Dossier 96

Quo vadis, Friedensforschung?

herausgegeben von Malte Albrecht, Sabine Jaberg, Christiane Lammers, Werner Ruf und Jürgen Scheffran

Informationsstelle Wissenschaft und Frieden e.V. (IWIF)
in Koordination mit der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative
»Verantwortung für Friedens- und Zukunftsfähigkeit« e.V. (NatWiss)

erscheint als Beilage zu W&F 1/2023

Quo vadis, Friedensforschung?

von Malte Albrecht

2022 war ein Jahr, in dem Friedens- und Konfliktforschung in besonderer Weise gefordert war. Kein Krieg in der jüngeren Vergangenheit hat die bundesdeutsche Öffentlichkeit so anhaltend und folgenreich geprägt und gespalten, wie der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Neben die einhellige Verurteilung des Krieges tritt die Kontroverse um Ursachen und politischen Umgang mit dem Krieg: Hat die NATO wesentlich dazu beigetragen, dass der Konflikt eskaliert ist? Muss die Ukraine militärisch unterstützt werden? Soll Russland „ruiniert“ (Baerbock) werden? Soll der Krieg schnellstmöglich durch Verhandlungen beendet werden?

Das jährliche Friedensgutachten, eine Gemeinschaftsproduktion der großen Forschungsinstitute in Deutschland, sorgte sowohl in der friedensbewegten als auch der friedenswissenschaftlichen Community für Irritationen. Medial wurden vor allem dessen Legitimierung von Waffenlieferungen und die Warnung vor einem Atomkrieg kolportiert. Das Friedensgutachten hat damit die Möglichkeit weitgehend verpasst, das öffentliche Wissen um die Ursachen und die zivile Beendigung von Kriegen in der Debatte zu stärken.

Das nun vorliegende Dossier ist ein Ergebnis dieser Irritation und anschließender Diskussionen über die Frage nach Möglichkeiten, Limitierungen und Abhängigkeiten heutiger Friedensforschung. Die versammelten Beiträge sollen eine Inspiration für wissenschaftlich und politisch engagierte Menschen gleichermaßen sein, die engen Grenzen des Bestehenden für friedenslogische Argumentationen zu öffnen.

Werner Ruf untersucht die aktuellen Abhängigkeiten wissenschaftlicher Friedensforschung vom Markt. Damit eng verbunden geht er der Frage nach, warum sich die Disziplin zusehends von ihrem kritischen Anspruch verabschiedet hat und sich „die Autor*innen des Friedensgutachtens damit voll auf die Positionen der von Kanzler Olaf Scholz ausgerufenen Zeitenwende einzulassen schienen“.

Eine Friedensforschung, die die speziellen Argumente für eine militärische Unterstützung der Ukraine verallgemeinern würde, vollzöge einen grundlegenden Gestaltwechsel, der sie als Disziplin überflüssig machen würde, so die These von Sabine Jaberg. Daher plädiert sie dafür, auch und gerade in Kriegszeiten Frieden und Friedensforschung direkt vom Frieden – und eben nicht vom Krieg – her zu denken.

Olaf L. Müller plädiert für einen pragmatischen Pazifismus. Das hat nicht nur Auswirkungen für den politischen Umgang mit dem Ukrainekrieg, sondern auch auf die Friedensforschung. So rät er ihr, sich von dem Ideal objektiver, wertfreier Wissenschaftlichkeit abzuwenden und in der eigenen Forschung „stattdessen die erkenntnisleitenden Werte offenzulegen und dadurch einer kritischen Diskussion zugänglich zu machen“.

Der in Zusammenarbeit von Christiane Lammers mit Christine Schweitzer entstandene Beitrag fragt nach einer Alternative zur gewaltträchtigen und Eskalation einschließenden militärischen Verteidigung. Sie rekurrieren dabei auf das Konzept der Sozialen Verteidigung. Es sind die Folgen militärischer Verteidigung, die die Autorinnen zu dem Ergebnis bringen: „Signale für ein neues Verständnis gemeinsamer Sicherheit setzen.“ Diese sei unabdingbar nicht nur für die Bewältigung der Klimakatastrophe.

