Dossier 11

Jugend und Gewalt

von Claudia Flesch, Benno Hafeneger, Alexander Klett, Peter Krahulec, Gunter A. Pilz

Einleitung

Die aktuelle Jugenddebatte wird von einem Thema dominiert: der Gewalt von und unter Jugendlichen. Politik, Schule und Jugendarbeit, die sozialwissenschaftliche und pädagogische Jugendforschung befassen s ich mit keinem Thema so intensiv, wie mit diesen »neuen« Verhaltensweisen unter Jugendlichen. Dabei sind zwei Entwicklungen und Diskurse zu unterscheiden: einmal die »Alltagsgewalt« in Schulen, Einrichtungen der Jugendarbeit, im alltäglichen Umgang; dann die politisch stimulierte »rechtsextreme Gewalt« von Jugendcliquen, Skin-Heads, rechtsextremen Gruppen und Hooligans.

Beide Entwicklungen sind Indikatoren und zeigen seismographisch komplexe und komplizierte Gesellschaftliche Umbruch- und Krisenentwicklungen an, von denen insbesondere Jugendliche betroffen sind. Gewaltformen und gewaltförmige Verhaltensweisen verweisen auf die innere Struktur, auf die inneren Verhältnisse einer Gesellschaft, sie sind eine mögliche Interaktionsform von Jugendlichen mit der Gesellschaft, eine mögliche Antwort, Reaktion auf alltägliche, zugemutete, unbegriffene und demütigende Erfahrungen. Die Ursachen und Begründungen für solche Entwicklungen liegen folglich »im Zentrum« der Gesellschaft, in ihrer Verfaßtheit, ihren Strukturen, Prozessen und ungelösten Problemen.

Die folgenden Beiträge befassen sich aus Sicht von Jugendforschung und außerschulischer Jugendarbeit mit einigen Aspekten der beiden Gewaltphänomene in unserer Gesellschaft.

Benno Hafeneger

zum Anfang | Thesen: Gewalt und Gewaltbereitschaft von und unter Jugendlichen

von Benno Hafeneger

Differenzierung tut Not!

Wenn über »Jugend und Gewalt« geredet wird, gilt es zunächst zu fragen, zu klären und zu differenzieren:

1. Über welche Gewalt wir reden? – Über ungerichtete (eher noch unbegriffene) Gewalt von Cliquen (sog. Gangs, Banden), die derzeit in Metropolen durch »Überfälle, Diebstähle, Bedrohungen« auf sich aufmerksam machen; über instrumentelle, zielgerichtete Gewalt von Hooligans und Skin-Heads, rechtsextremen Gruppen, die ihre (diffusen) fremdenfeindlichen und rassistischen Mentalitäten in gewaltförmige Praxis umsetzen; über strukturelle Gewalterfahrungen von Jugendlichen (Armut, Ausgrenzung) und ihren Umgang mit dieser Realität.

2. Über welche Jugendliche wir reden? – Über männliche und/oder weibliche Jugendliche; derzeit konzentriert sich die Auseinandersetzung auf männliche Jugendliche; über deutsche und/oder ausländische Jugendliche, derzeit geht es um deutsche, ethnische und multiethnische männliche Jugendliche; über jüngere oder ältere Jugendliche, derzeit scheinen die 14 bis 18-jährigen zu dominieren.

3. Was wissen wir über die männlichen Jugendlichen? – Wir wissen kaum was Genaues, Gesichertes über die sozialen Erfahrungen und die Lebenssituationen der Jugendlichen; den Ablösungsprozeß der Jugendlichen der zweiten Migrantengeneration; über Einstiegs- und Gruppenbildungsprozesse; über subjektive Motive und Deutungen; über Treffen und Gesellungsformen, Bewegungsformen (Mobilität) und Aufenthaltsorte.

4. Was haben Politik und Öffentlichkeit (Medien) für – unterscheidbare – ordnungs-, sozialpolitische und pädagogische Motive und Interessen, dieses Thema in den Mittelpunkt der »Jugenddiskussion« zu rücken? – Erkennbar sind disparate Hinweise: Beschreibung von bedrohlichen Entwicklungen und die Sicherheitsbedürfnisse der »Normalbevölkerung«; Erfahrungen von Betroffenen, von Eltern, Lehrerlnnen, Mitarbeiterlnnen in der Jugendhilfe; Image von Kommunen, parteipolitisches Kalkül und schnelle Befriedigungs(Kontroll)- interessen; Nachdenken über Lebenssituationen und Perspektiven von Jugendlichen.

Bedeutung von Gewalt für Jugendliche – Hinweise zur Klärung

Zunächst lassen sich aktuell – mit aller Vorläufigkeit – vier Tendenzen erkennen, die die öffentliche Diskussion stimulieren: zahlenmäßige Zunahme von gewaltförmigem Verhalten; Verjüngung im Gewaltverhalten, die Hinweise konzentrieren sich auf Grundschulen und die 14 bis 18-jährigen; neu ist, daß nicht mehr »nur« Randgruppen mit einschätzbaren (politischen) Interessen gewaltförmig agieren, sondern Gewalterfahrungen die »Normalgesellschaft (Normaljugendlichen)« erreichen; Veränderungen von Tabuzonen und Hemmschwellen (brutaler, rücksichtloser, unkontrollierter) bei den unterschiedlichsten Formen von (verbaler, angedrohter, physischer) Gewalt.

Will man sich verstehend und erklärend (nicht akzeptierend und verharmlosend) dem Thema nähern, gilt es historisch und analytisch einige Aspekte zu unterscheiden; dies sind Grundlagen für Überlegungen zu möglichen begrenzten – Handlungsstrategien auch in der Jugendarbeit.

1. Mit einem historischen Verweis und mit Blick auf die Jugend- und Jugendarbeitsgeschichte ist Gewalt kein neues Thema in der Jugendhilfe/arbeit; sie läßt sich rekonstruieren von der wilhelminischen Zeit bis heute, vom ersten preußischen Jugendpflegeerlaß bis zu den aktuellen Jugendschutzdebatten. Die Jugendpflege kann auch als eine Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang »Jugend und Gewalt« rekonstruiert werden. Stichworte in der Etikettierung von Jugendlichen waren bzw. sind u.a.: (Wilde) Cliquen, Halbstarke, Streetgangs, Banden. Immer geht es um »Auffälligkeit, Abweichung, Gefährdung, Kriminalität«, um die Straße und vermeintliche Sicherheit, um Verwahrlosung und Kriminalität – damit zusammenhängend geht es der Jugendpflege um den ezieherisch-integrativen (und auch repressiven) Einfluß von Erwachsenen bzw. der Gesellschaft auf Jugendliche. Immer oszilliert die Diskussion zwischen Pädagogik, Erziehung, Beeinflussung (gute Worte) auf der einen Seite und »law-and-order«, Repression und Ordnungspolitik auf der anderen Seite.

2. Jugendliche reagieren auf gesellschaftliche, ökonomisch-soziale Erfahrungen wie Armut, Ausgrenzung, Desintegration – aus der Opfersituation und Erfahrungen sozialer Kälte – auch mit Gewalt; gesellschaftlich strukturelle Gewalterfahrungen werden – als eine Möglichkeit im Interaktionsprozeß – gewaltförmig zurückgespiegelt. Der Gesellschaft wird der Spiegel (ihre eigenen Verhältnisse) vorgehalten.

3. Gewalt hat mit konkreten Erfahrungen des Scheiterns an gesellschaftlicher Realität (Schule, Familie, Beruf, soziale Bindungen, Orientierung etc.) zu tun. An den komplexen und auch undurchschaubaren Anforderungen an die »Jugendphase heute« – als Individualisierung, Auflösung von Milieus; Mobilität, Flexibilität u.a. vielfach beschrieben – scheitern viele Jugendliche. Diese Erfahrungen müssen aber subjektiv bewältigt werden. Gewaltförmige Befreiung ist dann ein möglicher und gesellschaftlich angebotener Weg, überhaupt wieder Handlungsfähigkeit und Realitätskontrolle herzustellen; er knüpft an individuelle Erfahrungen und gesellschaftliche Leitbilder wie „der Stärkere setzt sich durch“ an.

4. Aus der Rechtsextremismusforschung wissen wir, daß es bei der Frage nach Verarbeitungsweisen von »Aufwachsen/Jugend heute« zentral um drei Erfahrungen geht: um Ohnmachtserfahrungen (übermächtige Konkurrenz – Stärke und Gewalt als Befreiung), um Handlungsunsicherheiten (Erosionen von Normalbiographien, der Chronologisierung von Lebenslaufphasen, Bastelmentalität als biographischer Weg) und um Vereinzelungen (Auflösung von sozialen und kulturellen Milieus, Zugehörigkeiten, Nation, Natur/Kultur, Hautfarbe als letztes Angebot). Diese Erfahrungen von immer mehr Jugendlichen können- ideologisch mit Ungleichheitstheoremen untermauert – Anknüpfungspunkte und Einstiegsschleusen für gewaltförmiges Handeln sein.

5. Es geht in gruppenpädagogischer und mentalitätspsychologischer Perspektive um Abgrenzung »nach außen« und Vergewisserung »nach innen«. Biographische und cliquenbezogene Sozialisationserfahrungen (im Auseinandersetzungs- und Ablösungsprozeß vom Elternhaus, der Erwachsenenwelt) und um Vergewisserungsversuche von Identität, sozialer Zuordnung und rückgemeldetem Selbstwert (als Stärke, Mutproben, Kräftemessen, Spannung, Grenzen und Männlichkeit). Wenn die Jugendlichen von anderen pädagogischen, sportlichen, kulturellen, actionbezogenen Angeboten und Aktivitäten nicht erreicht werden bzw. diese nicht realisierbar sind, ist Gewalt im Gruppenzusammenhang möglicher vorübergehender oder sich auch verfestigender Bestandteil im Prozeß von Identitätsbildung, in dem Peer-Groups, informelle Gruppen und Cliquen einen bedeutsamen Beitrag leisten. Ungeklärt ist derzeit, warum sich aufgrund dieser Prozesse Gewaltphänomene ausbreiten. Vielleicht zeigen sich hier gesellschaftliche soziale Kälte, Desinteresse und Desintegration; Erfahrungen von Langeweile, sozial-räumliche Enge; fehlende (körperliche) Grenzerfahrungs- und Experimentiermöglichkeiten von Jugendlichen besondes deutlich.

6. Gewalt kann als eine Möglichkeit konkreter Aneignung von Realität (Geld, Konsum, Partizipation an werbevermittelten Jugendstandards, an Reichtum) verstanden werden; was eine reiche Gesellschaft armen Jugendlichen vorenthält, wird über diesen Weg (Überfälle, Diebstähle) angeeignet.

zum Anfang | »Neue Jugendgewalt« und gesellschaftliche Vergeßlichkeit

von Alexander Klett

In der öffentlichen Diskussion – oder vielleicht besser: in der öffentlichen Aufregung (was den Charakter des Umgangs einer »Öffentlichkeit«, die über die Medien erzeugt und gestaltet wird, mit dem Phänomen »Jugendgewalt« besser kennzeichnet) – ist das Thema nicht neu.

Erinnert sei an die sog. »Halbstarken«-Zeit in den 50er Jahren (s. hierzu den Artikel im Dossier: »Herumtreibend, halbstark, luxusverwahrlost«), an die Rocker-Cliquen, an die Punks, an die »Streetgangs« in den 80ern und an die Fußballfans der letzten Jahre. Immer wiederkehrend, wie Wellen, die etwas von unten nach oben spülen, sind Jugend-Subkulturen entstanden, in denen Gewalt, körperliche Gewalt, vor allem angewendet von männlichen Jugendlichen, eine Rolle spielt, die die Erwachsenenwelt offensichtlich ungemein provoziert – was diese aber nicht daran hindert, alles innerhalb kürzester Zeit wieder zu vergessen.

Die Tatsache, daß solche periodisch wiederkehrenden jugendkulturellen Muster mit historisch-kulturellen Variationen in der Öffentlichkeit immer wieder als neu und gewissermaßen einzigartig bezeichnet werden, läßt verschiedene Interpretationen zu; entweder handelt es sich:

a) schlichtweg um eine kollektive Vergeßlichkeit oder

b) um eine Form von gesellschaftlicher Hilflosigkeit: es werden keine adäquaten Erklärungen und angemessenen Umgangsweisen für die Konflikte gefunden; möglicherweise, weil die kulturelle Distanz zwischen den Generationen und die soziale Distanz zwischen den Beteiligten so groß sind, daß ein Verstehen nicht mehr möglich ist – oder

c) diese immer wiederkehrende »Neu-Entdeckung« hat eine Funktion für die Öffentlichkeit, die sich da empört. Hinter ihr steckt eine unbewußte Absicht:daß ein Verstehen nicht möglich ist, kann auch anders gedeutet werden – vielleicht ist es gar nicht gewollt?

Möglicherweise stimmt von allen drei Interpretationen etwas, wobei sich dann die Frage stellt: Welchen Sinn, welche Bedeutung hat das öffentliche Vergessen das öffentliche Nicht-Verstehen-Können oder auch Nicht-Verstehen-Wollen?

Betrachten wir das Muster, nach dem die öffentliche Diskussion über das Problem »Jugendgewalt« abläuft, auch in ihrer Auflage von 1990/91: es beginnt mit dem Problemaufriß; Empörung und öffentliche Aufregung über die gestörte Ruhe und Ordnung; Aufregung darüber, daß die Sicherheit in der Stadt bedroht ist. In der zweiten Phase werden verstärkt Bewältigungsstrategien diskutiert; es werden Überlegungen angestellt, wie das Ganze in den Griff zu kriegen sei. Dabei stehen die polizeilichen und ordnungspolitischen Lösungen immer ganz vorne. In der dritten Phase erfolgt ein Abgesang. »Erfolge« in Form von Festnahmen, sichergestellten Waffen (die das Ausmaß der Bedrohung demonstrieren sollen, in der mensch sich befand) und in Form von Verurteilungen in Justizverfahren häufen sich. Das öffentliche Interesse läßt nach, ist beruhigt. Mit jeder Meldung über eine durchgeführte Razzia, über eine Festnahme kann die Leserin oder der Fernsehzuschauer sich wieder beruhigt zurücklehnen: das Problem ist gelöst. Die Bedrohung erscheint gebannt. Damit findet auch die Diskussion in der Öffentlichkeit ihr Ende.

Bedrohte Sicherheit

Das dargestellte Muster der »Problemaufarbeitung«, das bei genauerem Hinsehen diese Bezeichnung nicht verdient, und die Tatsache, daß es sich in dieser Weise periodisch wiederholt, läßt stutzig werden. Beim Stichwort »Bedrohung der Sicherheit« taucht die Frage auf, ob die Sicherheit in dieser Stadt, in diesem Land, tatsächlich in erster Linie von gewalttätigen Jugendlichen nicht zur Projektionsfläche von Ängsten gemacht werden, die ganz andere Wurzeln haben und weitaus existentiellere Dimensionen aufweisen.

Lebensperspektiven sind heutzutage massiv in Frage gestellt durch unberechenbar erscheinende wirtschaftliche Entwicklungen (zum Beispiel die Folgen des Anschlusses der ehemaligen DDR), durch eine jederzeit mögliche ökologische Katastrophe (neben der alltäglich schleichenden), durch die Militärarsenale in aller Welt. Die dadurch verursachten Ängste und die damit einhergehenden Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit werden als bedrohlich und unabwendbar empfunden, weil ihre Verursacher ungreifbar und übermächtig erscheinen, eine politische Auseinandersetzung mit ihnen ein aussichtsloses und vergebliches Unterfangen zu sein scheint. Stellvertretend für sie werden Banden von Jugendlichen zum Hauptfaktor ernannt, der die öffentliche Sicherheit stört.

Nach einer kurzen Zeit der medialen »Erzeugung« des Problems kann dann an die Arbeit zu seiner »Lösung« herangegangen werden. Mit der polizeilichen Verfolgung und mit der juristischen Aburteilung von Jugendlichen, das heißt mit ihrer Überwältigung, können die Ängste bewältigt, kann kurzfristig die bedrohte Sicherheit wiederhergestellt werden.

