Dossier 91

Palästina unter der Besatzung

Alltag, Hintergründe, Auswirkungen

von Nasser Alqaddi, Markus Bickel, Eness Elias, Shir Hever, Norman Paech, Paul Schäfer, Angelika Timm und Sahar Vardi

Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden e. V.
und der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Beilage zu Wissenschaft und Frieden 1/2021

ermöglicht durch finanzielle Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Worum es geht: »Facts on the ground«

von Paul Schäfer

Es war ein bemerkenswerter Schritt, dass ein breiter Querschnitt von Repräsentant*innen öffentlicher Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen eine »Initiative GG 5.3 Weltoffenheit« startete, die am 10.12.2020 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Die Unterzeichner*innen der Initiative wollen damit die Freiheit von Wissenschaft und Kunst verteidigen, die sie durch zunehmende Aktionen gegen Kritiker*innen israelischer Politik hierzulande bedroht sehen. Dass es in jüngerer Zeit immer wieder Einschränkungen (Raumvergabe, Ausladungen von Referent*innen etc.) für Veranstalter*innen gegeben hat, die sich mit der Besatzung palästinensischen Territoriums nicht abfinden wollen, ist schwerlich zu bestreiten. Wer die israelische Besatzungspolitik und die Diskriminierung der Palästinenser*innen prinzipiell in Frage stellt, läuft Gefahr als Antisemit*in stigmatisiert zu werden. Das schränkt die Möglichkeiten einer offenen Debatte über den israelisch-palästinensischen Konflikt ein. Eine solche Debatte aber halten wir für dringend notwendig und auch dadurch ist die Entstehung des hier vorliegenden Dossiers motiviert.

Um diesen Streit, der hierzulande eher weltanschaulich ausgetragen wird und in dem vornehmlich über Antisemitismus, deutsche Vergangenheit und deutsche Schuld am Holocaust, über Grundwerte und Moral gesprochen wird, geht es hier nicht. Wir versuchen uns in diesem Dossier mit der empirischen Realität der israelischen Besatzung in Palästina auseinanderzusetzen. Die Verteidiger*innen israelischer Sicherheitspolitik sagen gerne, die Kritik an Israel müsse sich auf Tatsachen stützen und sich nicht von Ressentiments leiten lassen. Das finden wir völlig richtig. Dieses Dossier trägt daher einige zentrale Aspekte des israelischen Besatzungsregimes zusammen: Wie stellt sich die Besatzung, wie stellen sich angekündigte Gebietsannexionen aus völkerrechtlicher Sicht dar? Wie sieht das tägliche Leben in den besetzten Gebieten aus und wie ist es um die wirtschaftliche und soziale Lage der Menschen dort bestellt? Wie sind die natürlichen Ressourcen verteilt? Welche Rechte und Freiheiten haben die Bewohner*innen in den besetzten Gebieten, oder welche eben nicht? Welchen Einfluss und welche Konsequenzen hat das Regime auf die israelische Gesellschaft?

Wenn wir dabei Dinge falsch, fehlerhaft, ungerechtfertigt darstellen, dann möge man dies kritisieren. Aber bitte gestützt auf nachvollziehbare Tatsachen.

Uns geht es in diesem Dossier vor allem darum, die Besatzung und ihre konkreten Folgen zu beleuchten. Dies auch deshalb, weil unserer Überzeugung nach eine friedliche und gerechte Lösung dieses gewaltträchtigen Konflikts nur gelingen kann, wenn alle Beteiligten die tatsächlichen Sachverhalte zur Kenntnis nehmen. Diese müssen auch den Ausgangspunkt für neue Vorschläge für einen möglichen Friedensschluss bilden.

Ein Axiom hat für uns aber a priori Gültigkeit: Das von Israel seit nunmehr 54 Jahren praktizierte Besatzungsregime, das seit Jahrzehnten eine aktiv vorangetriebene israelische Besiedlungspolitik möglich macht, die wiederum mit der Verdrängung der Palästinenser*innen verbunden ist, ist ein Haupthindernis auf dem Weg zum Frieden. In unzähligen Dokumenten der Vereinten Nationen und ihrer Unterorganisationen wird genau darauf hingewiesen. Der von israelischer Seite oft vorgebrachte Einwand, die UNO sei nicht »neutral« und hätte Israel einseitig zum Bösewicht erklärt, ist nicht überzeugend. Die UNO bezieht sich in ihren Resolutionen durchgängig auf völkerrechtliche Normen und Regelungen, die für alle Staaten gelten. Was die Menschenrechtsverletzungen betrifft, stützt sie sich auf triftige Beweise, die nicht widerlegt worden sind. Der Hinweis der israelischen Politik auf Widersprüche in der Politik der Staatengemeinschaft (»double standards«) ist durchaus berechtigt, wirkt in diesem Zusammenhang aber eher als Ablenkung. Die grundlegende Problematik besteht darin, dass Israel seit 1948 eine existentielle Gefährdung feststellt und daraus einen fortdauernden Notstand ableitet. Das konnte in der Tat für die Gründungsjahrzehnte geltend gemacht werden, entspricht den gegenwärtigen politischen Konstellationen und militärischen Kräfteverhältnissen aber nicht mehr. Unabhängig davon gibt es keine Rechtfertigung dafür, dass die völkerrechtlichen Normen und die Menschenrechte nicht in Gänze für Israel gelten sollten. Nicht mehr und nicht weniger fordern Palästinenser*innen – mit ihnen engagierte Jüdinnen und Juden – und die internationale Staatengemeinschaft ein.

Begriffe, Verständnisse, Vorbemerkungen

Ein paar Vorbemerkungen sollten gemacht werden, wenn wir das israelische Besatzungsregime in den Fokus rücken:

  • Der Begriff der »Besatzung« lässt vermuten, dass es sich um eine temporäre, vorübergehende Erscheinung handelt. Davon kann nach 54 Jahren keine Rede sein. Es ist mittlerweile ein festgefügter, auf Dauer angelegter Zustand.
  • »Besatzung« meint in diesem Fall, dass die palästinensische Bevölkerung in den besetzten Gebieten einer umfassenden Kontrolle unterworfen und in ihren Rechten drastisch beschnitten ist. Dies gilt für das gesamte Westjordanland, aber letztlich auch für den Gaza-Streifen. Überall haben israelische Sicherheitskräfte polizeilichen, überwachenden oder kontrollierenden Einfluss auf das Leben der Palästinenser*innen.
  • Unter dem Strich erscheint es mit Blick auf diesen Sachverhalt zutreffender, von einem »einheitlichen« Staatsgebiet Israels auszugehen. Im Rahmen dieser »Staatsmacht« sind die Bewohner*innen allerdings nach Region und Ethnie mit sehr unterschiedlichen Rechten und Entfaltungsmöglichkeiten ausgestattet. Vor Ort hat man bisweilen den Eindruck, dass es um zwei getrennte Welten geht; die Besatzung ist in der israelischen Öffentlichkeit eher ein Nicht-Thema. Aber wie sehr israelische Politik, Wirtschaft und Gesellschaft mit der Besatzung verflochten sind, wird an einigen Punkten überdeutlich: Der Rolle des Militärs und der Sicherheitskräfte insgesamt, der extrem privilegierten Stellung der Siedlercommunity und ihrer Führung, den gängigen Freund-Feind-Prägungen, aber auch der Verteilung der natürlichen Ressourcen und vielem mehr.
  • Der in der Öffentlichkeit gängige Begriff der »Siedlungen« taugt wenig, um die Verhältnisse, die sich inzwischen herausgebildet haben, adäquat abzubilden. Aus den Siedlungen sind Städte mit einer fünfstelligen Bevölkerungszahl entstanden. Die ganze räumliche Ordnung des Westjordanlands ist auf das »Siedlungsprojekt« zugeschnitten worden. Neue Industrieparks, Steinbrüche, Sperrzäune, Straßen, militärische Stützpunkte haben die alten Verhältnisse zusätzlich umgewälzt und eine neue geopolitische und geoökonomische Ordnung geschaffen. Um dies zuzuspitzen: Auf der Seite der israelischen Siedlungen wird die bestmögliche Infrastruktur aufgebaut und Wirtschaftsentwicklung massiv gefördert, auf der Seite der Palästinenser*innen wird die Wirtschaftsleistung durch Abriegelungen, Gängelung und Unterlassung ökonomischer Förderung drastisch begrenzt.
  • Das Besiedlungsprojekt findet nicht im Niemandsland statt, sondern ist in den allermeisten Fällen mit Enteignung und Vertreibung von Palästinenser*innen verbunden. Im politischen Meinungsstreit, aber auch in Teilen der wissenschaftlichen Literatur, wird für diesen Vorgang der Begriff der »Kolonisierung« verwendet. Richtig ist, dass es sich um einen systematischen Verdrängungsprozess eines Teils der Bevölkerung zugunsten eines anderen Teils handelt. Gewisse Parallelen zum Siedlerkolonialismus in den USA und Südafrika sind zu erkennen. Der Verweis auf die Verdrängung bzw. Unterwerfung einer diskriminierten Bevölkerungsgruppe sollte aber nicht die aus historischen Besonderheiten hervorgehenden Eigenarten überdecken. Judenverfolgung und Shoah dürfen als Legitimationsgrund dieser Staatsgründung nicht ausgeblendet werden.

Siedlungskolonisierung und die Zukunft der Zweistaatenlösung

Der Prozess der Kolonisierung hat in den letzten Jahren unter Ministerpräsident Netanjahu neue Dimensionen erreicht. Im Windschatten der Entscheidungen und symbolpolitisch bedeutsamen Gesten der US-Regierung unter Donald Trump (Verlegung der Botschaft nach Jerusalem u.a.) konnte dieser Prozess noch einmal beschleunigt werden. Dadurch hatte die von Netanjahu für den Sommer 2020 angekündigte Teil-Annexion palästinensischen Territoriums eher symbolische Bedeutung. Israel ist darauf nicht angewiesen, Gebiete formell zu annektieren, da es ohnehin weitgehend die physische und ökonomische Kontrolle über das Westjordanland hat. Nach neueren Planungen sollen bis zu einer Million Menschen in Ostjerusalem und in der Westbank angesiedelt werden. Dazu ist der großzügige Ausbau der Infrastruktur vorgesehen, vor allem neuer Straßentrassen, die die Siedlungen eng an das israelische Kernland anbinden und die die Palästinensergebiete weiter zerschneiden werden (Breaking the Silence 2020).

Wie unter solchen Bedingungen ein lebensfähiger palästinensischer Staat im Rahmen einer Zwei-Staatenlösung überhaupt noch entstehen könnte, ist fraglich. Ob es unter der neuen US-Präsidentschaft Bidens neue Chancen für die Aufnahme von Verhandlungen zwischen beiden Seiten geben wird, ist ebenso unklar. Voraussetzung dafür wäre, dass das Siedlungsprojekt erst einmal unterbrochen und echte Verbesserungen im Alltagsleben der Palästinenser*innen durchgesetzt würden. Dies wird nur durch äußere Einflussnahme (USA, EU, UN) erreicht werden können. Nötig sind dafür neue Gedanken über eine praktikable Friedenslösung – basierend auf „facts on the ground“.

Literatur

Breaking the Silence (2020): Highway to Annexation. Israeli Road and Transportation Infrastructure Development in the West Bank. Dezember 2020.

Paul Schäfer ist Mitglied der Redaktion von Wissenschaft & Frieden, ehemaliger Bundestagsabgeordneter der Partei DIE LINKE und hat dieses Dossier konzeptionell und inhaltlich ins Leben gerufen.

Landnahme – State Building – Siedlungspolitik

Historische und aktuelle Paradigmen im israelisch-palästinensischen Widerspruchsgeflecht

von Angelika Timm

Seit dem Ersten Weltkrieg beeinflusst der israelisch-palästinensische Konflikt nachhaltig das Geschehen in der Nahostregion. Die Ansprüche zweier Völker auf ein begrenztes Territorium, ihr Ringen um nationale Identität, Legitimität und staatliche Souveränität, ihr Streben nach anerkannten Grenzen, Sicherheit und Menschenrechten, aber auch der Streit um die Ressourcen und Wasserwege der Region schufen virulente Krisenpotenziale. Verbunden waren die Spannungen stets mit internationalen Gegebenheiten bzw. Großmachtinteressen sowie mit innenpolitischen Verwerfungen und Herausforderungen. Dem Konfliktverlauf lag stets ein kompliziertes Verhältnis von grundsätzlichen Interessenlagen, Widersprüchen, bestimmenden Ursachen und konkretem Geschehen zugrunde. Mit Recht kann daher von einem permanenten Paradigmenwechsel gesprochen werden.

Entstehung und politisches Spektrum der zionistischen Bewegung

Eng mit dem Geschehen in Europa und im Nahen Osten verbunden, entstand am Ende des 19. Jahrhunderts die zionistische Bewegung. Sie suchte nach Antworten auf die Herausforderungen der Moderne an das europäische Judentum – insbesondere auf den erstarkenden Antisemitismus und auf dominante Assimilationstrends in der Diaspora. Beeinflusst von Nationalstaatsdenken und dem bürgerlichen Nationalismus jener Zeit, verband sie den nationalen Gedanken mit spezifisch jüdischen Geistesbewegungen. Im Mittelpunkt stand das Ziel, dem jüdischen Volk in Palästina als dem »Land der Väter« eine sichere Heimstätte zu schaffen.

Der politische Zionismus erhielt 1897 durch die Gründung der Zionistischen Weltorganisation (ZWO) einen organisatorischen Rahmen. Das im Baseler Programm umrissene Projekt sollte insbesondere durch „Besiedlung Palästinas mit jüdischen Ackerbauern, Handwerkern und Gewerbetreibenden“ (Haumann 1997, S. 22) sowie politische Unterstützung seitens der Großmächte verwirklicht werden. Zionistische Institutionen tätigten Landkäufe in Palästina und widmeten sich Siedlungsfragen.

Von Anbeginn entwickelte sich der Zionismus als mehrgliedrige Bewegung. Es bildeten sich vier Hauptrichtungen heraus, die bis heute – mit veränderter Struktur und Programmatik – in Israel fortbestehen. Vertreter des religiösen Flügels strebten und streben die Entfaltung jüdischen Lebens entsprechend der »Halacha« (überlieferter jüdischer Gesetzeskodex) und unbeeinflusst durch assimilatorische Tendenzen an. Eine Synthese sozialdemokratischen und zionistischen Gedankenguts propagierten jüdische Arbeiterparteien. Ihr Ziel war ein sozialistischer Judenstaat; Palästina sollte vor allem durch körperliche Arbeit – insbesondere in der Landwirtschaft – in Besitz genommen werden. Bürgerlich-liberale Zentrumsparteien traten für die Errichtung eines bürgerlichen Gemeinwesens nach westlichem Vorbild ein. Mitte der 1920er Jahre formierte sich zudem ein konservativ-militanter Flügel, der einen jüdischen Staat zu beiden Seiten des Jordan anstrebte und sich zunehmend durch extrem-nationalistische Positionen und Aktivitäten auszeichnete.

Weltpolitische Rahmenbedingungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Während der ersten zwei Jahrzehnte nach Gründung der ZWO blieb deren Anhängerschaft auf Europa bzw. die USA beschränkt. Sie erhöhte sich maßgeblich mit Veränderung der internationalen Rahmenbedingungen während des Ersten Weltkriegs. Insbesondere die britische Regierung erkannte den Stellenwert Palästinas für das globale Ringen um Neuaufteilung der Welt. Sie suchte Unterstützung sowohl seitens der arabischen Nationalbewegung als auch des Zionismus, um eigene Kolonialinteressen im Nahen Osten zu realisieren. Während sie dem Scherifen von Mekka 1915/16 die Schaffung eines arabischen Großreichs in Aussicht stellte, sicherte sie 1917 der ZWO mit der Balfour-Deklaration ihre Unterstützung für die „Schaffung einer nationalen Heimstätte in Palästina für das jüdische Volk“ (Timm 2017, S. 23) zu. Im Mai 1916 hatten Großbritannien und Frankreich im geheim gehaltenen Sykes-Picot-Abkommen bereits vereinbart, die arabischen Provinzen des Osmanischen Reichs unter sich aufzuteilen. Palästina, im Verlauf des Krieges von britischen Truppen besetzt, wurde dementsprechend durch Beschluss der alliierten Mächte bzw. des Völkerbunds dem Mandat Großbritanniens unterstellt.

Zionistische Besiedlung und arabische Nationalbewegung

Im osmanisch beherrschten Palästina lebten 1882 annähernd 24.000 Jüdinnen und Juden in einem Umfeld von ca. 450.000 muslimischen bzw. christlichen Araber*innen. Die Situation veränderte sich gravierend durch das zionistische Siedlungswerk. Bis 1914 verdoppelte sich die Zahl der jüdischen landwirtschaftlichen Siedlungen und Siedler*innen im Land. Neben privaten Plantagen entstanden ab 1909 jüdische Kollektivsiedlungen (Kibbuzim und Moschavim). Die Landnahme zielte darauf ab, die Immigrant*innen in Palästina zu verwurzeln und einen eigenständigen jüdischen Wirtschaftssektor zu schaffen. Der Siedlungsort berücksichtigte zunächst noch die gegebenen Besitzverhältnisse, wurde vor allem jedoch – so der sozialdemokratische Politiker und General Jigal Allon – durch die „Schaffung einer politischen jüdischen Präsenz in allen Teilen des Landes“ (zit. nach Timm 1998, S. 20) determiniert. Die „Eroberung des Bodens“ war verbunden mit der Forderung nach „Eroberung der Arbeit und des Marktes“ (Slutsky 1973, S. 217f).

Die zionistische Landnahme in Palästina geriet sehr bald in Widerspruch zur entstehenden arabischen Nationalbewegung. Es bildeten sich zwei rivalisierende nationalistische Bewegungen heraus, die unweigerlich auf eine Konfrontation zusteuerten“ (Segev 2005, S. 12). Die arabischen Unruhen in den Jahren 1920, 1921, 1929 und 1936-39 richteten sich jedoch nicht nur gegen die zionistische Landnahme, sondern zunehmend auch gegen die Mandatsbehörden. Sie wurden von britischer Polizei und Armee blutig niedergeschlagen.

1948: Israelische Unabhängig­keit versus arabische Nakba

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs erschütterten die Nachrichten vom millionenfachen Judenmord, begangen durch Deutsche und deren Verbündete, die Weltöffentlichkeit. Tausende jüdische Überlebende der Shoah, notdürftig untergebracht in DP-Lagern in einer Reihe europäischer Staaten, richteten ihre Hoffnungen auf Palästina.

Zeitgleich verschärften sich im Mandatsgebiet die Interessengegensätze zwischen Zionist*innen, arabischen Nationalist*innen und britischer Kolonialadministration. Großbritannien sah sich im Februar 1947 veranlasst, die Vereinten Nationen (VN) zu bitten, die Palästinafrage auf die Tagesordnung der Vollversammlung der Weltorganisation zu setzen. Nach monatelanger Prüfung sprach sich diese am 29. November 1947 für die Beendigung des britischen Mandats aus. In dem ca. 25.000 km2 umfassenden Gebiet mit einer Bevölkerung von nunmehr 1,3 Millionen Araber*innen und 608.000 Jüdinnen und Juden sollten ein „unabhängiger arabischer Staat und ein unabhängiger jüdischer Staat sowie das […] internationale Sonderregime für die Stadt Jerusalem“ (Timm 2017, S. 110f) entstehen. Als Klammer für das zwei- bzw. dreigeteilte Palästina war eine Wirtschaftsunion vorgesehen.