Mechthild Exo regt zu einem Neudenken in der Friedens- und Konfliktforschung an. Dazu kritisiert sie die gängigen Ansätze des liberalen Friedens, des Nationalstaats und die Akzeptanz des Bestehenden bei Problemlösungen. Dem setzt sie bislang wenig wahrgenommene Friedenskonzepte aus anarchistischer, feministisch-dekolo­nialer und demokratisch-konföderaler Per­spektive entgegen. Denn „[w]ir brauchen“ – so Exo – „radikale Fragen […] und kontroverse Auseinandersetzungen, ethische und utopische Debatten um die Ausgestaltung einer lebenswerten Zukunft“.

Jürgen Scheffran fragt nach den Möglichkeiten kritischer Friedensforschung unter den Bedingungen der Kriegslogik. Thematisiert werden die Grenzen der expansiven Weltordnung, und damit verbundene multiple Krisen, Katastrophen und Konflikte. Zugrundeliegende Logiken und Ursachen physischer und struktureller Gewalt werden verdeutlicht am Krieg zwischen Russland und der Ukraine sowie an den Implikationen für Mediendemokratie, Nord-Süd-Verhältnis und sozial-ökologische Transformation. Um von einem andauernden Krieg gegen Mensch und Natur wegzukommen, entwirft Scheffran in einer friedenslogischen Argumentation Elemente einer zukunftsorientierten Friedensforschung, die die Zeitenwende als doppelte Transformation für Frieden und nachhaltige Entwicklung“ versteht.

Wie also weiter mit der Friedensforschung? Der Krieg in der Ukraine hat die Notwendigkeit kritischer Forschung gezeigt. Einer Forschung, die sich der Frage stellt, wie eine zukunftsfähige Gesellschaft, Politik und Wirtschaft aussieht. Die Antworten vom Frieden her zu denken, ist nicht nur Gründungsauftrag von Friedensforschung, es ist auch ihr Weg in die Zukunft.

Malte Albrecht ist Politikwissenschaftler, Promotionsstipendiat der Hans-Böckler-Stiftung (Universität Marburg) und Vorsitzender der NaturwissenschaftlerInneninitiative e.V. Er initiierte das Dossier, um die Impulse des Friedensgutachtens 2022 aufzunehmen und weiterzuentwickeln.

Die Friedensforschung und der Markt

von Werner Ruf

Die Aufmerksamkeit und teilweise Kritik waren groß (z.B. Michal 2023), als das am 21. Juni 2022 vorgestellte »Friedensgutachten 2022« veröffentlicht wurde. Sprach es sich doch – entgegen dem Selbstverständnis vieler Friedensforscher*innen – für Waffenlieferungen an die Ukraine und für Abschreckung als Mittel zur Friedenssicherung aus. Beides ist eine klare Absage an bisher hochgehaltene Überzeugungen, wonach zusätzliche Waffen das Töten in bewaffneten Konflikten steigern und Abschreckung bestenfalls eine Triebkraft für Wettrüsten ist. Suspekt erschien den Kritiker*innen, dass sich die Autor*innen des Friedensgutachtens – ganz im Gegensatz zu früheren Stellungnahmen der Friedensforschung – damit voll auf die Positionen der von Kanzler Olaf Scholz ausgerufenen »Zeitenwende« einzulassen schienen. Zu fragen ist deshalb (auch), ob eine Entwicklung der Friedensforschung weg von ihrer kritischen Intention hin zu mehr Legitimation offizieller Politik stiller Teil jener Zeitenwende ist, die sich schleichend aus der zunehmenden Abhängigkeit (nicht nur) dieser Forschung vom – beschränkten – Markt der Drittmittel ergibt.

Die Anfänge der Friedens­forschung in der BRD

1968 hat sich die »Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK)« gegründet. Ihr Ziel war es, Friedensforschung als eigenständige akademische Disziplin zu etablieren. Neben der Politikwissenschaft und deren Teildisziplin der Internationalen Beziehungen waren auch Philosophie, Rechtswissenschaft, Pädagogik, Psychologie, Ökonomie, Kulturwissenschaften und vor allem die Soziologie tragende Fächer dieser neuen Disziplin, die auf die lange Tradition friedenswissenschaftlicher Ansätze bis hin zu den Arbeiten Immanuel Kants zurückgreifen konnte.