Mit der Ausgrenzung und Vertreibung der Jugendlichen aus dem innerstädtischen Gesichtsfeld können Ängste und Zweifel beiseite geschoben werden. Wenn dies tatsächlich eine derartige psychische Entlastungsfunktion besitzt, ist es auch einleuchtend, daß kein wirkliches Interesse an den Betroffenen solcherart zum Opfer gemachten Jugendlichen und an ihren Problemen besteht; somit auch kein Interesse an einer Lösung, die ihnen gerecht würde. Über die Herstellung der Illusion eines Sicherheitsgefühls geht alles andere verloren.

Seitenwechsel: Die Jugendlichen

Unabhängig von diesen eher ideologiekritischen Überlegungen stellt Gewalt von und unter Jugendlichen tatsächlich ein Problem dar. Diejenigen, die Opfer eines Überfalls geworden sind, tragen nicht nur körperliche Verletzungen davon, sondern es bleiben darüber hinaus massive Angste zurück. Die Angst vor einem tätlichen Angriff ist für viele Jugendliche alltäglicher Begleiter geworden. Die vorbeugende Bewaffnung, die sich manche Jugendliche zum Schutz gegen einen eventuellen Angriff zulegen, kann die Entwicklung noch weiter verstärken.

Die Aspekte, die in den Zeitungen am häufigsten zur Charakterisierung der Jugendgewalt genannt werden, lassen sich in etwa wie folgt zusammenfassen: demnach gehen Bedrohung und Gewalt

  1. vorwiegend von ausländischen Jugendlichen aus, die sich
  2. in Banden zusammenfinden, welche stark flukturieren,
  3. die in jüngerem Alter zunehmend
  4. an Schulen und in der City ihre »Taten« vollbringen.

Die Gewalt der sozialen Verhältnisse

Sicherlich sind unter den auffälligen Jugendlichen viele ausländische Jugendliche zu finden. Nicht oder nur ganz am Rande wird dabei aber erwähnt, daß deren Lebensbedingungen und Lebensperspektiven in aller Regel deutlich schlechter sind als die von deutschen. Deutsche Jugendliche, die unter den gleichen sozialen Umständen, in gleichen sozialen Milieus leben, werden sogar häufiger auffällig. Meist aus kinderreichen und armen Familien stammend, haben sie zu Hause wenig Raum zur Verfügung und auch verhältnismäßig wenig Taschengeld und materielle Ausstattung. Aufgrund sprachlicher Defizite in der Schule benachteiligt, erreichen sie oftmals keinen guten oder überhaupt keinen Abschluß, haben mit diesen Ausgangsbedingungen schon genug Nachteile, bevor wir überhaupt ihre Benachteiligung aufgrund der Tatsache, daß sie nicht Deutsche sind, ins Auge fassen.

Diese nur angedeuteten sozialen Bedingungen bergen ein Konfliktpotential in sich, das sich unter anderem in Form von Gewalt ausdrückt. Ohne aufsehenerregende Ereignisse wie diese oder wie Wahlerfolge rechtsextremer Organisationen interessieren diese sozialen Probleme und die Menschen, die darunter leiden, in der Öffentlichkeit so gut wie nicht.

Probleme mit der Männlichkeit

Was ebenfalls im allgemeinen sehr wenig Beachtung findet, ist die Tatsache, daß es sich bei den Jugendlichen, die da im Rampenlicht stehen, fast ausnahmslos um männliche handelt. Diese Beobachtung würde den Blick auf weitere Hintergründe des Geschehens eröffnen: die Schwierigkeit für junge Männer, eine stabile männliche Identität zu entwickeln. Die damit verbundenen Probleme werden von einem Teil von ihnen auf gewaltsame Weise zu lösen versucht.

»Jackenklau« und »Schwulenklatschen« gehen in diese Richtung. Die gewaltsame Bezwingung und Demütigung des anderen dient der Aufwertung und Selbstbestätigung des Akteurs. Leder- und andere teure Jacken werden wie Skalps gesammelt als Beweis für Stärke, Furchtlosigkeit, Draufgängertum, als Beweis für die männlichen »Tugenden«. Schwule werden in besonderem Maße Opfer dieses Personenkreises, weil sie einen Angriff auf die (ohnehin unsichere) Geschlechtsrollenidentität der Jugendlichen darstellen. Mit der Abwertung und körperlichen Demütigung von Schwulen werden stellvertretend Ängste und Unsicherheiten im Hinblick auf diese Geschlechtsrollenidentität abgewehrt.

Mädchen und junge Frauen werden aus ähnlichen Gründen zu Opfern dieser Jungen/Männer, wenn dies auch in den Medien keine besondere Erwähnung und Empörung findet. Anmache, sei sie verbal oder handgreiflich, ist in Schulen und auf der Straße genauso alltägliche Erfahrung von Mädchen und jungen Frauen, wie respektloser und herrschaftlicher Ton, in dem Jungen/junge Männer mit ihnen reden. Auf der anderen Seite: die hämische oder genüßliche Freude der Männer über die gelungene Demütigung und Unterwerfung der Frau.

Diese Umgangs-, besser Unterwerfungsformen, die von seiten dieser jungen Männer gerade auch unter Einbeziehung von Gewalt ausgeübt werden, spiegeln übrigens weitgehend die gesellschaftlich gepflegten Formen wider; abgesehen davon, daß sie in der Öffentlichkeit praktiziert werden und abgesehen von der besonderen Kultivierung der Gewalt. Kindesmißhandlungen (von Männern und Frauen), Gewalt gegen Frauen, aber auch Gewalt gegenüber Männern (in Betrieb, Kneipe, bei der Bundeswehr, auf dem Sportplatz) gehören zur bundesdeutschen Normalität.

Mangel an gesellschaftlicher Kultur

Zum Stichwort »Kultivierung der Gewalt«: hier soll nicht der ungezügelten Ausübung und Anwendung von Gewalt das Wort geredet werden. Worauf die Kultivierung der körperlichen Gewalt in diesen Jugendkulturen aber hinweist, ist der Mangel an einer Kultur der Ausdrucksformen für Körperlichkeit und Aggression, genauso wie Sexualität, in dieser Gesellschaft. Körperlichkeit wird aus dem Arbeitsprozeß, aus dem Fortbewegungsbereich weitgehend zurückgedrängt und in Freizeitbereiche, in denen vor allem (Höchst-)Leistungen erwartet werden, verdrängt. Erotik und Sexualität, zurechtgeschnitten auf kommerzielle, konsumfördernde Zwecke, dort hochstilisiert, gleichzeitig aber in ganz wenige Bahnen kanalisiert, sind für jede/n einer der problembeladensten, kaum zu bewältigenden Bereiche in dieser Gesellschaft. Auf die Frage, wie Körperlichkeit, wie Aggression, wie Sexualität lustvoll gelebt werden können, ohne daß dies andere verletzt, demütigt und unterdrückt, gibt es derzeit gesellschaftlich keine vernünftige und gefühlvolle Antwort.

Aneignung öffentlicher Plätze

Ein ähnlicher kritischer Fingerzeig ist das Auffälligwerden der Jugendlichen an öffentlichen Plätzen. Auch wenn dort tatsäschlich kaum Gewalttaten vorkommen, fühlt sich ein großer Teil der Passantlnnen und Anwohnerlnnen bedroht. Könnte es nicht sein, daß sie es stört, wenn Jugendliche sich Plätze und Räume aneignen, dort öffentliches Leben herstellen und Räume für Kommunikation schaffen, wie es in den südeuropäischen Kulturen, aber auch in der hiesigen zerstörten proletarischen Kultur üblich ist/war? Die (männlichen) Jugendlichen, viele ausländische Jugendliche, wehren sich gegen die Zurückdrängung in ein privates Familienleben, zumal sie keine Annehmlichkeiten davon zu erwarten haben (keine eigenes Zimmer usw.).

Es ist denkbar, daß die Schulen wegen ihrer kommunikativen Bedeutung zu Schauplätzen von gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen geworden sind. Die Schulen gehören zu den wenigen Orten, an denen es noch Kommunikation und Begegnung gibt, an denen dies institutionell garantiert ist. Deswegen drängt es auch immer mehr »Schulfremde« dorhin, was zu Konflikten mit Lehrern und Schulleitung führt, weil diese darauf nicht eingestellt sind, weil die Schule institutionell diese Rolle bisher noch nicht wahrhaben will.

zum Anfang | Gewalt bei Mädchen/ jungen Frauen

von Claudia Flesch

Ich will in diesem Artikel auf die insgesamt sehr kleine Gruppe von Mädchen eingehen, die durch ihr auffälliges, weil gewalttätiges und damit für Mädchen untypisches Verhalten die Öffentlichkeit auf sich aufmerksam machen. Es kommt mir – aus feministischer Sicht – darauf an, folgendes aufzuzeigen: die verschiedenen direkten und indirekten Erscheinungsformen von Gewalt, mit denen Mädchen konfrontiert sind, und darüber hinaus subjektive Verarbeitungsmuster von Mädchen mit Gewalterfahrungen. Aggressives und offen gewalttätig auf andere gerichtetes Verhalten bei Mädchen ist nur eine – wenn auch sehr auffällige – Möglichkeit, um einschränkenende Lebensbedingungen, eigene Gewaltbedürfnisse, um Wut, Ärger und auch Angst zu verarbeiten.

Insbesondere bezogen auf die verschiedenen Erscheinungsformen von Gewalt und deren Ursachen ist eine Differenzierung nach Geschlecht unerläßlich, denn Mädchen und Frauen sind in dieser Gesellschaft ganz anders von Gewalt betroffen und mit Gewalt in offener und subtiler Form konfrontiert als Männer: Jede Frau jeden Alters ist in all ihren täglichen Lebensbereichen verschiedenen und direkten und indirekten Gewaltformen ausgesetzt.

Gründe und Ursachen

Die Lebenserfahrungen von Mädchen und Frauen sind geprägt von einem hierarchischen Geschlechterverhältnis. Jedes Mädchen erlebt alltäglich (sexuelle) Gewalt; nicht nur vom »Mann aufder Straße«, sondern auch von Vätern, Freunden und Bekannten. Trotz allen Wandels und Veränderungen in den Inhalten der Geschlechtsrollen basiert unsere patriarchal geprägte Gesellschaft auf einem Geschlechterverhältnis, das durch die prinzipielle Ungleichwertigkeit der Geschlechter gekennzeichnet ist.

Das gegenwärtig dominante Geschlechterverhältnis ist hierarchisch strukturiert und zeichnet sich durch eine Vor-herr-schaft von Männern, männlichen Bewertungsmaßstäben und Orientierungsmustern aus. Über den geschlechtsspezifisch unterschiedlich möglichen Zugang zu Macht und Ressourcen, die ungleichen Machtverteilungen zwischen Männern und Frauen und den hieraus folgenden, vielfältigen Formen struktureller und personeller Gewalt gegen Frauen ist die im Geschlechterverhältnis angelegte Beziehung zwischen den Geschlechtern als struktureller Unterdrückungszusammenhang festgeschrieben. Auf der Erscheinungsebene äußert sich dies u.a. durch Sexismus, durch sexistische Gewalt, verstanden als Herr-schaftsform, die dazu dient, die Geschlechterhierarchie aufrechtzuerhalten. Offene sexistische Gewalterfahrungen, die alle Frauen machen, sind zum Beispiel Anmache, offene sexuelle Belästigung und Übergriffe (verbaler und körperlicher Art) bis hin zu Einschränkungen im Bewegungsradius durch eine ständige Bedrohung durch potentiell mögliche Vergewaltigung.

Darüber hinaus werden Frauen/Mädchen über diese struktuellen Unterdrückungsmechanismen potentiell in ihrer körperlichen Bewegungsfreiheit und in ihren geistigen und seelischen Entfaltungsmöglichkeiten behindert.

Insofern sind also alle Mädchen und Frauen zunächst einmal vielfältigen Gewalterfahrungen ausgesetzt, sind sie in ihren alltäglichen Lebenszusammenhängen »Opfer« struktureller und persönlicher Gewalt.

Weibliche Sozialisation

Das dominante Geschlechterverhältnis bestimmt auch die Inhalte der Geschlechtsrollen. Von Geburt an lernen Mädchen rollenadäquates Verhalten. In geschlechtsspezifisch verlaufenden Sozialisationsprozessen bestimmt sich die Form der potentiell möglichen Aneignung von Welt. Auch dies ist eine Form struktureller Gewalt gegen Frauen.

Denn solange weibliche Sozialisation bedeutet, Mädchen vor allem dahin zu erziehen, ihre aggressiven Impulse zu unterdrücken, sich nicht wehren zu dürfen, Verständis für andere zu entwickeln, Konflikte auszugleichen und zu harmonisieren (das heißt: »Beziehungsarbeit« zu leisten), sind Mädchen und Frauen potentiell auch weiter als »Opfer« (sexuellen) Gewaltübergriffen ausgeliefert.

Mädchen und Frauen lernen also damit auch einen anderen Umgang mit Konflikten, mit Aggressionen als Jungen, andere Verhaltensweisen werden bei ihnen positiv sankioniert.

Männliche Jugendliche erfahren in ihrer familiären und schulischen Sozialisation hingegen Gewalt als ein übliches Mittel der Selbstbehauptung und als adäquates Mittel zu Konfliktlösung. Sie werden dazu angehalten, sich gegen andere durchzusetzen und sich zu wehren. Demgegenüber erfahren Mädchen, daß es ihre Aufgabe ist, in Konflikten zu harmonisieren und auszugleichen, sich unterzuordnen und auf Männer zu beziehen. Sie lernen damit auch, daß sie Gewalt auszuhalten haben. Während also Jungen lernen, offensiv mit ihren Aggressionen umzugehen, lernen Mädchen, diese zu unterdrücken oder umzulenken.

Lebensentwürfe

Gleichzeitig haben sich in den vergangenen Jahren über Individualisierungsprozesse des weiblichen Lebenszusammenhanges aber auch die Inhalte der weiblichen Rolle verändert. Die Folge ist, daß ambivalente und widersprüchliche Erwartungen an Mädchen gestellt werden, die diese – auf sich selbst zurückverwiesen – weitgehend individuell lösen und in einen eigenen Lebensentwurf integrieren müssen: Lebensziele und -perspektiven sind längst nicht mehr so eindeutig und klar wie noch vor wenigen Jahrzehnten. Die Entwicklung eines stimmigen und eigenen Lebensentwurfes als eine wesentliche Aufgabe der Jugendphase ist harte Identitätsarbeit für alle Jugendlichen, insbesondere aber für Mädchen.

Gerade Mädchen müssen den Balanceakt zwischen dem Wunsch nach Autonomie und Selbstbestimmung einerseits und den real vorhandenen Möglichkeiten andererseits, die durch eine zunehmende Verbauung von Erfahrungsmöglichkeiten sowie unsichere Berufs- und Lebensperspektiven gekennzeichnet sind, allein bewältigen.

Auch dieses sind Ohn-machtserfahrungen in einer männlich dominierten Welt, sind Erfahrungen mit strukturellen Gewalt- und Unterdrückungszusammenhängen, die heranwachsende Mädchen subjektiv verarbeiten müssen.

Umgang mit Gewalt

Welche Möglichkeiten haben nun Mädchen, auf die beschriebenen Gewalterfahrungen, auf Gefühle von Ohnmacht, Fremdbestimmtheit, auf Verunsicherungen und Einschränkungen in Lebensperspektive und Lebensgefühl zu reagieren? Die den Mädchen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur subjektiven Verarbeitung von Aggressionen, Wut, Ärger sind immer vor dem Hintergrund des dominanten Geschlechterverhältnisses einzuordnen.

Eine – zur Zeit noch (?) – kleine Minderheit von Mädchen antwortet auf Einschränkungen und Gewalterfahrungen jedenfalls mit offen nach außen und auf andere gerichtete Aggression. Diese offensiven Formen von Gewalt sind meines Erachtens Ausdruck individueller Widerstandsformen gegen einschränkende Lebensbedingungen in einer patriarchal geprägten Gesellschaftsstruktur und gleichzeitig Anpassung an eine von männlichen Maßstäben dominierte Welt, indem sie als Gegenstrategie, sich durchzusetzen und zu wehren, eine traditionell »männliche« – nämlich Gewalt – wählen. Diese Mädchen leben ihre eigene Macht-, Aggressions- und Gewaltbedürfnisse aus und wehren sich damit auch gegen ihnen gesellschaftlich zugewiesene traditionelle Rollenmuster.