Die 1945 in Kairo gegründete Arabische Liga lehnte den Teilungsplan kategorisch ab. Die Jewish Agency, 1922 als Organ der ZWO gegründet, um die Interessen der jüdischen Bevölkerung Palästinas gegenüber der Mandatsmacht zu vertreten, begann hingegen umgehend mit Vorbereitungen für die Staatsgründung. Bereits unmittelbar nach dem VN-Beschluss brachen erbitterte Gefechte zwischen jüdischen und arabischen Milizen aus. Die Kämpfe eskalierten im April 1948. Wenige Stunden vor dem offiziellen Ende des britischen Mandats proklamierte David Ben Gurion am 14. Mai 1948 in Tel Aviv den Staat Israel. Zur parallelen Ausrufung des völkerrechtlich legitimierten arabisch-palästinensischen Staates kam es nicht.

In der Nacht vom 14. zum 15. Mai 1948 marschierten Kampfeinheiten einer von Ägypten, Syrien, Libanon, Jordanien und Irak gebildeten Militärallianz in Palästina ein. Der erste Nahostkrieg begann. Er endete im Januar 1949 mit dem militärischen Sieg Israels. Viele Staaten der internationalen Gemeinschaft erkannten die vereinbarten Waffenstillstandslinien, die sogenannte »Grüne Linie«, als Landesgrenze Israels an.

Eine schwere Friedenshypothek bildeten die palästinensischen Flüchtlinge. Die Flucht bzw. Vertreibung von etwa 700.000 arabischen Bewohner*innen aus ihren Heimatorten im früheren britischen Mandatsgebiet grub sich als »Nakba« (Katastrophe) tief in das kollektive Gedächtnis der arabischen Bevölkerung Palästinas ein.

Der palästinensische Exodus hatte im Dezember 1947 mit der Flucht eines Teils der städtischen Oberschicht begonnen; es folgten die Einwohner*innen ganzer Stadtviertel und Dörfer. Eine zweite Fluchtwelle wurde durch die Offensive der zionistischen Militärorganisation »Haganah« sowie Terrorakte der jüdischen Untergrundorganisationen »Ezel« und »Lechi« im April/Mai 1948 ausgelöst. Die größte Gruppe der arabischen Bevölkerung jedoch floh im Gefolge der unmittelbaren Kriegshandlungen. Land- und Immobilienbesitz der Vertriebenen bzw. Geflüchteten wurden vom israelischen Staat angeeignet und während der Folgejahre insbesondere durch jüdische Immigrant*innen aus dem Orient bzw. aus Europa, den USA, Südafrika und anderen Staaten neu besiedelt. Mehr als 300 arabische Ortschaften verschwanden von der Landkarte.

Im israelisch-palästinensischen Konflikt spielen die einander weitgehend ausschließenden Geschichtsbetrachtungen – Unabhängigkeitskrieg versus Nakba – eine prägende Rolle. Bis heute plädieren nur wenige Intellektuelle und zivilgesellschaftliche Akteure dafür, beide Narrative gleichberechtigt in die nationale Erinnerungskultur beider Völker aufzunehmen.

Israel und Palästina im Kalten Krieg

Die Gründung des Staates Israel, verbunden mit dem Flüchtlingsproblem, bildete eine Zäsur im israelisch-palästinensischen Verhältnis. Die Chancen für die Ausrufung eines arabisch-palästinensischen Staates waren, infolge der Besetzung der Hälfte der dafür seitens der VN vorgesehenen Territorien durch Israel während des ersten Nahostkriegs, die Eingliederung des Westjordangebiets und Ostjerusalems in das Haschemitische Königreich Jordanien sowie die Übertragung der Verwaltung über den Gazastreifen an Ägypten, für einen langen Zeitraum hinfällig geworden.

Während der folgenden Jahrzehnte prägte der Kalte Krieg die Entwicklungen in der Region. So unterstützte die Sowjetunion anfangs zwar Israel, kooperierte jedoch ab 1956 mit Ägypten und anderen arabischen Staaten. Israel dagegen verstand sich als Teil der westlichen Welt und entwickelte enge Beziehungen insbesondere zu den USA. Vor dem Hintergrund der Ost-West-Gegensätze verstärkten sich die arabisch-israelischen Spannungen.

Einen gravierenden Einschnitt bildete der Junikrieg 1967, in dessen Verlauf die israelische Armee das Westjordangebiet einschließlich Ostjerusalems, den Gazastreifen, die syrischen Golanhöhen und die ägyptische Sinai-Halbinsel besetzte. Das palästinensische Flüchtlingsproblem verschärfte sich gravierend. Von den 1,3 Millionen palästinensischen Bewohner*innen des Westjordangebiets und des Gazastreifens flohen etwa 500.000 in die arabischen Nachbarstaaten; 220.000 von ihnen waren Vertriebene des Kriegs von 1948/49.

Für die Nahostpolitik der USA gewann Israel nach 1967 zunehmend strategische Bedeutung. Spenden, Schenkungen und Kredite in Milliardenhöhe stärkten die Wirtschaft und das Militärpotenzial des Landes. Die osteuropäischen Staaten – mit Ausnahme Rumäniens – dagegen schlossen während des Sechstagekrieges ihre Botschaften in Tel Aviv. Sie intensivierten während der Folgejahre ihre politischen, wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen zu arabischen Staaten und zur 1964 gegründeten Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO).

Siedlungspolitik der Arbeitspartei und des Likud

Der Junikrieg 1967 bildete für die israelische Gesellschaft einen tiefen Einschnitt. Hinsichtlich der besetzten Gebiete spaltete sich die Nation in Befürworter*innen und Gegner*innen der Okkupation – in »Falken« und »Tauben«. Die für weitere zehn Jahre in Regierungsverantwortung verbleibende sozialdemokratische Arbeitspartei (Avodah) schloss Grenzveränderungen nicht prinzipiell aus, suchte jedoch vor allem nach »Faustpfändern« für künftige Friedensgespräche. Sie verantwortete in den besetzten Gebieten bis 1977 die Gründung von 95 Siedlungen, in denen etwa 100.000 jüdische Siedler*innen lebten. In Ostjerusalem und seinen Vororten nahmen im selben Zeitraum etwa 45.000 bis 50.000 jüdische Bürger*innen Israels ihren Wohnsitz.

Die 1967 eingeleitete Rechtsentwicklung der israelischen Gesellschaft manifestierte sich in den Knessetwahlen von 1977. Der Sieg Menachem Begins und des Likud symbolisierte die „Ablösung des hegemonialen Arbeiterzionismus durch ein Bündnis aus revisionistischer Rechten und Siedlerbewegung“ (Hagemann 2006, S. 159). Das spiegelte sich auch in der Besatzungspolitik wider. Der Likud folgte der Strategie, die 1967 besetzten Territorien umfassend zu kolonisieren und wirtschaftlich mit Israel zu verflechten. Nach Rückgabe der Sinai-Halbinsel an Ägypten und Auflösung aller dort befindlichen Siedlungen (1982) konzentrierten sich die rechtskonservativen Regierungen auf das Westjordangebiet und den Gazastreifen. Eine Blaupause für die Fortführung des zionistischen Siedlungswerks bildete der von Landwirtschaftsminister Ariel Scharon 1977 entwickelte Plan, strategische Schlüsselpunkte zu besetzen, Siedlungsachsen anzulegen und die Erweiterung palästinensischer Gemeinden durch neu erbaute jüdische Ortschaften einzuengen bzw. zu verhindern. 1992 betrug die Zahl der israelischen Siedler*innen im Westjordangebiet bereits 101.100, im Gazastreifen 4.300, in Ostjerusalem 141.000 und auf den Golanhöhen 12.000.

In die ersten beiden Legislaturperioden des Likud fallen der Knessetbeschluss vom 30. Juni 1980 über das »Vereinigte Jerusalem« als Hauptstadt Israels und der Regierungsbeschluss zur Annexion der syrischen Golanhöhen vom 14. Dezember 1981. Beide Gesetze standen im Widerspruch zum internationalen Recht und erhöhten das regionale Konfliktpotenzial drastisch. In Israel konnte die nationalreligiöse Siedler*innenbewegung, geführt von der 1974 gegründeten Organisation »Gusch Emunim«, ihren Einfluss auf Gesellschaft und Politik ausdehnen. 1980 wurde eine politische Vertretung der Siedler*innen, »Moezet Jescha«, geschaffen, die in Israel zunehmend politischen Einfluss ausübte.

Die weitgehend kompensationslose, illegale Enteignung des palästinensischen Bodens und insbesondere der Wasserressourcen sowie die forcierte Siedlungspolitik gehörten zu den Ursachen für die im Dezember 1987 in Gaza und im Westjordangebiet ausbrechende Erhebung der Palästinenser*innen, die Intifada. Vor allem die junge Generation rebellierte gegen die Besatzungsmacht. Der zunächst sporadische und zumeist spontane Widerstand ging in eine organisierte Erhebung über, die das israelische Militär »mit eiserner Faust« niederzuschlagen suchte. Auch im israelischen Kernland vertieften sich die innenpolitischen Widersprüche. Während sich einerseits die Siedlerbewegung und die Rechte generell radikalisierten, traten andererseits Anti-Okkupationskräfte (»Peace Now«, »Gusch Schalom« u. a.) wieder stärker in Erscheinung.

Auf der Suche nach Kompromissen

Das Ende des Kalten Krieges ließ den Nahen Osten nicht unberührt. Die Implosion des Warschauer Vertragssystems und die Ergebnisse des Golfkriegs führten zu neuen regionalen Konstellationen. Sie ermöglichten es den USA, zum alleinigen Mittler im israelisch-palästi­nen­sischen Konflikt aufzusteigen. Die unter US-Schirmherrschaft zwischen Israel und der PLO am 13. September 1993 in Oslo vereinbarte »Prinzipienerklärung über die vorübergehende Selbstverwaltung« wurde als „Wendepunkt im Verlauf des Nahostkonflikts“ (Ries 2000, S. 13) perzipiert. Die gegenseitige politische Anerkennung von Israel und PLO schuf die Voraussetzungen für weitere Vereinbarungen; dazu zählen das Autonomieabkommen über Gaza und Jericho sowie der Friedensvertrag zwischen Israel und Jordanien, das Abkommen über die Ausdehnung der palästinensischen Selbstverwaltung im Westjordangebiet und den Abzug der israelischen Armee aus acht städtischen palästinensischen Ballungsgebieten. Die besetzten palästinensischen Lebensräume wurden in drei Zonen mit unterschiedlicher Herrschafts- und Verwaltungsqualität geteilt.

Die Hoffnungen auf eine friedliche Regelung des Konflikts erfüllten sich nicht. Die Rückgabe von Teilen des biblischen »Erez Jisrael« an die Palästinenser*innen stieß auf harten Widerstand seitens der radikalen Rechten, insbesondere der Siedlerbewegung, und gleichfalls maßgeblicher religiöser Autoritäten. Am 4. November 1995 wurde Ministerpräsident Jizchak Rabin auf einer Friedenskundgebung in Tel Aviv Opfer des Mordanschlags durch einen jüdischen religiösen Fanatiker.

Alle folgenden israelischen Regierungen führten die Siedlungspolitik fort bzw. intensivierten sie. Nach dem 2005 erfolgten Rückzug der israelischen Armee aus dem Gazastreifen und der Räumung aller dort befindlichen jüdischen Siedlungen konzentrierte sich die israelische Politik in den besetzten Gebieten auf das Westjordanland. Der Radikalisierung und der zunehmenden Einflussnahme der Siedlerbewegung auf Politik und Gesellschaft wurde kaum Paroli geboten. Nach Angaben der Organisation »Peace Now« vervierfachte sich seit den Abkommen von Oslo die Zahl israelischer Siedler*innen im Westjordangebiet; sie betrug 2019 bereits 441.600.1 Hinzu kamen ca. 200.000 israelische Bürger*innen, die in arabischen Stadtteilen Ostjerusalems siedelten. Die illegitime Aneignung weiter Teile der Westbank durch Israel und die Zerstückelung der für den palästinensischen Staat vorgesehenen Gebiete bedeuteten de facto das Ende der Zweistaatenoption.

»Wider den Strom«

Innerhalb und außerhalb der zionistischen Bewegung gab es stets Stimmen linker Demokrat*innen, die sich für jüdisch-arabische Kooperation aussprachen. Seit 1967 gilt im israelischen Sprachgebrauch als »links« vor allem die kritische Haltung zur Besatzungspolitik. Die Anti-Okkupationsbewegung forderte (und fordert) insbesondere, die Menschenrechte in den besetzten Gebieten einzuhalten und einvernehmliche Regelungen zu erreichen, einschließlich der Schaffung eines lebensfähigen palästinensischen Staates an der Seite Israels.

Nach dem Scheitern der Oslo-Vereinbarungen suchten israelische und palästinensische Friedensaktivist*innen – mitunter auch gemeinsam – nach Auswegen aus der politischen Sackgasse. Als Beispiele seien die »Achtzig Thesen für ein neues Friedenslager« der Organisation Gusch Schalom (2001), der »Ayalon-Nusseibeh-Plan« (2002) und die »Genfer Initiative« (2003) genannt. Die Kompromissofferten konnten allerdings weder in der israelischen noch in der palästinensischen Gesellschaft breitere Resonanz erzielen. Recht schnell mutierten sie zum »Prinzip Hoffnung«.

Am 23. Juni 2020 wandten sich über 1.000 Parlamentarier*innen aus 25 europäischen Staaten in einem offenen Brief an ihre Regierungen und forderten, sich der drohenden Angliederung von Teilen des Westjordangebiets durch Israel entgegenzustellen. Auch in Israel und Palästina demonstrierten Tausende gegen die Annexionspläne der Netanjahu-Regierung. Mit Rücksicht auf die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und einigen arabischen Staaten wurde das durch die Trump-­Adminis­tration unterstützte Vorhaben zwar zeitweilig ausgesetzt; die expansive Siedlungspolitik bzw. die durch sie geschaffenen Tatsachen entfachten dennoch eine negative Eigenwirkung. Derartige regressive Optionen nicht zu akzeptieren, sondern ihnen – auf nationaler wie internationaler Ebene – Widerstand entgegenzusetzen, ist heute dringend erforderlich. Insbesondere die EU sollte die den europäischen Interessen entgegenstehende israelische Besatzungspolitik in der Nachbarregion nicht als »normal« betrachten bzw. darf nicht in vorgeblicher Neutralität verharren.

Anmerkung

1) Die aktuellen Daten zur Bevölkerung der Siedlungen sind dem »Settlement-Watch«-­Programm von Peace Now entnommen (peacenow.org.il).

Literatur

Hagemann, S. (2006): Für Volk, Land und Thora. Ultra-Orthodoxie und messianischer Fundamentalismus im Vergleich. Berlin: Hans Schiler.

Haumann, H. (Hrsg.) (1997): Der Erste Zionistenkongress von 1897 – Ursachen, Bedeutung, Aktualität. Basel u.a.: Karger.

Ries, M. (2000): Oslo – Tor zum Frieden in Nahost? Idstein: Meinhardt.

Segev, T. (2005): Es war einmal ein Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels, München: Siedler.

Slutsky, Yehuda (1973): Introduction to the History of the Labor Movement in Israel. Tel Aviv. Am Oved (Hebr.).

Timm, A. (1998): Israel. Geschichte des Staates seit seiner Gründung. Bonn: Bouvier.

Timm, A. (Hrsg.) (2017): 100 Dokumente aus 100 Jahren. Teilungspläne, Regelungsoptionen und Friedensinitiativen im israelisch-palästinensischen Konflikt (1917-2017). Berlin: AphorismA.

Dr. Angelika Timm ist Nahostwissenschaftlerin und Israel-Expertin. Sie lehrte an mehreren deutschen und israelischen Universitäten. Von 2008 bis 2015 leitete sie das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.

Besatzung und Annexion – was sagt das Völkerrecht?

von Norman Paech

Am 5. Juni 1967 begannen israelische Luftstreitkräfte mit einem Präventivschlag gegen ägyptische Luftwaffenbasen einen Krieg gegen Ägypten, um einem befürchteten Angriff zuvorzukommen. Der Krieg dauerte nur sechs Tage, in denen die israelische Armee weite Teile palästinensischen Territoriums besetzte.

Der UN-Sicherheitsrat (UNSR) reagierte schon am 6. Juni. In der Folge forderten zahlreiche Resolutionen des Sicherheitsrates und der Generalversammlung die Wiederherstellung des Vorkriegszustandes, inklusive der Resolution 242 des UN-Sicherheitsrates vom 22. November 1967, die durch die eigenwillige Interpretation eines zentralen Satzes durch Israel berüchtigt wurde. Im Original heißt der entscheidende Satz: „Withdrawal of Israel armed forces from territories occupied in the recent conflict“ (S/RES/242). Aus der gleichberechtigten französischen Version ergibt sich ebenso eindeutig wie aus den späteren Resolutionen und der völkerrechtlichen Regel, dass gewaltsam besetzte Gebiete vollständig zurückzugeben sind, dass sich Israel aus allen besetzten Gebieten wieder zu entfernen habe.

Israels offizielle Interpretation verweist allerdings auf den fehlenden Artikel vor „territories“, woraus die Regierung den Schluss zieht, dass sie die Resolution bereits dann erfüllt habe, wenn sie sich nur aus Teilen der besetzten Gebiete zurückziehe. Mit dieser Interpretation steht Israel zwar vollkommen allein, doch die bedingungslose Unterstützung durch die Westmächte erlaubte es Israel bisher, alle Aufforderungen der UNO dahingehend zurückzuweisen oder zu ignorieren.

Nach dem Krieg begann jene gegen alle internationalen Konventionen verstoßende Siedlungs- und Annexionspolitik, die die zentrale Hürde auch im gegenwärtigen Friedensprozess bildet. Eine UNO-Sonderkommission charakterisierte 1972 in ihrem Bericht diesen Vorgang als „eine vorsätzliche Politik der Annexion und der Besiedlung der besetzten Gebiete“, die sich durch „die absichtliche Ausrottung der palästinensischen nationalen Identität“ und „die Verweigerung des Rechts auf Rückkehr“ auszeichne und die „als Negierung von Buchstaben und Geist der vierten Genfer Konvention“ zu erachten sei (vgl. A/8828, 25.09.1972). In mehr als zehn Entschließungen hat der UN-Sicherheitsrat zwischen 1967 und 1973 dieses Annexionsstreben Israels und seine Besatzungspraktiken verurteilt sowie immer wieder auf Erfüllung der Resolution 242 bestanden.

