ethnisch zersplittert. Zwei der wichtigsten Strömungen, die Islamisten und die Kommunisten, sind kaum miteinander vereinbar. Einflussreiche kurdische Gruppen kämpften im 1. Golfkrieg selbst dann noch auf Seiten des Iran, als der Irak bereits zu gewinnen schien. Der Irak führte praktisch mitten im Iran-Irak-Krieg auch noch sechs Jahre Bürgerkrieg gegen die Kurden. Gleichzeitig musste das Regime Saddam Husseins sich während dieses Krieges immer wieder der Loyalität der Shiiten (die die Bevölkerungsmehrheit bilden) versichern. Unter diesen Bedingungen galt schon damals jede Opposition als Verrat.

Einer der wenigen Ansatzpunkte für eine Opposition ist die Tatsache, dass der irakische Staat von einer sunnitischen Minderheit beherrscht wird, die nur etwa ein Drittel der Bevölkerung ausmacht, während die (nicht-arabischen) Kurden und die Shiiten zusammen eine übergroße Mehrheit bilden. Die Opposition ist aber nicht nur gespalten, die Trennlinien sind vor allem ethnisch oder religiös bestimmt, ausgenommen Demokraten und Kommunisten. Eine Einigung zumindest eines größeren Teils der über 70 Oppositionsgruppen ist aber nur möglich, wenn die Frage des Umgangs mit Minderheiten gelöst wird. Ein Hauptstreitpunkt innerhalb der irakischen Opposition im Exil ist deswegen die Frage, ob und wie in einem neuen Irak föderale Strukturen eingerichtet werden können. Auch ist die irakische Opposition sich in der Art des anzustrebenden Wandels uneinig: durch Volksaufstand/Guerillakampf oder durch Bündnisse mit dem Militär. Aus Sicht der irakischen Opposition wäre ein Sturz des Regimes möglich gewesen, wenn die Golfkriegsalliierten sie bei den Aufständen unmittelbar nach dem Golfkrieg unterstützt hätten. So hat die Repression in Folge der kurdischen und shiitischen Aufstände mehr Opfer gekostet haben als der Golfkrieg selbst (Luizard, 1995: 19f und Francke, 1994: 173ff).

Auch heute beklagt die irakische Opposition, sie werde nicht genügend von der internationalen Gemeinschaft unterstützt. Teile kritisieren auch die derzeit bestehenden Sanktionen als kontraproduktiv. Diese führten dazu, dass der tägliche Überlebenskampf keinen Raum für politische Aktivitäten mehr lasse (Pertes, 1997: 255).

Die Arbeit der UNSCOM und die Effektivität der Sanktionen

Schon vor Jahren kritisierten US-amerikanische Stellen, dass der Irak seine Infrastruktur für konventionelle Waffen, darunter auch Raketen, wieder aufbaue. Der Bau von Raketen mit einer Reichweite unter 150 km ist dem Irak aber erlaubt und Erkenntnisse über die Reichweite der Raketen, darüber, ob sie technisch ausgereift und überhaupt einsatzbereit sind, liegen angeblich nicht vor. Über eine Chemiefabrik, die früher chemische Waffen produzierte, heißt es, sie sei wieder aufgebaut worden und diene der Produktion von Chlor- und Phenolverbindungen, könne aber jederzeit zur Produktion chemischer Kampfstoffe oder von Vorstufen-Chemikalien umgerüstet werden. Mit solchen Behauptungen wird ein Generalverdacht gegenüber jeglicher industrieller Produktion aufgebaut. Die Zuverlässigkeit solcher und ähnlicher Angaben lässt sich kaum überprüfen. Der geflüchtete irakischer General Wafiq as-Sammarra'i Ende 1994/Anfang 1995 sagte, die irakische Rüstungsindustrie sei nun wieder fähig, leichte Munition zu fabrizieren (Baram, 1995: 27f); dagegen behaupteten die US-Amerikaner bereits ein Jahr zuvor, nach Geheimdienstangaben habe der Irak die Produktion von T-72-Panzern wieder aufgenommen habe, sowie die eingeschränkte Produktion von Artillerie und Kurzstreckenraketen, kleinen Waffen und Ersatzteilen für Fahrzeuge und Waffen. Woher der Irak – trotz des Embargos – dafür die Mittel haben soll, bleibt schleierhaft. Aber gerade wegen des »Dauerverdachts« lohnt sich ein Blick zurück auf die Erfolge bzw. Nichterfolge der UNSCOM.

Von Anfang an kooperierte der Irak bei der systematischen Erfassung seiner Rüstung nur in sehr unzureichender Weise. Die Deklarationen des Irak erwiesen sich als falsch und unvollständig. Allein im Sommer 1991 entdeckte die UNSCOM Scud-Raketen und mobile Abschussrampen, die vorher nicht bekannt waren, sowie 50 stationäre Abschussvorrichtungen, 23.000 zusätzliche Teile chemischer Munition, große Mengen von Vorstufen-Chemikalien für die Produktion chemischer Waffen und zwei Anlagen, die mit dem biologischen Programm verbunden waren. In zwei groß angelegten Inspektionen gelang es trotz der Weigerung des Irak (im zweiten Fall nur durch Intervention des Sicherheitsrates und die Androhung militärischer Gewalt), eine enorme Anzahl von relevanten Dokumenten über das Nuklearprogramm sicherzustellen. Das alles war aber nur ein anfänglicher Triumph, denn von diesem Zeitpunkt an wird angenommen, dass der Irak Sofortmaßnahmen ergriff um alle relevanten Dokumente zu vernichten und in den Anlagen alle Spuren zu beseitigen. Die Arbeit der UNSCOM war von diesem Zeitpunkt an (Sommer 1991) auf einen großen technischen Aufwand, z.B. Luftaufnahmen per Hubschrauber, Flugzeugen und Satelliten, angewiesen (UNSCOM – Inspecting for Peace, 1998: 57f).

Die Untersuchung des Programms für biologische Waffen dauerte – aufgrund der Nichtkooperation des Irak – dann auch sehr lange, bis eine Aufklärung erreicht werden konnte. Erst nachdem der für irakische Waffenprogramme zuständige General Hussein Kamel Hassan Anfang August 1995 nach Jordanien geflüchtet war, händigte die irakische Regierung der UNSCOM plötzlich ca. 600.000 Dokumente, Filme, Videos und Mikrofiches aus, die angeblich von eben jenem General in einem landwirtschaftlichen Haus versteckt worden waren (UNSCOM – Inspecting for Peace, 1998: 59f).

Erfolge der UNO-Sonderkommission zur Abrüstung des Irak (UNSCOM)

Trotz aller Nichtkooperation und Behinderungen seitens der Iraker hat die UNSCOM enormen Erfolg gehabt:

  • die Aufdeckung verschiedener Programme zur Urananreicherung für die Herstellung atomwaffenfähigen Materials, Verfahren zur Gewinnung von Plutonium und Produktionsstätten zur Herstellung einer Boden-Boden-Atombombe, die allein mit irakischen Mitteln hergestellt werden sollte,
  • die Entdeckung der Produktion chemischer Waffen in einem größeren Ausmaß als deklariert wurde, was fünf Anlagen und zusätzliche, modernere C-Waffen einschloss (z.B. das höchst gefährliche und wirksame Nervengas VX), zwischen 38.500 (bei einer Anlage) bis über 200.000 Stück chemische Munition, zwischen 690 bis über 4.000 t chemische Kampfstoffe in größeren Mengen und etwa (bei einer Anlage) 3.000 bis zu 20.000 t Vorstoffe für chemische Waffen sowie mindestens 426 Teile von Produktionseinrichtungen und 91 Teile damit verbundenen analytischen Equipments,
  • den Fund von drei biologischen Waffenprogrammen (letale Humanpathogene, nicht-letale Humanpathogene und Tier- und Pflanzenpathogene). Diese Programme umfassten die Produktion von etwa 19.000 Litern Botulinum-Toxin, 8.500 Litern Anthrax und 2.000 Litern (Leberkrebs verursachendes) Aflatoxin. Diese drei chemischen Kampfstoffe wurden bereits in waffenfertiger Form als Bomben, Raketensprengköpfe und taktische Feldmunition (122mm-Raketen und 155mm Artilleriemunition) hergestellt. Der Irak hatte außerdem an einem ferngesteuerten Flugkörper experimentiert, der die Kampfstoffe hinter feindlichen Linien versprühen sollte. Die ganze biologische Haupt-Waffenfabrik in Al-Hakam wurde unter der Aufsicht der UNSCOM zerstört.
  • die Entdeckung einer fertiggestellten Langstreckenkanone (Supergun) sowie von Teilen und Antriebstoffen für vier weitere,
  • die Enthüllung und Aufklärung, dass mehr Scud-Raketen und Abschussrampen vorhanden waren, als der Irak ursprünglich erklärt hatte, sowie drei Programme für die einheimische Produktion von Raketen mit unerlaubter Reichweite (über 150 km), zum Teil mit erheblich höherer Reichweite (die allerdings nie realisiert wurden, S.R.), darunter 48 fertige Langstreckenraketen, 14 konventionelle Sprengköpfe, sechs fertige mobile Abschussrampen, 28 feste Abschussvorrichtungen etc.
  • die Aufdeckung von Produktionsstätten und Ausrüstungen, die mit Iraks verschiedenen Nuklearwaffenprogrammen verbunden waren, sowie die Entfernung von Uran und Plutonium aus dem Irak mit Hilfe der IAEO,
  • die Zerstörung oder Verifikation der Zerstörung
  • von Varianten von Scud-Raketen, 19 mobilen Abschussrampen, 76 chemischen und 113 konventionellen Sprengköpfen für die Scud-Varianten, 60 weiteren, festen Abschussvorrichtungen, Produktionseinrichtungen, Unterstützungsgerät (z.B. Radar-Fahrzeugen) sowie weiteren Komponenten
  • der Langstreckenkanone, ihrer Komponenten und Antriebsstoffe,
  • der biologischen Grund- bzw. Brutstoffe und der biologischen Waffenproduktion in der Hauptproduktionsstätte al-Hakam,
  • der Produktionsanlage für chemische Waffen und der Ausrüstung des Muthanna Staatsunternehmens und seiner Einrichtungen in Fullajah,
  • von 480.000 Litern chemischer Kampfstoffe (Senfgas, Sarin, Tabun), 28.000 Stück gefüllter und 12.000 Stück ungefüllter chemischer Munition und große Mengen von 45 verschiedenen Vorstoffen für chemische Waffen.

(UNSCOM – Inspecting for Peace 1998: 62f)

Für US-Präsident Clinton hat die UNSCOM damit mehr Waffen zerstört hat als die ganze Operation »Desert Storm«, der alliierte Militärschlag zur Befreiung Kuwaits und zur Niederhaltung militärischer Kapazitäten im Irak.

Auch der vielfach entstandene oder erweckte Eindruck, die Inspektoren seien andauernd oder zumindest sehr häufig behindert worden, ist nicht immer richtig. Der letzte UNSCOM-Bericht des Jahres 1995 (S/1996/258), der insgesamt 19. Bericht des Vorsitzenden der Sonderkommission, stellt z.B. in Absatz 18 fest: „Während der Berichtsperiode hat die Kommission eine Anzahl von Inspektionen durchgeführt. Irak hat in den meisten Fällen seine Verpflichtungen erfüllt.“ Für eine Inspektion wird die Zusammenarbeit des Irak in dieser Berichtsperiode sogar hervorgehoben, und lediglich die irakische Verweigerung einer Inspektion (UNSCOM 143) vom 8.-17. März wird bemängelt.

Beispielhaft sollen einige Berichte über den Inspektionsprozess aus den Jahren 1995-97 hier dargestellt oder angeführt werden, um die relative Normalität des Ablaufs und die Grenzen der UNSCOM-Inspektionen in ihrer Gesamtheit zu zeigen. Ein Beispiel für die Dimension der Überwachung: Die Inspektionen im »biologischen Bereich« erstreckten sich 1995 auf 80 biologische Forschungs- und Produktionseinrichtungen im Irak, von denen ganze fünf intensiv überwacht werden mussten (Zilinskas, 1995: 256ff). Ein ehemaliger Inspektor, der ausführlich Inspektions- und Analysemethoden schilderte, stellte schließlich fest, dass der Großteil der Anlagen, die er besuchte, weder die Ausrüstung noch das Personal hatte, mit Pathogenen umzugehen, ohne die Beschäftigten einer großen Gefahr auszusetzen (Mohr, 1995: 243).

Im März 1996 erklärte der Vorsitzende der UNSCOM, Ekéus, dass das Programm für die laufende Überwachung und Verifikation im Irak wahrscheinlich noch für 15-20 Jahre fortgeführt werden müsste.