Die meisten Mädchen jedoch, die Mitglied einer gemischtgeschlechtlichen Straßengang oder einer rechtsextremistischen Gruppierung sind, übernehmen dort – entsprechend der dominanten Geschlechterhierarchie – nur eine untergeordnete Rolle und fallen in der Regel auch nicht durch Gewalttätigkeiten auf Sie übernehmen in der Gruppe gemäß der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung die physische und psychische Reproduktion und Stabilisierung der männlichen Mitglieder, erfüllen die an sie gestellten Erwartungen, indem sie unterstützen, helfen, im Zweifelsfall auch mal trösten oder einen Streit schlichten, sich aber ansonsten im Hintergrund halten. Die Mädchen stehen zwar scheinbar nur am Rande der Gruppe und sind in der Regel auch nicht selbst gewaltbereit, sie können jedoch über ihre Zustimmung zu den Gruppenregeln, die sie auf ihren traditionellen Platz verweisen, teilhaben an der »Macht«. Stellvertretend für sie selbst lassen sie sozusagen die Männer kämpfen und sich durchsetzen. Die eigenen Aggressions- und Gewaltbedürfnisse werden durch die männlichen Gruppenmitglieder ausgelebt und gleichzeitig damit die Bedürfnisse der Mädchen nach Schutz und Geborgenheit befriedigt.

Diesem Bedürfnis von Mädchen nach Stabilität und Sicherheit aufgrund ambivalenter und widersprüchlicher Anforderungen kommen rechtsextreme und autoritäre Orientierungen entgegen. Den Individualisierungsprozessen auch des weiblichen Lebenszusammenhangs, den damit verbundenen Verunsicherungen und der Suche nach Vorbildern und Orientierungen setzen rechtsextreme Gruppierungen eine Aufwertung der traditionellen weiblichen Rolle entgegen. Dies ist für Mädchen häufig nicht unattraktiv, da die traditionelle weibliche Rolle scheinbar geordnete und übersichtliche Lebensverhältnisse verspricht, anstatt die Anstrengung der Entwicklung eigener Lebensperspektiven auf sich nehmen zu müssen.

Mädchen sind also, wie häufig noch vermutet wird, nicht gegen rechtsextremistische Orientierungen »immun«, sie sind nicht gefeit gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus oder zeichnen sich durch eine besondere »Friedfertigkeit« aus; in ihren Verarbeitungs- und Ausdrucksformen von Aggressionen, Wut und Ärger sind sie jedoch weitaus weniger auffällig als Jungen.

Die Rede war bis jetzt allerdings von einer kleinen – wenn auch wachsenden – Minderheit von Mädchen, die in gewalttätigen Streetgangs Mitglied sind oder selbst eine solche bilden.

Die überwiegende Mehrzahl aller Mädchen reagiert jedoch entsprechend des gelernten traditionell weiblichen Rollenspektrums. Die tagtäglichen Gewalterfahrungen, die erlebten Einschränkungen in der persönlichen Entfaltung, die einengenden Lebensbedingungen verarbeiten Mädchen subjektiv nicht so, daß sie Wut, Ärger und Aggression auf andere richten, sondern indem sie sie gegen sich selbst richten.

Der häufig unbemerkte völlige Rückzug der Mädchen auf sich selbst in eine selbsterdachte Traumwelt ist nur eine Verarbeitungsform; Magersucht, Bullimie, Depressionen und Migräne, übersteigerter (sportlicher) Aktivismus bis hin zur Selbsttötung sind weitere Beispiele. Gemeinsam ist ihnen, daß die Gewalt auf sich selbst statt auf andere Personen gerichtet wird.

Damit sind sie allerdings gleichzeitig auch Ausdruck individueller Widerstandsformen gegen das erlittene Leid.

zum Anfang | Rechtsextremismus und jugendliche Gewaltbereitschaft

von Gunter A. Pilz

Zur gesellschaftlichen Bedingtheit

Die Gewaltbereitschaft und der Rechtsextremismus Jugendlicher scheinen zu einem ernsten Problem in unserer Gesellschaft geworden zu sein. Da ist allenthalben die Rede von wachsenden Aggressionen bei Schülern, zunehmenden Gewalttätigkeiten im Umfeld von Fußballveranstaltungen und von einem gravierenden Anstieg politisch motivierter Gewalt bei jungen Menschen.

Ohne die Problematik der Gewaltakzeptanz und wachsender autoritär-nationalisierender Orientierungen Jugendlicher in unserer Gesellschaft herunterspielen zu wollen, stellen sich mir bei der Beschäftigung mit dieser Thematik gleich einige kritische Fragen:

Stimmt es überhaupt, daß die Gewalt bei Schülern zunimmt? Können wir von einer Zunahme von Gewalttätigkeiten Jugendlicher im Umfeld von Fußballspielen sprechen? Gibt es eine Zunahme politisch motivierter Gewalt Jugendlicher? Wächst die Ausländerfeindlichkeit besonders bei und unter Jugendlichen? Ist die Häufigkeit der Berichte in den Medien über jugendliche Gewalthandlungen ein Indiz für die zunehmende Gewaltakzeptanz der heutigen Jugend oder ist sie nicht eher ein Beleg für den hohen Unterhaltungs- und Nachrichtenwert, den die Medien und wir als Rezipienten Gewalthandlungen beimessen? Sind wir nicht nur für Gewalthandlungen besonders stark sensibilisiert und nehmen sie nur aufgrund der wachsenden zivilisatorischen Tabuisierung von körperlicher Gewalt (vgl. ELIAS 1977; 1988; PILZ 1991) und der massenmedialen Aufbereitung von Gewalt (vgl. PILZ 1991) durch eine Art Vergrößerungsglas wahr? Überwerten wir die Bedrohlichkeit der Gewalt Jugendlicher deshalb nicht? Und vor allem: weshalb gerät eigentlich überwiegend nur die Gewalt und Ausländerfeindlichkeit Jugendlicher in den Blickpunkt öffentlichen Interesses und öffentlicher Besorgnis? Ist die von politischer wie massenmedialer Seite immer häufiger werdende Thematisierung, ja Hochspielung der Gewalttätigkeiten und Gewaltakzeptanz Jugendlicher oder jugendlicher Subkulturen nichts anderes, als ein probates Mittel, um vor der eigenen, alltäglichen Gewalt in unserer Gesellschaft abzulenken? Wird durch das Hochspielen, die Skandalisierung und Individualisierung der Gewalt und des Rechtsextremismus Jugendlicher nicht – bewußt oder unbewußt – nur von den eigentlichen Ursachen, Bedingungen und Hintergründen der Gewalt und damit auch von den eigentlichen Verantwortlichen nur abgelenkt? Ist es schließlich – und hiermit reize ich vielleicht zum größten Widerspruch – nicht eher so, daß in unserer Gesellschaft weniger das Gewaltpotential, die Gewalttätigkeit und Gewaltakzeptanz Jugendlicher das Verwunderliche sind, als vielmehr die Tatsache, daß so viele junge Menschen, obwohl sie auf so engem Raum und unter zum Teil höchst belastenden Bedingungen in einer Gewalt eher fördernden, Gewalt manchmal sogar erfordernden, zumindest gewaltgeneigt machenden sozialen Umgebung und Atmosphäre leben (müssen).

„Wenn man sich bemüht, das Problem der körperlichen Gewalttätigkeit im Zusammenleben der Menschen zu untersuchen, dann stellt man oft die Frage falsch. Man fragt gewöhnlich, wie ist es möglich, daß Menschen innerhalb einer Gesellschaft andere schlagen oder erschlagen, … Es wäre sachgerechter und so auch fruchtbarer wenn man die Frage anders stellte. Sie sollte lauten: Wie ist es möglich, daß so viele Menschen normalerweise friedlich miteinander leben können, ohne Furcht von Stärkeren ge- oder erschlagen zu werden … Man übersieht heute allzu leicht, daß noch nie in der Entwicklung der Menschheit so viele Menschen, Millionen von Menschen, so relativ friedlich, d. h. unter weitgehender Ausschaltung physischer Attacken, miteinander gelebt haben wie in den großen Staaten und Städten unserer Tage. Man sieht es vielleicht erst, wenn man gewahr wird, wieviel höher das Gewaltniveau im Verkehr von Mensch zu Mensch in früheren Epochen der Menschheitsentwicklung war.“ Mit dieser Aussage macht uns ELIAS zum einen auf den zivilisatorischen Trend der Dämpfung, der Tabuisierung der Gewalt aufmerksam, zum anderen lenkt er den Blick von den Individuen hin zu den gesellschaftlichen, strukturellen Bedingungen der Gewalt. Genau diesen Strang will ich im folgenden aufgreifen und vertiefen. D.h. ich will die Frage nach der Gewalttätigkeit Jugendlicher, nach der Bedeutung und Bedrohlichkeit der Gewalt in unserer Gesellschaft schlechthin, nach rechtsextremistischen Orientierungen Jugendlicher und nach möglichen präventiven Maßnahmen dadurch zu beantworten versuchen, daß ich den gesellschaftlichen Ursachen der Gewalt nachgehe. Zum besseren Verständnis meiner Argumentation sind jedoch zunächst einige Anmerkungen zum Gewaltbegriff und eine Bestimmung dessen, was ich unter Rechtsextremismus verstehe, erforderlich.

Zum Gewaltbegriff

In dem jüngst (SCHWlND/BAUMANN u.a. 1990) veröffentlichten Gewaltgutachten der Bundesregierung wird der Gewaltbegriff inhaltlich wie folgt ausgestaltet und zugleich eingeengt:

„Der Gewaltbegriff soll aus der Sicht des staatlichen Gewaltmonopols bestimmt werden. Dabei soll es primär um Formen physischen Zwanges als nötigender Gewalt sowie Gewalttätigkeiten gegen Personen und/oder Sachen unabhängig von Nötigungssituationen gehen. Ausgeklammert werden sollen die psychisch vermittelte Gewalt im Straßenverkehr und die strukturelle Gewalt“. (SCHWlND/BAUMANN u.a. 1991 I, S.38)

Es verwundert schon ein wenig, daß sich allein die Unterkommission Psychiatrie dieser Eingrenzung des Gewaltbegriffes bewußt widersetzt hat und entgegen der Empfehlung der Gewaltkommission „die strukturelle Aggressionen bzw. Gewalt“ nicht ganz aus ihrer Betrachtung ausgeschlossen hat, da sie „die Gewalt des jeweils Mächtigeren ist, gegen die sich ein großer Teil der Aggressionen richtet“, und die zudem als „psychische Gewalt erlebt werden“ kann (REMSCHElDT u.a. 1990, S. 165). Die Ausgrenzung der psychischen Gewalt ist – so die Unterkommission Psychiatrie – außerdem auch deshalb nicht gerechtfertigt,

„da deren Wirkung oft sehr schwerwiegend und psychische Gewalt häufig mit physischer Gewalt vergesellschaftet ist. Psychische wie körperliche Gewalt haben Folgen im seelischen Bereich, und oft erreicht ein physisch oder rechtlich Überlegener sein Ziel bereits mit der Androhung von Gewalt. Psychischer Gewalt liegt meistens die Drohung mit physischer Gewalt zugrunde; die Drohung, Existenzgrundlagen zu entziehen aufgrund körperlicher Überlegenhert oder Macht. Jedoch kann schon allein die Androhung eines Entzugs von Liebe und Aufmerksamkeit unter Umständen zum gleichen Ziel führen.“

Genau wegen dieses Übergangsbereiches von körperlicher zu psychischer Gewalt hat die Unterkommission zurecht auch die psychische Gewalt in ihren Abhandlungen mitberücksichtigt. Ich möchte noch eine weitere Begründung anfügen. Mit NARR (1973, S.15f) fordere ich einen Gewaltbegriff, der „die Auswahl der Phänomene nicht von vornherein begrenzt, wie der auf physische Gewalt/Vergewaltigung allein abgestellte Begriff“, der andererseits aber natürlich auch nicht so weit ausgedehnt werden darf, daß er zum »Unbegriff« wird. Vor allem die Forderung NARR's, daß der Gewaltbegriff historisch verwendbar, historisch-spezifisch, d.h. inhaltlich umzudefinieren sein müsse, ist bedeutsam. Wie wichtig dabei gerade die Berücksichtigung der historischen Dimension von Gewalt und wie problematisch die Ausblendung von struktureller und psychischer Gewalt ist, macht THEUNERT am Beispiel der historischen Veränderbarkeit der Ausprägungsformen personeller Gewalt eindrucksvoll deutlich:

„Physische Gewalt, die in früheren Gesellschaftsformen in vielen Bereichen, etwa in Erziehungs- und Arbeitsverhältnissen weit verbreitet war, und als »normal« betrachtet wurde, ist heute weitgehend zurückgedrängt. Ihre Funktion wird heute gleichermaßen über die Mittel der psychischen und strukturellen Gewalt erfüllt. Ein Lehrer braucht seinen lernunwilligen Schüler nicht mehr mit Prügel zum Lernen zu bewegen; die Notengebung und die damit verbundene Auslese für die Verwirklichung sozialer Chancen, oder die Lehrstellenknappheit und der einhergehende erhöhte Qualifikationsdruck erfüllen den gleichen Zweck. Die direkte physische Gewalt wird ersetzt durch subtilere Formen der psychischen Gewalt, oder ihre Funktionen werden gewährleistet über die anonymen und indirekten Formen der strukturellen Gewalt. Diese Gewaltmittel besitzen dieselbe – wenn nicht eine höhere – Effektivität!“

In der Tat, es stellt sich hier die Frage, ob nicht die vielfach gesellschaftlich geduldeten, legitimierten, ja manchmal sogar gepriesenen subtilen, verfeinerten Formen der körperlichen und strukturellen Gewalt viel problematischer sind, viel mehr Schaden anrichten, als manche der gesellschaftlich geächteten Formen körperlicher Gewaltanwendung. Eine Ohrfeige mag nach 10 Min. vergessen sein, ein Satz oder der viel praktizierte Liebesentzug hingegen können manchmal bzw. häufig so tief gehen, daß die noch Jahre später weh tun. Die Neigung der Staatsgewalt und vieler Pädagogen nur dort von Gewalt zu sprechen, wo „Blut“ fließt, wie dies BRÜCKNER (1979) überspitzt schreibt, wird hier nochmals in ihrer ganzen Problematik deutlich. Entsprechend diesen Überlegungen kommt THEUNERT (1987, 40) zu folgender Definition von Gewalt: „Gewalt ist … die Manifestation von Macht und/oder Herrschaft, mit der Folge, und/oder dem Ziel der Schädigung von einzelnen oder Gruppen von Menschen.“ (THEUNERT 1987, S.40)

Gewalt liegt nach dieser Definition immer dann vor, wenn als Folge der Ausübung von Macht oder Herrschaft oder von beidem oder als Folge von Macht- und Herrschaftsverhältnissen Menschen geschädigt werden. Erstes Bestimmungskriterium für Gewalt ist demnach für THEUNERT (1987, S.40) die „bei dem oder der Betroffenen feststellbare Folge, die durch Gewalt bewirkte Schädigung … Das Ziel der Gewaltausübung tritt gegenüber der Folge in den Hintergrund, es ist sekundäres Bestimmungskriterium“.

Dies hat auch zur Folge, daß die in den klassischen Theorien zentrale Kategorie der »Intention«, die das Augenmerk auf den »Täter« lenkt, relativiert wird. Die Opfer der Gewalt gelangen stärker in den Blick. Zweites Bestimmungskriterium für Gewalt ist, daß sie an die „Ausübung oder Existenz von Macht und Herrschaft gebunden ist. Macht und Herrschaft gründen auf die Verfügung über Machtmittel, die die Voraussetzungen zur Gewaltanwendung schaffen“.