Die Etablierung der Friedensforschung in der alten BRD entstand im Kontext der politischen Umbrüche des Jahres 1968. Als einer ihrer großen Förderer gilt Gustav Heinemann, der 1969 als Bundespräsident gewählt wurde. Eine zentrale Forderung der in der AFK zusammengeschlossenen Wissenschaftler*innen war die Finanzierung der Friedensforschung außerhalb der etablierten Forschungsförderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), war diese doch von den alten Ordinarien besetzt, also gerade jenen, die der Friedensforschung Ideologiehaftigkeit und (verwerflichen) Pazifismus unterstellten und ihr wegen ihrer Orientierung auf den normativen Begriff Frieden die Wissenschaftlichkeit absprachen. Dieser Vorwurf wurde erhoben vor allem gegen die Deutsche Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung (DGFK) (vgl. Koppe 2004, S. 189ff.). Jenseits der Etablierung der Friedensforschung an zahlreichen Hochschulen erfolgte zu Beginn der 1970er Jahre die Gründung einer Reihe von Instituten, die als »An-Institute« von Universitäten geschaffen wurden.

Vier dieser Institute geben jährlich das Friedensgutachten heraus: die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (ISFH), das Institut Entwicklung und Frieden der Universität Essen-Duisburg und das Bonn International Center for Conversion (BICC, heute International Center for Conflict Studies).

Die AFK und z.T. auch die genannten Institute waren in ihren Anfängen mehrheitlich dem Projekt einer »Kritischen Friedensforschung« verpflichtet. Diese Richtung war stark beeinflusst von dem norwegischen Friedensforscher Johan Galtung, der 1973 auf die neu eingerichtete Carl-von Ossietzky-Gastprofessur für Friedens- und Konfliktforschung in Bonn berufen und wegen seiner Arbeiten zur »strukturellen Gewalt« von konservativen Kreisen in die Nähe der Roten Armee-Fraktion gerückt wurde (s. exemplarisch: Däniker 1999, S. 79). »Kritische Friedensforschung« wurde in Anlehnung an die Theoriebildung der »Frankfurter Schule« als eine Disziplin verstanden, die die Ursachen von Gewalt in den Gesellschaften selbst verortet und untersucht, also per se gesellschaftskritisch ist. In Abgrenzung zur traditionellen Friedensforschung (auch „Befriedungsforschung“ genannt) definierten die »kritischen Friedensforscher*innen« auf einer Tagung in Wannsee (24. und 25. April 1971) ihr Selbstverständnis. Danach verstanden sich „Kritische Friedensforscher (…) als wissenschaftliche Parteigänger von Menschen, die durch die ungleiche Verteilung sozialer und ökonomischer Lebenschancen in und zwischen Nationen (d. h. durch strukturelle Gewalt) betroffen sind: von Ausgebeuteten, von sozial Diskriminierten und von unmittelbar in ihrer physischen Existenz Bedrohten“ (zit. nach Wasmuht 1998, S. 177).

Der hier zugrunde gelegte Friedensbegriff geht also weit über das traditionelle Verständnis der Untersuchung von Fragen der zwischenstaatlichen Verhältnisse hinaus und lieferte so den konservativen Kritiker*innen die von ihnen gern bemühten Argumente, hier handle es sich nicht um Friedensforschung, sondern um ideologisch motivierten Willen zur Subversion.

Friedensforschung als Kapitalismuskritik?

Eine Friedensforschung, die sich nicht auf Kriege in Form zwischenstaatlicher bewaffneter Auseinandersetzungen beschränkt, muss die Frage nach dem Ursprung und den Ursachen von Gewalt als dem Krieg übergeordnete Kategorie stellen. Damit stellte sich als Bezugsgröße zwangsläufig die Frage der Gewaltfreiheit: Gandhi war ebenso Forschungsobjekt wie die Pugwash-Bewegung, die auf dem Russell-Einstein-Manifest fußte.