Im Bagdader Zentrum der UNSCOM arbeiteten 1997 mehr als 100 Leute, einschließlich 20 Wissenschaftler und Spezialisten in Nuklearphysik, Chemie, Biologie und Raketentechnologie. Sie führten unangekündigt Inspektionen durch. Gleichzeitig gab es das Import/Exportkontrollsystem und es wurden Übertragungen von 150 Überwachungskameras kontrolliert. Nach sechs Jahren konnte die UNSCOM trotzdem noch keine vollständige und genaue Versicherung geben, dass alle irakischen Programme für Massenvernichtungswaffen aufgedeckt wurden. Die UNSCOM konnte während des Jahres 1997 für die Vernichtung großer Mengen von Vorstoffen des gefährlichen Nervengases VX keine Nachweise finden und hatte Evidenz dafür, dass möglicherweise immer noch Sprengköpfe mit B- und C-Waffenmunition existierten, da ihre Vernichtung nicht nachgewiesen werden konnte. In dieser Situation stieg die Anzahl der Behinderungen, so wurde z.B. den UN-Inspektoren der Zutritt zu verschiedenen Einrichtungen, wie präsidentialen Anlagen, verweigert und die Nationalität einiger Inspektoren bemängelt (Zanders/Hart, 1998: 481ff). Dennoch gab es auch in diesem Jahr bemerkenswerte Fortschritte bei der Abrüstung, wie z.B. im Raketensektor (UN-Dok. S/1997/774, Abs. 23-43).

Abschließend lässt sich feststellen, dass die Anzahl der Behinderungen von Inspektionen zwar relativ klein war (insgesamt hatten die Inspektorengruppen in sechs Monaten des Jahres 1997 über 700 Inspektionen durchgeführt), die Obstruktionspolitik des Irak verstärkte aber dass bereits vorhandene Misstrauen.

Seit Ende 1998 kann die Politik gegenüber dem Irak mit dem Wort »Stillstand« bezeichnet werden. Eine vollständige Abrüstung des Irak und die Erfüllung der Verpflichtungen nach Res. 687 (1995) konnten nicht erreicht werden. Gleichwohl könnte die UNO den bereits erreichten Stand der Abrüstung von Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägersysteme als befriedigend und die verbleibenden Fragen als tolerierbar bezeichnen, ohne dass sie von dem Ziel der vollständigen Abrüstung in diesem Bereich abrücken müsste. Notwendig wäre dazu lediglich eine neue Kontrollpolitik, die mit dem Irak ausgehandelt werden müsste.

Die friedenspolitisch wesentlichsten Gründe: Das Leiden der irakischen Bevölkerung unter den Sanktionen ist unverhältnismäßig hoch während das Herrschaftsregime von Saddam Hussein dadurch nicht in Frage gestellt wird.

Die harten humanitären Folgen der Sanktionen

Bereits der Iran-Irak-Krieg hatte dem Irak enorme materielle Schäden zugefügt. Sluglett und Farouk-Sluglett schätzen die Kosten dieses Krieges – einschließlich der Verluste aus Erdöleinnahmen, der Einbußen im BSP sowie der Infrastrukturschäden – auf 452,6 Mrd. US$ (Sluglett/Farouk-Sluglett, 1991: 278f).

Der 43-tägige Golfkrieg führte zu einer weit gehenden Zerstörung der zivilen Infrastruktur. 90.000 t Explosivstoffe wurden von der internationalen Koalition abgeworfen. 2.500-3.000 Zivilisten wurden getötet und 9.000 Häuser zerstört (Hoskins, 1997: 91ff).

Die UNO-Sanktionen trafen den Irak also bereits in einer ökonomisch äußerst komplizierten Situation und sie führten dazu, dass sich in kürzester Zeit das Bruttosozialprodukt fast halbierte.

Die Auswirkungen der Kriegsführung und der Sanktionen waren für die Bevölkerung katastrophal. Nach dem Bericht eines deutschen Beobachters traten folgende Effekte ein:

  • Die Versorgung mit Elektrizität und Brennstoffen kam zum Erliegen.
  • 90% der Industriearbeiter wurden zur Inaktivität gezwungen und waren ohne Einkommen.
  • Die Preise für Lebensmittel waren und sind für die Mehrheit der Bevölkerung zu hoch.
  • Das einzige Laboratorium zur Produktion von Impfstoffen war zerstört.
  • Die Getreideernte war schwer gefährdet, da die Bewässerungssysteme zerstört waren und es keinerlei Pestizide und Düngemittel gab. Das mechanisierte Einbringen der Ernte war von Treibstoff und Ersatzteilen abhängig, die fehlten.
  • Die normale Infrastruktur war weit gehend zusammengebrochen, insbesondere bei der Wasserversorgung, der Abwasserreinigung, der Elektrizitätsversorgung, der Müllbeseitigung, der Treibstoffversorgung und im Telefonssystem (Ruf, 1994: 79f).

Der UN-Bericht (UN-Dokument S/22799), der in Zusammenarbeit mit vielen UNO-Organisationen vor Ort unter der Leitung des Exekutivdelegierten des UNO-Generalsekretärs, Sadruddin Aga Khan, erstellt und am 15. Juli 1991 veröffentlicht wurde, schätzte den jährlichen Bedarf für die Wiederherstellung einer normalen Infrastrukturversorgung im Irak auf 6,85 Mrd. $. Er verwies im Absatz 26 auf einen unmittelbaren humanitären Anfangsbedarf von rund 22 Mrd. $, um die elementarsten Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu decken.

Mit Sicherheitsratsresolution 666 vom 13. September 1990 war dem Irak-Sanktionsausschuss die Aufgabe zugewiesen worden, die Nahrungsmittelsituation im Irak (und in Kuwait) ständig zu überwachen, um festzustellen, ob humanitäre Umstände eingetreten sind, die die Lieferung von Nahrungsmitteln notwendig machen. Mit der Resolution 687 (1991) entfiel die Notwendigkeit des Nachweises, dass humanitäre Umstände vorliegen, und Lieferungen solcher Art konnten nach einem kurzen Genehmigungsverfahren, dem »vereinfachten und beschleunigten Kein-Einwand-Verfahren« (Genehmigung der Lieferung, wenn kein Mitglied des Sanktionsausschusses einen Einwand erhebt), behandelt werden. Der erste Bericht durch einen Vertreter des Generalsekretärs, der so genannte Athisaari-Bericht, hatte „auf einer dringenden humanitären Grundlage“ auch Ersatzteile, Chlorverbindungen, Pumpausrüstungen als Gegenstände vorgeschlagen, deren Export in den Irak erlaubt sein sollte. Res. 687 verwies auf diese Empfehlungen und bestimmte, dass „Materialien und Bedarf für essenzielle zivile Notwendigkeiten/Bedürfnisse wie in dem Bericht des Generalsekretärs vom 20. März 1991 identifiziert“ nach einem „vereinfachten und beschleunigten Kein-Einwand-Verfahren“ behandelt werden sollen. Bis heute gibt es aber keine Liste sofort zu genehmigender Güter, es wird an Einzelfallentscheidungen festgehalten.

Viele der mit den Sanktionen befassten UNO-Mitarbeiter und auch politisch verantwortliche Vertreter von Staaten in der UNO haben 1991 nicht einmal den Versuch gemacht, sich eine genaue Übersicht über die humanitäre Situation im Irak zu verschaffen. Vorliegende Studien wurden trotz ihrer Plausibilität in Zweifel gezogen. Auch der Irak selbst zeigte sich nicht gerade kooperativ. Versuche seitens des Sicherheitsrates und des Sanktionsausschusses eine Liste aufzusetzen, die vielleicht mit der Zustimmung des Sicherheitsrates vom Kein-Einwand-Verfahren zu einer simplen Anmeldungs- bzw. »Notifikationsprozedur« hätten führen können, scheiterten aufgrund des irakischen Verhaltens. Dies veranlasste den Sicherheitsrat im Februar 1992 zu der Aussage, dass der Irak damit „der Möglichkeit verlustig geht, die lebenswichtigen Bedürfnisse seiner Zivilbevölkerung zu begegnen und darum die volle Verantwortung für ihre humanitären Probleme trägt“ (Braunmühl/ Kulessa, 1995: 93f).

Unmittelbar nach dem Krieg, im Juli 1991, hatte die UNICEF aber schon vor schwer wiegender Unterernährung bei Kindern unter fünf Jahren gewarnt. Im zweiten Jahr nach dem Krieg machte die Nahrungs- und Landwirtschafts-Organisation der UNO, FAO, darauf aufmerksam, dass die große Mehrheit der irakischen Bevölkerung unter schwerer Unterprivilegierung, Hunger und Unterernährung leidet und der Irak zu diesem Zeitpunkt eine Kalorienversorgung unterhalb derer von afrikanischen Katastrophengebieten hatte (Hoskins, 1997: 111ff).

Die finanzielle Lage des Irak hätte sich – auch wenn die Sanktionen zu einem großen Teil aufgehoben worden wären – auf absehbare Zeit nicht besonders verändert, denn der Irak hat Kriegsentschädigungen in Höhe von etwa 50-60 Mrd. $ und Auslandschulden von etwa 75,5 Mrd. $ zu zahlen. Vielleicht wird die Summe der Kriegsentschädigungen noch höher, denn im Mai 1994 lagen der UNO-Kompensationskommission Schadenersatzansprüche in Höhe von 81 Mrd. $ vor.

Um die Lage der irakischen Bevölkerung zu verbessern und die dringendsten humanitären Bedürfnisse erfüllen zu können, hat der UNO-Sicherheitsrat – durch den Bericht der FAO alarmiert – mit den Resolutionen 706 und 712 vom 16. August und 19. September 1991 den Export von Öl im Wert von 1,6 Mrd. $ erlaubt. Der Irak ging darauf nicht ein, da die UN-Überwachung der Nahrungsmittel-Auslieferung die Souveränität des Irak verletze. Es dauerte bis zum 14. April 1995, bis der Sicherheitsrat sein Angebot verbesserte und mit Resolution 986 den überwachten Verkauf von Öl für 2 Mrd. $ innerhalb von 180 Tagen unter internationaler Kontrolle offerierte. Allerdings fließen 30 % der Einnahmen in einen Kompensationsfond zur Begleichung der Kriegsreparationen und etwa 20 % sind für Nothilfemaßnahmen im Nord-Irak vorgesehen. Der Irak wies auch diesen Vorschlag zuerst zurück, weil er dadurch die Souveränität des Landes gefährdet und dahinter die Förderung einer Sezession sah. Die wirtschaftliche Situation des Landes war unterdessen durch Hyperinflation, den Zusammenbruch der Märkte und den extremen Anstieg von Arbeitslosigkeit und Mittellosigkeit großer Teile der Bevölkerung gekennzeichnet. Die irakische Regierung erklärte im März 1993, dass 234.000 Menschen, darunter 83.000 Kinder unter fünf Jahren „als Resultat der Sanktionen“ zwischen August 1990 und Januar 1993 gestorben seien, die medizinischen Versorgung hätte um 85% reduziert werden müssen. Im September 1994 kündigte das Welternährungsprogramm ein sechsmonatiges Notprogramm mit der Lieferung von über 100.000 t Nahrungsmittelhilfe für 1,3 Mio. Menschen an. Im Mai 1995 schätzten UNO-Organisationen die Zahl der von Nahrungsmittelrationen abhängigen Personen auf 4 Mio., davon litten mindestens eine Millionen Menschen chronischen Hunger, etwa 23 % der Kinder unter 5 Jahren waren unterernährt. Es wurde ein Notprogramm für 183,3 Mio. $ für ein Jahr vorgeschlagen um den Hunger zu mildern sowie Wasser-, Gesundheits-, Sanitär- und Erziehungsprojekte durchzuführen und vertriebene Familien wiederanzusiedeln. Bis zum Oktober 1995 waren für dieses Programm aber nur 40 Mio. $ gespendet worden. (Das Öl-für-Nahrung-Programm war zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht angelaufen.) Nach langen Verhandlungen mit der irakischen Regierung wurde im Mai 1996 ein Memorandum der Verständigung unterzeichnet, in dem der Irak den Bedingungen der Überwachung des Öl-für-Nahrung-Programms nach Resolution 986 (1995) zustimmte. Nach diesem Schritt sollte der Irak einem detaillierten Umsetzungsprogramm des Sanktionsausschusses zustimmen. Die USA übten innerhalb der UNO aber gleichzeitig Druck aus, um sehr starke Überwachungsmechanismen zu jedem Stadium der vorgeschlagenen Export-, Import- und Distributionsprozeduren zu etablieren. Die USA waren weiterhin sehr bemüht, sicherzustellen, dass innerhalb der UNO eine sehr enge Definition von humanitären Lieferungen galt, um einen möglichen Missbrauch von importierten Gütern für andere Zwecke auszuschließen. Der Umsetzungsplan wurde vom UNO-Sanktionsausschuss Anfang August 1996 genehmigt und es wurde angenommen, dass bis Mitte September alle notwendigen organisatorischen Maßnahmen dafür getroffen wären. Wegen einer politischen Krise in den Beziehungen zwischen Irak und den USA wurden die Vorbereitungsarbeiten dann aber vorübergehend eingestellt, so dass diese erst Ende November 1996 abgeschlossen werden konnten. Am 10. Dezember begann schließlich die Ölförderung unter UNO-Kontrolle. Zu diesem Zeitpunkt war der Verkauf von Öl im Wert von 2 Mrd. $ für eine Periode von 180 Tagen erlaubt und alle Einnahmen wurden auf ein UNO-Treuhandkonto eingezahlt. Von diesem Betrag gehen folgende Summen ab: 20 Mio. $ für die Verwaltung des Treuhandkontos, 44,32 Mio. $ für operationelle und administrative Kosten der UNO, 15 Mio. $ für die UNO-Sonder- bzw. Spezialkommission für den Irak (UNSCOM), die die Einhaltung der Waffenstillstandsbedingungen überwacht und 600 Mio. $ für Kriegsentschädigungen. Es bleiben rund 1,3 Mrd. für den Kauf von humanitären Gütern, von denen nochmals 260 Mio. für die UN-Hilfsprogramme in kurdisch kontrollierten Gebieten bestimmt sind.