1. Internationales Recht einer Besatzung

Die Regeln, die das Haager Recht für die im Krieg besetzten Gebiete (occupatio bellica) aufgestellt hatte (Art. 42-56 Haager Landkriegsordnung, HLKO von 1907), mussten nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges ergänzt werden. Dies war eines der Hauptziele der IV. Genfer Konvention von 1949, die in den Art. 74-87 die Erfahrungen aus der unmittelbar zurückliegenden Besatzungsrealität verarbeitete. Damit Besatzungsrechts zur Anwendung kommt, reicht es demnach aus, dass die Besatzung auch ohne die Anwendung militärischer Gewalt erfolgt, weil etwa jeder Widerstand auf Grund der Übermacht des Gegners unterbleibt. Entscheidend ist nur die vollständige und effektive Kontrolle durch die fremde Macht. Nach Artikel 42 HLKO gilt ein Gebiet als kriegerisch besetzt, „wenn es sich tatsächlich in der Gewalt des feindlichen Heeres befindet. Die Besetzung erstreckt sich nur auf die Gebiete, wo diese Gewalt hergestellt ist und ausgeübt werden kann.“ Es ist aber nicht erforderlich, dass die feindliche Armee sich an jedem Ort des besetzten Gebietes befindet. Besetzt ist ein Gebiet dann, wenn es sich tatsächlich in der Gewalt und effektiv unter der Kontrolle der gegnerischen Streitkräfte befindet, d.h. wenn die Besatzungsmacht faktisch in der Lage ist, ihre Herrschaft über die Zivilbevölkerung durchzusetzen. Dies ist z. B. für das Westjordanland, die Golanhöhen und Ostjerusalem ganz ohne Zweifel seit 1967 der Fall, gilt aber auch aktuell für den Gazastreifen. Auch wenn Israel dieses Gebiet im Jahr 2005 offiziell verlassen hat, hält es den Gazastreifen spätestens seit 2007 mit der Schließung der Checkpoints, der Abriegelung vom Land, der See und dem Luftraum aus und der vollständigen Blockade wieder besetzt (vgl. Paech/Seifer 2010, S. 129ff., 135ff.).

Besatzung und Siedlungspolitik

Die Grundregeln der Haager Konvention blieben allerdings dieselben. Demnach kann die Besatzungsmacht die Voraussetzungen und Bedingungen ihrer Präsenz auf dem besetzten Territorium notfalls auch mit Gewalt (Beschlagnahmen etc.) durchsetzen. Doch ist die Besatzungsgewalt durch eine Reihe von völkerrechtlichen Regeln begrenzt, da es vor allem ihre Aufgabe ist, „nach Möglichkeit die öffentliche Ordnung und das öffentliche Leben wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten, und zwar, soweit kein zwingendes Hindernis besteht, unter Beachtung der Landesgesetze“ (Art. 43 HLKO). Denn durch die Besatzung erlischt nicht automatisch die Staatsgewalt in den besetzten Gebieten, sie wird nur überlagert von der Verwaltung durch die Besatzungsmacht. Das bedeutet vor allem, dass diese keine Maßnahmen ergreifen darf, die einer Annexion gleichkommen. Ihr Status als Verwaltungsmacht wird in Art. 55 HLKO umschrieben:

„Der besetzende Staat hat sich nur als Verwalter und Nutznießer der öffentlichen Gebäude, Liegenschaften, Wälder und landwirtschaftlichen Betriebe zu betrachten, die dem feindlichen Staate gehören und sich in dem besetzten Gebiete befinden. Er soll den Bestand dieser Güter erhalten und sie nach den Regeln des Nießbrauchs verwalten.“

Dieses Nießbrauchsrecht bedeutet vor allem, dass die Besatzungsmacht die natürlichen Ressourcen des besetzten Landes, sei es Erdöl oder Erdgas, Phosphat oder die Fischbestände (Westsahara), Steinbrüche, Wälder oder Grundwasser (Palästina), nicht für sich allein ausbeuten darf. Sie darf es nur insoweit, als der Ertrag bzw. der Gewinn der Bevölkerung selbst zugutekommt. Die militärischen Interessen der Besatzung müssen also auf die zivilen Bedürfnisse der Bevölkerung Rücksicht nehmen. Dem entsprechen eine Reihe von Besatzungspflichten, wie die Regelung des Arbeitseinsatzes (Art. 51) oder die Versorgung mit Lebensmitteln und ärztlicher Fürsorge (Art. 55), die im II. Abschnitt des IV. Genfer Abkommens geregelt sind. Das bedeutet aber auch, dass Privateigentum nur dann und auch nur mit Entschädigung beschlagnahmt werden darf, wenn es für die Zwecke der Besatzung notwendig ist (Art. 46, 52 HLKO). Die Ansiedlung der eigenen Bevölkerung auf besetztem Gebiet ist ohne Ausnahme verboten (Art. 49 Abs. 6 IV. Genfer Abkommen). Die immer noch nicht eingestellte Siedlungstätigkeit Israels in den seit 1967 besetzten Gebieten, die bis jetzt über 500.000 jüdische Siedler und Siedlerinnen in knapp 150 Siedlungen auf enteignetes palästinensisches Land transferiert hat (vgl. UNOCHA 2007), verstößt eindeutig gegen dieses völkerrechtliche Verbot. Das Siedlungsverbot wird ergänzt durch ein Verbot der Zwangsumsiedlung und Deportation (Art. 49 IV. Genfer Abkommen).

Keine Anerkennung der Genfer Konvention?

Die israelische Regierung allerdings weigert sich hartnäckig, die Anwendung der für die Siedlungspolitik einschlägigen »Vierten Genfer Konvention zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten« zu akzeptieren. Dies ist ein zentraler Streitpunkt, bei dem die israelische Regierung in der UNO wiederum vollkommen allein steht. Er bezieht sich vor allem auf Artikel 49 IV. Genfer Konvention, der sagt: Die Besatzungsmacht darf nicht Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet verschleppen oder verschicken.“ Damit ist vollkommen klar, dass die Siedlungspolitik von Beginn an völkerrechtswidrig war.

Israels Ansicht, die sie auch heute noch durch ihre Botschaft in Berlin verbreiten lässt, lautet, dass die Vorschriften der Genfer Konvention nicht auf ein Land Anwendung finden, das sich, wie das Westjordanland und Gaza, „nicht unter der legitimen Souveränität eines Staates befand und das keinem privaten Eigentum unterliegt“ (IMFA 2015). Abgesehen davon, dass beide Gebiete vor ihrer Besetzung nicht Niemandsland gewesen sind, geben Zweifel an der Souveränität eines Territoriums niemand das Recht zu seiner Besetzung und willkürlichen Behandlung nach eigenem Gutdünken. Das sind Restbestände kolonialen Denkens, die schon vor Beginn der Besetzung 1967 dem Völkerrecht widersprachen. Israel verkennt zudem, dass die Genfer Konventionen nicht auf den Schutz der Souveränität eines Gebietes, sondern seiner Menschen zielen, unabhängig davon, zu wem sie gehören.

2. Internationales Recht der Annexion

In der Zeit des klassischen Völkerrechts, als das Kriegsrecht (ius ad bellum) noch den Kern staatlicher Souveränität ausmachte, gehörte auch die Annexion zu den selbstverständlichen Institutionen zwischenstaatlicher Auseinandersetzungen. Sie war insoweit rechtens. Ihre Gültigkeit hing dann von der Dauer und Effektivität ab.

Diese Rechtslage änderte sich allerdings nach dem ersten Weltkrieg, als zunächst die Mitglieder des Völkerbundes verpflichtet wurden, „die territoriale Unversehrtheit und bestehende politische Unabhängigkeit aller Mitglieder des Völkerbundes zu respektieren und gegen äußere Angriffe zu wahren“ (Art. 10 Völkerbundsatzung).

Mit der Ächtung des Angriffskrieges durch den Briand-Kellogg-Pakt von 1928, dem mit 63 Staaten die überwiegende Mehrheit der Staaten jener Epoche beitrat, und der Stimson-Doktrin von 1932 war nicht nur dem Krieg, sondern auch der Annexion faktisch die Rechtfertigung entzogen. Die Rechtswidrigkeit gewaltsamer territorialer Veränderungen wurde in der Folgezeit in einer Reihe regionaler amerikanischer Erklärungen und Verträge verankert.1 Nachdem die Vereinten Nationen in Art. 2 Ziff. 4 der UN-Charta das Kriegsverbot zu einem allgemeinen Verbot jeglicher Gewalt und Gewaltandrohung erweiterten und dieses Verbot im Laufe der Resolutionspraxis spätestens mit der sogenannten »Prinzipiendeklaration« von 1970 und der »Aggressionsdefinition« von 1974 zu zwingendem Recht (ius cogens) erstarkte, ist völkerrechtlich eine Rechtfertigung der Annexion nicht mehr denkbar.

Beide Resolutionen gehen zurück auf das Jahr 1932, als die Japaner in die chinesische Mandschurei einfielen und der US-Außenminister H. L. Stimson am 7. Januar 1932 erklärte, dass seine Regierung die Legalität dieses Vorgangs nicht anerkennen werde. Dieser als sogenannte Stimson-Doktrin in die Völkerrechtsgeschichte eingegangene Grundsatz wurde am 11. März 1932 in eine Resolution der Versammlung des Völkerbundes aufgenommen, die ihre Mitgliedsstaaten aufforderte, „keinen Vertrag oder keine Abmachung anzuerkennen, die durch Mittel erreicht wurden, die im Widerspruch zur Völkerbundsatzung oder zum Kellogg-Pakt stehen“. Die „Prinzipiendeklaration“2 schließlich wurde auf der 25. Tagung der UN-Generalversammlung am 24. Oktober 1970 verabschiedet. In ihr heißt es u.a.: „Das Territorium eines Staates darf nicht Objekt der Aneignung durch einen anderen Staat als Ergebnis von Gewaltandrohung oder -anwendung werden. Eine durch Gewaltandrohung oder -anwendung vollzogene territoriale Aneignung darf nicht als rechtmäßig anerkannt werden.

Diese Grundsätze gelten auch für eine Annexion auf vertraglicher Basis. Art. 52 und 53 der Wiener Konvention über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 bezeichnen einen Vertrag als nichtig, „wenn sein Abschluss durch Androhung oder Anwendung von Gewalt unter Verletzung der Prinzipien des in der Charta der Vereinten Nationen verkörperten Völkerrechts zustande gekommen ist“, oder „wenn er zum Zeitpunkt seines Abschlusses einer zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts widerspricht.“

Sollte z.B. in einem Friedensvertrag die besiegte Partei freiwillig und ohne Zwang eine Gebietsabtretung vereinbaren, so liegt darin keine Legitimation einer vorher rechtswidrig erfolgten Annexion, sondern eine Zession, die vertraglich jederzeit möglich ist.

Die Realität der Annexion in Israel/Palästina

Besondere Bedeutung hat der Grundsatz des Annexionsverbotes bei den Versuchen Israels, die 1967 eroberten und besetzten arabischen Gebiete zu annektieren. So verabschiedete das israelische Parlament am 14. Dezember 1981 das sogenannte Golan-Gesetz, mit dem es das seit 1967 bestehende Besatzungsregime aufhob und „das Recht, die richterliche und die vollziehende Gewalt des Staates Israel“ auf die besetzten syrischen Golanhöhen erstreckte. Der UN-Sicherheitsrat verurteilte bereits drei Tage später die versuchte Annexion „als null und nichtig und ohne völkerrechtliche Wirkung“ (Resolution S/RES/497). Noch schärfer wandte sich die UN-Generalversammlung (in Resolution ES 9/1 1982) gegen das Gesetz, welches sie dort sogar als Angriffshandlung nach Art. 39 der UNO-Charta und der Aggressionsdefinition der Resolution 3314 (XXIX) bezeichnete.3

Gleiches gilt für die Annexionsversuche Ostjerusalems sowie des Westjordanlandes durch Siedlungen. Nach dem Gesetz vom 30. Juli 1980, mit dem das israelische Parlament die offizielle Annexion Ostjerusalems beschlossen hatte, stellte der UN-Sicherheitsrat in seiner Resolution 478 vom 20. August 1980 fest, dass „alle legislativen und administrativen Maßnahmen und Aktionen der Besatzungsmacht Israel, die Charakter und Status der Heiligen Stadt Jerusalem geändert haben bzw. ändern sollen, und insbesondere das neue Grundgesetz über Jerusalem null und nichtig sind und unverzüglich widerrufen werden müssen.“ Die Resolutionen der Generalversammlung sind mit dieser Position identisch. Das Annexionsverbot wurde noch einmal vom Internationalen Gerichtshof in seinem Gutachten über die Rechtsfolgen des Mauerbaus auf palästinensischem Territorium vom 9. Juli 2004 (vgl. ICJ 2004) bestätigt. Es ist nach wie vor eines der zentralen Elemente des Friedensvölkerrechts. Wo es auf Dauer verletzt wird, ist der Frieden immer in Gefahr.

Anmerkungen

1) z.B. in Art. 11 der Montevideo-Konvention über die Rechte und Pflichten der Staaten vom 26. Dezember 1933, in der Erklärung der achten Panamerikanischen Konferenz in Lima vom 22. Dezember 1938, in der Erklärung von Chapultepec (Mexiko) vom 3. März 1945 und in Art. 5e und 17 der Charta der Organisation amerikanischer Staaten (OAS), der Bogotá-Charta vom 30. April 1948.

2) Deklaration über die Prinzipien des Völkerrechts betreffend die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen, UNGV Res. 2625 (XXV) vom 24. Oktober 1970.

3) UNSR Res. 497 vom 17. Dezember 1981 und UNGV Res. ES 9/1 vom 5. Februar 1982.

Literatur

International Court of Justice (ICJ) (2004): Legal consequences of the construction of a wall in the occupied palestinian territory. Advisory opinion of 9 July 2004, ICJ Reports 2004, S. 136-203.

Israeli Ministry of Foreign Affairs (IMFA) (2015): Israeli Settlements and International Law, Jerusalem, 30.11.2015.

Paech, N.; Seifer, K. (2010): Israel und Palästina – die aktuelle Lage aus völkerrechtlicher Perspektive. In: Deeg, S.; Dierkes, H. (Hrsg): Bedingungslos für Israel? Köln: Neuer ISP Verlag, S. 129-144.

UNOCHA (2007): The Humanitarian Impact on Palestinians of Israeli Settlements and Other Infrastructure in the West Bank. OCHA-oPt, 30.07.2007.

Norman Paech ist Professor für öffentliches Recht i.R an der Universität Hamburg. Er ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von attac, IALANA und IPPNW. Zuletzt erschienen: N. Paech (2019), Menschenrechte, Köln:Papyrossa; N. Paech u. K. Nowrot (2019): Krieg und Frieden im Völkerrecht, Köln: PapyRossa.

Die Fiktion der Autonomie

Das Pariser Protokoll und die wirtschaftliche Selbstbestimmung der Palästinenser*innen

von Eness Elias

Das zweite Osloer Abkommen, das 1995 zwischen Israel und der PLO – als Repräsentantin des palästinensischen Volkes – unterzeichnet wurde, teilte die besetzten Gebiete Westbank und Gaza in drei Regionen unterschiedlicher Kontrolle: »Region A« unter vollständiger palästinensischer Kontrolle, aber mit dem Recht Israels, angekündigte Militärpatrouillen durchzuführen; »Region B« unter ziviler Aufsicht der Palästinenser und gleichzeitiger militärischer und polizeilicher Kontrolle Israels; »Region C« unter vollständiger israelischer Kontrolle, wobei ein Teil der dortigen Steuereinnahmen bei der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) verbleibt. Diese geografische Einteilung ist zugleich eine ökonomische: So wie keine dieser Regionen vollständig palästinensisch verwaltet wird, wurde auch die Wirtschaftsstruktur, die in Oslo gesetzlich etabliert werden sollte, nie vollständig palästinensisch.

Kern des Pariser Protokolls

Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten (bpG) werden im sogenannten »Protocol on Economic Relations« oder »Pariser Protokoll« (PP) geregelt, das am 29. April 1994 als Teil der Osloer Abkommen unterzeichnet wurde. Das Protokoll behandelt den Geld- und Währungsverkehr, Zölle, Steuern, Arbeitsstrukturen, Landwirtschaft, Industrie und Tourismus. Es war als Übergangsvereinbarung für eine Dauer von fünf bis sieben Jahren gedacht, um den Weg hin zur ökonomischen Unabhängigkeit Palästinas zu ermöglichen. Das Protokoll ist heute noch nahezu unverändert in Kraft, die palästinensische Unabhängigkeit hingegen erscheint weiter entfernt denn je.

Der Kern des Protokolls war das gemeinsame Zollsystem, mit dem eine vollständige israelische Kontrolle über den gesamten Handel aus und nach Palästina und damit ein direkter Einfluss Israels auf die palästinensische Produktion etabliert wurde. Dieses Zollsystem war bereits nach dem Sechs-Tage-Krieg (1967) eingerichtet worden und institutionalisierte die Abhängigkeit der palästinensischen von der israelischen Wirtschaft (vgl. CIS 2018). Das Protokoll sieht vor, dass palästinensische Im- und Exporte durch israelische Häfen, Flughäfen und Grenzübergänge gehen und eine Sicherheitsbescheinigung haben müssen. Diese Bescheinigung wird etwa eine Woche nach Ankunft der Waren von den israelischen Firmen ausgestellt und kostet zwischen fünf und zehn Prozent des Warenwerts; hinzu kommen die Zahlungen für die Sicherheitsüberprüfung selbst, Hafengebühren und Mehrwertsteuer (MWSt), was die Kosten um weitere 14 Prozent erhöht. Im Gegensatz dazu sind Exporte aus Israel in die bpG zollfrei und die MWSt ist viel geringer; das begünstigt den (exklusiven) Handel mit Israel.

Die Begründung Israels für die Beibehaltung des gemeinsamen Zollsystems während der Osloer Verhandlungen kam in Gestalt einer Drohung gegenüber der PLO, die stattdessen eine Freihandelszone befürwortet hatte.1Die Israelis machten klar, dass Freihandel nur gegen den Preis eingeschränkter Arbeitsmöglichkeiten für Palästinenser*innen in Israel zu haben sein würde. Die palästinensische Seite war aber so abhängig vom israelischen Markt, dass sie schließlich die Bedingungen ihrer ökonomischen Abhängigkeit akzeptierte.

Die Weltbank und andere internationale Wirtschaftsakteure sahen das einheitliche Zollsystem als ein positives Arrangement, da sie annahmen, dass der kleine palästinensische Markt aufgrund der vielen billigen Arbeitskräfte und der niedrigeren Produktionskosten irgendwann mit dem israelischen Markt würde konkurrieren können. Diese Einschätzung ignorierte jedoch vollkommen die Machtverhältnisse zwischen Israel und der PA und die fehlende Bewegungsfreiheit der Palästinenser*innen.

Die Situation unter dem Pariser Protokoll heute

Der freie Verkehr von Waren, Rohstoffen, Anlagen- und Investitionsgütern für den palästinensischen Markt unterliegt bis heute strengen israelischen Restrik­tionen wie Einfuhrquoten, Standardisierungen oder administrativen und technischen Hürden, welche es den Waren aus Palästina sehr schwer machen, auf den israelischen geschweige denn auf den internationalen Markt zu gelangen. Das Pariser Protokoll enthält eine Liste von Waren, die palästinensische Hersteller*innen einführen dürfen, während andere aus »Sicherheitsgründen« verboten sind.2Im Ergebnis all dieser Faktoren ist die private Investitionsrate in den bpG eine der niedrigsten weltweit.

Das gemeinsame Zollsystem ermöglicht es den Behörden Israels, den Transfer von Steuererlösen als Sanktionsinstrument oder politisches Druckmittel gegenüber der PA einzusetzen. So nutzte die israelische Regierung beispielsweise 2014 Finanzmittel aus palästinensischen Betriebseinkommen, um Schulden der PA gegenüber den israelischen Elektrizitätswerken zu begleichen (vgl. Knesset 2014). Im September 2018 forderte die PA von Israel eine Summe von 360 Mio. US$ an Steuerrückzahlungen von etwa 2000 israelischen Firmen, die seit dem Jahr 2000 in der Westbank arbeiten (vgl. Arutz Sheva 2018).