THEUNERT (1987, S. 41) unterscheidet dabei je nach Art der Machtmittel zwischen situativen und generellen Machtverhältnissen:

„In situativen Machtverhältnissen ist die Ungleichverteilung von Machtmitteln primär situationsspezifisch geprägt, in generellen Machtverhältnissen dagegen langfristig und eindeutig zugunsten eines Parts geregelt und meistgesellschaftlich sanktioniert.“

Mit dieser Unterscheidung zwischen situativen und generellen Machtverhältnissen wird der enge Blick auf Gewalt in interpersonellen Beziehungen überwunden und auf Gewaltverhältnisse erweitert, die in den gesellschaftlichen Strukturen verankert und nicht an konkrete handelnde Individuen gebunden sind. Damit wird aber auch gleich auf die beiden zentralen Dimensionen der Gewalt verwiesen: die personale und die strukturelle Gewalt, wobei personale Gewalt die Dimension bezeichnet, „in der Gewalt von Personen, strukturelle Gewalt, die Dimension in der Gewalt von den Strukturen eines Gesellschaftsystems ausgeht“. (THEUNERT 1987, S. 41)

Bedeutsam an dieser Bestimmung des Gewaltbegriffes ist, daß hierzu die sozialen Bedingungen, die Gewalt fordern und/oder erzeugen, mitberücksichtigt werden, daß wie HORN (1978, S. 40) zurecht gefordert hat, die Wirkungszusammenhänge zwischen Sozialstruktur und Verhalten aufgedeckt werden. Dies gilt auch und gerade für Gewalttätigkeit Jugendlicher, deren personales Gewaltverhalten überwiegend eine Folge gesellschaftlich produzierter, struktureller Gewalt ist.

Aus den bisherigen Ausführungen läßt sich eine zum besseren Verständnis meiner weiteren Abhandlungen wichtige These ableiten: die Menschen müssen nicht, sie können aber sehr wohl gewalttätig sein. Die Annahme eines den Menschen angeborenen Aggressionstriebes, der in seiner Struktur dem Geschlechtstrieb gleicht, so wie ihn LORENZ (1963) postuliert hat, ist wissenschaftlich widerlegt (vgl. PlLZ/MOESCH 1975; PILZ 1988).

Der Schlüssel zur Gewalt liegt somit in der Umwelt, in den strukturellen Bedingungen der Lebenswelt der Menschen begründet. Damit wird unsere Aufmerksamkeit vom individuellen Handeln hin zu dessen sozialen, gesellschaftlichen Bedingungen verlagert. Unter dieser Perspektive können dann gewalttätige Handlungen, die gesellschaftlich betrachtet verwerflich, unsinnig und unsozial erscheinen, durchaus Sinnhaftigkeit und gewisse Normalität bekommen. Wer entsprechend adäquat und präventiv mit gewalttätigen Jugendlichen umgehen will, der muß deren Alltags- und Lebenswelten kennen, berücksichtigen und eben auch ändern, zumindest erträglicher gestalten. Mit anderen Worten: wie jedes menschliche Verhalten ist auch das gewaltförmige Verhalten von Jugendlichen nur sachgerecht zu beurteilen und kann entsprechend auch nur sachgerecht darauf reagiert werden, wenn wir es in den Kontext übergreifender, gesellschaftlicher Probleme und Wertordnungen stellen.

Rechtsextremistische Orientierungen

Wir sind immer sehr schnell dabei, ausländerfeindliche, gewaltbereite Jugendliche in die rechtsradikale Ecke zu drängen. Ohne die Problematik der Ausländerfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft Jugendlicher herunterzuspielen und als Basis für rechtsextremistische Orientierungen ignorieren zu wollen: rechtsextremistische Orientierungen sind immer von zwei Grundelementen bestimmt: einer ideologischen Rechtfertigung der Ungleichheit und Ungleichbehandlung von Menschen und der breiten Akzeptanz von Gewalt als Mittel politischen Handelns. Wenn wir also von rechtsextremen, rechtsradikalen Jugendlichen sprechen, müssen wir die Kombination der Ideologie der prinzipiellen Ungleichheit von Menschen mit der Gewaltakzeptanz ins Blickfeld unserer Erörterungen stellen.

Rechtsextremistische Orientierungen im Überblick

  1. Der Ungleichheit der Menschen als zentralem, integrierendem Kernstück rechtsextremistischer Ideologie entsprechen folgende Facetten:
    • nationalistische Überhöhungen
    • rassistische Sichtweisen/Ausländerfeindlichkeit
    • Unterscheidung von »lebenswertem« und »unwertem« Leben
    • Behauptung »natürlicher« Hierarchien (über Soziobiologie)
    • Betonung des Rechtes des Stärkeren (Sozialdarwinismus)
    • totalitäres »Norm«-Verständnis (lndustriedarwinismus)
    • Ausgrenzung des »Andersseins«.
  2. Der Gewaltperspektive und -akzeptanz als zentralem, integrierendem Kernstück rechtsextremistischen, politischen Handelns entsprechen etwa folgende Facetten:
    • Ablehnung rationaler Diskurse/Überhöhung von Irrationalismen
    • Betonung des alltäglichen Kampfes ums Dasein
    • Ablehnung demokratischer Regelungsformen von sozialen und politischen Konflikten
    • Betonung autoritärer und militärischer Umgangsformen und Stile. (MÖLLER 1989, S. 2)

Daten zur Gewalt und zu rechtsetremistischen Orientierungen

Daten aus drei Studien (Heitmeyer 1988, eigene Studien zu hannoverschen Hooligans und Leipziger und Eisenhüttenstädter Jugendlichen) zeigen, daß die Gewaltakzeptanz und vor allem auch autoritär-nationalisierende Orientierungen, die Akzeptanz nationaler, gewaltbereiter Gruppen bei Jugendlichen sehr ausgeprägt ist. Dabei zeigt sich im Vergleich auch, daß die Gewaltakzeptanz und autoritär-nationalisierende Orientierungen der Jugendlichen der Heitmeyerschen Untersuchung von den hannoverschen Hooligans und den Jugendlichen der Neuen Bundesländer zum Teil erheblich übertroffen werden.

Ein weiteres interessantes Ergebnis einer Befragung von jugendlichen Arbeitern in Baden-Württemberg sei hier noch angefügt. Die 314 befragten Jugendlichen wurden unterteilt in „benachteiligte Jugendliche“, die trotz erschwerter Bedingungen eine Ausbildung anstrebten und „nicht benachteiligte Jugendliche“ aus prosperierenden Betrieben der Metallindustrie (Hightech-Betriebe), deren Ausbildung und spätere Übernahme gesichert erscheint. Die nicht-benachteiligten Jugendlichen, die sogenannten „Modernisierungsgewinner“ zeichnen sich zusätzlich dadurch aus, daß sie einen höheren Schulabschluß haben, in zufriedenen Wohnsituationen leben (91% dieser 18-22jährigen Jugendlichen leben noch bei Eltern), und in intakten Familien aufwachsen. Die benachteiligten Jugendlichen, die sog. „Modernisierungsverlierer“, die sich im unteren Drittel unserer »Zwei-Drittel-Gesellschaft« bewegen, zeichnen sich zusätzlich durch einen niedrigen Schulabschluß, unzufriedene Wohnsituation, die Bedrohung von Arbeitslosigkeit (58% haben bereits eine Lehre abgebrochen) aus und wachsen meist in nicht-intakten Familien bzw. in Heimen auf. Die Ergebnisse zeigen nun überraschender Weise – und damit die These von HEITMEYER (1988), daß vor allem die Modernisierungsverlierer zu Rechtsextremismus neigen, wenn auch nicht widerlegend, so doch relativierend-, daß die Modernisierungsgewinner häufiger rechtsextreme Orientierungen aufweisen als die Modernisierungsverlierer.

Die Tatsache, daß die Bundesrepublik zu den reichsten und wirtschaftlich stärksten Ländern der Welt gehört, begründen 80 Prozent der Modernisierungsgewinner damit, daß die Deutschen fleißiger und pflichtbewußter seien als andere, bei den Modernisierungsverlierern waren dies erheblich weniger. Schließlich fanden 40 Prozent derjenigen Jugendlichen, die sich gegen eine Gleichberechtigung der Ausländer aussprachen, das Wahlergebnis der Republikaner prima (HELD u.a. 1991, S. 12). Diese Ergebnisse zeigen, daß nicht nur die Modernisierungsverlierer zu rechtsextremen Orientierungen neigen, sondern zum großen Teil, sogar in noch stärkerem Maße, die Modernisierungsgewinner.

HELD u.a. begründen dies damit, daß Jugendliche, die von der Wohlstandsgesellschaft profitieren, die Gewinner der gesellschaftlichen Modernisierung, sich mit der vorherrschenden Lebensweise identifizieren und sich Minderheiten gegenüber solange neutral verhalten, solange ihre eigene privilegierte Stellung nicht gefährdet ist. Das Bedürfnis, das Erworbene gegen äußere Bedrohungen (Asylanten oder Ausländer, die Wohnungen und Arbeitsplätze beanspruchen) abzusichern, also der Wunsch, die Kontrolle über die Lebensumstände zu behalten, führt bei einer Gruppe von sozial abgesicherten Jugendlichen zur Ausbildung rechtsradikaler Haltungen. Diese Jugendlichen überidentifizieren sich mit dem wirtschaftlichen Wohlstand, der deutschen Tüchtigkeit und sie sehen ihre Werte – und damit sich selbst – bedroht, wenn wirtschaftliche Einbrüche sich abzeichnen.

Nun mag man sich darüber streiten, ob die vorliegenden Befunde es erlauben, bereits davon zu sprechen, daß diese Jugendliche rechtsradikale Haltungen ausbilden. In jedem Falle gilt es dringend, unser Augenmerk nicht nur auf die sozial Deprivierten, sondern auch auf die sozial begünstigten Jugendlichen, wie Erwachsenen zu richten. Damit komme ich zur Frage der Ursachen wachsender autoritär-nationalisierender Orientierungen und der Gewaltakzeptanz unter den Jugendlichen.

Zur Lebenswelt Jugendlicher

Das Jugendalter gilt als Lebensphase, in der Heranwachsende eine psychosoziale Identität aufbauen müssen, in der sie sich auf die Erwachsenenrollen der Berufstätigkeit, Familiengründung, der Kindererziehung und des Staatsbürgers vorbereiten und diese Rollen in eigener Weise übernehmen sollen, in der sie sich als Persönlichkeiten mit eigenen Interessen und Fähigkeiten ihre Erfüllung finden können. Diese Verwirklichung von persönlicher Identität, die im Jugendalter geleistet werden muß, ist heute erschwert. Sehr plastisch hat dies der Münchner Sozialpsychologe KEUPP in einem Fernsehinterview beschrieben. Ein Teil der Jugend – so KEUPP „hat keine Chance eine positive ldentität zu entwickeln. Es entstehen Löcher und der Fußballbereich und noch stärker der Rechtsradikalismus liefern sozusagen Plomben für diese Löcher Sie liefern fertige Pakete und es ist entscheidend, zu diesen Paketen Alternativen zu entwickeln, in denen junge Menschen kreativ und produktiv ihre eigene Identität spielerisch und gestalterisch entwickeln können.“

Bevor ich diesen uns hier von KEUPP aufgezeigten Strang der Bedeutung der spielerischen und gestalterischen Entwicklung der Identität weiter verfolge, sei kurz auf die hier angesprochene Erschwernis der Ausbildung und Verwirklichung persönlicher Identität eingegangen.

Für HORNSTEIN (1985) lassen sich drei gravierende Widersprüche, die die Lage der heutigen Jugend kennzeichnen, festmachen:

  • Einer Ausdehnung der Jugendphase durch ein Hinausschieben der Erwerbstätigkeit (= Verlängerung der ökonomischen Abhängigkeit) steht eine Verkürzung durch politische Bedingungsvorgaben gegenüber, die den Heranwachsenden zu einem frühen Zeitpunkt für volljährig erklärt und ihn damit für sein Handeln verantwortlich macht;
  • der Ausdehnung der Jugendphase widerspricht der Bedeutungsverlust von Bildung und der traditionellen Inhalte der Jugendphase angesichts steigender Arbeitslosigkeit und knapper werdender Arbeitsplätze (die Welle der Aus- und Übersiedler verschärft dieses Problem ebenso, wie die langsam auf den Arbeitsmarkt drängenden Jugendlichen, die ihre Lehre abgeschlossen haben);
  • die Verkürzung der Jugendphase mit dem behaupteten Einräumen von Verantwortung widerspricht die von politischer Seite vorenthaltene Möglichkeit der Mitgestaltung ihrer und der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse durch die Jugend. Sie wird vielmehr auf einen Wartezustand verwiesen. Sie ist überflüssig und ausgeschlossen aus der ihr versprochenen (Mit-)Verantwortung (vgl. BAACKE/HElTMEYER 1985; BRUDER et al, 1988, S. 13f; HElTMEYER/PETER 1988).

Dieses Widersprüche verschärfen die negativen Folgen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in die der Alltag von Jugendlichen eingebettet ist:

  • der soziale und persönliche Erfolg um jeden Preis (be-) verhindert ein befriedigendes und friedliches Miteinander;
  • zunehmende Arbeitslosigkeit vor allem auch bei Jugendlichen in den neuen Bundesländern schließt von der Teilnahme an der Gesellschaft frühzeitig aus;
  • entfremdete und sinnentleerte Arbeitsverhältnisse führen bei den Jugendlichen zu hohen psychischen Belastungen;
  • bewegungsfeindliche, erlebnis- und kontaktarme Wohngebiete sowie unattraktive oder fehlende Freizeitangebote (ver-)führen zum Rumhängen oder Zeittotschlagen und potenzieren das Bedürfnis nach »action« Spannung und Abenteuer; produzieren einen immer stärker werdenden, unersättlichen Erlebnishunger (ZlEGENSPECK 1984);
  • eine Krise der ethischen Werte, die soziale Verarmung vieler für die psychische und soziale Stabilisierung unentbehrlicher familiärer und nachbarschaftlicher Bindungen, die Individualisierung von Lebenslagen und Lebenswegen (BECK 1986) und die Erhöhung der Gewalttoleranz führen zur Orientierungslosigkeit.

Darüber hinaus befindet sich ein Teil der Jugendlichen in Lebenszusammenhängen, in welchen die Betonung von

  • Männlichkeits- und Mannhaftigkeitsnormen und die Legitimierung körperlicher Gewalt als Mittel der eigenen Interessendurchsetzung, besonders auffällige und aggressive Verhaltensmuster produzieren, fördern und (er)fordern.

Drei Konkretisierungen scheinen mir an dieser Stelle erforderlich.

1. Arbeitsmarktkrise und Gewaltakzeptanz Jugendlicher

Zum einen wird bei der Diskussion der Jugendarbeitslosigkeit immer wieder vergessen, daß diese sich ja nicht nur dadurch negativ auswirkt, daß viele Jugendliche keine Lehrstelle, keinen Arbeitsplatz bekommen, sondern zumindest zwei weitere, das Verhalten, die Lebensbedingungen, die Alltagswelt der Jugendlichen stark beeinflussende, ja beeinträchtigende Folgen der Arbeitsmarktkrise kommen hinzu:

  • die knapp bemessenen Lehrstellen, lassen Jugendliche mit niedrigerer Schulbildung, die eh schon zu den sozial Benachteiligten gehören, noch stärker ins soziale, gesellschaftliche Abseits rutschen; sie verschärfen das Problem des Strebens nach sozialem und persönlichem Erfolg um (fast) jeden Preis, macht aus Schul- und Ausbildungskameraden Konkurrenzkämpfer;
  • die freie Wahl des Berufes nach eigenen Wünschen und Bedürfnissen wird stark eingeschränkt, so daß sich ebenfalls das Problem sinnentleerter Arbeitsverhältnisse verschärft. Die Sinnkrise in der viele Jugendliche stecken, ist somit auch ein Produkt der Arbeitsmarktkrise.