Durch einen Bericht des UNO-Generalsekretärs vom 4. September 1991 (S/23006) war der Sicherheitsrat über den enormen humanitären Bedarf des Irak orientiert, denn in Absatz 17 dieses UNO-Dokumentes werden allein die Nahrungsbedürfnisse des Irak für ein halbes Jahr auf einen Wert von 1,1 Mrd. $ geschätzt. Zusätzlich wurde erwartet, dass

  • für den Wiederaufbau der wesentlichen Gesundheitsdienste weitere 250 Mio. $,
  • für spezielle Ernährungsprogramme von Müttern und Kindern 27 Mio. $,
  • für Wasser- und Sanitärinfrastruktur 120 Mio. $
  • und für den Aufbau einer ausreichenden landwirtschaftlichen Basis 300 Mio. $

gebraucht würden.

Konsequenterweise sprach sich der Generalsekretär (in Absatz 57. (b)) für eine Erhöhung des maximalen Ölverkaufs für humanitäre Belange über den Betrag von 1,6 Mrd. $ hinaus aus, der in Res. 706 (1991) festgelegt worden war. Sämtliche Überwachungs- und Kontrollstrukturen der UNO und die administrativen Vorgehensweisen, um im Irak sowohl den Export von Öl, als auch den Import und die Distribution der Güter zu vollziehen, waren zu diesem Zeitpunkt bereits ausgearbeitet (International Legal Materials, 30, 6, Nov. 1991: 1722ff). In Res. 712 vom 19. September 1991 wurde dann aber der Betrag von Res. 706 nicht erhöht, sondern nur eine Anweisung erteilt, dass das erste Drittel der Summe für humanitäre Zwecke freigegeben werden darf.

Die Sachverhalte einer sehr schwierigen medizinischen und Ernährungslage waren über fünf Jahre bekannt, sie wurden auch in öffentlich zugänglichen Informationsquellen dokumentiert – wenngleich nur bruchstückhaft, eine unmittelbare Änderung der Sanktionspolitik und zumindest eine genauere Übersicht hätte erfolgen müssen (vgl. zur finanziellen und sozialen Situation: Alnasrawi, 1992, zur medizinischen Situation und zur Säuglingssterblichkeit: Effect of the Gulf War on Infant and Child Mortality in Iraq, 1992). Durch die Verhängung eines umfassenden Sanktionsregimes unter Einschluss humanitärer Güter und eine zu geringe Abmilderung des Sanktionsregimes durch Ölverkäufe sowie eine zu starke Kontrolle der zu liefernden humanitären Güter durch den Sanktionsausschuss haben sich der UNO-Sicherheitsrat und sein Sanktionsausschuss, namentlich seine Mitglieder Großbritannien und USA, massiver Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht. Sie haben einen politischen Druck gegenüber dem Irak ausgeübt, der in der Intensität der Mittel völkerrechtlich nicht mehr zu legitimieren ist. Die Haltung der restriktiven Staaten im Sanktionsausschuss sollte wahrscheinlich dazu beitragen, die irakische Bevölkerung zu demoralisieren und so den Kollaps des Regimes herbeizuführen. In der Praxis hieß dies, dass die vom Sanktionsausschuss zeitweilig oder vollständig abgelehnten Güter auch unzweifelhaft notwendige humanitäre Güter umfassen konnten. Zu den abgelehnten Waren gehörten z.B. Babynahrung, Nahrungsmittel, diverse Textilien, Schulmaterialien, Spielzeug, Körperpflegemittel, Wasserreinigungschemikalien, eine Vielzahl von medizinisch unabdingbaren, zur Grundausstattung gehörende Güter (Verbandsmaterial, Röntgenausrüstungen, Dialysegeräte, Medikamente zur Krebsbehandlung, Katheter, Sauerstoffzelte, chirurgische Instrumente, Ambulanzfahrzeuge, alle möglichen elektrischen Vorrichtungen etc.) Eine umfassende Liste der Waren, die zum Teil nicht genehmigt wurden, findet sich bei dem britischen Autor Simons. Er gibt eine eindrucksvolle Beschreibung des Leidens der Zivilbevölkerung, insbesondere von Kranken und kranken Kindern, aufgrund dieser inhumanen Praxis (Simons, 1998: 118 ff/passim). Die Folgen der Sanktionen – insbesondere das Anwachsen der Kindersterblichkeit, Fehl- und Unterernährung – waren UNO-Stellen ausreichend bekannt durch die Berichte der irakischen Regierung, teilweise übermittelt durch den irakischen UNO-Botschafter und durch Berichte diverser humanitärer und UNO-Hilfsorganisationen (FAO, UNICEF, WFP, WHO) (vgl. Simons, 1988: 127, 129, 137, 146f, 157ff, 170). Eine britische Hilfsorganisation, die ständig im Irak arbeitet (Medicine Aid for Iraq/MAI), erklärte z.B. nach dem Besuch zahlreicher Krankenhäuser, dass dort nach vier Jahren harter Sanktionen grauenhafte Zustände herrschten: Viele Medikamente fehlen, wie antiepileptische Mittel, Antibiotika oder Insulin; Milchpulver für Säuglinge und Kleinkinder ist nicht vorhanden, Kleinkinder sterben nach zwei Wochen Durchfall in Folge von Entkräftung und Dehydration (Gottstein, 1996). Aus anderen Berichten geht hervor, dass durch die Praxis der Öl-für-Nahrung-Programme der UNO zwar eine Linderung der Situation eingetreten ist, jedoch bei besonders verletzlichen Bevölkerungsteilen trotzdem von einer Unterversorgung auszugehen ist. Nach UNICEF-Angaben stieg die Anzahl der Babies mit zu geringem Geburtsgewicht um das Fünffache. Die Säuglingssterblichkeit lag im Irak vor dem Zweiten Golfkrieg bei 42 pro 1000 Lebendgeburten, nach Regierungsangaben hat sie sich fünf Jahre nach dem Golfkrieg mehr als verdoppelt auf 92 pro 1000. UNICEF hat in seiner Studie von 1994 auch festgestellt, dass die Reduktion der Nahrungsrationen zu einer Gefährdung von 2,5 Mio. Kindern sowie schwangeren und stillenden Frauen führt. Ein Studie des internationalen Roten Kreuzes schätzte die Zahl sogar auf 3,5 Mio. Menschen, die Unterernährung zu befürchten hätten, darunter 500.000 Kinder unter 5 Jahren (Simons, 1998: 171).

Eine Untersuchung in Bagdad ergab, dass dort 12 % der Kinder krank, 28 % im Wachstum behindert und 29 % untergewichtig waren. Insgesamt belaufen sich die Schätzungen auf über 500.000 gestorbene Kinder in Folge der Sanktionen. Die Nahrungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO sprach 1995 von mehr als einer Millionen Iraker, darunter 567.000 Kinder, die als direkte Folge der Sanktionen gestorben sind.

Eine Nachfolgegruppe des Harvard Study Team, eine multinationale Gruppe von Ärzten, Experten für öffentliches Gesundheitswesen, Wirtschaftswissenschaftlern, Anwälten und Gesundheitsforschern, die Irak im April und Mai 1996 besuchte, bemerkte „das erstaunliche Fehlen einer öffentlichen Debatte über die Beteiligung der UNO an dieser massiven Verletzung der Menschenrechte und speziell der Rechte der Kinder“ (Simons 1998,215f).

Hinter dem bloßen Wort Menschenrechtsverletzung verbirgt sich, dass den meisten Irakern das völkerrechtlich garantierte Recht auf Nahrung drastisch beschnitten wird. Die Regierungsrationen reichen gerade noch aus, um ungefähr ein Drittel der notwendigen Kalorienmenge aufzunehmen, die Nahrungsversorgung besteht zu einem großen Teil nur aus Grundnahrungsmitteln, während sonstige, normale Nahrungsmittel unerschwinglich teuer oder generell knapp sind. Eine außerordentliche Erleichterung durch das Öl-für-Nahrungsmittel-Programm nach Res. 986 gab es nicht. Dem Irak blieben davon anfangs nur 1,3 Mrd. $. Bei einer Bevölkerung von ca. 20 Millionen sind das weniger als zwei Dollar pro Woche pro Person, und dies in einem Land, wo das gesamte Gesundheitssystem sowie das Nahrungsproduktions- und -distributionssystem praktisch zusammengebrochen sind. Erst ab 1998 gab es eine Verbesserung des Programms.

Zwei Tendenzen waren bei den Mitgliedern des UNO-Sicherheitsrates und im Sanktionsausschuss festzustellen: Zum einen die Weigerung, über die Lieferung von ausschließlich humanitären Gütern im Sinne einer reduzierten Grundversorgung hinauszugehen, und zum anderen die mangelnde Kenntnis oder Wahrnehmung der wirtschaftlichen und sozialen bzw. humanitären Situation im Irak. Mehrfach hat der Sanktionsausschuss sogar noch im Frühjahr 1997 Lieferungen abgelehnt, die nicht in das Konzept eines strengen Sanktionsregimes passten, obwohl sie durch Res. 986 gedeckt waren. Eine Ursache für diese »Nicht-Reaktion« auf humanitäre Notstände im Irak mag das Misstrauen sein, dass dem Irak entgegengebracht wird. Es wird auch in wissenschaftlichen Kreisen, die sich mit dem Irak befassen, gesagt, dass die Daten der irakischen Regierung nicht verlässlich sind. Jedoch lieferten die Untersuchungen von Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) und UNO-Organisationen genügend Informationen um eine schwierige humanitäre Lage der irakischen Bevölkerung festzustellen (vgl. Cordesman/Hashim, 1997: 145).

Zum Teil ist das irakische Regime sicher selbst für die Verschlechterung der humanitären Lage verantwortlich, einserseits aufgrund einer verfehlten Ausgabepolitik, wie dem Bau von Luxusvillen, andererseits durch das anfängliche Nichteingehen auf die Möglichkeit eines »Öl-für-Nahrungsmittel-Angebotes«. Allerdings hätte eine andere Politk auch nicht zu einer ausreichenden Verbesserung der Lage geführt. Das unterstreichen die Untersuchungen des US-Wissenschaftlers Hoskins, der für den Wiederaufbau von Infrastruktur, für Kriegsreparationszahlungen und Auslandschulden einen zusätzlichen Finanzbedarf von 582 Mrd. $ veranschlagt. Nimmt man den laufenden humanitären Bedarf hinzu, so ist es schwer vorstellbar, wie selbst bei einer vollständigen Aufhebung der Sanktionen der Irak seinen Wiederaufbau bewältigen und gleichzeitig ca. 20 Mio. Menschen versorgen soll (Hoskins, 1997: 98).

Mit einer Erhöhung der möglichen Erdöleinnahmen seit 1998 haben sich die Bedingungen des Öl-für-Nahrung-Programms verbessert, so dass ein kontinuierlicher zusätzlicher Fluss von Lebensmitteln, Medikamenten und anderen humanitären Gütern in den Irak möglich ist. Das Programm kann allerdings den Bedarf der Menschen im Irak niemals vollständig decken, es bedarf einer Ergänzung durch einheimische Aktivitäten zur Versorgung der Bevölkerung. Auch eine teilweise Alimentation voraussetzend, hätte über die Mengen der tatsächlich notwendigen Lieferungen genauer nachgedacht werden müssen.

Mit Res. 1284 wurde Mitte Dezember 1999 die Obergrenze für den Ölverkauf aufgehoben. Damit ist es dem Irak erlaubt, so viel Öl zu fördern und zu verkaufen, wie er will; aber alle Importe werden noch von der UNO genehmigt und auch finanziell abgewickelt. Dem Irak wurde damit das Signal gegeben, dass eine engere Kooperation mit der UNO und weitere Abrüstungsmaßnahmen zur schrittweisen oder vollständigen Aufhebung der Sanktionen führen können. Doch der Irak lehnte diese Resolution ab. Die Gründe dafür sind offensichtlich: Zum einen hat die UNMOVIC ganz ähnliche Rechte und Aufgaben wie ihre Vorgängerorganisation UNSCOM, die unter dem Chefinspektor Richard Butler ganz wesentlich zur Eskalation von Krisen beigetragen hatte, zum anderen ist die Inspektionsarbeit so schwerfällig, dass unmöglich innerhalb des vorgesehenen Berichtzeitraums von 120 Tagen ein Erfolg nachweisbar wäre. Ein mangelnder Erfolg kann aber Anlass für weiter gehende militärische Kontrollmaßnahmen oder auch erneute Bombardierungen sein. In der gleichen Resolution droht der UNO-Sicherheitsrat (in Abs. 33) schließlich auch damit, die mögliche Ausweitung der Einfuhr ziviler Güter wieder zu beschneiden, falls der Irak sich erneut weigern sollte, bei der Abrüstung der Massenvernichtungswaffen zu kooperieren. Der Irak steckte damit in einem enormen Gefangenendilemma.