Im Juli 2018 wurde in der Knesset ein Gesetz beschlossen, das Finanzmittel für die PA einfror und im direkten Widerspruch zu Geist und Buchstaben des Pariser Protokolls steht. Es sieht vor, dass der*die israelische Verteidigungsminister*in dem Sicherheitskabinett einen Jahresbericht vorlegen soll, in dem die Zahlungen der PA an Gefangene und ihre Familien aufgelistet werden. Die betreffende Summe von geschätzt 1,2 Mrd. Schekel pro Jahr wird von den Steuereinnahmen der Palästinenser*innen abgezogen und »eingefroren«, bis die PA aufhört die »Terroristen« zu bezahlen, wie die Gefangenen in der Diktion Israels heißen. Am 17. Februar 2019 beschloss das staatliche Sicherheitskabinett (»HaKabinet HaMedini-Bithoni«), eine Überweisung von 500 Mio. Schekel an die PA »einzufrieren« (Landau und Khoury 2019).

Der Haushalt der PA beruht auf den Steuer- und Zolleinnahmen, die Israel für Palästina einzieht (etwa 67 %), der Rest wird durch Zuwendungen vorwiegend aus den arabischen Staaten finanziert3 sowie durch Anleihen und Schuldverschreibungen, welche die PA auf- bzw. übernimmt (vgl. CIS 2018). Das Gesetz enthält der palästinensischen Regierung 65 % der ihr zustehenden Steuereinkünfte vor (entsprechend 15 % des Bruttoinlandsprodukts) (vgl. UNCTAD 2019). Die PA wandte sich gegen diese Politik, indem sie auf dem vollen Betrag der Steuereinkünfte bestand, der 2018 2,4 Mrd. US$ betrug. Um das zu erreichen nahm die PA einen Nothaushalt für 2019 an, der auf lokalen Steuereinnahmen, Bankdarlehen und Garantien der arabischen Staaten beruhte (die eine Art »Sicherheitsnetz« von 100 Mio. US $ pro Monat zugesagt hatten) (vgl. UNCTAD 2019; Hass 2019).

Diese Strategie der PA war Teil eines Plans, sich aus der ökonomischen Umklammerung Israels zu befreien, der auch Investitionen in einigen geografischen Clustern mit wirtschaftspolitischer Relevanz einschloß: Landwirtschaft (Qualqilia, Tul-karem, Jenin und Tubas); Industrie und Handel (Hebron und Nablus) und Tourismus (Ramallah und Bethlehem). Zusätzlich strebt der palästinensische Investitionsfond an, die Abhängigkeit von der israelischen Stromversorgung zu reduzieren, indem er Solar­energie-Parks aufbaut.4 Die PA rief die Palästinenser*innen auf, vor allem lokale Produkte zu kaufen und stoppte die Überweisung von Patient*innen an israelische Krankenhäuser (vgl. Hass 2019).

Jüngste Berichte aus den bpG deuten daraufhin, dass die PA gezwungen war, schmerzhafte Einschnitte bei der sozialen Versorgung der Bedürftigsten vorzunehmen und den im öffentlichen Dienst Beschäftigten, die ca. 40 % der berufstätigen Bevölkerung ausmachen, nur noch 50 % ihres Gehalts auszuzahlen (vgl. UNCTAD 2019; Gisha 2020b). Die PA muss außerdem ihre Schulden bei vielen Zulieferern und Versorgern wie Krankenhäusern, Arzneimittelfirmen und Versicherungen stunden; Studierende müssen ihre Ausbildung abbrechen, Beschäftigte nehmen zwangsweise Urlaub; der Konsum ist rückläufig und verschiedene Projekte sind gestoppt wirden. Die palästinensische Finanzbehörde weist einen Anstieg unbezahlter Rechnungen von ca. 15 % für 2019 aus (vgl. Hass 2019).

Im Dezember 2018 sandte die PA ein offizielles Ersuchen nach Israel, das Pariser Protokoll zu überprüfen und gegebenenfalls neu zu verhandeln. Die Hauptforderungen, die seitens der palästinensischen Ökonom*innen erhoben werden, lauten: Aufhebung bzw. starke Reduzierung des israelischen Mandats, Zölle und Steuern anstelle der PA zu erheben; volle Unabhängigkeit hinsichtlich der Festsetzung von Art und Höhe der Steuern; sowie ein Ende der Abschnürungspraxis für den Handel der PA mit anderen Staaten. Grundsätzlich müsse die israelische Praxis beendet werden, einen Teil der Steuereinnahmen abzuziehen und einzubehalten (vgl. Zaken 2019). Im Februar 2019 stimmte Israel zu, das Protokoll einer Prüfung zu unterziehen.5

Autonome Wirtschaftspolitik?

Da es weder eine ökonomische noch eine politische Unabhängigkeit in den besetzten Gebieten gibt, kann die PA auch keine eigene Wirtschaftspolitik verfolgen; das steht aber im Widerspruch zu Artikel 9 des PP, der vorsieht, eine palästinensische Oberhoheit über die Finanzgeschäfte zu etablieren, um die Wirtschaft autonom steuern zu können (vgl. CIS 2018). Stattdessen wird das palästinensische Finanzwesen faktisch von der Bank of Israel und anderen israelischen Banken kontrolliert.

Das PP erlaubt der PA nicht, eine eigene Währung zu entwickeln und zementiert so die Abhängigkeit von ausländischen Währungen: vom israelischen Schekel, vom jordanischen Dinar, vom US Dollar sowie vom Euro. So bleibt jede eigene Haushaltspolitik ineffektiv und den Schwankungen der israelischen Währung ausgesetzt (vgl. Awartani 2016).

Seit 1994 hat die palästinensische Wirtschaft einen kontinuierlichen Prozess der Deindustrialisierung erlebt mit einem erheblichen Rückgang des Anteils der verarbeitenden Wirtschaftszweige: Laut eines UNCTAD-Berichtes zur Unterstützung Palästinas ging dieser Anteil zwischen 1994 und 2018 von 20 % auf 11 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zurück6, der Anteil von Landwirtschaft und Fischerei fiel von 12 % auf weniger als 3 % (vgl. UNCTAD 2019b, S. 2).

Die Frauen bezahlen den höchsten Preis für diese Entwicklung, weil sie vom Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion traditionell am stärksten betroffen sind, mit den geringsten Aussichten auf Beschäftigung in anderen Sektoren. 2019 wurde geschätzt, dass mehr als eine Million landwirtschaftlich genutzter Olivenbäume durch die Siedlungspolitik seit 2000 zerstört worden sind (UNCTAD 2020, PCBS 2019). Der Rückgang der lokalen Produktion hat die Exportchancen der palästinensischen Wirtschaft weiter verringert. Der private Sektor, der die örtliche Produktion befördern sollte, kann diese Rolle aber nicht spielen.

2018 und 2019 waren Jahre ernster wirtschaftlicher Stagnation in Palästina, mit weiter sinkendem Pro-Kopf-Einkommen, erhöhter Arbeitslosigkeit und schärferer Armut (UNCTAD 2019). Zusätzlich wirkte sich negativ aus, dass die Westbank ihre Zahlungen an den Gaza-Streifen reduzierte, die Hamas zusätzliche Steuern auf Waren und Händler erhob und Drittstaaten ihre Zuwendungen an die PA verringerten. Besonders ins Gewicht fiel, dass die US-Hilfen für das UN-Hilfswerk für Palästina (UNRWA) und die PA eingestellt wurden (vgl. Hass 2019).

Wirtschaft in der Corona-Pandemie

Die Corona-Krise hat die Ökonomie in den bpG auf einem bereits historischen Tief getroffen. Laut einem Bericht der zentralen Statistikbehörde Palästinas (PCBS) vom März 2020 lag die Arbeitslosigkeit im Gaza-Streifen 2019 bei 45 % (gegenüber 43 % in 2018; vgl. Gisha 2020), in der Westbank dagegen 2019 bei 15 % (vgl. Asharq Al-Awsat 2020).

Zwischen April und Juni 2020 lag die Zahl in Gaza dann allerdings bei 49 %, in der Westbank blieb sie bei 14,8 %. Laut UNCTAD Report verloren etwa 42.900 Menschen im Gazastreifen seit Ende März 2020 ihren Job, 15.201 von ihnen im Hotel- und Dienstleistungsgewerbe. Seit März 2020 ist tausenden Beschäftigten, die normalerweise am Grenzübergang Erez zur Arbeit nach Israel queren, der Zugang verweigert worden (vgl. Gisha 2020).

Eine Umfrage unter Haushalten ergab 2017, dass 29,2 % der Palästinenser*innen in Armut leben (14 % in der Westbank und 53 % im Gazastreifen) und etwa 16,8 % in »tiefer Armut« (5,8 % in der Westbank und 33,8 % im Gazastreifen).7 Der Zugang zu ausreichender Gesundheitsversorgung ist begrenzt durch die geringe Zahl der medizinischen Einrichtungen; aber auch der Mangel an Medikamenten und medizinischem Gerät verschlechtert die Qualität der Versorgung insbesondere in Gaza (vgl. Unicef o.J.). Im Jahr 2020 hängen 80 % der Bevölkerung im Gazastreifen von internationalen Hilfeleistungen ab und leiden an einem Mangel an Nahrungsmittelsicherheit, Hygieneprodukten, Gesundheitsversorgung, Strom und sauberem Trinkwasser (vgl. UNCTAD 2020).

Zusammenfassung

Die Institutionalisierung des einheitlichen Zollsystems, dazu Israels Kontrolle über den palästinensischen Arbeitsmarkt sowie das Fehlen einer eigenen palästinensischen Währung beschränken die palästinensische Autonomie weitgehend und zementieren die große Abhängigkeit der palästinensischen Wirtschaft von Israel und seiner Wirtschaftspolitik, die Israel natürlich den eigenen Interessen entsprechend gestaltet. Die vorherrschende wirtschaftliche und politische Instabilität blockiert dringend notwendige Investitionen, die zu langfristigem Wirtschaftswachstum führen könnten. Gleichzeitig überschwemmen israelische Waren den palästinensischen Markt, sodass den palästinensischen Verbraucher*innen kaum eine Wahl bleibt. Sie sind israelischen und internationalen Produkten quasi ausgeliefert, während die eigenen Unternehmen nicht in der Lage sind, mit israelischen zu konkurrieren und die palästinensische Wirtschaft weiterzuentwickeln.

Das Pariser Protokoll wurde von zwei nicht gleichberechtigten Partnern verhandelt und unterzeichnet. Die Regeln und Mechanismen, die im Abkommen verankert wurden, sind Ausdruck des ungleichen politischen Machtverhältnisses zwischen den beiden Seiten. Zudem sind sie der Tatsache geschuldet, dass es ursprünglich ein temporäres Abkommen sein sollte.

Das PP hat sich als verheerend für die Wirtschaft Palästinas erwiesen. Eine grundlegende Revision des PP muss erreicht werden, mit neuen Handelsbeziehungen, einer palästinensischen Zentralbank und eigener Währung; kosmetische Veränderungen werden nicht helfen.

Anmerkungen

1) In einer Freihandelszone darf jede Seite ihre Handelsbeziehungen unabhängig mit anderen Partnern in der Welt verfolgen.

2) Es muss darauf hingewiesen werden, dass das Protokoll den Umfang der Waren gegenüber dem Zustand vor Abschluss der Osloer Abkommen reduziert hat, was von Israel mit Sicherheitsbesorgnissen begründet wurde.

3) Seit 2015 geht die Unterstützung der PA durch andere Staaten kontinuierlich zurück.

4) Ein Park in der Nähe von Jericho startete die Stromproduktion im Juli 2019, zwei weitere in Tubas und Jenin waren im August 2019 beinahe einsatzbereit (vgl. Hass 2019).

5) Vor Beginn der gegenwärtigen Verhandlungen war das PP nur einmal aktualisiert worden: 2012, als Israel eine technische Änderung unterschrieb, die die Steuerpolitik zwischen Israel und der PA betraf (vgl. Zaken 2019).

6) 2018 war das palästinensische BIP 14,616 Mrd. US$ (das BIP po Kopf der Westbank ist doppelt so hoch wie das von Gaza). Vgl. CIS (2018).

7) Die Armutsgrenze, wie sie im PCBS (2012) festgelegt wurde, liegt bei 2.293 Schekel (637 US$) für eine Familie mit zwei Erwachsenen und drei Kindern. »Tiefe Armut« ist definiert als ein Monatseinkommen von 1.832 Schekel (509 US$) oder weniger..

Literatur

Arutz Sheva (2018): Palästinensische Forderung: Zahlt Steuern für die Region C (Hebräisch). 27.09.2018, www.inn.co.il/news/383050.

Asharq Al-Awsat (2020): Official Survey Says Unemployment in West Bank, Gaza Rises 25 %. 14.02.2020.

Awartani, S. M. (2016): Examining Monetary Policy in the Absence of a Central Bank and Sovereign Currency in Palestine. Bard College: Senior Projects Spring 2016, No. 211.

Commanders for Israel‘s Security (CIS) (2018): Die Auswirkungen von Annexionsbewegungen in Judäa und Samaria (Hebräisch). September 2018.

Gisha (2020): Increase in Gaza’s unemployment rate in 2019. Pressemitteilung, 05.03.2020.

Gisha (2020b): Gaza unemployment rate in the second quarter of 2020: 49.1 %. Pressemitteilung, 21.09.2020.

Hass, A. (2019): The Palestinians’ Not-so-secret Weapon Against Austerity. Haaretz, 09.08.2019.

Knesset (2014): Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrates: Wir stehen kurz vor dem Abschluss einer Vereinbarung zum Schuldenabgleich der Palästinensischen Autonomiebehörde gegenüber der IEC. Pressemitteilung (Hebräisch), 7.12.2004.

Landau, N.; Khoury, J.L. (2019): Das Kabinett hat beschlossen, eine halbe Milliarde Schekel der Mittel der Palästinensischen Autonomiebehörde einzufrieren. Haaretz (Hebräisch), 17.02.2019.

Unicef State of Palestine (o.J.): Health and nutrition. www.unicef.org/sop/what-we-do/health-and-nutrition.

United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD) (2019): Palestinian socioeconomic crisis now at breaking point. Pressemitteilung, 10.09.2019.

United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD) (2019b): Report on UNCTAD assistance to the Palestinian people: Developments in the economy of the Occupied Palestinian Territory. TD/B/EX(68)/4, 22.07.2019.

United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD) (2020): COVID-19 devastates Palestine’s shattered economy. Pressemitteilung, 08.09.2020.

Zaken, D. (2019): Zurück zum Verhandlungstisch: Israel erklärt sich bereit, die Wirtschaftsabkommen mit der Palästinensischen Autonomiebehörde erneut zu prüfen (Hebräisch). Globes, 07.02.2019.

Zentrale Statistikbehörde Palästina (PCBS) (2012): Living Standards in the Palestinian Territory: Expenditure, Consumption, Poverty, 2011 (Arabisch). Juli 2012.

Zentrale Statistikbehörde Palästina (PCBS) (2019): Dr. Ola Awad, President of the PCBS, reviews the conditions of the Palestinian people via statistical figures and findings, on the eve of the 71th Commemoration of the Palestinian Nakba. Pressemitteilung, 13.05.2019.

Eness Elias ist Kulturtheoretikerin und Publizistin, mit regelmäßigen Beiträgen in der israelischen Tageszeitung Haaretz, feministische Aktivistin und Wirtschaftsanalystin. Sie hat die Wirtschaft der israelischen Besatzung und des Pariser Protokolls, des wirtschaftlichen Anhangs der Osloer Verträge, recherchiert.

Übersetzt aus dem Englischen von Corinna Hauswedell.

54 Jahre israelische Besatzung

Die wirtschaftliche Dimension

von Shir Hever

Die israelische Besetzung der Westbank und des Gazastreifens im Jahr 1967 unterscheidet sich in einer zentralen Hinsicht von anderen israelischen Besetzungen: Das israelische Militär hat dabei ein dicht besiedeltes Gebiet eingenommen, das gesamte historische Palästina unter einer Herrschaft wiedervereint und damit eine Realität geschaffen, in der mehr als ein Drittel der Bevölkerung unter israelischer Kontrolle ohne Rechte ist. Obwohl israelische Jurist*innen betonen, dass die Besatzung ein temporärer Zustand sei, existiert der Staat Israel bereits 54 Jahre mit ihr und nur 19 Jahre ohne sie. Die große Mehrheit der Palästinenser*innen und Israelis wurde in eine Realität der Besatzung hineingeboren und kennt keine Alternative.

Eine kurze Geschichte der Besatzung

Im ersten Jahrzehnt nach 1967 verfolgte die israelische Regierung keine langfristigen Pläne für die besetzten Gebiete. Sie lehnte es ab, in die Infrastruktur und Daseinsvorsorge für die palästinensische Bevölkerung zu investieren, da sie mit dem Rückzug aus den Gebieten rechnete; gleichzeitig begann sie in Zuwiderhandlung zum IV. Genfer Abkommen mit der Errichtung illegaler Siedlungen einzig für Jüd*innen: zuerst in Ostjerusalem, später im restlichen Westjordanland und im Gazastreifen. Nichtsdestotrotz ging dieses erste Jahrzehnt mit einem Anstieg des Lebensstandards der Palästinenser*innen einher. Dies schlichtweg aufgrund der Öffnung des israelischen Marktes und der Möglichkeit für Palästinenser*innen für israelische Arbeitgebende tätig zu werden, die ihnen weit höhere Gehälter zahlten als sie zuvor bezogen hatten (und welche dennoch unter dem israelischen Mindestlohn lagen). Ohne Langzeit-Investitionen war diese Ankurbelung der palästinensischen Wirtschaft jedoch von kurzer Dauer (vgl. Arnon 2007).

Im zweiten Jahrzehnt der Besatzung geriet die israelische Ökonomie in eine ernsthafte Wirtschaftskrise, verbunden mit einer Hyperinflation und dem Kollaps des Aktienmarktes. Die Nachfrage nach palästinensischen Arbeiter*innen sank, während zugleich die Expansion illegaler Siedlungen im Zuge der Beschlagnahmung palästinensischer landwirtschaftlicher Flächen beschleunigt voranging. Das Jahrzehnt endete mit der Ersten Intifada, einem palästinensischen Aufstand gegen die israelische Besatzung, der von jungen und gut ausgebildeten Palästinenser*innen organisiert und vorangetrieben wurde, die unter israelischer Herrschaft ohne Aussicht auf Jobs und ökonomische Sicherheit waren (vgl. Khalidi/Taghdisi 2009). Das dritte Jahrzehnt der Besatzung war die »Osloer Dekade«, die vom Friedensprozess und von internationaler Hilfe geprägt war, die jedoch keine unabhängige palästinensische Wirtschaft zu begründen half, weil die israelische Regierung eine solche Unabhängigkeit verhinderte. Die Verheißungen der Zweistaatenlösung und des möglichen Endes der Besatzung führten zu einem Aufschwung der israelischen Wirtschaft im Zuge internationaler wirtschaftlicher Zusammenarbeit, während die Palästinenser*innen zurückgelassen wurden. Internationale Hilfe im Wert von über sieben Milliarden US-Dollar verfehlte das Ziel, die Armut und die Arbeitslosigkeit unter den Palästinenser*innen zu lindern, weil die Entwicklungsprojekte – die israelische Kooperation verlangten – nicht umgesetzt wurden. Durch Abriegelung, Wirtschaftssanktionen, und materielle Zerstörung wurden diese Projekte de facto sabotiert und die palästinensische Wirtschaft weiter ruiniert. Als Beispiel kann hier der Flughafen in Gaza gelten, der 1998 im Beisein von US-Präsident Clinton eingeweiht, im Jahr 2000 durch Luftangriffe zerstört wurde und seitdem still gelegt ist.