Es verwundert so besehen jedenfalls kaum, daß laut einer Umfrage fast 80% der befragten Jugendlichen angaben, mit ihrem Arbeitsplatz nicht zufrieden zu sein. So kommt auch HURRELMANN anhand einer repräsentativen Befragung von über 2000 Jugendlichen zwischen 17 und 21 Jahren zu dem Ergebnis, daß nur jeder zweite Auszubildende nach dem Abschluß der Schule den Beruf erlernt, den er vorher auch angestrebt hatte. Nur bald jederZweite würde bei freier Wahl seinen aktuellen Ausbildungsweg wieder einschlagen (vgl. Cellesche Zeitung vom 25.5.1991). Dabei zeigen die jüngsten Ergebnisse einer Längsschnittuntersuchung von HElTMEYER, daß die Ausländerfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft in ganz enger Beziehung zu einer Berufsauffassung stehen, die nur vom Geldverdienen, Aufstiegs- und Karrieredenken oder Streben nach Sicherheit geprägt ist, einer „instrumentalistischen Arbeitsorientierung“, wie dies HEITMEYER benennt. Die formale Integration in den Arbeitsbereich nach dem Motto, Hauptsache Arbeit, reicht somit keinesfalls aus, um rechtsextremistische Tendenzen zu verhindern oder abzubauen. Dies ist nur dann der Fall, wenn der Jugendliche darüber hinaus auch Spaß an der Arbeit findet und befriedigende soziale Kontakte hat, also aus der Arbeitstätigkeit selbst Befriedigung schöpft. Für die neuen Bundesländer stellt sich HEITMEYER dabei zurecht die Frage, ob nicht die hier steigende Ausländerfeindlichkeit auch damit zusammenhängt, daß eine instrumentalistische Arbeitsorientierung die Jugendlichen zu stark in den Kategorien Geld, »Kohle machen« und Aufstieg denken lasse, gleichgültig, ob sie formal in den Arbeitsbereich integriert (Hauptsache Arbeit) oder sozial desintegriert (arbeitslos, ohne Wohnung, schwierige Beziehungen) sind.

Wenn dies zutrifft, dann läßt der derzeitige Umgang mit den Ausbildungsproblemen in den neuen Bundesländern nicht viel Gutes für die Zukunft erwarten. Hinzu kommt, daß neuere Zahlen der Arbeitslosenstatistik darauf hinweisen, daß die Jugendarbeitslosigkeit in den alten Bundesländern wieder zu steigen beginnt.

So nahm im Bereich des Arbeitsamtes Celle die Jugendarbeitslosigkeit im Monat Juli 20% und im Monat August 25% gegenüber dem Vormonat zu. Begründet wird dies mit der Tatsache, daß nunmehr Jugendliche auf den Arbeitsmarkt drängen, die aufgrund der prekären Lehrstellensituation vor einigen Jahren durch entsprechende finanzielle Anreize für die Betriebe doch noch eine Lehrstelle bekamen, für die heute aber – nach Abschluß der Lehre – der Arbeitsmarkt keine Stellen frei hat.

Die Arbeitsmarktkrise ist somit in der Tat eine wesentliche Ursache der Sinnkrise und Perspektivlosigkeit, die den Alltag vieler Jugendlicher prägt und auch Auswirkungen auf die Einstellung gegenüber Ausländern, Aus- und Übersiedlern hat.

2. Erlebnisarmut und Gewalt

Zum zweiten scheint mir das immer gravierender werdende Problem des zivilisations- und gesellschaftsbedingten, erlebnis-, spannungs- und abenteuerarmen Alltags zu wenig Beachtung zu finden. Da ich hierin momentan die weitreichendsten Möglichkeiten einer Korrektur der aktuellen Lebensbedingungen der Jugendlichen und einer präventiven Sozialarbeit sehe, möchte ich dieses Problem ein wenig vertiefen.

Das stetig wachsende Bedürfnis nach Spannung, Abenteuer, nach »action« und Risiko wird zusätzlich dadurch verstärkt; daß es in unserer verwalteten (ja »zer«-walteten), verrechtlichten und verbürokratisierten Gesellschaft immer weniger Möglichkeiten gibt, affektive Bedürfnisse zu befriedigen. BAACKE, (1979), VASKOVICS (1982), ZINNECKER (1979) und neuerdings vor allem HARMS/ PRElSSING/RlCHTERMElER (1985), FlSCHER/KLAWE/THlESEN (1985), WENZEL (1986), sowie BECKER/SCHlRP (1986) und PILZ (1989; 1990) haben ebenso eindrucksvoll wie beängstigend darauf hingewiesen, daß die Lebens- und Alltagswelten, die Wohngebiete besonders von Kindern und Jugendlichen daran kranken, daß sie ihnen kaum oder gar keine Chancen geben, „ihre Umgebung nach eigenen Phantasien, Entwürfen und Plänen zu be- und ergreifen“ (BECKER/SCHlRP 1986). Es verwundert so besehen auch nicht, wenn von Jugendlichen – wie in dem Gutachten über „Aufenthaltsmöglichkeiten für Jugendliche“ in einer hannoverschen Großwohnsiedlung – „insbesondere fehlende Regel-, Spiel-, Sport-, Bewegungsorte … sowie unmittelbar wohnungsnahe Spiel- und Aufenthaltsmöglichkeiten“ (v SEGGERN/ERLER 1988, S. 70) beklagt werden.

Die Eintönigkeit des Alltags vieler Kinder und Jugendlicher, deren erlebnisarme Wohngebiete, führen zu vermehrten Raten »abweichenden« Verhaltens. In einer verampelten Gesellschaft in der viel zu viele Ampeln auf rot stehen, in der Verbotsschilder jeglichen kindlichen und jugendlichen Bewegungsdrang im Keime ersticken, in der Gerichtsurteile Sportplätze, Bewegungsräume in unmittelbarer Wohnungsnähe schließen, in der die Räume zur freien Entfaltung und Bewegung immer geringer werden, sind Gewalt, abweichende Verhaltensweisen vorprogrammiert, sind die zuweilen irritierenden, gewaltförmigen Verhaltensweisen Jugendlicher als durchaus angemessene Antworten auf ihre widersprüchliche Lage zu verstehen.

Es scheint mir dabei ein wichtiges Unterfangen, daß sich alle Betroffenen, Sozialarbeiter und -pädagogen, Leiter der Amtsstuben, Politiker und Versicherungsfachleute, aber auch betroffene interessierte Eltern Gedanken darüber machen, ob nicht unsere (u.a. durch das Haftungsrecht verursachte) Neigung zur Minimierung, ja Ausschließung jeglichen Risikos, unsere Sicherheitshysterie, langfristig mehr soziale und wirtschaftliche Kosten verursachen, als die Lockerung unserer haftungsrechtlichen Bestimmungen. Gewalthandlungen werden jedenfalls „sachlogisch durchaus vernünftig“, vor allem dann, wenn wie sie in ihren Entstehungszusammenhängen in der „durchrationalisierten Monotonie des Alltags“ der Jugendlichen „lokalisierten“ (BECKER/SCHlRP 1986).

Das auffällige Verhalten von Jugendlichen ist so besehen neben einer normalen Zurschaustellung oft ein Hilferuf an die Gesellschaft, ernstgenommen zu werden, Sinn- und Zukunftsperspektiven eröffnet zu bekommen, es ist eine Überlebensstrategie, um in einer Welt zurecht zu kommen, die kaum Raum zur Selbstbestätigung und Selbstfindung läßt. Es ist ein Ruf nach humaneren Lebensbedingungen, wo emotionale Wärme statt Kälte, Zuneigung statt Ablehnung; wo Toleranz, Mitgefühl, Verständnis und Selbstentfaltungsmöglichkeiten vorherrschen, wo Möglichkeiten des Erlebens von Spannungen, Abenteuer, Risiko, ganz allgemein von Affektivität, gegeben sind. Alles Werte und Normen im übrigen, die die Jugendlichen in den unterschiedlichsten und viel bescholtenen Sub- und Jugendkulturen suchen und auch größtenteils finden.

Hierin liegen gerade die Faszination jugend- und subkultureller Bindungen begründet. Um es mit KEIM (1984, S. 72f) ganz deutlich zu sagen: das auffällige, gewaltförmige Verhalten Jugendlicher, ist ein Scheinwerfer für zugrundeliegende Ungleichheiten, Zwangsverhältnisse und übersteigerte Disziplinierungen deren „positive Funktion“, „Mitteilungscharakter entschlüsselt, beachtet und womöglich (kommunal-politisch umgesetzt werden muß“, ehe man sich vorschnell und noch größere Probleme erst schaffend daran macht, diese Verhaltensweisen (nur) ordnungspolitisch zu behandeln.

Halten wir also fest: neben Bedürfnissen nach Selbstbestätigung, Selbstverwirklichung, soialer Anerkennung, Geborgenheit und Zuneigung sind vor allem auch die Suche nach Erfahrung von Abenteuer, Spannungs- und Risikoerlebnissen, Bedürfnisse des Auslebens von aggressiver Männlichkeit, des Erwerbs von Körperstilen und Körpersymbolen und der Gelegenheit zu deren öffentlicher Demonstration, die jugendliches Gewaltverhalten bestimmen.

Dabei haben die meisten dieser Jugendlichen zumindest zwei Identitäten: eine bürgerliche Alltagsidentität und eben ihre sub- oder besser jugendkulturelle Identität.

3. Männlicbkeitswerte, Gewaltakzeptanz und Ausländerfeindlichkeit

Als Drittes kommt hinzu, daß sich ein Teil der auffälligen Jugendlichen sich in Lebenszusammenhängen befinden, in denen körperliche Gewalt noch oder wieder als legitimes Mittel der Interessendurchsetzung, der Wahrung oder des Erwerbes von sozialem Prestige, als Zeichen von Männlichkeit gilt. So ist kämpfen innerhalb und zwischen Gruppen ein unverzichtbares Mittel zur Erlangung und Aufrechterhaltung von Ansehen im Sinne der aggressiven Männlichkeitsstandards. HElTMEYER/PETER (1988) machen in diesem Kontext auf eine zusätzliche Problematik aufmerksam: die Männlichkeitsnormen werden in einer Situation freigesetzt, wo zwar die sozialen Ungleichheiten gleich geblieben – ich meine im Sinne der »neuen Armut« sogar schlimmer geworden (vgl. PILZ 1989, DUNNING 1983) – sind, aber das Klassenbewußtsein im Rahmen der Individualisierungsschübe weitgehend aufgelöst ist. Sie unterliegen damit weniger sozialen Kontrollmechanismen und geraten deshalb in Gefahr, politisch aufladbar und funktionalisierbar zu sein, mit ganz anderen Zielsetzungen und Inhalten.

Eine Gefahr, die sich im übrigen in den ausländerfeindlichen Parolen und Handlungen eines Teils der Jugendlichen sehr deutlich artikuliert. Ein Sachverhalt, der m.E. bislang – vor allem was die sozialpädagogische Bearbeitung der Ausländerfeindlichkeit und »autoritär-nationalisierenden Orientierungen« Jugendlicher betrifft – sträflich vernachlässigt wurde (vgl. HEITMEIYER 1989; PlLZ/SENGEBUSCH 1990).

Innerhalb relativ kurzer Zeit haben viele Jugendliche erfahren, wie sich gewachsene, traditionelle Lebensräume, Wohngebiete, wo bereits Generationen vom Urgroßvater über den Großvater und Vater aufgewachsen sind, zu einem von überwiegend Ausländern bewohnten Stadtviertel wandelten und mehr und mehr von den kulturellen Werten und Normen der Ausländer geprägt werden. In einigen Stadtvierteln wohnen bis zu 60% Ausländer; in vielen Schulen aller Schultypen, besonders jedoch der Haupt- und Realschulen machen Ausländerkinder bis zu 80% aller Schüler aus. Dies führt zu unvermeindlichen Konflikten denen zu wenig Beachtung geschenkt wird.

Die Klage von deutschen Jugendlichen, daß sie sich gar nicht mehr in Deutschland lebend fühlen, kaum mehr entfalten können, daß sie mit den Werten und Normen der ausländischen Mitbewohner nicht mehr zurechtkommen, daß sie sich unterdrückt, benachteiligt fühlen, müssen ernst genommen werden. „Die haben mir meinen Stadtteil geklaut“, diese Aussage eines Jugendlichen drückt das aus, was viele Jugendliche in solchen Wohnlagen fühlen und empfinden (vgl. auch v. SEGGERN/ERLER 1988).

Gesprächsbereitschaft zeigen

Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, die die Jugendlichen befähigen, mit den gewandelten Wohnbedingungen, mit den kulturellen Eigenheiten ihrer ausländischen Mitschüler zurechtzukommen und ihre eigene kulturelle, ja sagen wir ruhig: nationale Identität zu bewahren, ja überhaupt erst einmal aufzubauen. Wenn deutsche Jugendliche ihr Unbehagen am zu hohen Ausländeranteil in ihrem Wohnviertel und in den Schulen äußern, dürfen Pädagogen nicht von vornherein Äußerungen abwürgen, nur weil sie tatsächliche oder vermeintliche ausländerfeindliche Inhalte nicht ertragen.

Ein solches Unbehagen ist wie jedes Vorurteil nur dann pädagogisch zu bearbeiten, wenn es wenigstens artikuliert werden darf. Durch Unterdrückung ist es nicht verschwunden, sondern nur der pädagogischen Bearbeitung und Auseinandersetzung entzogen. Statt Hilfen von Lehrern oder Sozialarbeitern zu bekommen, werden viele dieser Jugendlichen mit ihren Problemen allein gelassen. Die Folge ist ein oft erschreckender und hilfloser Ausländerhaß und eine wachsende Gewaltbereitschaft. Leider neigen viele Pädagogen eher dazu, Jugendliche die vermeintlich faschistische und rassistische Parolen äußern, auszugrenzen, als geduldig daran zu arbeiten, sie aus jenen Ecken herauszuholen, in die sie sich verrannt haben.

Die Sprachlosigkeit gegenüber diesen Jugendlichen muß überwunden werden. In der Tat, nicht Ausgrenzung und Sprachlosigkeit kann und darf die Antwort sein, sondern Kommunikation und Integration. Mit Isolierung lösen wir dieses Problem nicht. Wir müssen kommunikationsbereit sein. Nur so erfahren wir auch über Ursachen und Bedingungen des offen ausländerfeindlichen und rechtsextremen Verhaltens dieser Jugendlichen, und nur so können wir Korrekturen anbringen. Dabei – und dies haben die bisherigen Ausführungen sehr deutlich offenbart – sind die Ursachen und Bedingungen gewaltförmigen, rechtsextremen, ausländerfeindlichen Verhaltens Jugendlicher eine Antwort auf ihre aktuellen Lebenswelterfahrungen, auf ihre aktuellen Problemlagen und weniger Folge unserer nicht aufgearbeiteten nationalistischen Vergangenheit.