Ende März 2000 diskutierte die UNO erneut die Situation im Irak und der Generalsekretär Kofi Annan beschrieb sie als »moralisches Dilemma« für die UNO. Nach seiner Ansicht sollten so bald wie möglich die humanitäre Lage genauer untersucht und Schritte zur Verbesserung der Lage der Bevölkerung eingeleitet werden. Gleichzeitig sprach er sich für die Verbesserung der irakischen Basis für eine effektive Ölproduktion, inklusive Transport und Verkauf, aus. Der UNO-Generalsekretär bat den Sanktionsausschuss, die Bedingungen für die zeitlich begrenzte Blockierung von zu genehmigenden Gütern (Holds) zu überarbeiten. Doch trotz der Hinweise auf die UNICEF-Berichte über die katastrophale Gesundheitssituation insbesondere bei Kindern blieb die Debatte in der UNO in festgefahrenen Strukturen. Der US-amerikanische Vertreter unterstrich erneut, dass der Irak eine Bedrohung darstelle und zuerst seinen Verpflichtungen zur Abrüstung der Massenvernichtungswaffen nachkommen müsse. Er wies außerdem darauf hin, das die festgehaltenen Güter (Holds) lediglich zehn Prozent der Verträge ausmachten und es sich meistens um dual-use-Güter handele, bei denen lediglich die Endverbleibserklärung fehle.

Vor allem aus den Entwicklungsländern wurde dem die gravierend schlechte humanitäre Situation entgegen gestellt. Der Vertreter Malaysias erklärte im Sicherheitsrat (März 2000), dass dieses Sanktionsregime gegen die Menschenrechte verstoße (UN Press Release SC/6833 vom 24. März 2000).

Am 1. Juni 2000 bestätigte ein regulärer Bericht des UNO-Generalsekretärs (UN-Dokument S/2000/520) die katastrophale ökonomische Situation im Irak. In ihm heißt es u.a.:

  • Es drohen erhebliche Fehlfunktionen oder Zusammenbrüche in Teilbereichen der irakischen Ölförderung und erhebliche Sicherheitsprobleme für das Personal in der Min al Bakr-Region (Abs. 10).
  • Ersatzteillieferungen für die Ölförderung in der Region Basrah fehlen. Zusätzlich existiert ein Mangel an ausgebildetem Personal und es fehlen die finanziellen Mittel, dieses im Irak anzuwerben (Abs. 31ff).
  • Im Bereich des Zentrums und des Südens des Irak ist in der Weizenproduktion durch Management- und Transportprobleme eine zu geringe Kapazität erkennbar, es gibt eine leichte Nahrungsmittelunterversorgung, im Infrastrukturbereich für Nahrungsmittelsicherheit u.ä. gibt es »angehaltene Verträge« für über 150 Mio. $ (Abs. 40ff).
  • Auch im Bereich der medizinischen Versorgung hat die Zahl der »angehaltenen Verträge« zugenommen. Dies betrifft sowohl die Medizinauslieferung als auch die lokale Medikamentenproduktion, ohne dass dazu vom Sanktionsausschuss ausreichend Informationen eingeholt wurden. Es gibt des weiteren Distributionsprobleme, die zur Folge haben, dass für eine bestimmte ärztliche Behandlung zwar die benötigten Medikamente vorhanden sind, aber die dazu erforderlichen Präparate oder Geräte fehlen. Als besonders schwer wiegend wird die mangelnde Verbesserung der medizinischen Versorgung und der Ernährungssituation von Kindern erwähnt (Abs. 44ff).
  • Es gibt weiterhin gravierende qualitative Probleme im Bereich Wasser- und Abwasserversorgung, im Bereich der Bewässerungssysteme und sämtlicher für die Landwirtschaft notwendiger Produkte (z.B. Ersatzteile für landwirtschaftliche Maschinen oder Pflanzenschutzmittel), Schwierigkeiten in Bereichen der Elektrizitätsversorgung und der Telekommunikation sowie in Teilen des Bildungssektors (Abs. 54ff, 58ff, 64ff, 67ff, 72).

Aktuelle politische Situation, Gesamtbewertung und realpolitische Alternativen

Es wird häufig betont, dass die Beseitigung des Regimes von Saddam Hussein ein Ziel der Sanktionen ist. Dabei wird verschwiegen, dass dies nie offiziell deklariertes Ziel der UNO war (Der Frage, ob nicht eine Reihe von Maßnahmen, die eingeleitet wurden um dieses Zieles zu erreichen, unter diesen Bedingungen völkerrechtswidrig sind, kann hier nicht weiter nach gegangen werden). In den meiten den Irak betreffenden Resolutionen werden auch nur bestimmte Handlungen des Regimes als Motive für ein internationales Eingreifen genannt. In anderen UNO-Sanktionsbeschlüssen (z.B. gegen Rhodesien) wurden weitaus bessere Formulierungen zur Bezeichnung und Bekämpfung eines diktatorischen Regimes gefunden. Ausschlaggebend ist, dass es konsensual als legitimes Ziel angesehen wird, zum Sturz eines Regimes beizutragen, wenn dieses eine Gefahr bzw. eine Bedrohung für die internationale Sicherheit und den Frieden in der Region darstellt oder darstellen könnte (das präventive Verhängen von Sanktionen ist ausdrücklich im Wortlaut der Charta vorgesehen). Stattdessen werden seit langer Zeit offiziell und inoffiziell verdeckte Aktionen finanziert und durchgeführt, um das Regime im Irak im wortwörtlichen Sinne zur Strecke zu bringen. Dazu gehören die Aussetzung eines Kopfgeldes auf Saddam Hussein in Höhe von 97 Mio. US$ durch die USA, Attentatsplanspiele durch Israel, mehrfache Attentate auf Saddams ältesten Sohn Udai und eine groß angelegte Bombardierung von militärischen und paramilitärischen Einrichtungen des Irak 1998, CIA unterstützte Guerillatruppen und die handfeste Unterstützung von Putschplänen (Vgl. Finales Training, in: Der Spiegel, 9/1998: 147. Wasser auf die Mühlen der Gegner Saddam Husseins, in: Der Tagesspiegel, 25.11.1998 und Arabische Staaten warnen vor Putsch gegen Saddam Hussein, 4. Februar 1999).

Vor diesem Hintergrund kann es weder überraschen, dass der Irak Waffeninspekteure als Spione einstuft und mit dieser Begründung die Zusammenarbeit mit der UNO einstellt, noch, dass das Regime Saddam Hussein sich aggressiv gebärdet um angesichts des arabischen Nationalismus nicht das Gesicht zu verlieren. Iraks Politik ist freilich auch ein Spiel mit dem Feuer: Das vermutete Verbergen von Restbeständen von Massenvernichtungswaffen und Trägersystemen, die Drohungen gegenüber Israel mit einem heiligen Krieg, die wiederholte Diskussion über die staatliche Legitimität von Kuwait, das sind andauernde Gründe gegen eine Lockerung der UNO-Sanktionen.

Trotzdem gab es im vergangenen Jahr eine Wende in der Irak-Politik vieler Staaten, teilweise aus geschäftlichen Interessen, teilweise aufgrund der humanitären Situation. Die Frage nach der Legitimität des UNO-Sanktionsregimes stellt sich aber auch prinzipiell:

  • Andere UNO-Sanktionsregime beinhalteten wesentlich selektivere und schwächere Maßnahmen. Im Vergleich dazu sind die Sanktionen gegen das kriegszerstörte Entwicklungsland Irak zu stark: Es handelt sich bei den meisten UNO-Sanktionen um selektive Maßnahmen, die nur Embargos von Waffen oder Rüstungsgütern und bestenfalls dual-use-Gütern betreffen und bei denen die Kontrollmechanismen nicht so stark ausgeprägt waren oder sind wie beim Irak. Hinzu kommt, dass z.B. Sanktionen gegen Südafrika harte selektive Maßnahmen beinhalteten, die trotz der Stärke des Landes und des Regimes zum Erfolg führten, ohne dass die Mehrheit der Bevölkerung unverhältnismäßig leiden musste. Die schwer wiegenden Verletzungen der sozialen Menschenrechte der irakischen Bevölkerung und das Sterben Hunderttausender Menschen sind – im Vergleich dazu – nicht hinnehmbar.
  • Die Sanktionen stehen im Gegensatz zu der jetzt geführten, ausgeprägten Debatte um »Menschenrechte und Sanktionen« und der Forderung nach zielgenauen Sanktionen gegen die Eliten und das Regime anstatt gegen die Normalbevölkerung: International besteht unter WissenschaftlerInnen angesichts der verheerenden humanitären Folgen von Sanktionen in Entwicklungsländern ein weitest gehender Konsens über deren menschenrechtliche Grenzen bzw. die Notwendigkeit, sie effektiv auf Eliten zuzuschneiden. Solche Sanktionen werden gerade deshalb auch als »intelligente Sanktionen« bezeichnet (vgl. www.smartsanctions.ch und www.bicc.de), weil sie jene treffen, die sie treffen sollen, die Eliten und die Regime selbst. Intelligente Sanktionen erfordern allerdings einen effizienten Organisationsapparat.
  • In der Debatte um die Effektivität von UNO-Sanktionen gegen den Irak werden langfristig wesentliche Funktionsmuster und Funktionsprinzipien von Sanktionen ignoriert; die Zielerreichung im Sinne eines System- bzw. Regimewandels sind aber von diesen Mustern und Prinzipien abhängig: Schon die Tatsache, dass die harten Sanktionen eine Gesellschaft und insbesondere oppositionelle Gruppen aufgrund des dauernden Existenzkampfes – und mehr noch durch die dadurch provozierte Regierungskontrolle über alle Märkte inklusive der Lebensmittelversorgung – daran hindern einen Wandel herbeizuführen, sollte schon Grund genug sein, die Sanktionen so zu gestalten, dass diese negativen Effekte vermieden werden. Aber die Einsicht in die Komplexität des Sanktionsprozesses selbst liefert noch einen weiteren Grund: Im Gegensatz zu den herkömmlichen Sanktionsanalysen, die von einer Sender-Ziel-Perspektive, einem einfachen Aktions-Reaktionsmuster ausgehen, sollte man mit einer komplexen Interaktionsstruktur rechnen; d.h. kein Regime gibt sich unter dem Druck von Sanktionen hilflos und gefangen. Ganz im Gegenteil werden Gegenmaßnahmen eingeleitet, die die Notwendigkeit der Veränderung bzw. die Abnahme der Existenzfähigkeit des bisherigen Regimes – zunächst abwenden. Bündnispartner zum Sanktionsbruch o.ä. werden gesucht. Der regionale und internationale Konsens über die Sanktionen soll aufgebrochen werden um politischen und ökonomischen Druck zum System- bzw. Regimewandel abzuschwächen. In dieser Situation ist es für die Sanktionssender wichtig, eine umfassende und glaubwürdige Kommunikation über Sanktionsziele zu führen, unter Einschluss der Weltöffentlichkeit, der Medien, der wichtigsten Politikpartner, der Bevölkerung des sanktionierten Landes und des gegnerischen Regimes selbst. Daran mangelt es aber im Fall des Irak.

Es ist offensichtlich, dass es kein internationales Konzept für die Verbesserung der politischen Beziehungen im Nahen Osten und für die Reintegration des Irak gibt. Im Mittelpunkt des Interesses – vor allem der USA und GB – steht nach wie vor die Kontrolle der Region mit ihrem Ölreichtum. Ein solches Konzept ist aber notwendig, lässt sich nur langfristig entwickeln und darf nicht an die UNO-Sanktionen gekoppelt werden, denn deren primäre Ziele sind die Kompensation für Kriegsschäden in Kuwait und die Abrüstung irakischer Massenvernichtungswaffen. Betrachtet man diese unterschiedlichen Interessenlagen, so verwundert es nicht, dass in der UNO sowohl am 8. Juni 2000 (mit Res. 1302) als auch am 5. Dezember 2000 (mit Res. 1330) das Öl-für-Nahrung-Programm mit großer Zustimmung verlängert wurde, ohne dass es eine größere Debatte über die Aufhebung der Sanktionen im Sicherheitsrat gab. Lediglich China und Russland, als ständige Mitglieder, sprachen die Aufhebung der Sanktionen an.

Ausblick

Wenn im Juni 2001 wieder nur über die Fortsetzung des Öl-für-Nahrung-Programms diskutiert wird – zu dem es bisher keine Alternative gab – und keine sichtbaren Erfolge in der Kooperation zwischen Irak und der UNMOVIC erkennbar werden, so ist das für alle Seiten verheerend – nicht nur für die irakische Bevölkerung, die am meisten leidet, sondern auch für den Ruf der UNO, der USA und Großbritanniens vor allem im Nahen Osten und unter den Entwicklungsländern. Bei Fortführung der harten Sanktionspolitik drohen ein Glaubwürdigkeitsverlust der westlichen Politik und ein Legitimitätsverlust der UNO. Eine Reorientierung und Umsteuerung ist notwendig, wenn es nicht zu einer Dauerkonfrontation mit den arabischen Staaten und einigen Entwicklungsländern kommen soll.