Die Zweite Intifada von 2000 bis 2004 bedeutete das Ende der mit Oslo verbundenen Hoffnungen und ließ die Palästinenser*innen gespalten und demoralisiert zurück, die sowohl durch die israelische Überwachung als auch die gemeinsame Sicherheitskoordination von Palästinensischer Autonomiebehörde und israelischer Regierung unter Kontrolle gehalten wurden. Die israelische Regierung setzte unilateral die Räumung der Siedlungen im Gazastreifen um und riegelte dann das Küstengebiet von allen Seiten ab, um es somit in das größte Freiluftgefängnis der Welt zu verwandeln.

Graphik 1 zeigt, dass die Besatzung die jüdische Mehrheit in Israel/Palästina allmählich hat erodieren lassen. Etwa seit 2011 gibt es keine jüdische Bevölkerungsmehrheit mehr im Land.

Die Erforschung der Ökonomie der Besatzung

Viele Bücher, wissenschaftliche Artikel und Studien sind über die Ökonomie der Besatzung geschrieben worden. Marxistische (sowohl palästinensische als auch israelische) Ökonom*innen argumentieren, dass die Besatzung durch das Interesse an wirtschaftlicher Ausbeutung motiviert sei. Demgegenüber zeigen empirische Belege, dass gerade die wohlhabendsten israelischen Kapitalist*innen das Ende der Besatzung befürworten und davon ausgehen, dass ihr Profit in Friedenszeiten ansteigen würde (vgl. Nir und Wainwright 2019). Auch neoliberale und neokonservative Ökonom*innen haben argumentiert, dass die Besatzung nicht profitabel für Israel und insofern irrational sei.

Ausgehend von der großen Fülle an Berichten der Weltbank, UN-Berichten (vor allem des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen, UNDP) und von NGOs finanzierten Studien ergibt sich das Bild eines zwar sehr komplexen Systems der Ausbeutung wie auch der Zerrüttung der palästinensischen Wirtschaft, das jedoch nicht von Planung auf israelischer Seite zeugt. Spezielle Gruppen innerhalb der israelischen Gesellschaft drängen auf die Ausweitung des Siedlungsbaus in bestimmten Gebieten – und das nicht aufgrund strategischer Berechnung, sondern aufgrund kurzfristiger und enger Interessenlagen. Einzelne militärische Beamt*innen ändern regelmäßig und willkürlich ihre Strategie, ohne vorangehende und erkennbare Analyse, und verursachen so, dass Tausende ihr Einkommen verlieren.

Wie hat die Besatzung die palästinensische Wirtschaft beeinflusst?

Das wirtschaftliche Elend der Palästinenser*innen, des Volkes mit dem weltweit größten Anteil an Flüchtlingen, ist nicht zu bestreiten. Schwieriger ist es demgegenüber zu beantworten, wieviel der Not der Palästinenser*innen Resultat der Besatzung seit 1967 ist. Die Beschränkungen von Handel, Arbeit und Bewegungsfreiheit, der Abriss von Häusern und Infrastruktur wie auch die Konfiszierung von Land, Wasser und Privateigentum haben die palästinensische Wirtschaft zugrunde gerichtet, aber die Quantifizierung dieses Zugrunderichtens in monetärer Hinsicht ist eine anspruchsvolle methodische Herausforderung. Notwendig wäre eigentlich ein kontrafaktischer Referenzwert, der erfasst, was gewesen wäre, wenn es keine Besatzung gegeben hätte und die Palästinenser*innen die letzten fünf Jahrzehnte ihren eigenen autonomen Staat gehabt hätten. Wäre ihre wirtschaftliche Prosperität vergleichbar zu jener Jordaniens oder Ägyptens, oder zu Katar und Israel?

In den letzten Jahren haben sowohl die Palästinensische Autonomiebehörde im Zusammenarbeit mit dem Applied Research Institute-Jerusalem (ARIJ 2015) als auch die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung, kurz UNCTAD (2020), detaillierte ökonomische Studien erstellt, um die Auswirkungen des Besatzungsregimes auf die wirtschaftliche Entwicklung zu messen. Anstatt auf einen kontrafaktischen Referenzwert beziehen sich diese Studien auf eine Auflistung von israelischen Angriffen, von Politiken mit Einfluss auf die palästinensische Wirtschaft sowie von spezifischen bewiesenen Fällen der Ausbeutung. Die Studie der Palästinensischen Autonomiebehörde und von ARIJ kommt zu dem Schluss, dass rund 75 % des palästinensischen Bruttoinlandprodukts (um die 10 Mrd. US$ im Jahr; Stand 2014) aufgrund der Restriktionen im Rahmen der Besatzung verloren gegangen sind, wohingegen UNCTAD schätzt, dass die israelische Belagerung des Gazastreifens zwischen 2007 und 2018 einen Schaden in Höhe von 16,7 Mrd. US$ angerichtet hat.

Indem sie den Schaden für die palästinensische Wirtschaft ausgehend von der genannten Auflistung aufaddieren, unterschätzen die Studien eindeutig die Auswirkungen der Besatzung, da sie den Verlust an potenziellem Einkommen nicht berücksichtigen. Was wenn Millionen von Palästinenser*innen nicht von Anfang an entmutigt worden wären, eine Ausbildung zu erlangen, Geschäfte zu eröffnen, Investitionen zu tätigen und ihre Wirtschaft aufzubauen – entmutigt in dem Wissen, dass ihre Bemühungen voraussichtlich vom israelischen Militär zerschlagen werden würden? Darüber hinaus nutzen die Studien die unangemessene Formulierung »Kosten der Besatzung«, die nahelegt, dass die Besatzung ein Produkt sei, das Palästinenser*innen erworben hätten und bezahlen müssten. Eine angemessenere Formulierung wäre »Schaden der Besatzung«.

Nichtsdestotrotz sind die genannten Studien sehr wichtig, da sie als Grundlage für zukünftige Kompensationsforderungen dienen können. Wenn die Besatzung endet, könnten Palästinenser*innen einfordern, für jahrzehntelange wirtschaftliche Zerrüttungen entschädigt zu werden, und das Geld für den Wiederaufbau ihrer Wirtschaft nutzen.

Wie hat die Besatzung die israelische Wirtschaft beeinflusst?

Das Wort »Kosten« ist hingegen durchaus relevant, wenn man über die israelische Wirtschaft spricht, da die israelische Bevölkerung durchweg politische Parteien wählt, welche die Besatzung unterstützen oder ausweiten. Die israelische Regierung hätte die Besatzung zu jeder Zeit beenden können und ihr wurden maßgebliche Anreize hierzu von Seiten der Arabischen Liga, der EU und den USA geboten. Sie hat sich dagegen entschieden.

Das Adva-Center in Tel Aviv hat eine Reihe an Studien zu den Kosten der Besatzung für die israelische Wirtschaft veröffentlicht, welche auf die Subventionen für die illegalen Siedlungen sowie die enormen Sicherheitskosten hinweisen, die notwendig sind, um die palästinensische Bevölkerung zu kontrollieren. In meinem Buch aus dem Jahr 2014 habe ich diese Studien und viele weitere Quellen genutzt, um zu der Schätzung zu gelangen, dass im Durchschnitt beinahe 9 % des jährlichen Regierungsbudgets für die Kosten der Besatzung bestimmt waren – wie es für 2010 auch nachgewiesen werden kann (vgl. Hever 2014). Mittlerweile hat die israelische Regierung verschiedene Maßnahmen ergriffen, um die Ausgaben für die Besatzung zu verschleiern. Zum Beispiel veröffentlicht sie keine Berichte mehr darüber, wie viel staatliche Kompensationen an israelische Exporteure für den europäischen Markt gezahlt werden. Israelische Exporteure müssen Zölle für Waren zahlen, die in den besetzten Gebieten produziert wurden. Diese Waren kommen nicht in den Genuss der vorteilhaften Handelsabkommen für israelische Waren. Dieser Verlust wird ihnen vom Staat kompensiert.

Die tiefgreifendste Auswirkung der Besatzung auf die israelische Gesellschaft ist in der Ausweitung von Ungleichheit zu sehen: Die Schwächung der israelischen Gewerkschaften und der Arbeiterklasse aufgrund der Konkurrenz durch billige palästinensische Arbeitskräfte; die Tatsache, dass wirtschaftliche Proteste und Forderungen nach sozialer Verantwortung und Solidarität aufgrund der Besatzung konsequent und zuverlässig im Namen des »Sicherheitsnotstands« zum Schweigen gebracht wurden; nicht zuletzt der anhaltende Militarismus in der israelischen Gesellschaft, welcher sich nachhaltig auf Aspekte der Geschlechterungleichheit und auf das mangelnde Bewusstsein für Umweltbelange auswirkt (vgl. Vardi in diesem Dossier).

Wer profitiert von der Besatzung?

Selbst wenn die Entscheidung zur Fortsetzung der Besatzung nicht aus materiellen Gründen getroffen wird, lohnt es sich zu fragen, wer materiellen Nutzen aus ihr zieht. Viele kleine und große israelische und internationale Unternehmen profitieren von der Möglichkeit, palästinensische Arbeiter*innen auszubeuten ohne ihre grundlegenden Rechte als Arbeitnehmer*innen zu berücksichtigen. Rohstoffe in den besetzten Gebieten werden geplündert (vor allem Baumaterialien und Wasser, mitunter auch Erdgas von der Küste des Gazastreifens) und Fabriken laden ihren Abfall in den besetzten Gebieten ab, weil die israelischen Behörden Umweltbestimmungen nicht durchsetzen (vgl. B‘Tselem 2011).

Die Datenbank der Organisation »WhoProfits« (gegründet von der »Coalition of Women for Peace«) stellt genauer dar, wie diese Unternehmen von der Besatzung profitieren. Das deutsche Unternehmen »Heidelberg Zement« wird an prominenter Stelle auf der Homepage aufgeführt, da es sich an der Ausbeutung palästinensischer Rohstoffe beteiligt, die an israelische Baufirmen verkauft und dazu genutzt werden, die illegalen Siedlungen und die Trennmauer zu errichten.1Auch israelische Waffenfirmen profitieren. Regelmäßig rühmen sie sich damit, dass ihre Waffen und weitere Sicherheitsprodukte »kampferprobt« seien, bevor sie an ausländische Kund*innen verkauft würden. Das heißt, dass jedes Geschoss, jede Drohne oder Kamera zuvor von der israelischen Armee in den besetzten Gebieten gegen Palästinenser*innen zum Einsatz kommt, bevor das Produkt mit Profit-Absicht auf dem globalen Markt angeboten wird. Deutschland hat schwere Kriegsdrohnen des Modells Heron-TP geleast, die von der israelischen Rüstungsfirma IAI hergestellt und im Gazastreifen getestet wurden.

Die größten Profiteure der Besatzung sind allerdings Unternehmen, die weit entfernt von den besetzten Gebieten operieren, namentlich US-amerikanische Waffenunternehmen. Die US-amerikanische Waffenlobby verfolgt in den USA eine pro-israelische Politik – und das mit einem Budget, das jenes der israelischen Lobbyorganisation AIPAC klein erscheinen lässt. Die Besatzung stellt den ständigen Nachschub an Aufträgen für die US-Rüstungslobby sicher. Die USA gewähren Israel Militärhilfen (mehr als jedem anderen Land in der Welt), aber die israelische Regierung muss die Hilfsgelder dazu nutzen, bei US-amerikanischen Unternehmen einzukaufen, womit die Hilfen letztlich eine Subvention dieser Unternehmen sind. Hinzu kommt, dass der Export US-amerikanischer Waffen in den Mittleren Osten ein Wettrüsten anheizt, das andere Länder dazu animiert, sich gegen einen möglichen israelischen Angriff zu rüsten, was US-Waffenunternehmen wiederum zusätzliche Einkünfte bringt (vgl. Feinstein 2011, S. 378ff.).

Ein neuer Zugang zur Besatzungsökonomie

Ob für die Wirtschaftsforschung der Fokus auf die militärische Besatzung, Grenzen und Territorien noch ein angemessenes Bezugssystem ist, kann hinterfragt werden. In jüngerer Zeit verschiebt sich dieser Blickwinkel: In diesen Studien geht es weniger um die Besatzung im engeren Sinne als darum, die Gesamtheit der Diskriminierungen in Israel und der israelisch kontrollierten Gebiete in den Blick zu nehmen, die auch unter den Begriff der »Apartheid« subsummiert werden. Apartheid bezeichnet ein System der etablierten institutionellen und alltäglichen Diskriminierung ausgehend von zugeschriebenen »rassischen«, ethnischen oder religiösen Identitäten. Ein UN-Bericht aus dem Jahr 2017 führte das Argument ein, dass die israelische Regierung de facto Apartheidspolitiken implementiert habe, die sich jedoch nicht einfach an der groben Differenz jüdisch/palästinensisch ausrichten, sondern beide Gruppen weiter differenzieren, also auch zwischen Palästinenser*innen und Palästinenser*innen mit je unterschiedlichen Rechten trennen (vgl. Falk und Tilly 2017).

Wirtschaftsforschung zur Besatzung sollte sich somit auf die ökonomische Manifestation von Diskriminierung fokussieren, namentlich auf Ungleichheit. In Graphik 2 zeige ich die durchschnittliche Entwicklung der Tageslöhne für die Jahre 1995 bis 2015 für sechs Bevölkerungsgruppen, die auf dem Territorium von Israel/Palästina leben: aschkenasische Jüd*innen (Jüd*innen europäischer Abstammung), Misrahim (Jüd*innen, die aus arabischen oder muslimischen Ländern stammen), Palästinenser*innen mit israelischer Staatsbürgerschaft, Palästinenser*innen aus der Westbank, die von israelischen Arbeitgebenden beschäftigt werden, Palästinenser*innen in der besetzten Westbank sowie Palästinenser*innen im besetzten Gazastreifen.

Die Graphik gibt nicht wieder, ob die Löhne gestiegen oder gesunken sind, sondern wie groß der durchschnittliche Anteil jeder Gruppe am Kuchen ist, weshalb die Summe aller Gruppenanteile an jedem Punkt stets sechs beträgt. In einem hypothetischen Szenario vollständiger Gleichheit, hätten die Mitglieder jeder Gruppe einen Tageslohn von 1.

Zwischen 1995 und 2015 gab es einen stetigen Anstieg der Gesamtungleichheit in Israel/Palästina. Wie die Graphik aber zeigt, wuchsen manche Formen der Ungleichheit in einem geringeren Maße – etwa die Kluft zwischen aschkenasischen Jüd*innen und Misrahim, oder die zwischen palästinensische Staatsbürger*innen Israels und Palästinenser*innen von der Westbank, die von israelischen Arbeitgebenden beschäftigt werden. Andere Ungleichheiten wuchsen dafür im stärkeren Maße, wie die Kluft zwischen Misrahim und palästinensischen Staatsbürger*innen Israels. Bemerkenswert ist, dass der Lohnanteil der Palästinenser*innen im Gazastreifen kontinuierlich gesunken ist. Darüber hinaus ist es sehr interessant und beunruhigend, festzustellen, dass sich die Linien nie überschneiden – die Einkommenshierarchie zwischen den sechs Gruppen ist die Gleiche geblieben.

Schluss

Mehr als fünf Jahrzehnte der Besatzung haben erwiesen, dass wirtschaftliches Wachstum ohne Freiheit nicht zu haben ist. Selbst internationale Hilfe war nicht imstande, die palästinensische Wirtschaft anzukurbeln, solange die Fesseln israelischer Kontrolle fortbestehen. Trotz schonungsloser Unterdrückungsmaßnahmen setzen die Palästinenser*innen ihren Widerstand zum größten Teil gewaltfrei fort.

Die Erforschung der wirtschaftlichen Besatzungsökonomie muss sich an der Frage ausrichten, wie Gerechtigkeit zu schaffen wäre. Anstatt Kompensationsforderungen für jeden einzelnen Akt israelischer Ausbeutung oder Zerstörung zu stellen, fordert der neue Fokus auf Ungleichheit, dass die israelische Regierung die sozio-ökomische Kluft schließen und zudem sicherstellen solle, dass Ungleichheit unter den 13,5 Mio. Menschen, die unter ihrer Kontrolle leben, nicht von Ethnizität, Nationalität oder Religionszugehörigkeit abhängt. Eben dann, wenn Palästinenser*innen in Gaza oder im Westjordanland den gleichen Lebensstandard wie Israelis in Tel Aviv genießen, können wir feststellen, dass der ökonomische Schaden behoben ist, der im Zuge der Besatzung angerichtet wurde.

Anmerkung

1) Für die Daten siehe whoprofits.org/company/heidelbergcement.

Literatur

Applied Research Institute – Jerusalem (ARIJ) (2015): The Economic Cost of the Israeli Occupation of the Occupied Palestinian Territories. Bethlehem: ARIJ.

Arnon, A. (2007): Israeli Policy Towards the Occupied Palestinian Territories. The Economic Dimension, 1967-2007. Middle East Journal, Vol. 61, No. 4, S. 573-595.

B‘Tselem (2011): Dispossession & Exploitation. Israel‘s policy in the Jordan Valley & northern Dead Sea. May 2011.

Falk, R.; Tilly, V. (2017):Israeli Practices Towards the Palestinian People and the Question of Apartheid. E/ESCWA/ECRI/2017/1. ESCWA.

Feinstein, A. (2011): The Shadow World. Inside the Global Arms Trade. New York: Farrar, Straus and Giroux.

Hever, S. (2014): Politische Ökonomie der israelischen Besatzung. Köln: Neuer ISP Verlag.

Khalidi, R.; Taghdisi-Rad, S. (2009): The Economic Dimensions of Prolonged Occupation. Continuity and Change in Israeli Policy Towards the Palestinian Economy. UNCTAD, August 2009.

Nir, O.; Wainwright, J. (Hrsg.) (2019):Rethinking Israel and Palestine: Marxist Perspectives. New York: Routledge.

UNCTAD (2020): Economic costs of the Israeli occupation for the Palestinian people: the Gaza Strip under closure and restrictions. GA A/75/310. New York: UN.

Vardi, Sahar (2019): Challenging Militarism in Israel. American Friends Service Committee, 13.06.2019.

Dr. Shir Hever hat an der Freien Universität Berlin promoviert, ist Vorstandsmitglied des Vereins »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in NahOst e.V.« und forscht und schreibt über die israelische Besatzung. Sein letztes Buch heißt »The Privatization of Israeli Security (Pluto Press, 2017)«.

Ein Überblick zur Lage der Menschenrechte

von Paul Schäfer

Über die Menschenrechtslage in den besetzten palästinensischen Gebieten (bpG) zu berichten, ist oft kein einfaches Unterfangen. Zum einen liegen den Vereinten Nationen (UNHRC) keine nachprüfbaren Berichte seitens der israelischen Regierung vor, wie ein Bericht des »UN Committee on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination« (CERD/C/ISR/CO/17-19) vom 27. Januar 2020 beklagt. Zum anderen werden UN-Berichterstatter*innen und Vertreter*innen besatzungskritischer NGOs immer wieder in ihrer Aufklärungsarbeit behindert und eingeschüchtert. Insofern können alle für diesen Überblick verwendeten Quellen auch immer nur lückenhaft protokollieren, wie sich die Menschenrechtslage in den bpG darstellt.