Zunehmend wurde explizit der Zusammenhang zwischen Kapitalismus, Ausbeutung, Gewalt und Krieg hergestellt: in den Analysen über strukturelle Gewalt von Johan Galtung wie in Arbeiten u. a. von Fritz Vilmar (2007). Auch eine weit verbreitete Publikation von Dieter Senghaas (1974) nahm das Ausbeutungsverhältnis zwischen kapitalistischem Norden und »unterentwickeltem« Süden ins Visier: Dort kamen neben Vertretern der lateinamerikanischen Dependenz-Theorie auch erklärte Marxisten wie etwa Samir Amin zu Wort. Die als Ausformung eines ausbeuterischen strukturellen Gewaltverhältnisses begriffenen Nord-Süd-Beziehungen wurden zu einem zentralen Strang friedensforscherischer Hypothesenbildung und empirischer Studien, die folgerichtig eine neue und intensive Beschäftigung mit Imperialismus-Theorien nach sich zogen. Dieser Strang der Friedensforschung prägte in hohem Maße die Entwicklungsländerforschung im Allgemeinen. Das zeigen exemplarisch die vor allem vom wissenschaftlichen Nachwuchs formulierten »Tutzinger Thesen« der Sektion Internationale Politik der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft vom September 1972 (veröffentlicht in Krippendorff 1973, S. 364-368). Diese stellten fest, dass „die Analyse der internationalen Gesellschaft als einer komplexen Klassengesellschaft“ (ebd., S. 365) geleistet werden müsse. Demzufolge sei „Außenpolitik heute staatlich vermittelte Politik des Krisenmanagements von jeweils herrschenden Klassen, deren Interesse zur Systemstabilisierung ableitbar ist von ihrer Stellung im gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozess, insbesondere ihrer Verflechtung im militärisch-industriellen Komplex“ (ebd, S. 366).

Bis in die 1980er Jahre verstanden sich weite Teile der Friedensforschung als wissenschaftlicher Arm der Friedensbewegung und sahen es (auch) als ihre Aufgabe, die Anliegen der Friedensbewegung durch wissenschaftliche Expertise zu unterfüttern. Viele Wissenschaftler*innen engagierten sich selbst in der Friedensbewegung. Die AFK und ihr Vorstand bezogen regelmäßig öffentlich politische Position und gaben Erklärungen zu aktuellen Konflikten ab. Ein Ergebnis dieser alles in allem progressiven Phase ist die Quartalszeitschrift »Wissenschaft und Frieden«, die 1983 auf Initiative des Bundes demokratischer Wissenschaftler (BdWi) gegründet wurde. In ihr leben bis heute die Ansätze der Kritischen Friedensforschung fort.

Der Marsch in die Institutionen

Selbst innerhalb der AFK jedoch war der Streit zwischen »traditioneller« und »kritischer« Friedensforschung nie ganz zu Ende gegangen. Schon die Zerschlagung der DGFK und der damit verbundene weitgehende Wegfall der öffentlichen Finanzierung begünstigte eine Tendenz, die sich, verstärkt durch einen Paradigmenwechsel in den Sozialwissenschaften selbst, im letzten Vierteljahrhundert zunehmend durchsetzte.

Letztlich liefen diese Veränderungen im wissenschaftlichen Selbstverständnis darauf hinaus, dass der durchaus vorhandene Wille zur Mitwirkung an gesellschaftlicher Umgestaltung in den bloßen Wunsch nach Beteiligung an wissenschaftlicher Beratung mündete. Paradigmatisch formulierte das INEF schon 1999:

„Das Bundesministerium für Verteidigung (BMVg) sollte sich stärker als bislang an diesem Austausch [über krisenrelevante Entwicklungen in den Ländern der ehemaligen »Dritten Welt«] beteiligen und seine Erfahrungen zum Beispiel mit peace-­keeping-Einsätzen einbringen, damit künftige Einsatzmandate realitätsnäher formuliert und in besserer Abstimmung mit den Aktivitäten der Zivilgesellschaft vorbereitet werden können.“ (Debiel et al. 1999, S. 7, Einfügung WR)