Eine realpolitische Alternative zu der harten Sanktionspolitik könnte beinhalten: Technologiekontrollen und Finanzkontrollen gegenüber dem Regime, Waffenembargo und Reiseverkehrsbeschränkungen; es geht also um die strikte Verfolgung von harten selektiven Sanktionen gegenüber dem Regime und dem Militär, die vorausgeplant werden müssen. Der schwerfällige Sanktionsausschuss zur Genehmigung des Imports aller möglichen zivilen Güter muss durch eine effektive Administration ersetzt werden, die Genehmigungspflicht für den Import humanitärer Güter ist aufzuheben. Der Irak muss die durch den Ölexport erwirtschafteten Mittel weitest gehend selbstständig zur Behebung der Infrastrukturschäden, für Nahrungsmittel etc. einsetzen können. Um Missbrauch zu verhindern, ist ein entsprechendes Kontrollregime notwendig. Dies ist möglich, denn wenn man eine Organisation wie die UNSCOM oder die UNMOVIC einsetzen kann, dann kann der Sicherheitsrat sich auch andere wirkungsvolle Hilfsorgane schaffen. Das gelingt nur, wenn die britische und US-amerikanische Politik ihre diktatorische Linie aufgeben zugunsten einer Linie des kritischen Dialogs. Die internationale Staatengemeinschaft muss dem irakischen Regime seine Grenzen aufzeigen bezüglich der Rüstung und dem Verhalten gegenüber bisher diskriminierten Bevölkerungsgruppen. Gleichzeitig muss dem Irak aber die Chance gegeben werden zur Behebung der Kriegsschäden und zur Wiederherstellung menschenwürdiger Lebensbedingungen für die Normalbevölkerung. Sanktionen zum Zweck der Wahrung und Wiederherstellung des Friedens und der internationalen Sicherheit, zur Achtung und Sicherung der Menschenrechte sind notwendig. Dabei muss aber immer darauf geachtet werden, dass sie nicht zur Interessenwahrnehmung einzelner Staaten missbraucht werden. Sanktionen sind zum größten Teil aufzuheben oder zu korrigieren, wenn sie nicht greifen oder wenn die Ergebnisse den Absichten widersprechen. Das ist im Irak zweifelsfrei der Fall.

Anmerkung

1) Die folgenden »sanktionstehoretischen« Überlegungen stammen im Wesentlichen aus der Dissertation von Rogalski (2000), siehe Literaturverzeichnis. Eine überarbeitete Fassung soll im Jahr 2001 im Buchhandel erscheinen.

Dr. Steffen Rogalski ist Politikwissenschaftler und Vorsitzender des Arbeitskreis für Frieden-Atomwaffenfreies Europa (AKF)e.V.

zum Anfang | Die UNO-Sanktionen gegen den Irak – ein Blick hinter die Kulissen

von Jutta Burghardt

Der Welt wird nur die militärische Seite der Auseinandersetzung mit dem Irak gezeigt. Die andere Seite, das Leiden der Bevölkerung unter den Sanktionen, soll vor den Augen der Weltöffentlichkeit möglichst verborgen bleiben. Selbst wenn die Regierung des Irak die Situation der Menschen in propagandistischer Absicht beschreibt – die menschliche Tragödie, die sich im Irak abspielt, ist nichtsdestoweniger real. Im übrigen beschreibt auch die US-Administration die Situation des Landes in propagandistischer Absicht, wenn sie die Lage der Menschen ausschließlich Saddam Hussein zuschreibt. Die irakische Regierung nimmt ihre Rechte und Pflichten hinsichtlich des Allgemeinwohls der Iraker mit größerer Verantwortung wahr als dies eine Regierung, die in der Region vorwiegend strategische Interessen verfolgt, beurteilen kann. So erinnern wir uns zum Beispiel daran, dass Madeleine Albright, vom Nachrichtensender CBS 1996 befragt, ob der Tod von 500.000 irakischen Kindern die Sache wert sei, sagte: Dies sei eine schwierige Wahl, jedoch ja, es sei diesen Preis wert. Wann hat sich jemals jemand so wie Frau Albright zur Akzeptanz von Völkermord bekannt? Und hat nicht besonders Deutschland hier Verantwortung? Schließlich war der Mord an sechs Millionen Juden unter dem Hitlerregime ein entscheidender Anstoß zur Gründung des Staates Israel, des Staates, der durch die Niederwerfung der Regionalmacht Irak geschützt werden soll. Schließlich war auch die Verabschiedung der Genozidresolution der Vereinten Nationen 1949, von der weiter unten die Rede sein, durch deutsche Taten veranlasst worden.

Das Embargo

Das Embargo gegen den Irak hat den Charakter einer klassischen Blockade. Hierzu gehören außer den Handelssanktionen auch regelmäßige militärische Aktionen – wie zum Beispiel das Bombardement im Dezember 1998 oder die fast täglichen unilateral von den USA und Großbritannien festgelegten Kontrollflüge in den »no-fly«-Zonen über Nord- und Südirak mit Bombardierungen von militärischen und zivilen Einrichtungen. Allerdings wird hier nicht eine mittelalterliche Festung mit einigen hundert Menschen belagert, sondern eine ganze Nation von inzwischen fast 25 Millionen Menschen. Was sollen im Übrigen die Hirtennomaden in den schiitischen Gebieten im Süden des Irak und die Bewohner von Basra davon halten, wenn sie »zu ihrem eigenen Schutz« angegriffen, verletzt und getötet werden? Die Menschen im Irak sagten mir, sie verstünden nicht, warum ihnen die Amerikaner nach dem Leben trachten. Auch in den VN-Organisationen vor Ort waren wir wegen der Bombardierungen besorgt, sollten wir doch unsere Mitarbeiter wöchentlich als Beobachter in diese Gebiete schicken.

Die Sanktionen enthalten dem Ölland Irak die Mittel vor, seine Infrastruktur nach zwei Kriegen – dem achtjährigen Iran-Irak-Krieg und dem Golfkrieg, in denen das Land völlig verwüstet wurde – wieder aufzubauen sowie die sozialen Einrichtungen zu rehabilitieren und zu unterhalten. Das Kernstück der Sanktionskonstruktion ist: Die irakische Regierung soll keine Verfügung über ihre Einnahmen aus Ölverkäufen haben. (Dies impliziert natürlich auch eine willkommene Umkehr der Verstaatlichung der irakischen Ölindustrie Anfang der siebziger Jahre.)

Das Embargo, erlassen durch die Sicherheitsratsresolution (SR) 661, sollte zunächst den Irak bewegen die Besetzung Kuwaits aufzugeben. Dies geschah, wie bekannt, auf andere Weise. Unmittelbar nach dem Golfkrieg wurden die Sanktionen dann in der SR 687 bestätigt, um das Land zur Beseitigung seiner Massenvernichtungswaffen zu zwingen. Dies ist offenbar zu einem großen Teil erledigt. Neuerdings ist jedoch, mit Sicherheitsratsresolution (SR) 1284 (Dezember 1999), von einer Aufhebung des Embargos nicht mehr die Rede, sondern lediglich von seiner Suspendierung und regelmäßigen Erneuerung in bestimmten Zeitintervallen, selbst bei voller Kooperation der irakischen Seite mit den Waffeninspekteuren (jetzt: UN Monitoring, Verification and Inspection Commission – UNMOVIC). Zudem soll gemäß der US-amerikanischen Erklärung aus Anlass der Verabschiedung von SR 1284 bei einer Suspendierung die irakische Regierung wiederum nicht über die Einnahmen aus dem Verkauf ihres Rohöls verfügen können. Bei dem derzeitigen Wegfall der Begrenzung der Öleinnahmen – ebenfalls unter SR 1284 – wäre die logische Folge dann die Ausweitung der UN-Aktivitäten im Irak, d.h. eine weitere Einschränkung der staatlichen Souveränität, die durch Sanktionsregime und VN-Kontrolle über die Öleinnahmen faktisch bereits gegeben ist.

Die die Sanktionen konstituierende SR 661 sieht lediglich die vollständige Unterbindung des Handels mit dem Irak vor. Dort ist weder die Rede von einem Flugembargo noch von der Unterbindung des wissenschaftlichen Austauschs; auch nicht von dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen und des Informationsaustauschs der Bevölkerung mit dem Rest der Welt. Klar ist, mit dem Irak als Regionalmacht – nicht etwa mit dem Regime – soll Tabula rasa gemacht werden. Der Irak soll auf den Stand der ärmsten Länder auf diesem Globus zurückgeworfen werden. Das ist gelungen.

Die verlautbarte Zielsetzung der US-amerikanischen Irak-Politik – die neben den Sanktionen auch die Unterstützung der irakischen Opposition unter dem Iraq- Liberation-Act einschließt – ist es, Saddam Hussein und seine Regierung zu beseitigen. Allerdings, der Shia- und Kurdenaufstand, der sich im März 1991 gegen Saddam Hussein gerichtet hatte, war zwar im amerikanischen Lager erwünscht, wurde jedoch von dort nicht unterstützt. Saddam Hussein konnte danach seinen eisernen Griff über das Land wieder herstellen. Vor diesem Hintergrund sind erneute interne Aufstände zur Beseitigung Saddams kaum denkbar, besonders nicht durch eine Bevölkerung, die seit zehn Jahren täglich ums schiere Überleben kämpft und deren physische und materielle Ressourcen völlig erschöpft sind. Zudem schaffen die Sanktionen einen Solidarisierungseffekt zwischen Bevölkerung und Regierung.

Vor diesen Hintergründen – der von der US-Administration geäußerten Willenserklärung, die Regierung beseitigen zu wollen, der Rücknahme der Zusage, die Sanktionen aufzuheben, sowie der regelmäßigen Bombardements, die nicht von den Vereinten Nationen beschlossen sind – lässt die irakische Regierung verständlicherweise wenig Kooperationsbereitschaft mit den Vereinten Nationen erkennen. Allerdings wird neuerdings über die Wiederaufnahme des Dialogs zwischen den Vereinten Nationen und dem Irak diskutiert, so in einem Gespräch zwischen dem VN-Generalsekretär, Kofi Annan, und dem Vizepräsidenten des Irak, Ramadan, am Rande des Treffens der Organization of Islamic Countries Mitte November 2000 in Doha/Qatar.

Das humanitäre Programm

Bereits unmittelbar nach dem Golfkrieg ließ der Generalsekretär der Vereinten Nationen zwei Berichte über die Lage im Irak erstellen, durch Marti Athissari und Sadruddin Aga Khan. Beide Berichte schildern die enormen Zerstörungen durch den Golfkrieg. Der Aga-Khan-Bericht thematisiert zum ersten Mal den Mechanismus, der in der »Oil-for-Food« genannten Operation angewandt wird: Die Zerstörungen der Infrastruktur im Irak seien derart verheerend und die Lage der irakischen Bevölkerung so dramatisch, dass Abhilfe durch Beiträge von Gebern nicht geschaffen werden könne; dies solle vielmehr durch irakische Ölverkäufe geschehen.

Das jetzt existierende humanitäre Programm der Vereinten Nationen soll der Grundversorgung der Bevölkerung und der Reparatur und Aufrechterhaltung wesentlicher Infrastruktureinrichtungen dienen. Seine Grundlage ist SR 986 (14 April 1995). Das eigentliche VN-Mandat ist jedoch im Memorandum of Understanding (20 Mai 1996) zwischen dem VN-Sekretariat und der irakischen Regierung festgelegt, nämlich Beobachtung der gleichmäßigen und effizienten Verteilung der importierten Güter in Mittel- und Südirak sowie Tätigkeit der VN-Organisationen (WFP, FAO, UNICEF, WHO, UNESCO, UNDP, UNOPS und HABITAT, neuerdings auch ITU) für und anstelle der irakischen Regierung in den kurdischen Gebieten im Norden des Landes. Nach jeweils sechs Monaten wird die Laufzeit des humanitären Programms durch eine technische Resolution (seit 6. Dezember 2000 ist Phase IX in Kraft) verlängert. Der Irak musste dieser beitreten und unterbreitete den Vereinten Nationen daraufhin einen Verteilungsplan mit umfangreichen Anhängen zur Verwendung der erwarteten Öleinnahmen in den Bereichen Nahrungsmittel, medizinische Versorgung, Elektrizität, Landwirtschaft, landwirtschaftliche Bewässerung, Wasserversorgung und -entsorgung, Primar- und Sekundarschulbildung, Kommunikation und Transport, Unterhalt und Rehabilitation der Ölförderung und, seit Mitte des Jahres 2000, auch für Wohnungsbau. Allein das Nahrungsmittelbudget betrug zu meiner Zeit im Irak (Januar 1999 bis Ende März 2000) rund 2 Milliarden US$ pro Jahr.

Der Generalsekretär legte den irakischen Verteilungsplan dem Sicherheitsrat vor, nachdem dieser vom humanitären Team nach Verhandlungen mit den irakischen Ressorts mit einem Kommentar versehen worden war. Dieser Vorgang ist relativ unverbindlich, da sich das Sanktionskomitee vorbehält – es ist identisch zusammengesetzt wie der jeweilige Sicherheitsrat –, alle Kaufverträge einzeln zu genehmigen. Es müssen überhaupt sämtliche Ein- und Ausfuhren des Irak von diesem Komitee genehmigt werden. SR 1284 hat dieses Verfahren etwas vereinfacht, indem Verträge über die Lieferung humanitärer Güter im engeren Sinne (also Nahrungsmittel und Medikamente, inzwischen auch Einfuhren für die Wasserversorgung) vom Sanktionskomitee nicht mehr im Einzelnen genehmigt werden müssen. Ausgenommen von dieser en-bloc-Genehmigung bleiben natürlich weiterhin die humanitäre Operation unterstützende Lieferungen wie Fahrzeuge oder Labormaterialien z.B. für Nahrungsmitteltests. Sie gelten als Dual-Use-Güter und werden häufig zunächst einmal blockiert, wenn sie überhaupt genehmigt werden.