Dennoch ist in den Berichten der internationalen Organisationen und der Menschenrechtsgruppen über den ganzen Zeitraum der Besatzung eine erdrückende Fülle an Material zusammengetragen worden. Systematische Verstöße gegen Völkerrecht, Genfer Konventionen und die Menschenrechtspakte sind dort belegt. Die Berichte enthalten auch Ton- und Bildzeugnisse, die zeigen, wie Menschen misshandelt, gewaltsam angegriffen und verhaftet werden. Daher fordert CERD Israel auf, seine Verpflichtungen zu erfüllen und den Bewohner*innen im gesamten von Israel kontrollierten Gebiet die vollen Rechte ohne Diskriminierung zu gewähren.

Aufgrund der Entwicklungen der letzten Tage wird dieser Abschnitt umgeschrieben:

„Vor diesem Hintergrund erklärte die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) Ende 2019, dass das Gericht zuständig sei, Kriegsverbrechen und anderen Rechtsbrüchen in den besetzten Gebieten einschließlich Ostjerusalem und Gaza nachzugehen. Alle Kriterien für weitere Ermittlungen seien erfüllt. Die mit der juristischen Prüfung beauftragte Kammer des Gerichts bestätigte am 5.2.2021 die territoriale Zuständigkeit des ICC.“

Die folgende Liste konzentriert sich auf die Verletzungen der elementaren politischen Menschenrechte. Israel ist dem Pakt über die bürgerlichen und politischen Rechte (Zivilpakt) im Jahr 1991 beigetreten und kann daran gemessen werden. Zu den Verstößen gegen wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt) wäre auch noch mehr zu sagen, als in diesem Rahmen möglich ist.

Nachweisbare Menschenrechtsverletzungen

Willkürliche Zerstörung und Beschlagnahme palästinensischen Eigentums, Vertreibungen

(Bezug: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR), Artikel 25; Sozialpakt, Artikel 11)

Regelmäßige Berichte von OCHA dokumentieren akribisch die stetige Praxis israelischer Behörden, palästinensische Einrichtungen zu zerstören oder zu konfiszieren. Für das Jahr 2020 zeigen sie einen signifikanten Anstieg.

  • 886 »Strukturen« wurden zerstört (unter »Strukturen« versteht OCHA Wohnungen, Häuser und Einrichtungen, die für den Lebensunterhalt oder Dienstleistungen gebraucht werden wie Stallungen, Geschäfte, Werkstätten, oder sanitäre Anlagen). Seit 2009 wurden 7.400 Strukturen zerstört und über 11.000 Menschen aus ihren Häusern vertrieben.
  • 996 Personen wurden obdachlos gemacht, die anschließend auf humanitäre Hilfe durch die UNO oder karitative Organisationen angewiesen waren.

Die einschlägigen völkerrechtlichen Bestimmungen lauten, dass solche Handlungen nur erlaubt sind, wenn eine absolute militärische Notwendigkeit gegeben ist. Davon kann hier keine Rede sein. Als Gründe für den Abriss von Häusern und Wohnungen werden geltend gemacht:

  • Nicht näher spezifizierte „Sicherheitsbelange“ (z.B. Häuser in der Nähe des Grenzzauns).
  • Strafaktionen gegen Übergriffe von Palästinenser*innen (damit ganze Familien und Dörfer in Mithaftung nehmend).
  • Illegal errichtete Einrichtungen. „Wildes“ Bauen hat indes den einfachen Grund, dass es für Palästinenser*innen fast unmöglich ist, Baugenehmigungen zu erhalten.

Zum willkürlichen Charakter dieser Gewaltakte gehört: 30 Prozent der gewaltsamen Zerstörungen wurden 2019 ohne vorherige Ankündigung begangen (viel mehr als je zuvor). Das heißt auch, dass die Möglichkeiten der Bewohner*innen, sich gegen Zwangsräumungen gerichtlich zur Wehr setzen zu können, durch militärische Anordnungen und Gesetzgebung immer weiter ausgehöhlt bzw. begrenzt werden.

Die Attacken auf landwirtschaftlich genutztes Land (z.B. Olivenbäume), die vor allem von Siedler*innen ausgehen, sollten nicht unerwähnt bleiben.

Insgesamt ist deutlich ein Muster zu erkennen: Mit den Räumungen und den staatlich betriebenen Enteignungen werden Voraussetzungen für neue jüdische Siedlungsprojekte geschaffen.

Willkürliche Festnahmen und Gefängnishaft

(Bezug: Zivilpakt, Art. 9 und 10)

Hunderte von Razzien werden Jahr für Jahr in den besetzten Gebieten durchgeführt – gewöhnlich nachts; Palästinenser*innen werden verhaftet und können bis zu 60 Tage festgehalten werden, ohne einen Anwalt und ohne sie einem Haftrichter zu überstellen.

Laut amnesty international saßen am Stichtag 30. November 2019 4.638 Palästinenser im Gefängnis, darunter 182 Kinder (amnesty 2019). Dabei werden Zivilisten aus den besetzten Gebieten, inklusive Kinder, durch Militärgerichte verurteilt und in 16 Gefängnissen im israelischen Kernland untergebracht. Beides widerspricht humanitärem Völkerrecht.

Die palästinensische Menschenrechtsorganisation al-Haq schätzt in einem Bericht vom Februar 2021, dass seit 1967 etwa 900.000 Palästinenser*innen verhaftet worden seien. Das wären ca. 20 % der gesamten und fast 40 % der männlichen Bevölkerung. Das gesamte Ausmaß dieser Verhaftungspraxis wird daran deutlich.

Administrativhaft

(Bezug: AEMR, Art. 2 und 3; Zivilpakt, Art. 9)

Diese Haftform hat Israel von der britischen Kolonialverwaltung übernommen. Sie bedeutet, dass die Haft von Exekutivorganen des Staates (hier: Militärgerichtsbarkeit) verhängt werden kann – ohne Anklage oder anhängiges Strafverfahren. Es reicht, wenn ein militärischer Oberbefehlshaber gegebenenfalls auch präventiv eine Festsetzung von Personen anordnet, die die öffentliche Ordnung in den besetzten Gebieten gefährden.

  • Diese Haft soll sechs Monate nicht übersteigen, kann aber immer wieder verlängert werden.
  • Geurteilt wird von israelischen Militärgerichten aufgrund von Erkenntnissen der »Israeli Security Agency«. (Shin Bet)
  • Die Gerichte tagen nicht öffentlich; das Recht der auf juristischen Beistand ist erheblich eingeschränkt, der Besuch von Familienangehörigen wird oft grundlos verweigert.

Ende 2019 befanden sich nach Angaben von amnesty international 458 Menschen in Administrativhaft. Auch Minderjährige sind darunter; eine Militärverordnung ermöglicht Haftstrafen für Minderjährige schon ab 12 Jahren.

In einem Rechtsgutachten von 2016 kommt die »Internationale Liga für Menschenrechte« zu dem Schluss, dass die Administrativhaft gegen fundamentale Menschenrechte und gegen Regeln des humanitären Völkerrechts verstößt und aufgehoben werden muss.

Folter und Misshandlungen

(Bezug: Zivilpakt Artikel 7, UN-Konvention gegen Folter 1984)

Israel hat über Jahrzehnte die Anwendung von Foltermethoden mit dem Argument des rechtfertigenden Notstands verteidigt. Eine 1987 eingesetzte Kommission, die die vor allem gegen den Inlandsgeheimdienst Shin Beit gerichteten Vorwürfe untersuchte, konnte sich nur zu einer halbherzigen Kritik durchringen, weil man die Arbeit der Geheimdienste nicht unterminieren wollte (Ehrlich und Johannsen 2002). Immerhin hat der Oberste Gerichtshof Israels nach langen Auseinandersetzungen und unter dem Druck von UNO und Menschenrechtsgruppen 1999 die absolute Unrechtmäßigkeit der Folter anerkannt. Bis heute aber hat sich Israel geweigert, die Anti-Folter-Konvention in nationales Recht aufzunehmen. Viele Indizien deuten zudem darauf hin, dass Soldat*innen, Polizist*innen und Angehörige der »Israeli Security Agency« weiterhin Gefangene foltern und misshandeln (Schläge, Schlafentzug, Stresspositionen, Isolationshaft).

Nach Angaben von amnesty international sind im Zeitraum von 2001 bis 2016 mehr als 1.000 Beschwerden wegen Folter bei den zuständigen Instanzen eingereicht worden. Keine einzige gerichtliche Untersuchung wurde eingeleitet und dies obwohl es immer wieder Todesfälle in der Haft gegeben hat. Im Jahresbericht 2019 schreibt amnesty, dass im selben Jahr vier Gefangene an den Folgen von Folter oder Misshandlungen gestorben seien.

Es ist daher nur folgerichtig, dass das UN »Committee on Torture« (CAT/C/ISR/CO/5 ) anmahnt, Israel müsse das absolute Folterverbot endlich gesetzlich verankern und dafür Sorge tragen, dass dieses Verbot auf dem gesamten Staatsgebiet einschließlich der besetzten Gebiete und auf alle Personen Anwendung findet.

Ungesetzliche Tötungen

(Bezug: Zivilpakt, Art. 6)

In den OCHA-Berichten wird immer wieder von Erschießungen von Palästinenser*innen berichtet, darunter Kindern, die an Demonstrationen teilgenommen haben. 2019 waren dies 38 Personen, darunter 11 Minderjährige. Laut amnesty international handelt es sich dabei um exzessive, unverhältnismäßige Gewaltanwendung, da durch die Aktionen der Getöteten (bspw. Steinwürfe) niemand mit dem Tod bedroht wurde. Amnesty äußert ebenso den Verdacht, dass diese Tötungen in vielen Fällen vorsätzlich erfolgt seien, was den Tatbestand eines Kriegsverbrechens erfülle. Untersuchungen dieser Fälle, mit denen mögliche Täter*innen verantwortlich gemacht werden könnten, gibt es in der Regel nicht.

Als besonderes Beispiel exzessiver Gewalt muss nach wie vor die gezielte Tötung von 179 Demonstrant*innen gelten, die zwischen März und August 2018 an Protestaktionen gegen die Blockade des Gazastreifens teilgenommen hatten.

Recht auf freie Meinung und Vereinigungsfreiheit

(Bezug: Zivilpakt, Artikel 19, 21, 22)

Die Handlungsspielräume für Menschen, Parteien, Nichtregierungsorganisationen, die sich gegen die Diskriminierung der Palästinenser*innen wenden, werden seit einigen Jahren durch Gesetze, Verordnungen und im gesellschaftlichen Leben immer stärker eingeengt (Asseburg 2017)

Repressalien gegen Menschen, die die Okkupation anprangern und Menschenrechte einfordern, sind an der Tagesordnung (Razzien gegen Büros, Beschlagnahmung von Geräten und Materialien, Verhaftungen, Zugangsverweigerungen)

Begleitet wird dies durch Verleumdungskampagnen: Menschenrechtler gelten als „Vaterlandsverräter“, „Kollaborateure“, „ausländische Agenten. So hat das israelische »Ministerium für Strategische Angelegenheiten« Menschenrechtsaktivist*innen auf eine »Terrorliste« gesetzt.

Einschränkung des Rechts auf Freizügigkeit

(Bezug: AEMR Artikel 13, Zivilpakt, Artikel 12)

Das in diesem Dossier näher beleuchtete Passierschein- und Genehmigungsregime (vgl. Alqaddi) und die damit verbundenen Grenzzäune, Check-Points und Straßensperren bewirken eine massive Einschränkung der Bewegungsfreiheit für die Palästinenser*innen.

Diese Beschränkungen haben gravierende Auswirkungen auf die wirtschaftliche und soziale Lage der Betroffenen und erschweren den Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung.

Die Blockade des Gazastreifens ist der gravierendste Fall. Mit dieser Abriegelung werden die Lebensbedingungen von etwa 2 Mio. Menschen empfindlich und nachhaltig tangiert. Damit wird gegen eine Reihe von Grundrechten verstoßen: Recht auf Freizügigkeit, Recht auf ungehinderten Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung, Trinkwasser, selbst das Recht auf humanitäre Hilfe ist beeinträchtigt.

Eine Anmerkung zur Menschen­rechtslage in Israel selbst

Dass es nicht nur isoliert um die systematische Diskriminierung der palästinensischen Bevölkerung geht, wird daran deutlich, wie der Staat Israel mit Einwanderer*innen, Geflüchteten, Asylsuchenden und Staatenlosen umgeht. Amnesty international weist beispielsweise darauf hin, dass 2019 kein einziger der 30.000 Asylanträge positiv beschieden wurde. Auch der Umgang mit ca. 60.000 Flüchtlingen aus Sudan und Eritrea durch die Netanjahu-Regierung war nicht fair und nicht völkerrechtskonform. Hieran wird ein Grundproblem der israelischen Entwicklung sichtbar: Israel ist ein Einwanderungsland – aber nur für Menschen jüdischer Herkunft. Diese Tendenz der Judaisierung hat sich auch in der Bestimmung des Nationalstaatsgesetzes von 2018 niedergeschlagen, wonach Israel „der Nationalstaat des jüdischen Volkes sei“. Dies ist mit dem Demokratie- und Rechtsstaatsanspruch des Landes nicht in Einklang zu bringen.

Literatur:

Asseburg, M. (2017): »Shrinking spaces« in Israel. Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Aktuell 61, August 2017.

Ehrlich, A.; Johannsen, M. (2002): Torture to Serve Security? Terrorism and Human Rights. The Case of Israel’s Interrogation of Palestinians from the Occupied Territories. In: Bothe, M.; Kondoch, B. (Hrsg.): International Peacekeeping. The Yearbook of International Peace Operations 7. The Hague/London/New York: Kluwer, S. 237-265.

Internationale Liga für Menschenrechte (2016): Gutachten vom 12. Mai 2016: Administrativhaft in den besetzten palästinensischen Gebieten.

Paech, N. (2019): Menschenrechte. Geschichte und Gegenwart – Anspruch und Realität. Köln: Papyrossa.

Hilfreiche Quellen für die eigene Recherche:

Vereinte Nationen:

  • UN High Commissioner for Human Rights (UNHCHR)
  • UN Committee on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination (CERD)
  • UN Committee on Torture (UCT)
  • UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA)

Nichtregierungsorganisationen:

  • Al-Haq (palästinensische Menschenrechtsorganisation)
  • amnesty international (Israel und Palästina)
  • Breaking The Silence (Organisation ehemaliger israelischer Soldat*innen)
  • B’Tselem (israelische Menschenrechtsorganisation, )
  • Human Rights Watch
  • medico international
  • Peace Now (israelische Friedensorganisation)

Opferzahlen von 2008 bis 2019

  Palästina Israel
Tote 5.586 249
Verwundete 119.112 5.624

Zermürbung als Alltagspraxis

Das israelische Genehmigungsregime

von Nasser Alqaddi

Das israelische Genehmigungsregime ist ein bürokratisches Militärregime, das den Zugang von Palästinenser*innen nach Israel und in die Siedlungen regelt. Es wurde nur für palästinensische Bürger*innen sowohl im Westjordanland als auch im Gazastreifen eingeführt, einschließlich der isolierten Ortschaften hinter der Trennmauer (Sultan 2015). Demnach darf keine palästinensische Bürger*in ohne die erforderlichen Genehmigungen hinter die »Grüne Linie« oder in Siedlungen in den besetzten Gebieten gelangen (Cahana und Kanonich 2013).1

Genehmigungen werden nur vorübergehend und für viele Zwecke separat ausgestellt, basierend auf bestimmten zugelassenen Antragsgründen wie Arbeitssuche, medizinische Behandlung, Tourismus, Bildung, Familienzusammenführung für besondere und außergewöhnliche Bedürfnisse etc. (Gisha 2017). Genehmigungen können auch widerrufen werden, wenn es ein Problem gibt, das den Widerruf durch den israelischen Geheimdienst, der die Sicherheitslage einschätzt, rechtfertigt. Auch ihre Gültigkeitsdauer ist abhängig von der Sicherheitslage im Allgemeinen und der persönlichen Sicherheitsfreigabe der Antragsteller*innen im Besonderen (Wilson 2015). Daher gewähren diese Genehmigungen den Palästinenser*innen nicht das Recht, sich langfristig frei zu bewegen, im Staat Israel zu leben oder die gleichen Bürgerrechte wie israelische Staatsbürger*innen zu erhalten. Das Recht auf faire Löhne und Entschädigung an den Arbeitsplätzen ist jedoch bei legaler Beschäftigung gewährleistet (AWRAD 2013).

Kurze Geschichte des »Passierschein- und Genehmigungs-Systems«

Um den Hintergrund dieses Regimes zu verstehen, muss man zum Ausbruch des ersten Intifada-»Aufstandes« im Jahr 1987 zurückgehen. Die allgemeine Sicherheitslage brach zusammen, was die israelische Armee dazu veranlasste, die palästinensische Bewegungsfreiheit vollständig einzuschränken und Sicherheitsmaßnahmen wie Ausgangssperren und Blockaden anzuwenden (Hass 2002). Die Bewegungsfreiheit zwischen der Westbank und dem Gazastreifen, auch innerhalb der »Grünen Linie«, wurde den Palästinenser*innen verweigert. Ebenso wurden Reisen ins Ausland unter dem Vorwand der Sicherheit eingeschränkt (Abu Zahra und Kay 2012).

1988 führte das israelische Zivilverwaltungsamt die ersten Sicherheitsmaßnahmen zur Überprüfung von Palästinensern aus den besetzten Gebieten ein, indem es ihre ID-Karten markierte. Grüne ID-Karten wurden an Personen ausgegeben, denen die Einreise nach Israel untersagt war, orange und rote ID-Karten wurden an den Rest der palästinensischen Bevölkerung ausgegeben (Parizot 2017).

Ab 1991 mussten die Palästinenser*innen dann eine temporäre Genehmigung nach der anderen beantragen. Dies war der Weg zur Einführung eines umfassenden »Passierschein--Regimes«, mit dem man die palästinensische Widerstandsbewegung von israelischem Kernland fernhalten wollte. 1996 führte die israelische Zivilverwaltung eine neue Art von Genehmigungspflicht ein, um zu garantieren, dass keine Palästinenser*in mit einer unsauberen Sicherheitsbilanz in irgendeine Siedlung gelangen konnte. Diese gilt bis heute und reguliert den Zutritt aller Palästinenser*innen zu jeglichen Siedlungen. (Kav LaOved 2012).

Nach dem Scheitern der Friedensgespräche in Camp David im Jahr 2000 zwischen Israel und der palästinensischen Seite brach der »Aufstand« der Zweiten Intifada aus. Die israelische Regierung versuchte erfolglos, die Intifada durch gewaltsame Unterdrückung zu stoppen. Schließlich baute sie ab 2002 die Trennungsmauer (Wannous 2012). Dies schuf eine neue geopolitische Realität in den besetzten Gebieten, die die palästinensische Bewegungsfreiheit erneut immens beeinträchtigte (NRC 2015). Sie zwang ca. 2,9 Mio. Palästinenser*innen im Westjordanland und 1,9 Mio. Menschen im Gazastreifen, sich nun dem Genehmigungsregime vollständig zu unterwerfen.