So gut »verkopfte« Aufklärungskampagnen über das 3. Reich, Aktionen wie Spurensuche auch sein mögen, sie gehen an den eigentlichen Ursachen der Ausländerfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft vorbei, sie stellen für die betroffenen Jugendlichen keine Hilfe dar. Die Bedeutung der Erfahrung von Wärme, Anerkennung, Zuneigung, Verständnis und Selbstentfaltungsmöglichkeiten für die Gewalteinschränkung und -vermeidung kann nicht ernst genug genommen werden. So zeichnet MILLER (1985, S. 175 f) bezogen auf die Sozialisationsinstanz Familie ein erschreckendes Bild, wie die verheerenden Folgen der Traumatisierung des Kindes auf die Gesellschaft zurückschlagen und zur blinden Eskalation der Gewalt führen: „Um sich entfalten zu können, braucht das Kind die Achtung und den Schutz der Erwachsenen, die es ernst nehmen und lieben, und ihm ehrlich helfen, sich zu orientieren. Werden diese lebenswichtrgen Bedürfnisse des Kindes frustriert, wird das Kind ausgebeutet, geschlagen, gestraft, mißbraucht, …. so wird die lntegrität des Kindes nachhalltig verletzt. Die normale Reaktion äuf die Verletzung wären Zorn und Schmerz. Da Zorn aber in einer verletzenden Umwelt dem Kind verboten ist und das Erleben der Schmerzen in der Einsamkeit unerträglich wäre, muß es diese Gefühle unterdrücken: Die nun von ihrem eigentlichen Grund abgespaltenen Gefühle von Zorn, Ohnmacht, Verzweiflung, Sehnsucht, Angst und Schmerz verschaffen sich dennoch Ausdruck in zerstörerischen Akten gegen andere (Kriminalität, Völkermord) oder gegen sich selbst (Drogensucht, Alkoholismus, Prostitution, psychische Krankheiten, Suizid).“

Dabei spielt auch das Problem der wachsenden Pluralisierung der Lebensverhältnisse eine wichtige Rolle, führt es doch zu einer neuen sozialen Differenzierung zwischen Kindern unterschiedlicher sozialer Gruppen. Die Ganzheitlichkeit der kindlichen Lebenswelt geht verloren: der Kinderalltag wird dadurch in sozialer, inhaltlicher und räumlicher Hinsicht ausdifferenziert und zerstückelt. Dieser Prozeß der Vereinzelung (ZEIHER 1983) macht deutlich, daß Kinder zunehmend mehr an ganz unterschiedlichen Aktivitäten teilnehmen, die nicht mehr miteinander in Beziehung stehen. Das kindliche Leben findet auf einzelnen unverbundenen Inseln statt. Oft werden die verschiedenen Lebensbereiche nur dadurch zusammengehalten, daß die Mütter den Transport zu diesen Aktivitäten organisieren – ein gerade bei Mittelschicht-Familien selbstverständlicher werdender Teil des Alltags. Der Rhytmus der jeweiligen Institutionen bestimmt zunehmend den Alltag der Kinder Es besteht immer weniger Möglichkeit, den Nachmittag frei von institutionellen Vorgaben zu gestalten und am Leben der Erwachsenen teilzunehmen, so daß diese Entwicklung auch als ein zunehmender Ausgrenzungsprozeß von Kindern aus der Welt der Erwachsenen und aus generationsübergreifenden Lebenszusammenhängen begriffen werden kann, aber auch aus der Welt der Kinder, deren Eltern nicht über die finanziellen Ressourcen verfügen, daß sie ihren Kindern ein ähnlich ausdifferenziertes, breites sportliches, musisches Angebot unterbreiten können. Dies führt vor allem zu einer weiteren Ausgrenzung der randständigen Jugendlichen und Kindern, der Kinder und Jugendlichen in den sozialen Brennpunkten. (Achter Jugendbericht 1990, S.39)

So zeigt die Längsschnittstudie HEITMEYERS zusätzlich, daß die formale Intaktheit einer Familie nichts darüber aussagt, ob ein Jugendlicher vor rechtsextremistischen Orientierungen gefeit ist oder nicht. Entscheidend sind vielmehr stabile und verläßliche Beziehungen, die ein Gefühl der Geborgenheit aufgrund von Zuwendung und Verständnis vermitteln. Sind die Beziehungen der Eltern zu ihren Kindern dagegen instrumentalistisch, also leistungsorientiert, auf Geld und Karriere drängend, werden die Jugendlichen zu Orientierungen neigen, die Rechtsextremismus, Fremdfeindlichkeit und Gewalt fördern. Dies gilt auch, wenn Eltern versuchen, die Kinder durch zeitabhängige Unterstützung unter Druck zu setzen, vor allem aber sich durch materielle Vergünstigungen und Liebe und emotionaler Zuwendung freikaufen zu können, um letztlich besser über die Kinder verfügen zu können.

In diesem Kontext gewinnt denn auch die Tatsache zunehmend an Bedeutung, daß die Familie, die Schule, die Kirche im besonderen längst als zentrale Sozialisationsinstanzen abgewirtschaftet haben und den informellen Cliquen und mehr noch, den allgegenwärtigen Massenmedien zunehmend den Platz räumen. Gerade die informellen Gruppen (Cliquen) haben als Bezugsgruppen für die Jugendlichen einen ungeheueren Bedeutungswandel erfahren: Gaben 1962 beispielsweise nur 16% der befragten Jugendlichen (Jungen wie Mädchen) an, daß sie einer solchen informellen Gruppen angehören, so waren es 1983 bereits fast 57% und die Zahl ist weiterhin steigend (ALLERBECK/HOAG 1985).

Es sind somit die alltäglichen Gewalterfahrungen der Kinder und Jugendlichen, die unser Augenmerk bedürfen (vgl. THEUNERT 1987; SCHIBILSKY l987) und weniger die Gewalthandlungen der Jugendlichen selbst, es sei denn, wir sähen in der Tat letztere als Scheinwerfer, die die familialen, schulischen, beruflichen und gesellschaftlichen Unzulänglichkeiten erhellen, wir betrachteten sie als Hilferufe und Überlebensstrategien.

Angesichts der hier nur bruchstückhaft aufgezählten und zunehmend massiver werdender Gewalterfahrungen von Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft müssen wir uns in der Tat wundern, daß es nicht sehr viel mehr Gewalt von Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft zu beklagen gibt. Der Prozeß der Zivilisierung der Gewalt hat Früchte getragen. Dennoch kann uns diese Erkenntnis angesichts der vielen Gewalterfahrungen, die Kinder und Jugendliche in unserer Gesellschaft machen (müssen) nicht zufrieden stellen. Um es mit ELIAS (1989, S. 270) zu sagen:

„Es ist eigentlich nicht schwer zu sehen, daß diese Sinnsperre für einen nicht unbeträchtlichen Teil der jüngeren Generation, sei es durch Gesetze, sei es durch Arbeitslosigkeit oder wodurch auch immmer ein weites Rekrutierungsfeld, nicht nur für gegenwärtige Drogenhändler, sondern auch für Stadtguerillas und für zukünftige Radikalbewegungen überhaupt schafft, ob rechts oder Iinks. Niemand weiß, was auf die deutsche Bundesrepublik zukommt, wenn diese Saat einmal aufgeht.“

Bevor ich nun zum Schluß komme, scheinen mir einige zusätzliche Anmerkungen zur Situation der Jugendlichen in den neuen Bundesländern erforderlich.

Zur Situation Jugendlicher in den neuen Bundesländern

Wenn man die jüngste Eskalation der Gewalt Jugendlicher in den neuen Bundesländern sachgerecht einschätzen will, bedarf es einer zusätzlichen Analyse der Lebenssituation der Jugendlichen in den neuen Bundesländern.

Die Jugendlichen sind seit dem Mauerfall und Wiedervereinigung in drei tiefe Löcher gefallen, die es ihnen schwer machen, mit ihrer Lebenswelt zurecht zukommen und ihre Identität zu entwickeln, zu bewahren. Sie sind zum einen in ein politische Loch gefallen in dem Sinne, daß sie mit dem Fall der Mauer ihrer nationalen Identität beraubt wurden. Mag auch das Regime verhaßt gewesen sein, die Identifikation mit der DDR, mit ihren wirtschaftlichen Erfolgen im Vergleich zu den anderen sozialistischen Staaten und sportlichen Erfolgen im internationalen Konzert, war doch weit verbreitet. Mit dem Fall der Mauer wurden sie quasi zu Deutschen zweiter Klasse degradiert, was durch eine verstärkte Identifikation mit Deutschland, durch ein verstärktes nationales, ja oft nationalistisches Denken kompensiert wird. Diese Entwicklung wird dadurch noch verstärkt, daß in der Zeit des SED-Regimes weder die latent ja auch manifest vorhandene Ausländerfeindlichkeit nie thematisiert, geschweige politisch, pädagogisch angegangen wurde und auch eine Aufarbeitung des Nationalismus ausgeblieben ist. Die Folgen sind vor allem eine über alle Schichten, Bildungsniveaus und Altersgruppen hinweg stark ausgeprägte Ausländerfeindlichkeit.

Die Jugendlichen sind zum zweiten in ein tiefes wirtschaftliches Loch gefallen, in dem ihnen die große Glitzerwelt der westlichen Konsumgesellschaft eröffnet wurde, sie aber erheblich geringere Einkommen haben. Ja schlimmer noch, Hunderttausende gekündigter Lehrstellen tragen mit dazu bei, daß sich die Jugendarbeitslosigkeit epidemieartig ausbreitet und die Lebensperspektiven der Jugendlichen in den neuen Bundesländern für die kommenden Jahre mehr als düster sind.

Drittens sind die Jugendlichen – und dies verschärft die beiden ersten Problembereiche – in ein tiefes sozialpolitisches Loch gefallen. Es fehlt an pädagogischen, sozialpädagogischen Programmen, die die Jugendlichen in ihrem tiefen Fall auffangen könnten; es fehlt an einer intakten Freizeitkultur. Die Städte in denen sie leben (müssen), vor allen Trabantenstädte, zeichnen sich durch eine durch nichts mehr zu überbietende Trostlosigkeit und öde aus, in der Langeweile die Normalität und Gewalt vorprogrammiert ist. Es fehlt an Kneipen, Begegnungsstädten, an Bewegungsmöglichkeiten, Spielplätzen, etc., etc. Sehr einfühlsam und kompetent hat diese Situation der Jugendlichen in den neuen Bundesländern der Ostberliner Sozialdiakon HEINISCH in einem Gespräch mit dem Magazin SPORTS (1991) beschrieben: „So beschissen der DDR-Staat auch war, ein paar Dinge waren für die breite Masse gewährleistet: das tägliche Essen, die Arbeit und das Gehalt. Plötzlich aber werden die Leute mit gesellschaftlichen Reatitäten konfrontiert, mit denen die westlichen Kinder alle großgeworden sind, aber unsere nicht. Auf einmal haben sie Angst um den Arbeitsplatz, die Lehrstelle, den Schulabschluß. Die merken doch, daß die westlichen Konzerne im wesentlichen sagen, wir decken den Mehrbedarf locker mit unseren schon bestehenden Produktionsstätten ab. Die merken doch, daß unsere Firmen reihenweise Pleite machen und wir bald ein Volk von Sozialhilfeempfängern sind. Und wir, aber wirklich nur wir merken, daß ein Volk von Sozialhilfeempfängern ohne sozialpädagogisches Programm reinstes Dynamit ist. Das geht irgendwann hoch, und Leipzig war sozusagen der Auftakt.“ (SPORTS 1991, 1, S. 84)

Wie beschreibt Hans-Joachim MAAZ in seinem Psychogramm der DDR doch treffend die Wandlungen mit dem Mauerfall? „Vierzig Jahre lang galt unter der Diktatur der Bann »Sei angepaßt, ordne dich unter und Du wirst versorgt«. Und jetzt heißt die Nötigung: Kümmere dich selbst um deine Belange, sonst mußt du sehen, wo du bleibst.“

Ein letztes muß noch angemerkt werden: Die Jugendlichen haben kaum Erfahrungen im Umgang mit eigener Gewalt, mit staatlicher Gewalt sehr wohl, aber nicht mit ihrer eigenen. Sicher gab es auch früher schon Randale im Umfeld von Fußballspielen, aber diese wurden durch den allgegenwärtigen und allgewaltigen Stasi-Apparat schnell im Keime erstickt. Jetzt, ohne dieses Repressionsinstrument, leben die Jugendlichen, weil ihnen Erfahrungen im Sinne von Selbstbeschränkungen, Selbstregulierungsmechanismen fehlen, ihre Gewalt völlig ungehemmt aus. Bundesdeutsche Hooligans beklagen entsprechend schon seit geraumer Zeit, daß die Ost-Hooligans jeden zusammenschlägen, der ihnen in den Weg kommt, ganz gleich ob jung oder alt, ob Mann oder Frau, und daß sie erheblich brutaler, rücksichtsloser zuschlagen. Die bereits angedeuteten Ergebnisse von Befragungen jugendlicher Fußballfans aus Leipzig und Eisenhüttenstadt zeigen denn auch, daß die Gewaltakzeptanz und vor allem die Ausländerfeindlichkeit in den neuen Bundesländern eine im Vergleich zu den alten Bundesländern neue Dimensionen erreicht haben.

Schluß

Eine Verbesserung der Lebenswelten jugendlicher und eine lebensstil-, lebensweltorientierte Jugend(sozial)arbeit sind das Gebot der Stunde. Wer glaubt, auch weiterhin das Problem der Gewaltbereitschaft Jugendlicher mit nur repressiven Maßnahmen lösen zu können, wer weiterhin nach noch mehr Polizei und schärferen Gesetzen ruft, macht sich mitschuldig an der Eskalation der Gewalt. Wir brauchen Ursachenanalyse und keine Symptomkuriererei.

So besehen ist HEYE (1987, S. 77) zuzustimmen, wenn er schreibt, daß Jugendarbeit verstanden werden muß als eine „kontrafaktische Gegenkultur“, „als Kultur gegen Vereinzelung, Vereinsamung, Polarisierung und Zersplitterung von Lebensformen, Orientierungs- und Sinnverlust. Oberflächlichkeit und Individualisierung des Lebens, als Kultur die »Profil« zeigt, sich dabei bewußt abhebt, sich nicht als bloße Kompensations- bzw. Versorgungskultur vereinnahmen läßt und in diesem Sinne »Anregungsmilieus« für Sinnfindung bietet.“

Literatur

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von Benno Hafeneger

Zur Historisierung von Jugend und Gewalt

Die aktuelle Diskussion um »Jugend« (d.h. männliche Jugend) und Gewalt in Großstädten/Ballungsgebieten ist vielschichtig und differenziert, doch sie verweist auf ein zentrales Defizit: die fehlende historische Perspektive und Unwissenheit über die Geschichte des Zusammenhanges. In der sozialwissenschaftlichen und jugendpädagogischen Literatur der letzten Jahre wird vor allem auf die Zusammenhänge der komplexen, hochambivalenten und »brüchigen Jugendphase heute« (Individualisierung und Pluralisierung, zeitliche Verlängerung, Auflösung von Normalbiographien und traditionellen Lebenslaufmustern, normative Verunsicherungen, Erosion von sozialen und kulturellen Milieus, Bastelmentalität und Identitätsarbeit u.a.), auf die strukturellen Gewalterfahrungen und Desintegrationsprozesse (und -ängste) von Jugendlichen verwiesen. Es werden Motivdeutungen aus Ohnmachts-, Konkurrenz- und Vereinzelungserfahrungen von Jugendlichen, Hinweise und Belege zu gewaltförmigen (-bereiten, akzeptierenden) Verarbeitungsprozessen von biographischer und sozialer Realität angeboten sowie auf anomische Tendenzen verwiesen.

Die Diskussion bezieht sich auf Alltagsgewalt (u.a. Kriminalität), Begleitgewalt (u.a. Fußball-Fans) und rechtsextrem, politisch motivierte Gewalt (u.A. Skinheads, neonazistische Gruppen). Dabei werden, vor allem als Folge der Probleme des langen Prozesses der deutschen Einigung, implizit oder explizit wiederholt sich dramatisch zuspitzende Entwicklungen für die nächsten Jahre prognostiziert sowie politisches und auch (sozial)pädagogisches Handeln, Jugendhilfemaßnahmen eingeklagt. In den Diskussionen wird vielfach argumentiert, daß Gewalt als Verhaltensmuster und -strategie von bzw. unter Jugendlichen ein neues und erstmalig auftretendes Phänomen in der Geschichte der (vereinten) Bundesrepublik Deutschland wäre.

Aber das Verhältnis von (männlichen) Jugendlichen zur (Erwachsenen-)Gesellschaft, das sich gerade auch in unterschiedlichen Formen von Gewalt ausdrückt bzw. ausdrücken kann, ist historisch nicht neu. Sie sind – als Ausdruck von »Nöten, Krisen und Konflikten des Jugendalters«, »der Stellung in Beruf und Familie«, den »Unruhen in Kriegs- und Nachkriegszeit«, der »Enge des städtischen Lebens«, der »Wandlung der Werte und der Vergnügungsindustrie«, so die zeitgenössische jugendpädagogische Diktion in den fünfziger Jahren – vergessen und verdrängt. Diese nachweisbare Erkenntnis soll nicht entschuldigen, rechtfertigen oder zur Gewöhnung/Abstumpfung beitragen. Sie kann aber in relativierender, entdramatisierender Perspektive zur Deeskalation und Abwehr von panikmachenden – gegen Jugendliche gerichtetem – durchschaubar repressiven und eindimensionalen Strategien (Polizei, Justiz, starker Staat, law and order) beitragen helfen.