Die Gelder aus den Ölverkäufen müssen auf ein Konto (Escrow Account) bei der Banque Nationale de Paris in New York eingezahlt werden. Derzeit liegen dort 11 Milliarden US-Dollar. So fällt es dem Irak leicht, seine Öllieferungen vorübergehend einzustellen, wie er das jetzt getan hat, um eine Sonderzahlung der Ölkäufer auf ein von Irak kontrolliertes Konto zu erzwingen.

Das VN-Konto hat folgende Segmente:

  • 13 Prozent für die kurdischen Gebiete in Nordirak entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil. Von den verbleibenden 87 Prozent dürfen von der irakischen Regierung nur
  • 53 Prozent für die humanitäre Versorgung von Mittel- und Südirak in Anspruch genommen werden.
  • 30 Prozent werden für Golfkriegsreparationen (ab Dezember 2000 nur noch 25 Prozent) und die Tätigkeit der UN Compensation Commission (UNCC),
  • 2,2 Prozent für die Präsenz des humanitären Programms der VN und
  • 0,8 Prozent für die Tätigkeit von UNSCOM/UNMOVIC verwendet. Die restlichen Mittel werden für kleinere Ausgaben wie z.B. Pipeline-Gebühren verwandt.

Das humanitäre Programm stellt eine Ausnahme zu den rigiden Embargovorschriften von SR 661 dar, ist unter Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen erlassen und folglich Teil des Sanktionsregimes. Es war als eine vorübergehende Maßnahme gedacht und ist daher als kurzatmiges Versorgungsprogramm ausgelegt. Der Irak interpretiert es als ein Mittel, die Sanktionen ad infinitum fortzuführen. Die internationale Gebergemeinschaft hat sich, unter dem Eindruck, das humanitäre Programm werde die Grundversorgung der irakischen Bevölkerung sicherstellen, nach dessen Einführung weit gehend zurückgezogen. Sie täuschen sich jedoch. Das humanitäre Programm ist sachlich ausgehöhlt und dient der Verschleierung der wirklichen Auswirkungen der Sanktionen. Irak hatte Ende September 2000 (Stichtag 21.09.2000) nur 48 Prozent der seit Phase I, also seit vier Jahren, bestellten Lieferungen erhalten. Da Mittel- und Südirak ohnehin nur über 53 Prozent der Öleinnahmen verfügen dürfen, die Lieferzeiten wegen der komplizierten und langwierigen Genehmigungs- und Bereitstellungsverfahren für die finanziellen Mittel außerordentlich lang sind und eine enorme Zahl von Verträgen blockiert ist, sind von insgesamt 34 Mrd. US$ Öleinnahmen derzeit lediglich rund 25 Prozent (rd. 8 Mrd. US$) in den Händen der Iraker. Die eingetroffenen Güter sind zudem teils unbrauchbar, weil Komponenten fehlen oder nicht zeitgerecht eintreffen (wie im Agrarsektor) oder weil die gelieferte Qualität nicht den vertraglich vereinbarten Anforderungen entspricht. Letzteres ist oft auch bei den Nahrungsmittellieferungen der Fall. Besonders niedrige Lieferungsraten haben neben dem für das humanitäre Programm zentral wichtigen Ölsektor (mit nur 18 Prozent) die Sektoren Kommunikation und Transport (nur 3,7 Prozent aller Bestellungen, bis März 2000 war in dreieinhalb Jahren überhaupt nichts eingetroffen), Hochschulbildung (7,2 Prozent – von 222,7 Mio. $ Bestellungen sind nur Güter im Wert von 16 Mio. $ eingetroffen), landwirtschaftliche Bewässerung (5 Prozent), Wasserversorgung und -entsorgung (13 Prozent), Grund- und Oberschulen (14 Prozent) und Elektrizität (22 Prozent).

Trotz Beschleunigung des Genehmigungsverfahrens für die humanitären Güter im engeren Sinn, seit Erlass von SR 1284, hat sich die Zahl der blockierten Verträge stark (von 1.000 bis 1.200 Stück zu Anfang des Jahres 2000 auf rd. 2000 im September d. J.) erhöht. Ihr Finanzvolumen hat sich seit Jahresanfang von rd. 1 Mrd. auf 2,3 Mrd. $ mehr als verdoppelt. Verträge werden im Sanktionskomitee nur von den USA und zu einem geringen Teil von Großbritannien blockiert.

Grob umgerechnet auf eine Bevölkerung von 20 Mio. (in Mittel- und Südirak) ergibt sich für die im Rahmen des humanitären Programms über vier Jahre erhaltenen Güter eine Investition von 100 Dollar pro Person/Jahr. Dabei entfallen etwa 75 Dollar bereits auf den erfahrungsgemäß bei Notversorgungsmaßnahmen immer teuersten Posten, nämlich die Nahrungsmittelgrundversorgung (das entspricht einem Durchschnittswert von 6 Dollar pro Ration/Monat). Die restlichen 25 Dollar bestreiten die übrigen Käufe und Investitionen, d.h. Medizin, Bildung, Elektrizitätsversorgung, Wasserversorgung und Transport.

Die Regierungstätigkeit im Irak unterliegt immensen Einschränkungen: massenhafte Personalentlassungen, Unterbezahlung der Mitarbeiter, wenig Möglichkeiten zu Außenkontakten zwecks Überprüfung von Lieferungen und Firmen. Das Sanktionskomitee erlaubt dem Irak keine Vertragsstrafen zu verhängen oder andere Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, wie sie im regulären Geschäftsverkehr zum Schutz vor unseriösen Geschäftspraktiken üblich sind – obwohl dies im Memorandum of Understanding garantiert ist. Dennoch führt das Handelsministerium die Nahrungsmittelversorgung in Mittel- und Südirak, die wohl derzeit größte regelmäßige Versorgungsoperation auf diesem Globus, verantwortungsbewusst, vorbildlich und außerordentlich effizient durch. Jeder, der im Irak lebt, erhält jeden Monat pünktlich seinen Warenkorb.

Der Handelsminister muss häufig aus der strategischen Reserve des Irak, die sich vorwiegend aus der inländischen Nahrungsmittelproduktion zusammensetzt, Produkte für das humanitäre Programm verfügbar machen, um den monatlichen Warenkorb für jeden Iraker zusammenzustellen. Da die Regierung wegen der komplizierten und langwierigen Verfahrenswege des Sanktionsregimes keine Kontrolle darüber hat, zu welchem Zeitpunkt die bestellten Nahrungsmittel eintreffen, können diese Volumina erheblich sein. Diese werden durch die Einfuhren des humanitären Programms erstattet. Übrigens werden sämtliche Güter des humanitären Programms eingeführt, auch wenn Entsprechendes im Lande produziert wird. Dies ist wirtschaftlich schädlich, deshalb sieht SR 1284, an deren Umsetzung der Irak sich allerdings nicht beteiligt, auch die Möglichkeit des lokalen Aufkaufs von humanitären Gütern vor.

Im Januar 2000 hatte die irakische Regierung über mehrere Monate hinweg insgesamt 600.000 t Weizen in die humanitäre Operation eingebracht und vermutlich den größten Teil ihrer Weizenreserve aufgebraucht. Gleichzeitig zeichnete sich ab, dass ich als Vertreterin des Welternährungsprogramms (WFP) die lokale Nahrungsmittelproduktion würde aufkaufen müssen – in Konkurrenz mit der irakischen Regierung, die ihre strategische Reserve wieder auffüllen musste. Dies und die Tatsache, dass die Art und Weise, wie SCR 1284 angelegt ist, keine Aussicht auf eine Aufhebung der Sanktionen eröffnet und eine Erleichterung der Lage der irakischen Bevölkerung wiederum in weite Ferne rückt, haben mich letztendlich zu meinem Rücktritt veranlasst.

Die Folgen der Sanktionen: Die Menschen sind verarmt, krank, isoliert

Der Irak war auf die Sanktionen nicht vorbereitet. Seine wirtschaftliche Abhängigkeit von den Öleinnahmen ist nahezu total. Anders als Deutschland und andere Teile des kriegszerstörten Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, die durch den Marshall-Plan Aufbauhilfe erhielten, darf der Irak nach zwei aufeinander folgenden Kriegen nicht einmal die eigenen Ressourcen zum Wiederaufbau verwenden. Im Golfkrieg wurden unter anderem Elektrizitäts- und Wasserversorgungseinrichtungen zerstört. Besonders die Versorgung mit sauberem Wasser ist jedoch für die Ernährung wichtig, denn selbst eine Bereitstellung von Grundnahrungsmitteln, wie sie jeder im Irak hat, ist nutzlos, wenn unsauberes Wasser Krankheiten induziert.

Da sich (bisher) alle Länder strikt an das Handelsverbot mit dem Irak gehalten haben – ausgenommen sind natürlich die vom Sicherheitsrat seit 1996 genehmigten und kontrollierten Ölverkäufe und die Einkäufe von humanitären Gütern – liegen auch nahezu alle inländischen wirtschaftlichen Aktivitäten lahm. In der Folge gibt es kaum Arbeits- und dadurch Einkommensmöglichkeiten, folglich auch kein Steueraufkommen. Im Gegenteil: Bei meinem Eintreffen 1999 musste die irakische Regierung allein für die interne Abwicklung der Nahrungsmittelkomponente des humanitären Programms – Transport, Lagerung, Verwaltung – 160 Milliarden Dinare (2000 Dinare sind 1 US$, also rd. 80 Millionen US$) im Jahr buchstäblich drucken, weil sie keinen Zugang zu den Öleinnahmen hat und diese ihr daher auch für die Deckung ihrer internen Kosten nicht zur Verfügung stehen. Hinzu kommen natürlich entsprechende Beträge in den anderen Bereichen der humanitären Versorgung, besonders aber im Ölsektor mit – nach irakischen Angaben – 50.000 Angestellten. Das »humanitäre Programm« richtet also zusätzlich ökonomischen Schaden an und steigert die Inflation. Der Mittelstand verarmt folglich nicht nur wegen fehlender Arbeitsmöglichkeiten, sondern auch weil seine Investitionen entwertet sind und seine Rücklagen zu einem Nichts zusammenschmelzen.

Insgesamt ist die derzeitige Datenlage zum Irak über die vom humanitären Programm der Vereinten Nationen hinausgehenden Erhebungen schlecht. Auch letztere müssen sich jedoch strikt an ihr Mandat halten (Das World Food Program z.B. darf in Mittel- und Südirak nur die Verteilung der Nahrungsmittel beobachten.); anderenfalls besteht die Gefahr, von der Regierung zur persona non grata erklärt zu werden. Das humanitäre Programm der Vereinten Nationen ist Teil des Sanktionsregimes, daher für den Irak eher Feind als Freund. Informationen werden eher vorenthalten als freigiebig vermittelt. Eine Erhebung zur Situation der Haushalte durfte das humanitäre Team während meiner Zeit (Januar 1999 bis März 2000) nicht durchführen. Die mangelnde Verfügbarkeit neuerer solider Daten war auch ein Handicap für unsere Berichterstattung an das humanitäre Panel, eines der drei Irak-Panels (die beiden anderen beschäftigten sich mit Reparationen und Abrüstung), die der Sicherheitsrat zur Vorbereitung von SR 1284 eingerichtet hatte. Das humanitäre Team behalf sich mit der Herausgabe eines zu seinem Bericht zusätzlich verfassten Kompendiums, das eine Mischung von irakischen Angaben und Ergebnissen eigener professioneller Beobachtungen enthielt und insofern nur den Status von »anecdotal evidence« hatte. Die nachfolgenden Beschreibungen können ebenfalls keinen höheren Stellenwert beanspruchen. Eine Ausnahme stellt UNICEF dar, das in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium regelmäßig Studien zur Überwachung des Gesundheitszustandes der Kinder unter fünf Jahren erstellt und im Juni 2000 diejenige Studie veröffentliche, die den Nachweis erbrachte, dass seit Beginn der Sanktionen 500.000 Kinder durch die Sanktionen ums Leben gekommen sind (s. Nutritional Status Survey of Infants in Iraq, Government of Iraq/UNICEF-Iraq, October 1998 und Child and Maternal Mortality Survey 1999, Preliminary Report, UNICEF/Ministry of Health, July 1999)

Gemäß meinen eigenen Feststellungen sind die Angaben der Iraker eher konservativ und halten Überprüfungen stand. Dies bestätigte mir nochmals im September 2000 der Vertreter der WHO in Bagdad und dies stellten auch der humanitäre Koordinator, Graf Sponeck, sowie die VN-Beobachter der anwesenden Sonderorganisationen und Programme fest, nachdem von Sponeck die regelmäßige Überprüfung der irakischen Angaben über die Bombardierungen in den »no-fly«-Zonen angeordnet hatte.

Irak war vor den Sanktionen das, was generell ein Schwellenland genannt wird. Die Spuren hiervon sind noch immer erkennbar: ein großzügig angelegtes Straßennetz, Fünf-Sterne-Hotels; Angehörige der Mittelschicht, die in den USA und in Großbritannien studiert haben, Herzspezialisten und Neurologen, die im Mittelmeerraum in hohem Ansehen standen, ehemalige Vertreter deutscher und anderer ausländischer Niederlassungen. Allgemein wird angenommen, dass sich zwei Millionen Iraker außer Landes aufhalten und ihre Familien mit Remittenden unterstützen.