Ein besonderes Dokument des teilweisen Übergangs von Teilen der Friedensforschung zum puren Bellizismus lieferte der (damalige) Direktor der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung Harald Müller anlässlich des Krieges der NATO gegen Libyen (2011), in dem er unter vordergründigem Verweis auf das Menschenrechtsargument mit Schärfe die Zurückhaltung der Bundesregierung im Falle dieses Krieges geißelte:

„Die Haltung der Bundesregierung im Fall Libyen ist ein moralischer und politischer Fehler. […] Scharf formuliert, gab es eine Allparteienkoalition gegen den Schutz der Menschen in Bengasi, geführt von der Linken mit ihrer kohärenten Anti-Interventions-Leitkultur, im Schlepptau die Regierungsparteien, die dem Motto des Wiener Chansonniers Georg Kreisler folgten ‚mir gfallts, aber i bin dagegen‘, die SPD, zugleich schwammig und zerrissen, und ganz zuletzt die Grünen, halb protestierend und mit schlechtem Gewissen, aber durch Untätigkeit die deutsche Politik stillschweigend tolerierend. […] Die deutsche Reputation ist schwer beschädigt“ (Müller 2011, S. 1 u. 12).

In solchem Verständnis der Politikberatung entledigt sich die Friedensforschung ihres in der »Kritischen Friedensforschung« hochgehaltenen Anspruchs einer gesellschaftskritischen Analyse der strukturellen Konfliktursachen und ihrer Bekämpfung, bei der Wissenschaft sich als Parteigängerin der Unterdrückten verstand. Friedens- und Konfliktforschung wird von den Vertreter*innen dieser Richtung verstanden als eine eher technizistische Disziplin, die gerade im Bereich der Friedenssicherung, ggf. auch der »Friedensschaffung«, den Werkzeugkasten bereitzustellen hat (und vermag), der Gewalt in den seit Ende der Bipolarität zunehmend innerstaatlichen Konflikten zu reduzieren oder zu beenden helfen könne (vgl. Ruf 2009).

Wissenschaft zieht sich so – wie Peter Strutynski (2002) treffend argumentierte – in den Elfenbeinturm zurück, in dem sie Wissen in erster Linie für andere Wissenschaftler*innen produziert. Doch nicht nur: Zunehmend versteht auch die Friedenswissenschaft ihre Produktion als auf »den Markt« gerichtet, der für ihre Produkte Verwendung hat. Damit ist die Friedenswissenschaft im Begriff, dorthin zurückzukehren, wo die Kritiker*innen im wissenschaftlichen Establishment sie schon in ihrer Gründungsphase haben wollten: Die Besetzung von Professuren (so sie nicht aus Haushaltsgründen gestrichen wurden) erfolgt nach den Kriterien der (inzwischen wieder) etablierten, scheinbar unpolitischen Wissenschaft sowie des erfolgreichen Einwerbens von »Drittmitteln«, und (re-)produziert sich in den Zwängen akademischer Karriereleitern selbst.

Im Falle der Friedensforschung kommt erschwerend hinzu, dass Institute, sofern sie sich etablieren konnten, vor allem als »An-Institute« existieren: Sie sind an Universitäten angegliedert, erhalten aber keine Mittel aus deren Etat, müssen also für ihre Finanzierung selbst sorgen. Der einzige Weg hierzu sind die »Drittmittel«: Zeitlich befristete und in ihrer Zielsetzung vom Auftraggeber formulierte Forschungsprojekte werden meist bei öffentlichen Einrichtungen eingeworben. Hierfür kommen für die Friedensforschung in Frage die klassischen Ministerien, die mit Fragen der Konfliktbearbeitung befasst sind: das Bundesministerium der Verteidigung, das Auswärtige Amt und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

Die Leiter*innen der Institute, meist Universitätsprofessor*innen, stehen gegenüber ihren Mitarbeitenden, die in der Regel auf befristeten Projektstellen sitzen, in der sozialen Pflicht, deren materielle Existenz durch Anschlussprojekte zu sichern. Nur (im Sinne der Auftraggeber*innen!) erfolgreich abgeschlossene Projekte eröffnen die Chance, ein Folgeprojekt einzuwerben. »Der Markt« – und dieser ist überdies eng und von der Konkurrenz der Auftragnehmer geprägt – bestimmt Art und Inhalt der wissenschaftlichen Produktion. Hier ergibt sich ein Teufelskreis, der nicht nur Wissenschaft in den Dienst der Herrschenden stellt, sondern auch das Bewusstsein der beteiligten Wissenschaftler*innen prägt: Dies zeigt deutlich bereits die Übernahme der durch den offiziellen Sicherheitsdiskurs vorgegebenen Begrifflichkeiten (peace keeping, peace enforcement usw.), die in der post-bipolaren Welt dem Interventionswillen der EU- und NATO-Staaten Tür und Tor öffnen.