In der Geschichte des gewaltförmigen Verhältnisses von Jugendlichen zur (Erwachsenen)Gesellschaft pendeln die Einschätzungen zwischen Panik und Beschwichtigung: einem damit signalisierten besorgniserregenden »inneren Zustand« der Jugend auf der einen Seite und der beruhigenden Versicherung – so etwas sei nicht neu, habe es schon immer als Ausdruck von entwicklungsbezogenen »Sturm- und Drangperioden« und jugendpsychologischer Entwicklungsphase gegeben auf der anderen Seite. Dem entsprechen Forderungen und Maßnahmen: hartes Vorgehen mit Polizei und Strafrecht, um die Einordnung in die Gesellschaft zu erzwingen auf der einen Seite – Verständnis der Motive und Wünsche (»überschäumende jugendliche Lebenskraft«, »die Gärung, Unfertigkeit der jungen Menschen«, Ausdruck von Enge, Geltungsbedürfnis, Unzufriedenheit und Langeweile) und Entgegenkommen durch (sozial)pädagogische Maßnahmen (Räume/Orte, Erlebnis/Abenteuer, Vertrauen und Zuwendung u.a.) auf der anderen Seite.

Drei Beispiele aus den fünfziger Jahren

Aus der Jugend- und Jugendarbeitsgeschichte soll hier auf drei Beispiele – aus dem Kontext einen jugendgeschichtlichen Forschungsprojektes – zu diesem Thema in phänomenologischer Perspektive eingegangen werden:

  • die sog. »herumtreibenden Heranwachsenden« bzw. »gefährdeten und gestrauchelten Jugendlichen«,
  • die sog. »luxusverwahrlosten Jugendlichen« und
  • die sog. »Halbstarken« bzw. »randalierende Jugend« in den fünfziger Jahren.

Die drei Beispiele verweisen in eine Zeit, in der die Massenarbeitslosigkeit und »soziale Not« unter Jugendlichen ab Mitte der 50er Jahre zurückgeht, sie am »Wirtschaftswunder« teilhaben und sich die politischen und wirtschaftlichen (und auch kulturellen) Strukturen etabliert haben. Die hier skizzierten Gruppen und Typisierungen können jugendgeschichtlich erweitert werden: u.a. auf die sog. »Wilden Cliquen«, auf vielfältige Gesellungsformen unter proletarischen Jugendlichen (u.a. beschrieben als »Halbstarke«, als »verwahrloste, verkommene männliche Großstadtjugend«, als »Strolche«) seit der Jahrhundertwende; in der neueren Zeit auf die »Rowdies«, »kriminellen Jugendbanden«, »Rocker« und die »street-gang- und Jugendpolizeidiskussion« in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre.

Es geht – unterschiedlich akzentuiert und gewichtet – bei den jeweiligen zeittypischen, gesellschaftlichen Zuschreibungsprozessen und Diagnoseversuchen um »Abweichung, Dissozialität, Gefährdung, Verwahrlosung« und bei den pädagogischen, erzieherisch-sozialen und auch kriminalpolitischen Hilfeangeboten im Kontext von Jugendschutz, Erziehung und Vorbeugung um »Kontrolle, Integration oder Repression«. Immer wieder geht es primär – unter den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen und Verhältnissen – um auffällige Verhaltensweisen von (männlichen) Jugendlichen gegen die »zivilisierten Normen«: beschrieben als »Zusammenrottungen« auf öffentlichen Straßen und Plätzen, vor Kneipen und Kinos; Belästigungen, Wortwechseln mit Erwachsenen; Auflehnung gegen Autoritäten, insb. Polizei; Hang zur Unruhestiftung und Verkehrsbelästigung; Scherze, Flegeleien bis hin zu kriminellen Handlungen.

Es geht weiter um »den Umgang« mit den jeweil typisierten und stigmatisierten aufsässigen Jugendlichen, weniger um gesellschaftliche, politische Strukturen und die sozialen Alltagserfahrungen, die Bewußtseinsformen prägen und aggressive, gewaltförmige Verhaltensweisen begründen. Die Interpretationsangebote sind heterogen, sie beziehen sich insbesondere: auf den durchaus verständnisvollen Hintergrund einer jugendpsychologisch und – pädagogisch interpretierten »krisen- und konflikthaften Entwicklungs- und Reifezeit«, die »Turbulenzen im Adoleszenzalter«, die »noch ungebändigte Triebwelt«, den unspezifischen, »sinn- und nutzlosen« Tätigkeits-, Erlebnis- und Geltungsdrang; auf die Entwicklungsdifferenz biologischer (sexueller) früher Reife auf der einen Seite und nicht gleichzeitiger kultureller Entwiclung auf der anderen Seite; auf Bindungslosigkeit und seelische Unordnung; auf »schadloses bloßes Abreagieren« der starken beruflichen Anspannung in der Freizeit; auf Zivilisationsphänomene (und Eigenleben der »Flegeljahre« der männlichen Jugend) in modernen, dynamischen Massen- bzw. Industriegesellschaften, die sich in »undifferenzierter Unzufriedenheit« mit »Ventilfunktion« ausdrücken.

Leitende sozialpädagogische Perspektive ist die Korrektur »auffälliger Verhaltensweisen«, die erzieherische Beeinflussung »des Seelenlebens«, die normative Anpassung und die Integration der »Problem-Jugendlichen« in das zeitgenössische gesellschaftliche Normalitätskonzept mit den Tugenden »Zucht, Ordnung, Autorität, Disziplin, Arbeit«. Gleichzeitig wird durchaus selbstkritisch auf den begrenzten Erkenntnisstand und die fehlende »intensive Erforschung des jugendlichen Seelenlebens und der Lebenswelt der werktätigen Jugend« verwiesen (vgl. z.B. Hetzer 1956). Zum prägenden Erlebnis- und Erfahrungsgehalt der Kindheit und Jugendphase der »Halbstarken« merkt Dietz an : „Das Leben des um 1938 geborenen jungen Menschen bestand aus einer Kette von Absonderlichem, Ungesundem und Anormalem: Hunger, Zittern um Leben und Gesundheit, Fehlen des Vaters, Überreizbarkeit der Mutter, Leid, Familienentfremdung, Schwarzhandel, Zigarettenprostitution, Willkürherrschaft, Pazifismus, Militarismus“ (1956, S. 768).

»Die Halbstarken«

Ein Beispiel soll gesondert herausgegriffen werden, auch ob seines Bekanntheitsgrades. Vor allem in der zweiten Hälfte in den fünfziger Jahren ist die Gesellschaft von »dem Verhalten« der sog. »Halbstarken"1 (auch »randalierende Jugend« genannt) beunruhigt. Die »halbwüchsigen Rowdies« (»Rüpel«, »Krawallmacher« – so weitere Zuschreibungen) sind in offenen, anarchischen »Cliquen«, in hierarchielosen und oftmals kurzlebigen Gruppen- und Gesellungsformen in erster Linie in vielen Großstädten der Bundesrepublik (in der DDR und vielen anderen westlichen und osteuropäischen Ländern) locker organisiert; zu ihnen zählen jeweils zwischen 10 und 20 (männliche) Jugendliche. Sie geben sich Namen wie: »Die Wilden«, »Totenkopfclique«, »Eidechsen«, »Rote Teufel« oder einfach »Club der Halbstarken«. Viele nennen sich nach der Straße, dem Quartier in dem sie wohnen. Vor allem ihre normwidrigen, »übermütigen, respektlosen, herausfordernden, frechen und aggressiven« Verhaltensweisen, ihr »fehlendes Unrechtsbewußtsein«, ihre Aufsässigkeit, Anstößigkeit und ihr Unfug – wie lärmen, toben, anpöbeln, provozieren, prügeln, randalieren, motorisiert, blockieren von Straßen, nackt baden – stören die angepaßte Wohlanständigkeit, Sitten und Ordnungsvorstellungen der kleinbürgerlichen Gesellschaft. Berichtet wird vor allem über »Rock'n Roll- und Jazz-Krawalle« (Schlägereien, Zerstörungen nach Konzerten und Filmen wie „Rock around the clock“„Außer Rand und Band“, dem Marlon-Brando-Film „Der Wilde“, den James-Dean-Filmen)2 .In Frankfurt/M. z.B. gibt es 1956 zwei sog. »Großkrawalle«; so werden Krawalle – differenziert nach »reinen Krawallen, Veranstaltungs- und Folgekrawallen« – mit mindestens 50 Teilnehmern bezeichnet: am 1.9. in Frankfurt-Höchst mit ca. 60 Teilnehmern und am 5.3. in der Innenstadt mit ca. 500 Teilnehmern. In der Presse gibt es eine martialische Berichterstattung über die »hemmungslosen, antisozialen Halbwüchsigen, Halbstarken«.

Die zeitgenössische jugendsoziologische, pädagogische und kriminologische Diskussion pendelt zwischen durchaus sensiblen ätiologischen Fragestellungn und autoritär-repressiven Forderungen (Methoden der »harten Hand«). Die Berichterstattung in der Tagespresse ist sensationsorientiert, es ist vom Terror, gar von einer »Diktatur und Seuche der Halbstarken« die Rede. Das Verhalten der männlichen Jugendlichen zwischen 15 und 20 Jahren wird mit seinen auffällig-provozierenden Formen u.a. folgendermaßen beschrieben:

Vornehmlich finden die »Halbstarken« Gefallen daran, Fußgänger zu belästigen. Sie rempeln diese an, »um sich Respekt« zu verschaffen, stoßen sie vom Gehweg, gegen Häusermauern oder gegen andere Halbwüchsige und zwingen sie, vom Bürgersteig auf die Fahrbahn zu gehen. Grölend, pfeifend und zum Teil mit Lattenstücken bewaffnet ziehen sie durch die Straßen oder stehen an den Ecken und behindern den Fußgängerverkehr. Sie überschreiten im Gänsemarsch bei großer Zahl die Fahrbahn und blockieren so zeitweilig den Fahrzeugverkehr. Besonders gern versperren sie verkehrsreiche Kreuzungen. Sie empfangen die Omnibusse mit Geheul, stürzen Verkehrsschilder, werfen Mülltonnen um und an Baustellen lagernde Ziegelsteine auf die Straße. Bei alledem schießen sie mit Schreckschußpistolen und lieben es, Knallkörper abzubrennen oder Stinkbomben zu schmeißen. Sie bespritzen Vorübergehende mit wassergefüllten Fahrradpumpen, schlagen ihnen das Speiseeis aus der Hand, versuchen, sie in eine Prügelei zu verwickeln, verdrängen Rentner durch Pöbeleien und Drohungen vom Ruheplatz und fordern sie schließlich zum »Verschwinden« auf. Auf den Rummelplätzen und Straßen pöbeln sie gern Mädchen, aber auch Ehepaare an. In dicht geschlossener Kolonne und laut knatternd fahren sie mit ihren Mopeds oder Motorrädern durch die Hauptstraßen. Auch in Gaststätten benehmen sie sich auffällig, sie verlangen lärmend nach Bier, prosten sich laut zu und werfen Stühle um, reißen die Blüten der Blumentopfstauden ab oder zerschlagen gar die Einrichtungsgegenstände.

„Die Ordnung stört die Jugendlichen“

In der Suche nach Ursachen und Schuld für diese Verhaltensweisen wird auf mehrere Entwicklungen verwiesen: die fehlende familiäre, schulische und religiöse Erziehung (Entwurzelung) und deren Bankrott, die fehlenden Wertbegriffe in der Gesellschaft, die »unglückliche, mißverständliche Rolle des Begriffs der Demokratie« (als angebliche Freiheit von jedem Zwang, als Liberalismus und laissez-faire) und falsch verstandene »Erziehung zur Selbständigkeit«, fehlende Vor- und Leitbilder, Unzufriedenheit mit Beruf und Arbeit (der größte Teil der Jugendlichen sind »ungelernte Hilfsarbeiter und Lehrlinge«) mit der Perspektive des »Unten-Bleiben-müssens«. Entwicklungspsychologisch wird vor allem auf das Zusammentreffen von »Betätigungs- und Geltungsdrang«, Befreiungsversuchen einerseits und »geistig-seelischer sowie sozialer Labilität« andererseits als typisch für die Phase des Übergangs von der Kindheit ins Erwachsensein, auf eine »komplizierte Zwitterstellung« des »Nochnicht- und Schon-Erwachsenseins« verwiesen. Es ist die Rede von »echter Jugendnot«, »sozialer Entfremdung«, der »Verarmung des jugendlichen Seelenlebens« in einer zivilisierten, materiell orientierten Welt, von »geschrumpften Lebensräumen« für Jugendliche, von Ausbruchsversuchen und Wohlstandsdelikten.

Daneben gibt es Einschätzungsversuche, die an einem »scharfen Durchgreifen« interessiert sind und sich in Formulierung wie »verwilderte, anarchisch-destruktive Jugend ohne Ziel, Glauben und Zukunft« ausdrücken. Das beklagte »Wertvakuum« der Jugendlichen aus den unteren sozialen Schichten wird angeblich besetzt mit »Sehnsüchten und Materialien aus Filmen, Schundliteratur, früher Erotik und plattem Materialismus«. Die Folge sei eine »Straßendiktatur der Halbstarken«, die sich in »Rohheit, Unordnung, Zerstörungswut« ausdrücke. In der soziologischen Diskussion entwickelt Schelsky den Typus der »Skeptischen Generation«, die er – als Folge von Kriegs- und Nachkriegserfahrungen – in ihrem Lebensgefühl als „skeptisch, mißtrauisch, glaubens- oder wenigstens illusionslos“ charakterisiert (1957, S. 381). Gleichzeitig diagnostiziert er eine »Veränderung der vitalen Grundbefindlichkeit« und neue Züge vitaler Erlebensformen unter Jugendlichen, die er auch bei den »Halbstarken« sieht. Er sieht in ihnen Eruptions- und Ausbruchsversuche, die Autoritäten und Ordnung (vor allem die Polizei) zu provozieren. „Vor allem scheint mir der emotional und momentan explosive Protestcharakter des Krawallverhaltens als eine ungeplante, aber in vitalen Bedürfnissen verwurzelte Ausbruchsreaktion der Jugendlichen gegen die manipulierte Befriedigung des modernen Lebens und gegen den unangreifbaren Konformitätsdruck der modernen Gesellschaft bemerkenswert… Die Ordnung stört die Jugendlichen“ (1957, S. 387).3

In der pädagogischen Diskussion wird eine Erziehung in Schule und Elternhaus empfohlen, die wieder »Gehorsam einfordert« und »Autorität« achtet«; gefordert werden »echte Autoritätsinstanzen«, die ihre »Straf-, Zwangs- und Zuchtmittel auch einsetzen«. Dies zielt vor allem auf die staatliche Ordnung (Recht des Staates), die als »wahre Demokratie« um des »Gemeinwohl willens dem Einzelnen Beschränkungen ihrer individuellen Freiheit auferlegen muß«.

Auch die Bundeswehr wird als anpassende und harte Sozialisationsagentur angeboten, ihr werden Funktionen zugeschrieben, die in der Weimarer Republik vom Arbeitsdienst wahrgenommen wurden. „Gerade für die sogenannten Haltlosen dürfte die Bundeswehr geeignet sein, zumal dann, wenn sie sich mit ihrem bisherigen Verhalten noch nicht »abgefunden« haben, sondern einen Halt suchen und die Möglichkeit dieses Haltes in der Bundeswehr klar sehen“ (Gerson 1957, S. 40).

Die einfühlsame Perspektive »Erziehen statt Strafen« soll vor allem von der Familie, der Schule und in der Freizeit mit – neuen und der Inpflichtnahme von – jugendpflegerischen Angeboten (Beschäftigungen) der offenen und verbandlichen Jugendarbeit (u.a. in Form von staatsbürgerlicher Erziehung und Bildung, Elternschulung, von Lesestuben mit Impulsen zum »Guten und Schönen«), aber auch mit Jazz-, Film- und Tanzveranstaltungen, Moped- und Motorradrennen, Hindernisfahrten und Wettkämpfen – von »innerlich jung gebliebenen Erwachsenen« – für »Halbstarke«, realisiert werden. Statt Kinobesuch, Radiohören und Fernsehen, Besuch von Sportveranstaltungen sollen die Jugendlichen selbst musizieren, ein gutes Buch lesen, selbst Sport treiben, wandern und basteln. „Die Forderung nach jugendgemäßen Betätigungsstätten für Sport, Spiel, Bildung und Geselligkeit kann nicht oft genug gestellt werden“ (Steyer, 1956, S. 349).