Die Sozialdaten waren einst exzellent: Laut UNESCO gab es vor den Sanktionen eine Alphabetisierungsrate von 95 Prozent. Im März 2000 betrug diese nur noch 58 Prozent mit einer Abnahmequote von 5 Prozent pro Jahr. Es bestand Schulpflicht, die auch eingefordert wurde. Dies geschieht jetzt nicht mehr. Die irakische Regierung weiß, dass sie die Schulpflicht nicht mehr durchsetzen kann, denn viele Kinder müssen arbeiten, um das Familieneinkommen durch Betteln, Zigaretten- und Zeitungsverkauf oder Schuhputzen aufzubessern. Ich selbst sah einen Drei- bis Vierjährigen in der Nähe meines Hotels bei dieser Tätigkeit. Besonders Kinder und ältere Frauen betteln. Vor den Sanktionen war dies undenkbar. Ebenso wie Prostitution in einer muslimischen Gesellschaft.

Der Wertverfall des Dinar beläuft sich auf insgesamt 6.000 Prozent. Das Durchschnittseinkommen beträgt derzeit 5.000 bis 6.000 Dinar, das sind 2,5 bis 3 US$ (ein Dinar hatte einen Wert von 3,3 US$ vor den Sanktionen, heute von 0,004 US$). Nach relativ kurzer Zeit sind die Möglichkeiten eines Durchschnittsbürgers, der Situation Herr zu werden und sich über Wasser zu halten – Stadtflucht oder umgekehrt auch Landflucht, Verkauf von Eigentum bis hin zum einfachen Hausrat – erschöpft. Es ist deshalb die dauerhafte Deprivation, hervorgerufen durch eine über zehn Jahre anhaltende wirtschaftliche Lähmung eines ganzen Landes, das sich im Nachkriegszustand bzw. – wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Bagdad feststellt – im weiterhin andauernden Kriegszustand befindet, die eigentlich die Zerstörung der irakischen Gesellschaft und ihrer Menschen bewirken. Dass die irakische Gesellschaft in diesem zehnjährigen Überlebenskampf nicht noch stärker erodiert ist, ist der großen Diszipliniertheit, dem Fleiß, der praktischen Intelligenz, möglicherweise auch der Religiosität ihrer Menschen zuzuschreiben, mit Sicherheit aber auch dem harten Griff der Regierung. Viele Iraker sagten mir, dass jeder Tag, den sie überleben, für sie wie ein Wunder sei.

Andererseits: Eine neue Klasse von Profiteuren ist entstanden. Geschätzte 5-10 Prozent des geförderten Öls werden geschmuggelt. Es gibt alles im Irak, sogar zu relativ günstigen Preisen, wenn man in Dollar bezahlen kann.

Das Land war und ist laizistisch verfasst, Frauen waren und sind weitaus weniger von der in islamischen Gesellschaften oft praktizierten Diskriminierung betroffen. Eine meiner irakischen Mitarbeiterinnen, ehemals hochrangige Diplomatin, beklagt nun die Zuflucht der Iraker zur Religion und das Aufkommen fundamentalistischer Einstellungen. Sie sagte mir auch, dass sie über ihre eigene Reaktion erstaunt war, als klar war, dass es im Irak Kinder gab wie in Biafra oder Äthiopien: Sie konnte keine Träne weinen. Manchmal macht eben auch das Entsetzen starr.

Der irakische Minister für Arbeit und Soziales teilte mir im März 1999 mit, dass nur noch 40 Prozent der Industrien mit einem Auslastungsgrad von 10 Prozent in Betrieb sind. Nach seiner Einschätzung sind 90 bis 95 Prozent der Iraker völlig verarmt. Dieses Ministerium versorgt normalerweise diejenigen mit minimalen Mitteln zum Lebensunterhalt, die in völliger Armut leben. 1994 stellte das Ministerium die Registrierung solcher Personen jedoch ein, weil es deren anschwellende Flut nicht mehr bewältigen konnte. Die VN waren damals besorgt über Anzeichen einer bevorstehenden Hungersnot. In den Jahren 1999/2000 ging aus unseren routinemäßigen Erhebungen im Irak hervor, dass zwei Drittel der Bevölkerung den monatlichen Warenkorb in weniger als 20 Tagen aufbrauchten. Wir haben uns immer gefragt, wovon diese Gruppe den Rest der Zeit lebt. Vermutlich sind dies Familien, die keine zusätzlichen Einkommen haben und nur von dem Warenkorb (der zum Gegenwert von 12 Cents zur Verfügung gestellt wird) leben, ihn vielleicht sogar in Teilen veräußern müssen um andere notwendige Mittel zum Leben zu kaufen oder zu tauschen. (Inhalt des Warenkorbs: Weizenmehl, Reis, Hülsenfrüchte, Speiseöl, Milchpulver, Tee, Zucker, Salz, Waschpulver, Seife; für Kleinkinder bis zu einem Jahr auch Babymilchpulver).

Viele irakische Kinder sind körperlich zurückgeblieben (stunted growth); chronische Mangelernährung erzeugt jedoch nicht nur körperliche Defizite, sondern wirkt sich auch auf die mentalen Fähigkeiten aus. Anlässlich eines Programms für unterernährte Kinder unter fünf Jahren, das wir im Irak durchführten, gab uns die zuständige Behörde deren Zahl mit rd. 700.000 an. Die irakischen Kinder wachsen zudem in einem unsicheren sozialen Umfeld auf. Ein besonders krasses Beispiel hierfür war unsere Beobachtung, dass in irakischen Waisenhäusern Eltern ihre Kinder abliefern, weil sie nicht mehr für sie sorgen können.

Die Abschottung der Gesellschaft von allen Möglichkeiten des Austauschs mit dem Rest der Welt setzt die derzeit aufwachsende Generation in einen nicht aufholbaren Nachteil. (Selbst der Fall der Mauer und seine enormen Folgen für den gesamten Globus sind noch nicht richtig im Irak angekommen; und wie bekannt begann der Internet-Boom erst 1996 in den Vereinigten Staaten!) Mindestens eine irakische Generation ist verloren, und selbst wenn die Sanktionen morgen aufgehoben würden, der Wiederaufbau der Gesellschaft, besonders aber auch die Wiederherstellung der individuellen menschlichen Fähigkeiten, würden sich über sehr viele Jahre erstrecken, wenn sie im Individualfall überhaupt geschehen können. Der Stress, dem Menschen ausgesetzt sind, die, um ihre Familie zu ernähren, zwei in der Regel minderwertige Berufe ausüben müssen, erschöpft unendlich, wenn er sich über zehn lange Jahre hinzieht, die Verschlechterung der Ausbildung in den Schulen und im professionellen Bereich wirkt sich langfristig auf mindestens eine Generation aus; Kinder, die überhaupt nicht in die Schule gehen, werden das Versäumte niemals nachholen können; der Druck auf die Familie, wenn Familienmitglieder erkranken und ihnen nicht geholfen werden kann, macht depressiv ebenso wie die Fehlinvestitionen in Lebensläufe oder in Erwartungen, die sich nicht erfüllen lassen. Die Zahl der Eheschließungen hat abgenommen; Entprofessionalisierung findet statt. So sind z.B. 60 Prozent der über 1000 irakischen Mitarbeiter im humanitären Programm professionell ausgebildet, üben jedoch eine minderwertige Tätigkeit aus, wie der Pilot, Ingenieur oder Agrarwissenschaftler, der als Fahrer arbeitet, der Bankdirektor, der nun Food-Aid-Monitor ist.

Der Ersatzinvestitionsbedarf ist enorm. Zwar ist ein Großteil der Transportinfrastruktur wie Straßen und Brücken in Eigenleistung wieder hergestellt – außer der Eisenbahn, deren Rehabilitation bisher nicht genehmigt wurde – sonst wäre auch die landesweite Nahrungsmittelversorgung nicht durchführbar. Der Hafen von Basra jedoch ist bis auf die Anlagen, die zum Einbringen der Nahrungsmittel notwendig sind, stillgelegt, die Hafenanlagen verfallen. Und selbst diese und andere für die Nahrungsmittelversorgung unbedingt notwendigen Einrichtungen, wie die Getreidemühlen, sind in einem desolaten Zustand. Jüngst war zu lesen, dass die irakische Regierung 600.000 PKW beschaffen will. Angesichts des Zustands fast aller Fahrzeuge dort ist dies meines Erachtens ein Minimum.

Seit Ende 1998 herrscht zudem eine Dürre in der Region, die sich im Irak auf die Ernteerträge und auf Besitz und Einkommen der nomadisierenden Bevölkerung (Viehbestand) verheerend sowie auf die Versorgung mit sauberem Wasser zusätzlich erschwerend auswirkt. Der FAO-Vertreter in Bagdad sagte mir im September 2000, wenn die Dürre anhalte, würden demnächst sämtliche Obstplantagen zugrunde gehen.

Das Gesundheitswesen des Irak galt einst als eines der besten im Mittelmeerraum. Heute sind Gesundheitszustand und Gesundheitsversorgung der Bevölkerung schlecht. Die Lebenserwartung ist zurückgegangen. Am 28. September 2000 besuchte ich – ohne Vorankündigung – das Saddam General Hospital in Saddam City und sprach mit dem Direktor. In Saddam City leben Menschen, die der niedrigsten gesellschaftlichen Schicht angehören, ein Drittel der Bevölkerung Bagdads, mehr als zwei Millionen Menschen. Das Allgemeinkrankenhaus, eines von vier in Saddam City, hat 308 Betten, mehr als 600 Besucher während der Öffnungszeiten und ca. 200 zusätzlich außerhalb. 150 Personen kommen im Durchschnitt täglich in die Notaufnahme. Medikamente stehen nicht ausreichend zur Verfügung. Nach Einsetzen der Versorgung durch das humanitäre Programm hat sich nach Auskunft des Direktors die Situation allerdings gebessert. Es fehlten aber weiterhin Anästhetika und Antibiotika, besonders für Patienten mit Verbrennungen. TBC und andere Infektionskrankheiten, ebenso Brucellose seien im Ansteigen. Diabetes und Bluthochdruck haben seit dem Golfkrieg zugenommen, bei älteren Menschen offenbar bedingt durch Stress. Bei jüngeren – schon drei- bis vierjährigen Kindern – sei die Ursache für die Diabeteserkrankungen unklar. Seltene Krebserkrankungen seien aufgetreten, vermutlich durch abgereichertes Uran (Depleted Uranium – DU). Seit Phase I des humanitären Programms (1996) habe der Direktor keine moderne computerisierte Ausrüstung erhalten, jedoch ein Ultraschallgerät. Die Zahl der Ärzte und Spezialisten nehme ab, ebenso die Qualität der Ausbildung bei den jungen Ärzten. Wissenschaftliches Material und Lehrmaterialien dürfen nicht in den Irak importiert werden. Das Labor dieses für Bagdads arme Bevölkerung zentralen Allgemeinkrankenhauses war, was die Ausrüstung anbelangte, in einem desolateren Zustand als ich ihn jemals in den ärmsten Entwicklungsländern gesehen habe. Das Labor der Notaufnahme war minimal besser ausgestattet.

Im Irak wurden die durch den Golfkrieg entstandenen Umweltschäden nicht saniert (Zerstörung von Ölförderungs- und Petrochemieanlagen; Geschosse, die mit abgereichertem Uran ummantelt sind). Nach Auskünften und Unterlagen, die ich im September 2000 vom Vertreter der WHO in Bagdad und von irakischen Spezialisten, die mit entsprechenden Untersuchungen beauftragt sind (einem Mitglied des Komitees zur Untersuchung der Auswirkungen des Golfkriegs sowie der Sekretärin des Komitees), erhalten habe, lagert sich abgereichertes Uran, das vor allem Alpha-Partikel aussendet und eine Halbwertzeit von 4,5 Milliarden Jahren hat, im Körper ab – vor allem in Leber und Knochen –, attackiert die DNA, wird nach einiger Zeit mit dem Urin ausgeschieden und lässt sich dort auch nachweisen. Die irakischen Behörden haben über tausend Personen (Frontsoldaten und ihre Familien; mit Kontrollgruppe), die exponiert waren, unter Beobachtung. Es wird vermutet, ist jedoch bisher nicht nachgewiesen, dass die Zunahme von Leukämie, das Auftreten seltener Krebserkrankungen sowie angeborener Missbildungen auf das abgereicherte Uran zurückzuführen sind. Das irakische Komitee hat neben der drei- bis vierfachen Zunahme von Leukämie und Kindersterblichkeit als mögliche Folgen des Gebrauchs von DU-Munition festgestellt: Unfruchtbarkeit bei Männern und Frauen (auch Jugendlichen); seltene Deformationen, die noch weiter zunähmen (z.B. Kinder ohne oder mit deformierten Armen, ohne Finger, mit deformiertem Kopf, ohne Augen, mit deformierten Augen, ohne Ohren); Chromosomen-Änderungen; deformiertes Sperma (DU sei im Sperma nachgewiesen worden); erhebliche Zunahme von Brustkrebs, besonders bei 17- bis 20-jährigen Frauen.

Insgesamt sei eine Zunahme von Krebs (Lungen-, Nieren-, Lymph- und Schilddrüsenkrebs), besonders auch bei Jugendlichen, festzustellen. Irak versuche, einen Nachweis der Beziehung zwischen DU und Krebs sowie genetischen Veränderungen zu erbringen. Während der Explosion sei chemisches und radioaktives Material ausgetreten, das jetzt in die Nahrungskette aufgenommen sei. Besonders viel liege noch in der Provinz Basra in der Erde. Damals habe es oft geregnet, so dass dort, wo es starke Kontamination gab, viel von den toxischen Stoffen in das Grundwasser geriet. 1996/97 zeigte die Untersuchung von Frontsoldaten zum ersten Mal eine Zunahme bei Krebserkrankungen, zunächst nur wenig Fälle. Es sei jedoch zu erwarten, dass die Entwicklung über Jahre hinaus weitergehe.