Die deutsche Stiftung Friedensforschung (DSF)

Allerdings hat sich die Friedensforschung nach langen Kämpfen doch wieder eine Finanzierungsquelle gesichert: Im Oktober 2000 wurde die Deutsche Stiftung Friedensforschung (DSF) mit einem Grundkapital von 25 Mio. Euro gegründet. Sie ist beim Bundesministerium für Bildung und Forschung angesiedelt.

Der Vorstand der DSF besteht aus fünf Mitgliedern, die für drei Jahre vom Stiftungsrat ernannt werden. Er führt die Geschäfte der Stiftung gemäß den Beschlüssen des Stiftungsrats und entscheidet insbesondere über die Verwendung der Stiftungsmittel. Der Stiftungsrat besteht aus zwölf Mitgliedern, die durch die Stifterin – vertreten durch den*die Bundesminister*in für Bildung und Forschung – für einen Zeitraum von vier Jahren berufen werden. Ihm gehören satzungsgemäß fünf Wissenschaftler*innen, vier Vertreter*innen der Bundesregierung sowie drei Mitglieder des Deutschen Bundestages an. Vorsitzende*r des Stiftungsrats ist der*die Staatssekretär*in des BMBF.1 Betrachtet man die Auflistung der bisher von der DSF geförderten über fünfzig Projekte2, so zeigt sich deutlich, dass ihre große Mehrzahl mehr oder weniger direkt an den praktisch-politischen Prioritäten der Bundesrepublik orientiert ist. So wurde beispielsweise Anfang Oktober 2022 eine neue thematische Förderlinie zum Thema »Russlands Krieg gegen die Ukraine« aufgelegt (siehe DSF 2022). Struktur der DSF, Zusammensetzung ihrer Entscheidungsgremien, aber auch das Vor-Wissen der Antragsteller*innen um diese Strukturen erklären diese Schlagseite.

Summa summarum kann festgestellt werden, dass es in Deutschland immerhin eine wenn auch bescheiden vom Staat geförderte Friedensforschung gibt und damit die Disziplin als solche anerkannt ist. Das wird unterstrichen durch die Existenz von friedenswissenschaftlichen Studiengängen an einigen wenigen Universitäten. Andererseits ist festzuhalten, dass der Staat sich ganz klar eine Steuerungsfunktion bei der Auswahl der Projekte gesichert hat und damit letztlich inhaltlich bestimmt, was denn nun »Friedensforschung« ist. Die Schere im Kopf der Antragsteller*innen tut ein Übriges dazu, dass deutsche Friedensforschung an den von der offiziellen Politik formulierten Interessen ausgerichtet bleibt. Diese Feststellung wird unterstrichen durch die »Friedensgutachten«, die, gefördert durch die DSF, jährlich von den etablierten Instituten gemeinsam herausgegeben werden.

Sicherlich finden sich dort Analysen und Empfehlungen, die, würde ihnen gefolgt, Konflikte reduzieren, durch Abrüstungsmaßnahmen unsere Welt sicherer machen, Menschenrechte und Völkerrecht stärken würden. Entlarvend werden solche Empfehlungen dann, wenn – offenbar um ihnen Nachdruck zu verleihen – darauf verwiesen wird, dass ihre Verwirklichung auch im Interesse der Bundesrepublik Deutschland liege. Die Friedensforschung im Dienst nationaler, weil deshalb a priori »guter« Interessen? Solche Prämissen sollten in wissenschaftlicher Konfliktanalyse nichts zu suchen haben.