Die Konsequenzen im Alltag

Israel gibt vor, dass diese Mauer bewaffnete palästinensische Gruppen daran hindern soll, Anschläge zu verüben. Die Folge dieses Regimes ist jedoch, dass die palästinensische Bevölkerung insgesamt und in allen Lebensbereichen viel Leid ertragen muss (Ibhais und Ayed 2013). Zum Beispiel wurden durch die Mauer de facto riesige Landflächen annektiert, die sich in palästinensischem Besitz befanden, denn die Mauer wurde nicht auf der »Grünen Linie« des seit 1967 besetzten Gebiets gebaut (Smith und Green 2014). Es wurden durch die Mauer auch palästinensische Enklaven geschaffen, die als »Saumzone oder Saum« bezeichnet werden, in denen die Bewohner*innen ohne dauerhaftes Recht auf Freizügigkeit leben.2 Sie sind gezwungen, Genehmigungen einzuholen, um sich zwischen ihren Häusern und Ortschaften zu bewegen. Es ist ihnen nicht einmal erlaubt, ihre Wohnungen oder Grundstücke zu bebauen oder zu renovieren, Produkte zu importieren oder zu exportieren, ohne vorher eine Genehmigung des israelischen Zivilverwaltungsamtes eingeholt zu haben (Landau 2013). Selbst Palästinenser*innen aus den umliegenden Gebieten müssen Genehmigungen einholen, um in diese Zone zu gelangen.

Seit dem Ausbruch der zweiten Intifada sank die Zahl der Arbeiter*innen aus Gaza in Israel von 16,5 % der Gesamtbelegschaft im Jahr 1999 auf 12,7 % im Jahr 2000. Dieser Prozentsatz ging weiter zurück, bis Israel nach dem Wahlsieg der Hamas bei den Wahlen zum Palästinensischen Legislativrat 2006 die Einreise von Arbeiter*innen in seine Gebiete vollständig verbot (Salah 2015). Darauffolgend begann die israelische Regierung mit einer Art Belagerungspolitik gegenüber Gaza, die die Bewegungsfreiheit der dortigen Bewohner*innen für Reisen ins Ausland oder zur Arbeit über israelische Kontrollpunkte unterband (Brown 2008).

Während das palästinensische Zivilverwaltungsbüro mittlerweile 42 Arten von Genehmigungen bearbeitet, zeigen die neuesten Statistiken, dass die israelische Zivilverwaltung sogar insgesamt 101 Arten von Genehmigungen zur Verfügung hat, um die Bewegung der Palästinenser*innen zu kontrollieren. Sie unterscheiden zum Beispiel Genehmigungen für Gebiete innerhalb Israels, für die israelischen Siedlungen im Westjordanland, für die Passage zwischen Gaza und dem Westjordanland, für Jerusalem, für die »Saum-Zone« und für Reisen ins Ausland über internationale Grenzen (Alqasis und Al-Azza 2015). Der höchste Prozentsatz dieser Genehmigungen wird für Arbeitszwecke entweder innerhalb Israels oder in den Siedlungen ausgestellt. Darauf sind die Palästinenser*innen dringend angewiesen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können.

Bürokratische Gängelung

Technisch gesehen müssen Palästinenser*innen ihre Genehmigungsanträge bei der örtlichen palästinensischen Verbindungsstelle einreichen. Diese leitet den Antrag dann an die regionale israelische Zivilverwaltung weiter. Seit September 2000 müssen Palästinenser*innen ihre Genehmigungen allerdings persönlich bei der regionalen Zweigstelle der israelischen Zivilverwaltung beantragen (BADIL 2003). Die Palästinensische Autonomiebehörde versucht jedoch, die palästinensischen Antragsteller*innen davon abzuhalten, direkt mit der israelischen Zivilverwaltung zu verhandeln, da dies ihre Rolle schwächt. Ein direkter Kontakt mit der israelischen Seite ist jedoch im Falle der Ausstellung der magnetischen, biometrisch codierten Karte notwendig, die vom israelischen Geheimdienst »Shin Bet« kontrolliert wird (Kuttab 2016). Sie ist eine Voraussetzung für den Erhalt jeglicher Art von Genehmigungen und gilt als Nachweis dafür, dass die Antragsteller*innen eine Sicherheitsfreigabe nach Einschätzung des Shin Bet erhalten haben. Allerdings qualifiziert diese Karte die Antragsteller*innen nicht immer automatisch zum Erhalt der Genehmigung (Smeirat 2013).

Dies verdeutlicht, wie das »Genehmigungs-Regime« die palästinensische Bevölkerung rigoros kategorisiert, kontrolliert und segregiert. Durch die Anwendung dieses Prozesses wird jegliche selbstbestimmte Bewegungsfreiheit in allen Aspekten des Lebens untergraben. Darüber hinaus bleibt diese Praxis für die Antragsteller*innen unberechenbar, da sie von den israelischen Behörden nicht über die Gründe für die Genehmigung oder Ablehnung ihrer Anträge informiert werden. Um die Gründe für eine Ablehnung von israelischen Gerichten überprüfen zu lassen, müssten sie unerschwingliche Kosten für die Beauftragung von Anwält*innen auf sich nehmen (Alqasis und Al-Azza 2015).

Infolgedessen ertragen die Palästinenser*innen alle möglichen Härten in ihrem Alltag. Als extremes Beispiel: Patient*innen müssen längere Zeit warten, um die Erlaubnis zu erhalten, medizinische Zentren in anderen Landesteilen aufzusuchen, wenn bestimmte Behandlungen in ihrem Gebiet nicht verfügbar sind. Diese Praxis des Wartenlassens hat schon dazu geführt, dass einige Patient*innen starben, während sie noch auf ihre Einreiseerlaubnis warteten (McNeill 2017).

Fragmentierung und Kategorisierung

Die Beantragung von Einreisegenehmigungen ist zu einem unvermeidbaren Teil des Lebens der Palästinenser*innen geworden. Die israelische Regierung hat mit der Ausstellung von »internen Visa« weltweit beispiellose Mechanismen in Gang gesetzt, die auf Entmutigung und Zermürbung zielen. Sie schränkt die Bewegungsfreiheit der Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten drastisch ein und unterscheidet aus angeblichen Sicherheitsgründen überhaupt nicht mehr zwischen echten Bedrohungslagen und dem Alltag der Zivilist*innen, deren Grundrecht auf Freizügigkeit dringend gesichert werden muss.

Die Fragmentierung und Kategorisierung von Menschen, denen je nach Wohngebiet Sondergenehmigungen zugewiesen werden, sowie die omnipräsente militärische Überwachung tragen wesentlich dazu bei, dass den Palästinenser*innen Entwicklungsmöglichkeiten systematisch abgeschnitten werden. Die Ablehnung von Einreisegenehmigungen trifft die Palästinenser*innen besonders hart, weil sie auf Arbeitsgenehmigungen »jenseits der Mauer« ökonomisch dringend angewiesen sind (Berda 2017). Darüber hinaus hat die Mauer viele palästinensische Gemeinden geteilt und für ihre Bewohner*innen die Herausforderung geschaffen, nun für alle Lebensbereiche Genehmigungen erhalten zu müssen.

Insgesamt: Das Ergebnis der geografischen und sozio-politischen Diskontinuität stärkt die israelische Politik, einen Status quo zu erhalten, in dem es unmöglich ist, einen palästinensischen Staat oder eine Entität zu gründen, die mit dem jüdischen Staat in Koexistenz sein kann (Bashi und Diamond 2015). Stattdessen macht sie die Palästinenser*innen in fast allen Lebensbereichen von Israel abhängig.

Anmerkungen:

1) Ausnahmen dazu existieren, wenngleich auch wenige. Im März 2015 beispielsweise hoben die israelischen Behörden die Bewegungsbeschränkungen für einige palästinensische Reisende auf und erlaubten Frauen über 50 Jahren und Männern über 55 Jahren die Einreise, ohne eine Genehmigung zu beantragen. Die Bewohner*innen Ostjerusalems sind auch davon ausgenommen; sie haben freien Zugang zu ganz Israel, da sie einen festen Wohnsitz haben (Booth 2017).

2) Die »Saum-Zone« macht 9,4 % der palästinensischen Gebiete aus. Die Palästinenser*innen, die in diesem Gebiet leben, sind vom Rest der Westbank isoliert (EAPPI 2016). Sie umfasst 38 abgetrennte Ortschaften, die von etwa 50.000 Palästinenser*innen bewohnt werden (Randles 2012). Durch den Bau der illegalen Trennungsmauer entstand diese Zone, die größtenteils als Gebiet C klassifiziert ist und somit den israelischen Planungs- und Zonierungsvorschriften unterworfen ist (WCLC 2010).

Literatur:

Abu Zahra, N.; Kay, A. (2012): Unfree in Palestine: Registration, documentation and movement restriction. London: Pluto Press.

Alqasis, A.; Al-Azza,N. (Hrsg.) (2015): Forced population transfer: The case of Palestine: Instalment of a permit regime. Bethlehem: BADIL.

AWRAD (2013): Palestinian Workers: A comprehensive Report on Work Conditions, Priorities and Recommendations. PGFTU.

BADIL Resource Center for Palestinian Residency and Refugee Rights (2003): The permit maze: Palestinians need permits to move, to live, for everything. Occasional Bulletin No.12, November 2003.

Bashi, S.; Diamond, E (2015): Separating land, separating people: Legal analysis of access restrictions between Gaza and the West Bank. Tel Aviv: Gisha.

Berda, Y.(2017): Living emergency: Israel’s permit regime in the Occupied West Bank. Stanford: Stanford University Press.

Booth, W.(2017): A Palestinian’s daily commute through an Israeli checkpoint. The Washington Post, 25.05.2017.

Brown, N. J. (2008): The Road out of Gaza. Carnegie Policy Outlook, Februar 2008..

Cahana, A.; Kanonich, Y. (2013): The Permit Regime Human Rights Violations in the West Bank Areas known as the “Seam Zone.” Jerusalem: HAMOKED.

EAPPI (2016): Between a gate and the wall: Palestinians receive medical care in the “seam zone”. 18.10.2016.

Gisha (2017): Unofficial translation of COGAT: Unclassified Status of Palestinians authorization of entry into Israel, their passage between Judea and Samaria and the Gaza Strip and their Travel Abroad. Israel, 18.09.2017.

Hass, A. (2002): Israel’s closure policy: An ineffective strategy of containment and repression. Journal of Palestine Studies. Vol. 31, No. 3, S. 5-20.

Ibhais, H.; Ayed, K. (2013): The Separation Wall in the West Bank. Beirut: Al-Zaytouna Center.

Kav LaOved (2012): Employment of Palestinians in Israel and settlements: Restrictive policies and abuse of rights. www.kavlaoved.org.il.

Kuttab, D.(2016): “Magnetic card system restricts Palestinian visits to Jerusalem.” ALMONITOR, 17.05. 2016.

Landau, I. (2013): A journey into the dark heart of the Israel’s permit regime. +972 Magazine, 7.10.2013.

McNeill, S. (2017): Dying to leave: Playing politics with patient’s live in Gaza. ABC Net News, 13.07.2017.

Norwegian Refugee Council (NRC) (2015): The legality of the Wall built by Israel in the West Bank. Jerusalem: NRC.

Parizot, C. (2017): Viscous spatialities: The spaces of the Israeli permit regime of access and movement. HAL archives-ouvertes.

Randles, S. (2012): The “Seam Zone.” Bethlehem: BADIL.

Salah, H. (2015): Gazans pursue jobs in Israel despite danger. ALMONITOR, 01.05.2015.

Smeirat, I. (2013): Israeli Occupation: A business enterprise: The case of magnetic cards and permits entry to Israel. Bethlehem: Arij Institute.

Smith, A.; Green, P. (2014): Forced evictions in Israel-Palestine. Middle East Monitor: London..

Wannous, M. (2012): The Separation Wall: Israel’s complete Apartheid. Qatar: Arab Center for Research & Policy Studies.

Wilson, N. (2015): Arbitrary permit laws for West Bank workers in Israel. AlJazeera, 23.08.2015.

Women’s Centre for Legal Aid and Counselling (WCLC) (2010): Life behind the wall: voices of women from the seam zone. Ramallah:WCLC.

Nasser Alqaddi, Palästinenser, 1988 in Hebron geboren, Master in Amerikanistik, Übersetzer, arbeitete 2018 im Applied Research Institute – Jerusalem (ARIJ), derzeit sozialwissenschaftliches Masterstudium (Global Studies) an der Universität Freiburg.

Militarisierung und Besatzung

Bericht einer Israelin

von Sahar Vardi

Israel steht als einziges Land der Erde bei sämtlichen Militarisierungsparametern, die im »Global Militarization Index« des Bonn International Center for Conversion (BICC) untersucht werden, ganz oben. Analysiert wurden die Höhe der Militärausgaben, die Anzahl (para-)militärischer Kräfte und die Anzahl schwerer Waffensysteme, über die die Streitkräfte eines Landes verfügen (Mutschler und Bales 2020). Diese Parameter sind zwar einfach zu quantifizieren und eignen sich daher gut, um den Grad der Militarisierung unterschiedlicher Länder zu gewichten, es gibt aber zahlreiche weitere Kennwerte für die Militarisierung einer Gesellschaft.

Militarisierung lässt sich nicht nur an Budgetzahlen, dem Ausmaß der Rüstung und der Anzahl der Soldat*innen festmachen, sondern auch daran, inwieweit das Militär in die zivile Sphäre hinein- und in ihr mitwirkt. Die Präsenz bewaffneter Soldat*innen im öffentlichen Raum ist ebenso Ausdruck für Militarismus wie die Abordnung von Soldat*innen an Schulen (z.B. im Rahmen des israelischen »Soldat*innen-als-Lehrer*innen«-Programms [Morot-Hayalot])1 oder an Krankenhäuser (wie sich aktuell an COVID-19-Krankenstationen zeigt, die vom Militär in zivilen Krankenhäusern betrieben werden) (vgl. Gross 2020). Nachfolgend werden drei besondere Aspekte der Militarisierung in Israel erläutert: wirtschaftliche Faktoren, die Rolle der Wehrpflicht sowie der gesellschaftliche Stellenwert und das Ansehen des Militärs.

Militärbudget und -ressourcen

Im Jahr 2019 machte das Budget des israelischen Verteidigungsministeriums 13,2 % des Staatshaushalts aus. Mit diesem Prozentsatz liegt Israel auf Rang 12 der höchsten Militärbudgets weltweit (SIPRI 2020). Gemessen an seiner Wirtschaftskraft gibt Israel 5,3 % seines Bruttoinlandsproduktes (BIP) für Waffen aus und liegt damit direkt hinter Oman, Saudi Arabien, Algerien und Kuwait (vgl. Tian et al. 2019). Der israelische Militärkomplex wird allerdings nicht nur vom Staat finanziert, vielmehr spielt auch die Wirtschaftskraft der Rüstungsindustrie eine wichtige Rolle. Israel ist der achtgrößte Waffenexporteur der Welt und damit weltweit die Nummer eins bei den Rüstungsexporten pro Kopf der Bevölkerung und gemessen am BIP (vgl. McCarthy 2019). Ebenso müssen die geschätzt 3,8 Mrd. US$ an jährlicher US-amerikanischer Militärhilfe für Israel Erwähnung finden. Obwohl diese Gelder auch den israelischen Militärausgaben zugerechnet werden müssen, können von diesen Hilfen nur Rüstungsgüter von US-Herstellern gekauft werden. Insofern stellen die Militärhilfen auch eine Subventionierung der US-Rüstungsunternehmen dar.

Diese Zahlen sind ein Indikator dafür, welche Prioritäten das Land setzt und wie sich diese in Krisenzeiten, wie jetzt während der COVID-19-Pandemie, auswirken: 2019 verfügte das israelische Verteidigungsministerium über ein Budget in Höhe von 58,9 Mrd. ILS (Schekel; umgerechnet ca. 15 Mrd. €), davon standen über 43 % für Waffeneinkäufe und -entwicklungen bereit, während das Gesundheitsministerium von seinen 42 Mrd. ILS lediglich 15 % für Einkauf und Entwicklung ausgeben konnte (vgl. The Public Knowledge Workshop o.J.). Es überrascht daher nicht, dass zu Beginn der COVID-19-Krise im Frühjahr 2020 das Militär genug Ressourcen hatte, um Krankenhäuser zu unterstützen, und die Rüstungsindustrie rasch Produktionskapazitäten aufbauen sowie Forschungs- und Entwicklungsprogramme aufsetzen konnte, um Lösungen für die Gesundheitskrise bereitzustellen, z.B. die Fertigung von Beatmungsgeräten und kontaktlosen Fieberthermometern.

Die finanzkräftigen Rüstungsunternehmen mit ihrem stabilen, durch das Verteidigungsministerium gewährleisteten Auftragsbestand verkaufen ihre Entwicklungen (z.B. bewaffnete Drohnen, Kleinwaffen und Raketen oder in Pandemiezeiten auch Beatmungsgeräte), spülen damit noch mehr Geld in den militärisch-industriellen Komplex und bauen ihre Kapazitäten weiter aus.

Wehrpflicht

„Ein wahrer Israeli drückt sich nicht vor der Wehrpflicht!“ Dieser Slogan stand 2008 im Zentrum einer groß angelegten Öffentlichkeitskampagne in Israel. Die Kampagne wurde nicht vom israelischen Militär selbst durchgeführt, sondern von einem Privatunternehmen, das sich in der Öffentlichkeit profilieren wollte, indem es der unterstützenswertesten Institution der israelischen Gesellschaft den Rücken stärkte: der Wehrpflicht. In Israel gilt – zumindest dem Gesetz nach – eine allgemeine Wehrpflicht. Für Frauen beträgt die Wehrpflicht 24 Monate, für Männer 32 Monate, ab dem Alter von 18 Jahren, also direkt nach Schulabschluss; daran schließt nahtlos der Reservedienst an.

In Wirklichkeit ist die Wehrpflicht nicht ganz so allgemein: Alle palästinensischen Bürger*innen Israels (das sind 21 % der Bevölkerung) sind automatisch ausgenommen, ebenso religiös-orthodoxe Frauen (6 %), orthodoxe Männer, die eine jüdische Hochschule (Talmudschule) besuchen (13 %), sowie weitere 11,9 % der wehrpflichtigen Bevölkerung, die aufgrund psychischer Probleme vom Wehrdienst befreit sind (vgl. Harel 2020). Aus gesellschaftlicher Sicht gehört der Militärdienst aber weiterhin in den Lebenslauf eines »wahren Israeli«.

Die Gesellschaft scheint uns fast von Geburt an darauf zu konditionieren, dass wir mit 18 den Militärdienst antreten. Im Kindergarten werden oft Päckchen für Soldat*innen gepackt. Viele Kinderbücher erzählen die Geschichte vom Vater, der von zu Hause weg ist, weil er einen Reservedienst ableistet. Kürzlich las ich in einem Mathematikbuch für Zweitklässler*innen eine Aufgabe, in der es um Soldat*innen ging, die in Reihe und Glied stehen. Das sind nur einige Beispiele aus der frühen Kindheit. In der Mittel- und Oberstufe ist das Militär in unserem Leben ständig präsent. Jeder Schule ist ein*e Soldat*in zugewiesen, die regelmäßig vor Ort ist, Schüler*innen berät und ihnen die Unterschiede zwischen den Teilstreitkräften erklärt. In der 11. Klasse schicken viele Schulen die Schüler*innen in ein Militärcamp, in dem sie eine Woche lang Soldat*in »spielen«. Zum Programm dieses Schulunterrichts in einem Militärstützpunkt gehören Exerzieren, Uniformen und Schießübungen.