Festgestellt wurden im Südirak auch Deformierungen von Tieren. Dort seien Wasser, Boden und Pflanzen DU-verseucht. Insgesamt seien über 300 t Material mit chemischer und radioaktiver Aktivität abgeschossen worden. Die betroffenen Gebiete seien für Menschen und Tiere inzwischen unzugänglich gemacht. Seit 1995 wende sich die Regierung in dieser Angelegenheit an die WHO. Bisher war eine externe Verifizierung dieser irakischen Feststellungen trotz mehrfacher Bitten an die WHO nicht möglich. Es habe zwar einmal eine Mission gegeben, deren Ergebnisse seien der Regierung jedoch nicht mitgeteilt worden. Entsprechende Bestandsaufnahmen und Ausrüstung zur Dekontamination seien teuer. Deswegen sei ein Programm der internationalen Organisationen notwendig. Man habe bisher noch nicht endgültig entschieden, ob die Oberfläche abgetragen werden soll oder ob man den verseuchten Boden bedecken will. Kontaminiert seien Farmland und Areale bei kleineren Städten. Die kontaminierte Erde werde durch Wind bewegt. Auch Saudi-Arabien und Kuwait seien betroffen; die Arabic Organization for Atomic Energy habe die Regierungen hierüber entsprechend informiert. In Kuwait und Safwan, auf dem Highway of Death solle sogar mehr DU-Munition als im Irak liegen.

Der Vertreter der WHO in Bagdad berichtete Ende September von seinem Besuch beim Sanktionskomitee in New York und seinem dort vorgetragenen Petitum, 35 medizinische Ausrüstungsgegenstände zur Lieferung freizugeben. Kein Mitglied des Komitees habe ihm die Frage beantworten können, warum ein Anästhesie-Gerät nicht geliefert werden dürfe. Aufgrund seiner Initiative wurden schließlich rund 50 Prozent der Gegenstände freigegeben. Bezug nehmend auf die immer wieder von den USA vorgebrachte Behauptung, die irakische Regierung halte Medikamente zurück, erklärte er, die Verteilungsrate für medizinische Güter liege bei 75 Prozent. Die Regierung halte 14 Prozent als strategische Reserve, dies sei sehr wenig. Der Rest sei auf Lager, weil Ergebnisse der Qualitätskontrolle abgewartet werden müssen, weil Komponenten fehlten oder weil die Güter die Qualitätskontrolle nicht passiert hätten. Allein medizinische Dienste und Medikamente zur Verfügung zu stellen sei jedoch nicht ausreichend für Herstellung und Erhalt von Gesundheit, vielmehr sei die Rehabilitation des gesamten Infrastruktursystems – von Wasser, Abwasser, Elektrizität, Einkommen und Erziehung – sowie das Durchbrechen der Isolation nötig. Für die irakische Bevölkerung stehe das einfache Überleben derzeit im Vordergrund. Für ihn und seine Arbeit ausschlaggebend sei die Resolution der WHO-Versammlung, nach der es keine Behinderung bei der Lieferung von medizinischer Ausrüstung geben darf. Es müsse aber immer noch Impfstoff, z.B. gegen Polio, dem Sanktionskomitee zur Billigung vorgelegt werden. Er setze sich daher dafür ein, dass auch Impfstoffe auf die Liste derjenigen Güter gesetzt werden, die vom 661-Komitee en bloc verabschiedet werden. Die meisten medizinischen Güter, die Komponenten benötigten, seien blockiert, ebenso jedwede computerisierte Ausrüstung und fast alle Reagenzien. Das Zentrallabor für Tuberkulose in Bagdad biete für die dort arbeitenden Angestellten keinen ausreichenden Schutz, und es gebe keine Mittel, die Situation zu verbessern. Die Blutbank müsse vollständig renoviert werden. Sämtliche wasserinduzierten Krankheiten nähmen zu (Tuberkulose, Malaria, Unterernährung). Die Dürre verschärfe die Situation. Die Zahlenangaben der Regierung seien akkurat. Im Süden sei Leukämie um das Fünffache angestiegen. Es seien jedoch unabhängige Untersuchungen zur Beweisführung der Verursachung durch DU nötig.

Menschenrechte

Zwischen den Bestimmungen des Kapitels VII, Paragraph 41, der Charta der Vereinten Nationen (Action with Respect to Threats to the Peace, Breaches of the Peace, and Acts of Aggression [The Security Council may decide what measures not involving the use of armed force are to be employed to give effect to its decisions, and it may call upon the Members of the United Nations to apply such measures. These may include complete or partial interruption of economic relations and of rail, sea, air, postal, telegraphic, radio and other means of communication, and the severance of diplomatic relations.]) und den Menschenrechtsinstrumenten der Vereinten Nationen besteht ein Bruch. Faktisch treffen Sanktionen fast ausschließlich die einfache Bevölkerung, und das humanitäre Programm bietet für diese keinen aktiven Menschenrechtsschutz. Es böte ihn auch dann nicht, wenn es in vollem Umfang, in gutem Glauben und unter Verzicht auf die gegenwärtige Politisierung umgesetzt werden würde. Denn: Ein reines Versorgungsprogramm, das überdies ausgehöhlt ist, kann nicht über einen Zeitraum von zehn Jahren die wirtschaftliche Tätigkeit eines gesamten Volkes ersetzen. Die Lösung für die humanitäre Katastrophe für die jetzt fast 25 Millionen Menschen (1988: 18 Millionen) liegt nur in der vollen Wiederbelebung der wirtschaftlichen Tätigkeit des zivilen Sektors und der Verfügung des Staates über seine Exporteinnahmen, die ihm notwendige Investitionen und die Wiederherstellung der sozialen Dienste ermöglicht.

Die Menschenrechte haben universelle Gültigkeit, das heißt „[Es]darf keine Unterscheidung gemacht werden aufgrund der politischen, rechtlichen oder internationalen Stellung des Landes oder Gebietes, dem eine Person angehört, ohne Rücksicht darauf, ob es unabhängig ist, unter Treuhandschaft steht, keine Selbstregierung besitzt oder irgendeiner anderen Beschränkung seiner Souveränität unterworfen ist.“ (Artikel 2 der Universellen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948).Die Menschenrechte sind also auch im Irak anzuwenden. Human Rights Watch (HRW), eine unabhängige Organisation in New York, die sonst die Menschenrechtsverletzungen durch die irakische Regierung anprangerte, hat dies in einem Brief an den Ständigen Vertreter der USA bei den Vereinten Nationen vom 4. Januar 2000 ebenfalls thematisiert: Der UNO-Sicherheitsrat dürfe nicht den hohen Grad der Schuld benutzen, den die Regierung des Irak an der humanitären Krise habe, um den eigenen Anteil an der Verantwortung zu verdunkeln. Bei der Anwendung von Zwangsmaßnahmen, einschließlich nicht-militärischer Maßnahmen wie der eines Embargos, müsse sich der Rat von dem humanitären Kernprinzip leiten lassen, Bedrohung des Lebens und körperlichen Schaden unschuldiger Menschen, die für die mit Sanktionen belegte Regierungspolitik nicht verantwortlich seien, so gering wie möglich zu halten, wörtlich: „Wir glauben, es besteht eine dringende Notwendigkeit für zusätzliche Initiativen, um die Durchsetzung der Ziele der Resolutionen 687 (1991) und 688 (1991) besser in Übereinstimmung zu bringen mit der humanitären Verpflichtung des Rats und seiner Mitgliedstaaten, den Schaden an der Zivilbevölkerung zu minimieren und den Schutz der fundamentalen Rechte sicherzustellen, der dieser im Rahmen der internationalen Gesetzgebung zusteht.“

Es herrschten weiterhin lebensbedrohende Umstände im Irak vor. Ein temporäres Nothilfeprogramm biete nicht diejenigen umfassenden Planungen und Investitionen, die notwendig seien, um Iraks Infrastruktur auf ein Niveau anzuheben, das die notwendigsten zivilen Grundbedürfnisse befriedige. Wie das zuvor das humanitäre Panel, so wiederholt HRW die bereits in FAO/WFP-Berichten erhobene Forderung, die zivile Wirtschaft des Irak wiederzubeleben – selbst auf die Gefahr hin, dass die Regierung wieder über Finanzmittel verfügt. Statt dessen sollten alle Güter, die in den Irak importiert werden, einem Kontrollverfahren unterworfen werden – was derzeit nicht der Fall ist. Der Sicherheitsrat müsse abwägen zwischen dem Schaden, den die Sanktionen der Bevölkerung zufügten und dem, was durch diese noch erreicht werden könne.

Auch der VN-Generalsekretär ist der Ansicht, dass die Vereinten Nationen bezüglich des Irak in einem Dilemma steckten, da die VN ansonsten immer auf Seiten der Schwachen und Verwundbaren stehe und Leiden zu lindern versuche.

Artikel II der Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Völkermord definiert Genozid als eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:

a) Tötung von Mitgliedern dieser Gruppe;

b) Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischen Schaden an Mitgliedern der Gruppe;

c) Vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen…

Der belgische Völkerrechtsexperte Marc Bossuyt wendet in seinem Bericht an die Commission on Human Rights – Sub-Commission on the Promotion and Protection of Human Rights (E/CN.4/SUB.2/2000/33) vom 21. Juni 2000 nicht nur Absatz c der Genozidkonvention auf den Irak an, er stellt auch in seinen Empfehlungen fest, dass Sanktionen, die das Völkerrecht und besonders die Menschenrechte verletzen, nicht res pektiert werden müssen. Ich folge ihm hierin.

Wie eingangs erwähnt, sieht Resolution 1284 (12 Dezember 1999) statt Aufhebung der Sanktionen deren mögliche Suspendierung vor, gemäß Interpretation der USA wiederum ohne dem Irak die Kontrolle über die Öleinnahmen zuzugestehen. Irak akzeptiert aus diesem Grunde die Zusammenarbeit mit den VN auf Basis dieser Resolution nicht und besteht auf der Anwendung von Sicherheitsratsresolution 687, Paragraph 22, und damit der Aufhebung der Sanktionen nach vollzogener Abrüstung. Dieser Auffassung der USA ist eine weitere Menschenrechtsbestimmung entgegen zu setzen: Der Sozialpakt vom 19. Dezember 1966 sieht in Teil I, Artikel 1 (2) vor: Alle Völker können für ihre eigenen Zwecke frei über ihre natürlichen Reichtümer und Mittel verfügen, unbeschadet aller Verpflichtungen, die aus der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf der Grundlage des gegenseitigen Wohles sowie aus dem Völkerrecht erwachsen. In keinem Fall darf ein Volk seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden.

Ausblick: Dialog statt Sanktionen

Viel hat sich in den letzten Monaten ereignet: Die Beziehungen zu Jordanien sind verbessert; mit Syrien deutet sich eine zuvor nicht denkbare Allianz an; es gibt hochrangige Gespräche mit dem Iran. Einige arabische Nachbarn haben ihre diplomatischen Vertretungen wieder geöffnet; einige westliche Nationen beabsichtigen dies ebenfalls. Iraks Stellung im arabischen Raum ist – besonders im Umfeld des palästinensisch-israelischen Konflikts – und, angesichts hoher Ölpreise, auch beim Rest der Welt enorm gestärkt. Solidaritätsflüge aus der arabischen Welt und von Seiten der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats, die Irak eher positiv gegenüberstehen, finden seit August 2000 nahezu regelmäßig statt. Es ist die Rede davon, dass das Embargo erodiert – und Irak arbeitet seinerseits an dieser Erosion. Jedoch, lassen wir uns nicht täuschen. Der Kern der Sanktionen bleibt erhalten: Der Irak darf weiterhin nicht über seine Einnahmen aus den Ölverkäufen verfügen. So haben die USA beispielsweise keine Einwände gegen zusätzliche Ölausfuhren über Syrien, solange die Einnahmen auf das UNO-Treuhandkonto eingezahlt werden.

Daher: Die Entwaffnung des Irak (von Massenvernichtungswaffen) muss vollzogen werden. Der Irak muss das »Reinheitssiegel« der Waffeninspekteure erhalten, und ich bin überzeugt, dass die Regierung mit den Waffeninspekteuren zusammenarbeiten wird, wenn sie eine faire Behandlung und die tatsächliche Aufhebung des Embargos erwarten kann. Der Irak muss die ihm zukommende Rolle in der Völkergemeinschaft, einschließlich einer konstruktiven Rolle als OPEC-Land und im regionalen Kontext, baldmöglichst wieder einnehmen. Es ist notwendig, hierzu einen politischen Dialog zu beginnen.

Jutta Burghardt war vom 26. Januar 1999 bis zum 31. März 2000 Vertreterin des Welternährungsprogramms (WFP) und Länderdirektorin Irak mit Büro in Bagdad. Aus Protest gegen die andauernden Sanktionen legte sie ebenso wie Hans Graf Sponeck, seit über 30 Jahren im UN-System tätig und Leiter des Öl-für-Nahrung-Programms, Ende März ihre Arbeit in Bagdad nieder. Zur Zeit ist sie Referentin im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Bonn und mit Programmen für afrikanische Länder betraut.

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