Diskutiert und gefordert werden darüberhinaus, den Jugendlichen in ihrer Freizeit »den nötigen Lebensraum« zu schaffen, eine allgemeine Schulpflichtverlängerung und die Verbesserung der beruflichen Bildung. Vor allem die Lehrer, Erzieher, Eltern sollen den erziehungsbedürftigen und gefährdeten Jugendlichen »Maßstäbe des lebenserfahrenen Erwachsenen« – d.h. Triebverzicht, Selbstbeherrschung und Tugenderziehung aber auch Selbstwertgefühle, gestaltende Teilhabe, Beachtung, Anerkennung, soziale Zufriedenheit und Sinn – vermitteln, ihnen Vorbild sein und den Taten- und Erlebnisdrang der Jugendlichen in die »richtigen Bahnen lenken«. Gegen die verbreitete pädagogische Ratlosigkeit wird auf die Vermittlung von Leitbildern verwiesen. Weinstock begründet dies so: „Aber es heißt doch nun wirklich das Kind mit dem Bade ausschütten, wenn man der Erziehung das Recht, ja die Pflicht abspricht, nach einem Leitbilde zu verfahren. Denn so nimmt man ihr Würde und Verantwortung sinnvollen Handelns und gibt sie dem Zufall des Augenblicks, seines Einfalls und seiner Stimmung preis. Vor allem aber läßt man das natürliche Bedürfnis des Jugendlichen nach Leitbildern ungestillt und überläßt ihn also ohne Gegenbild den verführerischen, banalen oder gar gemeinen Bildern, wie sie die anonymen »Erziehungsmächte« dieser Zeit (Kino, Illustrierte, Sportbetrieb, Mode) sie auf Schritt und Tritt anpreisen“ (1957, S. 147). Erwachsene werden aufgefordert, endlich ihre »Führungsaufgaben« und das Bedürfnis in der Jugend »nach Führung« mit Geduld und »bescheidenen Zielen« anzunehmen.

Ende der 50er Jahre wird die wiederholte Inpflichtnahme von Jugendarbeit, auf dem Hintergrund von Krisen- und Selbstverständnisdiskussionen, reflektiert. Vor allem die Jugendverbände wehren sich gegen immer wieder neue Anforderungen, die über ihre »ursprünglichen Aufgaben« hinausgehen. „So erklärt sich wohl der Prozeß der Einigelung, der in vielen Verbänden zu beobachten ist. Sie sind müde geworden, immer wieder mit der »Verantwortung für die Nichtorganisierten« betrommelt zu werden. Zu oft haben sie jene Appelle gehört, die insbesondere durch die Halbstarkenkonjunktur aufgelöst wurden, und die ihnen eine entscheidende Aufgabe an den noch Fernstehenden zuwiesen“ (Stammler 1959, S. 4f.).

Anmerkungen

1) Der Begriff »Halbstarke« geht auf den Pastor Clemens Schulz zurück; er veröffentlichte 1912 eine Broschüre über seine Erfahrungen mit Hamburger Jugendlichen unter dem Titel „Die Halbstarken“.

2) R. Fröder, Leiter des Emnid-Institutes für Meinungsforschung in Bielefeld, kommt 1956 in einer repräsentativen Untersuchung zu dem Ergebnis, daß die „drohende und bedrohte Jugend“ einen sehr kleinen Teil der deutschen Jugend zwischen 15 und 24 Jahren ausmacht. C. Bondy u.a. haben die Krawalle von Juni 1955 bis Januar 1957 in einigen Großstädten untersucht. Die Autoren grenzen in ihrer Abhandlung die »Halbstarken« deutlich von Kriminellen und Banden ab. Sie kommen u.a. zu dem Ergebnis, das die Familienverhältnisse dieser Jugendlichen nicht ungewöhnlich schlecht seien, auch gehörten sie keiner bestimmten Klasse an – man finde Arbeiterkinder, Lehrlinge und Oberschüler.

3) Schelsky prognostiziert, anknüpfend an die »Halbstarkenkrawalle«, Ende der 50er Jahre eine »sezessionistische Jugendgeneration«, die durch »sinnlose Ausbruchsversuche« gekennzeichnet sein wird. Er versteht diese Formen von Verhaltensweisen als Reaktion gegen die institutionalisierte, zivilisierte, moderne Welt. Er sieht die Formen der Ausbruchsversuche »aus der Welt in Watte« wechseln und prognostiziert weiter vor allem »moralische und religiöse Rigorositäten«. Er interpretiert die Verhaltensweisen in der Struktur des Generationenkonfliktes: Die Jugend könne das Erbe der modernen Gesellschaft (der Erwachsenen) nicht ohne Protest übernehmen.

Literatur

Bayrisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, Denkschrift zur Problematik des Halbwüchsigen, unveröffentlichtes Manuskrift, Oktober 1956

K. Bondy/K. Eyferth: Bindungslose Jugend. Eine empirische Studie über Arbeits- und Heimatlosigkeit, München und Düsseldorf 1952

K. Bondy/J. Braden/R. Cohen/K. Eyferth, „Jugendliche stören die Ordnung“: Bericht und Stellungnahme zu den Halbstarkenkrawallen, München 1957

A. Busemann, Geborgenheit und Entwurzelung, Ratingen 1955

G. Dehn: Großstadtjugend. Beobachtungen und Erfahrungen aus der Welt der großstädtischen Arbeiterjugend, Berlin 1919

Ders.: Proletarische Jugend. Lebensgestaltung und Gedankenwelt der großstädtischen Jugend, Berlin 1930

J. Dietz, „Die Halbstarken“, ein Bankrott der Erziehung?, in: Die Deutsche Berufs- und Fachschule, Wiesbaden, Heft 10/1956, S. 768-770

R. Fröhner, Wie stark sind die Halbstarken?, Bielefeld 1956

W. Gerson, Zur Erscheinung der Halbstarken, in: Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt, Heft 2/1957

E. Goldbeck, Die Welt des Knaben, Berlin 1926

H. Hetzer, Verstehen wir die werktätige Jugend unserer Zeit?, in: Lebendige Schule, Frankfurt/M., Heft 7/1956, S. 401-414

G. Kaiser: Randalierende Jugend. Eine soziologische und kriminologische Studie über die sogenannten »Halbstarken«, Heidelberg 1959

Ders., Die kriminalpolitische Bedeutung der »Halbstarken-Delikte«, in: Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt, Heft 3/4 1958

H. Kluth, Die »Halbstarken« – Legende oder Wirklichkeit, in: deutsche jugend, Heft 11/1956

H.H. Muchow: Flegeljahre. Beiträge zur Psychologie und Pädagogik der »Vorpubertät«, Ravensburg 1953

Ders., Jugend im Wandel. Die anthropologische Situation der heutigen Jugend, Schleswig 1953

Nordwestdeutscher Rundfunk: Jugendliche heute. Ergebnisse einer Repräsentativbefragung der Hörerforschung des Nordwestdeutschen Rundfunks, München 1955

H. Schelsky, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf und Köln 1957

G. Reimann: Verderbt, Verdammt, Verraten? Jugend in Licht und Schatten, Heidelberg 1955

C. Schulz: Die Halbstarken, Leipzig j1912

E. Stammler, Wird die Jugendarbeit der heutigen Situation der Jugend gerecht, in: Sozialpädagogik, Gütersloh, Heft 1/1959, S. 1 – 7

J. Steyer, Die Halbstarken? Gedanken zu einem Zeitproblem unserer Jugend, in: Schule und Psychologie, München/Basel, Heft 11/1956

H. Weinstock, Erziehung ohne Leitbild, in: Der Evangelische Erzieher, Frankfurt/M., Heft 6/1957, S. 147f

H. Zullinger: Jugendliche und Halbstarke. Ihre Psychologie und Führung, Zürich und Stuttgart 1958

zum Anfang | »Schlips« und »Stiefel«: auch Maßverhältnisse des Politischen.

von Peter Krahulec

Ein zorniger Ausblick

Die Dinge sind so schnell im Fluß, daß selbst die renommierten Autoren der Shell-Studie rasch ins Abseits geraten: „Die Jugendforscher haben eine weitgehend friedfertige deutsche Jugend ausgemacht. Nur jeweils zwei Prozent in Ost und West befürworteten im Sommer 1991 die Anwendung von Gewalt oder die Beschädigung fremden Eigentums (vgl.FR vom 4.11.92)- das ich nicht bitter lache!

Dies ist wieder eine Zeit, in der man gar nicht soviel essen kann, wie man »kotzen« möchte – oder dezenter gesagt: in der die Glocken pausenlos läuten müßten, in Fulda und anderswo. Drei Beispiele für viele, wie mit dem Problemfluß die Einschätzungen vergehen. Wer hätte nicht als Linker sein Mütchen gerne gekühlt am Bundesverband der Deutschen Industrie, an der Jungen Union oder gar am unsäglichen Willy Millowitsch. Der Kölner Schauspieler hat öffentlichkeitswirksam dem Aldi-Konzern mit Boykott gedroht, falls der nicht weiterhin Warengutscheine von AsylbewerberInnen annehme (FR vom 27.11.92.) Der Junge-Union-Bundesgeschäftsführer Axel Wallrabenstein äußerte sich zur Ablehnung der Deutschen Postreklame, eine Telefonkarte mit dem Schönhuber-Konterfei aus dem Verkehr zu ziehen (das könne nur zurückgewiesen werden, „wenn Geschlechtsteile oder ähnliches abgebildet sind“): „Gegen Geschlechtsteile auf einer Postkarte oder Telefonkarte hätte ich weniger einzuwenden als gegen das Gesicht von Herrn Schönhuber“ (FR vom 28.11.92). Und Tyll Necker, der Vorsitzende des BDI, hat die Firmen aufgefordert, durch „aktive Aufklärung“ der Belegschaften zum „Kampf gegen Rechtsradikalismus“ beizutragen und Beschäftigte, die gegen Ausländer Stimmung machen, zu entlassen.

Verschiedene Motivationen gewiß, aber sie zeigen die beschämende Breite eines Problems, vor dem es auch anderen Schutz geben muß als Giordanos ehrwürdigen Aufruf zum „bewaffneten Selbstschutz“. Vor der »Libanonisierung« des deutschen Rassismus steht (mit Giordano notabene) das Verantwortlichmachen von Kohl persönlich und seiner Regierung für alles, „was daraus auf Grund der unentschuldbaren staatlichen Schwäche gegenüber den rechten Mördern entstehen könnte“. (G., taz vom 25.11.92).

Und davor stehe die Prüfung der Frage, die Wolfgang Wippermann der eigenen akademischen Zukunft aufgegeben hat: „Pogrom oder Protest?“ (vgl. taz vom 11.11.92); die notwendige Differenzierung, die Benno Hafeneger hier eingangs angemahnt hat. Nur mit dem Unterschied freilich, daß dort, wo die »Opfer-der-Modernisierungs«-These versagt, nicht die Marginalisierten, sondern die alltäglichen Rassisten zum Vorschein kommen müssen!

Es lassen sich weiß Gott, oder wer auch immer, nicht dem modischen Trend folgend, alle politischen Erscheinungen nur als abgeleitete verstehen. Besteht nicht vielmehr seit frühen SINUS-Tagen her „die Wirksamkeit von rassistischen Ideologien und die Kontinuität des rassistischen Einstellungspotentials innerhalb der deutschen Bevölkerung“ (Wippermann, ebenda) sui generis? Und sind die rassistischen Ausbrüche unserer Tage nicht die Folge davon, daß die politischen Hemmschwellen systematisch gesenkt wurden?

„Wenn der »Schlips« vor Scheinwerfern »Ausländerbegrenzung« fordert, löst der »Stiefel« sie in der Dunkelheit ein“, hat Bodo Moorshäuser (Hauptsache Deutsch, 1992) solche Verschiebung des politischen-publizistischen Diskurses nach rechts genannt, gepaart – und damit nicht weniger schlimm – mit dem „Rechtsruck aus Angst vor dem Rechtsruck“ (Spiegel 41/92) Engholmscher Provenienz. Von »Bitburg« über den »Historikerstreit«, von »Hoyerswerda« als Auslöser für Debatten wie: nun müsse aber das Ausländer-Problem endlich gelöst werden (Süssmuth unvergessen!) zu den Versuchen »Peenemünde« zu feiern (Riedle) und den Absagen an einen sogenannten Möllner »Beileidstourismus« schreitet der Verfall veröffentlichter Moral in nunmehr fast täglicher Rasanz dahin, daß vermutet werden muß: Soll hier (perverse) »Normalität« erzeugt werden?

Ein Effekt zählt schon zur anders gemeinten »Erbschaft unserer Zeit«: Der Rechtsstaat verabschiedet sich, wo Staatsorgane den Terror instrumentalisieren und die Täter mit einem »Verständnis« entschuldigen, das jedem Verstehen entgegengesetzt ist.

In solcher grundsätzlichen »Schieflage« werden auch noch so gut gemeinte Ansätze der Jugendhilfe weitgehend hilflos bleiben. Zudem: Gut gemeint ist eben nur so gemeint! Was »Jugendhilfe als Querschnittsaufgabe« leisten müßte, hat etwa der Arbeitskreis der AGJ (Arbeitsgemeinschaft Jugendhilfe) und KFS (Konferenz der Fachbereichsleitungen Sozialwesen) umfänglich klargestellt (z.B. in: AGJ-Mitteilungen 3/92). Eine „Verprojektisierung“ (Norbert Struck), selbst in Form der 20-AgAG-Millionen (Aktionsprogramm der Bundesregierung gegen Gewalt und Ausländerfeindlichkeit in den neuen Bundesländern) lenkt ab von der eigentlichen Aufgabe und ihrer Größe im deutschen Einigungsprozeß. Eine Maßzahl des Politischen auch hierzu: Damit sich im Frühsommer '92 die Staatschefs der G7-Staaten, also sieben!, in München treffen konnten, wurden sage und schreibe 30 Millionen ausgegeben (AP vom 25.9.92). Für die Jugend eines ganzen immerhin-auch Staates schrumpfen dann die Größenordnungen in Bezug auf die realen Prozesse politischer Sozialisation junger Menschen, die nötig wären, um sie kompetent zu unterstützen und mit ihnen Wege aufzuspüren, auf denen sie demokratisch und solidarisch den ihnen zugemuteten Belastungen entgegentreten können.

Ich fasse mit Norbert Struck zusammen (Jugendhilfe-Informationen 5/92): Ich plädiere dafür, die „Diskussion um Rechtsextremismus und Rassismus nicht allzu schnell mit der Diskussion um die sozialen Belastungen und Modernisierungszumutungen zu verknüpfen“ – aber sie auch nicht, und darin liegt das Problem, zu vergessen. Allerdings kann angesichts der Schere zwischen den Straftaten auf »der Straße« und den Beschwichtigungen auch in wissenschaftlichen Papieren, Haß und Terror gegen ethnische und andere Minderheiten nicht vorschnell aufgelöst werden in Deprivationen und Desorientierungen. Sie müssen primär als das wahrgenommen werden, was sie zunächst auch sind: „Verletzungen grundlegender Menschenrechte“ (Struck). Jugendliche Straftäter im kapitalen Zusammenhang, das sind zuerst Straftäter und dann auch noch Jugendliche!

Viel leichter wird's nicht dadurch …

Anmerkung

Bei den Texten unter II., III. und IV. handelt es sich um überarbeitete Fassungen der Redaktion aus: Hessischer Jugendring: Jugend und Gewalt. Materialien zur aktuellen Diskussion. Materialien aus dem Hessischen Jugendring, Band 4, Wiesbaden 1992

Benno Hafeneger ist Professor am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Fulda.
Alexander Klett hat mehrere Jahre in der Jugendarbeit gearbeitet und ist Lehrbeauftragter am Fachbereich Sozialarbeit der Fachhochschule Frankfurt a.M.
Claudia Flesch war bis September 1991 Jugendbildungsreferentin beim Hessischen Jugendring.
Peter Krahulec ist Professor am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Fulda.
Dr. Gunter Pilz ist akademischer Oberat am Institut für Sportwissenschaften der Universität Hannover