Im Alter von 16½ Jahren erhalten wir unsere erste Aufforderung, bei einem Militärstützpunkt vorzusprechen und das Musterungsverfahren zu beginnen. Die Ergebnisse von physischen, psychologischen und Intelligenztests nutzt das Militär, um festzulegen, wo wir den Militärdienst ableisten sollen. Das ist wichtig, weil dies nicht nur darüber entscheidet, was du in den zwei oder drei Jahren nach deinem Schulabschluss tust, sondern auch darüber, was anschließend in deinem Lebenslauf steht. Künftige Arbeitgeber*innen achten nicht nur darauf, an welcher Universität du studiert und wo du schon gearbeitet hast, welche Fähigkeiten du mitbringst und wie dich andere in der Vergangenheit beurteilt haben, sondern auch, wo du deinen Militärdienst abgeleistet hast. Jungen Menschen aus marginalisierten Gesellschaftsschichten werden gerne bestimmte niedere Aufgaben zugewiesen – Logistik, Grenzpolizei, technische Unterstützung; daran erkennt ein Arbeitgeber später, dass dich das Militär bei den Tests nicht hoch eingestuft hat. Wer allerdings in einer Eliteeinheit des militärischen Geheimdienstes dient, findet wahrscheinlich nach Absolvierung des Militärdienstes rasch einen guten Job in der Hightech-Industrie, wo er*sie die erworbenen Kenntnisse und Beziehungen als Sprungbrett für eine erfolgversprechende Karriere nutzen kann.

Aber nicht nur wo, sondern ob du überhaupt Militärdienst geleistet hast, ist wichtig für dein weiteres Leben. Wer nicht beim Militär war, wird bei Bewerbungsverfahren unter der Hand oft diskriminiert oder von bestimmten Stipendien, Hypothekarmodellen und sogar sozialen Wohnungsbauprogrammen ausgeschlossen. Diskriminierung auf der Basis des Militärdienstes ist nicht nur eine Methode, um die zu diskriminieren, die den Wehrdienst verweigern, sondern ein legaler Weg, Angehörige der zwei größten Bevölkerungsgruppen zu diskriminieren, die keinen Militärdienst leisten: die palästinensischen Bürger*innen Israels und die Ultraorthodoxen.

Der gesellschaftliche Stellenwert des Militärs

Das Militär wird in Israel bei Umfragen Jahr für Jahr von 90 % der jüdischen Bevölkerung als vertrauenswürdigste Institution des Landes eingestuft (vgl. Hermann et al. 2019). Vor dem Hintergrund einer überbordenden Korruption im politischen Establishment, des ständigen Parteienwechsels von Politiker*innen, des Rassismus und des brutalen Auftretens der Polizei und der Hetzkampagnen gegen den Obersten Gerichtshof scheint das Militär der einzige staatliche Akteur zu sein, dem die Menschen vertrauen. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, ist das Militär doch kaum frei von solchen Fehlern: Bei einem der Korruptionsvorwürfe gegen den israelischen Premierminister Netanyahu beispielsweise geht es um den Kauf deutscher U-Boote. Überall im politischen Establishment Israels stößt man auf ehemalige Generäle, die aufgrund ihrer militärischen Laufbahn gewählt wurden und nun zwischen den Parteien hin und her wechseln (wie Moshe Ya’alon) bzw. unter Korruptionsverdacht stehen (wie Benjamin Gantz). Jenseits der Korruption gehört auch die enge Verflechtung von hohen Generälen mit privaten Rüstungsunternehmen zur unappetitlichen Sphäre der Unternehmensinteressen (vgl. Coren 2013). Und schließlich ist das Militär, das ja eine Politik der Besatzung von Millionen Menschen umsetzt, mindestens ebenso der Gewaltanwendung verhaftet wie die Polizei. Und doch gilt das Militär als unpolitische und besonders vertrauenswürdige Institution.

Dieses hohe gesellschaftliche Vertrauen gegenüber dem Militär überträgt sich auch auf die politische Sphäre. In den letzten Jahren beförderten vor allem Mitte-Links-Parteien Generäle an die Spitze, selbst wenn es diesen, vorsichtig ausgedrückt, an politischer Erfahrung und Vision fehlte. Allerdings werden hohe Generäle nicht nur in den politischen Parteien direkt in Führungspositionen katapultiert, sondern auch in weiteren politischen Lebensbereichen. So kandidieren sie bei Kommunalwahlen oder werden zu Schuldirektor*innen ernannt.2 Immer mehr Generäle gehen außerdem in die private Rüstungs- und Cyberindustrie und so schließt sich der Kreis bei den wirtschaftlichen Aspekten der Militarisierung.

Ein Grund für all dies ist die Wehrpflicht: Eine »Armee des Volkes« genießt eben das Vertrauen des Volkes. Wenn du selbst und deine Söhne und Töchter ebenso im Militär dien(t)en wie deine Eltern und alle anderen deiner Liebsten, wenn diese Menschen das Militär ausmachen, dann muss das Militär einfach vertrauenswürdig sein. Es muss gut sein. Es muss richtig sein. Unter anderem aus diesem Grund ist es so schwer, das Alltagsgeschäft des israelischen Militärs – die Besatzung – zu kritisieren. Wenn wir die Besatzung kritisieren, kritisieren wir zugleich die Menschen, die die Besatzung umsetzen, und dem ist unsere Gesellschaft nicht gewachsen.

Wir müssen aber über die Besatzung sprechen, wenn wir über den Militarismus in Israel reden, da sich beides in einem Teufelskreis gegenseitig verstärkt. Die gesellschaftliche Rechtfertigung für den zentralen Stellenwert des Militärs in der Gesellschaft macht sich daran fest, dass Israel ständig bedroht würde und das Militär zu seiner Verteidigung gebraucht werde. Insbesondere seit den Friedensabkommen mit Ägypten und Jordanien werden die Palästinenser*innen im israelischen Narrativ zur Hauptbedrohung aufgebaut und das militärische Vorgehen gegen sie damit gerechtfertigt. So wurden zum einen die Kontrolle von Millionen besetzter Menschen und zum anderen die Unterstützung des Staates und der Siedler*innen bei der Ausdehnung der Besatzung in Form immer weiterer Land- und Ressourcenenteignungen die wichtigsten Aufgaben des israelischen Militärs. Wie jede Besatzung fordert auch die israelische zum Widerstand heraus – einem Widerstand, der als Bedrohung empfunden wird, vor der nur das Militär schützen kann.

Bis in die 1990er Jahre wurde uns Kindern erzählt, wir sollten uns keine Sorgen machen, „bis ihr älter seid, müsst ihr nicht länger zum Militär gehen“. Heute ist dieser halb scherzhaft gemeinte und doch heimlich ersehnte Spruch nicht mehr zu hören. Als Gesellschaft haben wir uns mit der Vorstellung abgefunden, dass wir »für immer mit dem Schwert leben« – dass das Militär die einzige Lösung ist, die uns bleibt. Und wenn du dich damit abfindest, dass du für immer mit dem Schwert lebst, bist du dazu verdammt, zu töten. Und zu sterben. Das ist letztendlich der Preis der Militarisierung.

Anmerkungen

1) Dabei handelt es sich um ein Programm des israelischen Militärs, in dessen Rahmen Soldat*innen in Uniform an Schulen unterrichten und außerschulische Aktivitäten anleiten, die von den Ministerien für Bildung, Soziales und Immigration angeboten werden.

2) Dies trifft neben vielen anderen auf Ze’ev Peleg, Gideon Taran, Ron Katri, Tuvia Toren, Haim Lasko und Avraham Joffe zu.

Literatur

Coren, O. (2013): U.S. Billionaire Ira Rennert, Ehud Barak Mull Israel Military Industries Bid. Haaretz, 03.10.2013.

Gross, J.A. (2020): IDF opens two coronavirus wards in Haifa’s Rambam hospital. The Times of Israel, 11.10.2020.

Harel, A. (2020): 50 % Increase in Two Years – One Out of Eight Israeli Men Exempt From Army for Mental Health Issues. Haaretz, 23.11.2020.

Hermann, T. et al. (2019): The Democracy Index, 2019. Jerusalem: Israel Democracy Institute, 7.1.2020.

McCarthy, N. (2019): The World’s Largest Arms Suppliers 2018. Statista, 11.3.2019.

Mutschler, M.; Bales, M. (2020): Globaler Militarisierungsindex. Bonn: Bonn International Conversion Center

Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) (2020): SIPRI Military Expenditure Database – Military expenditure by country as percentage of government spending, 1988-2019. Stockholm.

The Public Knowledge Workshop (o.J.): The Budget Key; https://next.obudget.org.

Tian, N. et al. (2019): Trends In World Military Expenditure. Stockholm: SIPRI.

Sahar Vardi ist Israel Programm-Managerin für das American Friends Service Committee in Jerusalem. Sie ist Teil der antimilitaristischen und Anti-Okkupationsbewegung und Mitbegründerin des Hamushim-Projekts, einer Forschungsgruppe, die sich mit der israelischen Militär­indus­trie und Rüstungsökonomie befasst.

Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

Kommentar: Normal, anomal, nicht egal

von Markus Bickel

Die Chancen für eine gerechte Lösung des palästinensisch-israelischen Konflikts stehen derzeit schlecht. Das, obwohl mit dem Amtsantritt Joe Bidens als US-Präsident der so genannte Jahrhundertplan seines Vorgängers Donald Trump von 2020 vom Tisch ist. Der sah die palästinensische Seite bestenfalls als Bittsteller, ein Drittel des Westjordanlands hätte von Israel annektiert und der Traum von einem eigenständigen Staat mit Ostjerusalem als Hauptstadt endgültig begraben werden können.

Wie schwierig es dennoch werden wird, das Ziel einer Zweistaatenlösung wieder mit Leben zu füllen, zeigt dieses Dossier: In wirtschaftlichen ebenso wie in Sicherheitsbelangen ist die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) völlig abhängig von der israelischen Regierung. Ganz zu schweigen von den Menschen im Westjordanland und dem Gazastreifen: Ausbeutung, Demütigungen und ein perfides System ausgeklügelter Passiergenehmigungen strangulieren das Alltagsleben unter der Besatzung, die nun schon länger als ein halbes Jahrhundert dauert. Die Zahl der Siedlungen wächst und wächst – eine Million Israelis sollen nach dem Wunsch rechter Politiker bis 2030 in den besetzten Gebieten leben. So hat sich die mit den Abkommen von Oslo 1993 und 1995 verbundene Hoffnung, sie enthielten die Blaupause für einen eigenständigen palästinensischen Staat, längst zerschlagen. Die Realität zeigt ein Palästina zusammengesetzt aus wirtschaftlich kaum überlebensfähigen, politisch hoch explosiven Enklaven.

Das Ende von Oslo

Die Oslo-Ära ist aber noch aus einem anderen Grund vorbei: Nicht einmal die Hälfte der knapp vier Millionen Palästinenser*innen war in den 1990er Jahren schon geboren. Selbst die Zweite Intifada von 2000 bis 2005, die das Ende der kurzen Dekade palästinensisch-israelischer Annäherung einleitete, kennen eine Million Kinder und Jugendliche allenfalls aus den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern. 16 Jahre beträgt das Durchschnittsalter in Westbank und Gaza, fast so lange ist es her, dass dort das letzte Mal gewählt wurde. Zwei Staaten gibt es lediglich auf palästinensischem Gebiet – Hamas und Fatah haben durch ihren Konflikt dafür gesorgt, das politische System unter der Besatzung autoritär zu konsolidieren. Zumindest ein Grund, weshalb es zu keiner Dritten Intifada kommt, ist, dass die Proteste der Jugend sich sowohl gegen die israelische Besatzungsmacht als auch gegen die eigene Führung richten müssten.

Dass die internationale Gemeinschaft am Ziel einer Zweistaatenlösung festhält, ist schierer Ratlosigkeit und der Weigerung geschuldet, mangels politisch durchsetzbarer Alternativen von einem Plan Abschied zu nehmen, der bereits seit zwei Jahrzehnten obsolet ist: Im Juli 2000 scheiterten in Camp David die vom damaligen US-Präsidenten Bill Clinton initiierten Friedensverhandlungen zwischen dem palästinensischen Präsidenten Yassir Arafat und dem damaligen israelischen Regierungschef Ehud Barak. Zwei Monate später begann die Zweite Intifada, Anfang 2001 unterlag Barak bei der Wahl dem rechten Likud-Kandidaten Ariel Scharon.

Seitdem ist die israelische Politik immer weiter nach rechts gerückt, während es in der Westbank den um einen demokratischen Rechtsstaat bemühten Kräften nicht gelungen ist, die autoritäre Herrschaft der Fatah von Mahmud Abbas zu brechen. Das gilt umso mehr für den Gazastreifen, wo die Hamas und der Islamische Dschihad progressive Kräfte unnachgiebig verfolgen. Dass der 85 Jahre alte Abbas nun für Mai 2021 Parlaments- und für Juli Präsidentschaftswahlen angekündigt hat, zeigt, dass auch der palästinensischen Führung die Zeit davonläuft. Denn nicht nur die demographischen, auch die internationalen Rahmenbedingungen sind völlig andere als in den Jahren der Oslo-Ära. Und diese verlangen Bewegung von der palästinensischen Seite.

Wer normalisiert hier was?

Schließlich ist eine Regelung des palästinensisch-israelischen Konflikts durch die Arabischen Aufstände in den Hintergrund gerückt. Ein Jahrzehnt nach der Revolution auf dem Tahrir-Platz in Kairo bestimmt nicht mehr die Achse moderater Staaten, angeführt von Ägypten und Jordanien, die 1979 bzw. 1994 Frieden mit Israel schlossen, die Geschicke in Nahost. An erster Stelle steht der Kampf um regionale Hegemonie zwischen den Führungsmächten des Golf-Kooperationsrats (GCC) – Saudi-Arabien und Vereinigte Arabischen Emirate (VAE) – mit dem Iran. Gespalten wird dadurch auch die palästinensische Führung: Während die im Gazastreifen herrschende Hamas von Teheran, Ankara und Doha unterstützt wird, setzten Abbas und seine Gefolgsleute bis zuletzt auf Beistand aus Riad und Abu Dhabi.

Doch mit Unterzeichnung der so genannten Abraham-Abkommen im September vergangenen Jahres geht auch diese Gleichung nicht mehr auf. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen Israels mit den VAE und Bahrein bedeutet eine Zäsur in der Geschichte des Nahostkonflikts: Israel steht nun offiziell auf der Seite der sunnitischen Golfstaaten, die im Zuge der Arabischen Aufstände zu den wichtigsten Mächten in der Region aufstiegen. Ende 2020 stimmten Sudan und Marokko einer Normalisierung ihrer Beziehungen mit Israel ebenfalls zu. Es scheint nur eine Frage der Zeit, wann Saudi-Arabien als politisch und wirtschaftlich stärkstes Mitglied der Arabischen Liga (AL) diesen Staaten folgt. Schon jetzt hat die AL endgültig Abschied von einer Position genommen, die seit dem Gipfel von Khartoum nach Ende des Sechstagekriegs 1967 ihre Haltung grundsätzlich bestimmte: kein Frieden mit Israel, keine Anerkennung, keine Verhandlungen, auch wenn von dieser Linie immer wieder abgewichen wurde – gipfelnd in den Friedensschlüssen Ägyptens und Jordaniens mit dem als »zionistische Entität« verschrienen jüdischen Staat.

Die von palästinensischer Seite als Verrat bezeichnete »Normalisierung« formalisiert eine Annäherung, die hinter den Kulissen über Jahre stattfand – getrieben seitens der Golf-Staaten von sicherheitspolitischen wie wirtschaftlichen Interessen und von einer fundamental veränderten regionalen Bedrohungslage: Der Flächenbrand, vor dem noch zu Zeiten des Zweiten Golfkriegs 1991 gewarnt wurde, ist inzwischen grausame Realität. So dringlich das Ende der israelischen Besatzung weiterhin bleibt, so akut ist die Beendigung der Kriege in Syrien, dem Jemen und Libyen. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen einst verfeindeten Staaten dient bei allen Abstrichen der regionalen Verständigung. Angesichts der verzweifelten Bedingungen der Besatzung fällt es den palästinensischen Eliten verständlicherweise schwer, auf die veränderten geopolitischen Rahmenbedingungen angemessen zu reagieren.

Die palästinensische Ablehnung der Abkommen versperrt zudem den Blick darauf, dass es bis vor wenig mehr als zehn Jahren noch Ziel internationaler Friedenspolitik war, nicht nur den israelisch-palästinensischen Konflikt zu beenden, sondern auch die anhaltenden Kriegszustände Israels mit Syrien und Libanon. So verhandelten noch 2008 der damalige Israelische Ministerpräsident Ehud Olmert und Syriens Präsident Baschar al-Assad unter türkischer Vermittlung über einen Friedensschluss – Rückgabe der Golanhöhen inklusive. Erst das Korruptionsverfahren gegen Olmert beendete diese Gespräche.

Alternativen zur Zweistaatenlösung

Das heißt, dass regionale Annäherung und eine Verhandlungslösung für Israel/Palästina sich nicht ausschließen müssen. Im Gegenteil: Marokko hat sich dazu bekannt, auch weiterhin an der Arabischen Friedensinitiative von 2002 festzuhalten; Saudi-Arabiens König Salman setzt ebenfalls auf die Formel seines Halbbruders Abdullah, dass eine Anerkennung Israels erst nach Schaffung eines palästinensischen Staats mit Ostjerusalem als Hauptstadt und einer Regelung für die Rückkehr eines Teils der 1948 und 1967 Geflüchteten erfolgen könne. Nach dem Ende der Trump-Jahre liegt es nun an der Europäischen Union und der Biden-Administration, Israel zu Zugeständnissen an die palästinensische Seite zu bewegen. Die Vereinigten Arabischen Emirate könnten dabei helfen.

Denn Alternativen zur Zweistaatenlösung, wie sie seit mehr als 20 Jahren zirkulieren, lassen sich ohne politischen Willen und internationalen Druck kaum durchsetzen. Das gilt für eine mögliche Einstaatenlösung, die angesichts palästinensischer Bevölkerungsmehrheit Existenzängste auf jüdischer Seite auslöst, wie für Pläne eines binationalen Staats mit gleichen Rechten für alle Bürger*innen oder ein Konföderationsmodell, das zwei souveräne, unabhängige Staaten in einem Land mit offenen Grenzen für die jeweils andere Bevölkerung vorsieht. Langfristig nicht tragbar jedoch ist der Status quo: eine Fortführung der Besatzung mit gesonderten Rechtssystemen für Israelis wie Palästinenser*innen auf demselben Territorium.

Markus Bickel, Dipl.-Pol., leitet das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv. Von 2016 bis 2020 war er Chefredakteur des Amnesty Journals in Berlin, von 2012 bis 2015 Nahostkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Kairo. 2017 erschien von ihm »Die Profiteure des Terrors. Wie Deutschland an Kriegen verdient und arabische Diktaturen stärkt« (Frankfurt:Westend).

Infografiken


Reproduktion aller Graphiken mit freundlicher Genehmigung der Rosa-Luxemburg-Stiftung (2017)