Fazit

Die aktuell etablierte Friedensforschung leidet vor allem an einem Mangel an Theoriebildung, die helfen könnte, den Zusammenhang von Ursache und Wirkung zu fassen und gewaltförmige Konfliktaustragung zu erklären, ja zu prognostizieren. Die von der etablierten Friedensforschung produzierten Analysen bleiben in der Regel unhistorisch. Damit ist nicht gemeint, dass die kritisierten Herangehensweisen auf eine Darstellung der dem Konflikt vorausgegangenen Chronologien verzichten würden. Jedoch: Um Konflikte zu verstehen und deshalb umfassende und grundlegende Lösungen entwickeln zu können, müssen die Gesamtheit der vorausgegangen sozio-ökonomischen Prozesse erfasst und die Interessen der direkt und indirekt beteiligten Parteien erkannt und gewichtet werden. Der wohl ideologisch bedingte Verzicht auf die wahrscheinlich fruchtbareren Ansätze der politischen Ökonomie bedingt oft die Aporie wohlgemeinter Studien.

Der entscheidende Grund aber, weshalb Friedensforschung zu einer eher technizistischen Disziplin geworden ist, ist ihr Verzicht auf jenen emanzipatorischen Anspruch, der die »Kritische Friedensforschung« einst kennzeichnete. Die Aufgabe dieses emanzipatorischen und auf die Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse gerichteten Anspruchs hat zur Folge, dass mittlerweile zwischen Friedensforschung und Friedensbewegung Welten liegen, Kommunikation inexistent geworden ist. Friedens-»Wissenschaft« hat es zwar erreicht, als wissenschaftliche Disziplin im akademischen Raum anerkannt zu werden. Ihren Anspruch, als praktische Wissenschaft selbst agierender Teil dieser Gesellschaft zu sein, hat sie zunehmend aufgegeben. Die Bindung an fortschrittliche Kräfte in der Gesellschaft ist durch diese Akademisierung der Disziplin gekappt.

Bewegungen, in denen sich Wissenschaft auch parteiisch engagiert, sind nicht utopisch, sondern herstellbar, wie es die im Zusammenhang mit der Klimaveränderung die Bewegung S4F (»Scientists for Future«) zeigt, wo Wissenschaftler*innen sich bewusst in den Dienst der Bewegung stellen. Beide Bewegungen, Friedensbewegung wie Klimabewegung, zielen direkt auf Fragen der Existenz der Menschheit. Ihr Zusammengehen wäre also nur logisch. Veränderung aber kann, in beiden Fällen wissenschaftlich unterfüttert, nur durch gesellschaftlichen Druck bewirkt werden.

Zwar hat Friedensforschung mittlerweile in bescheidenem Maße auch akademische Karrieren ermöglicht, einige Studiengänge für Friedens- und Konfliktforschung wurden eingerichtet. Der Preis ist ihre weitgehende Entpolitisierung. Die so rundgeschliffene Friedensforschung hat auch ein neues Feld der Politikberatung eröffnet, das in bescheidenem Maße neue Arbeitsmöglichkeiten schafft. Aber: Die Initiierung von Forschungsvorhaben, die Vergabe von Projekten oder auch die Bewilligung von Studiengängen verbleiben fest in staatlicher Hand. So ist gesichert, dass die wissenschaftliche Untersuchung und praktisch-politische Bearbeitung der „organisierten Friedlosigkeit“ (Senghaas 1969), die Teil des kapitalistischen Systems ist, von dieser Wissenschaft nicht geleistet werden wird.

Wissenschaft, die vorgibt unpolitisch zu sein, wird in höchstem Maße politisch: Sie betreibt nach wie vor Sinnproduktion – aber nicht mehr im Sinne von Herrschaftskritik, sondern als Legitimation jener Strukturen, die zu kritisieren und zu verändern zumindest die »Kritische Friedensforschung« einmal angetreten war. Das neue Verständnis von wissenschaftlicher Leistung passt sich wie in einem Räderwerk in die hegemonial vorgegebenen Strukturen ein. Die herrschende Friedensforschung hat, wie auch die Entwicklung der seit 1987 jährlich erscheinenden »Friedensgutachten« zeigt und ganz im Gegensatz zu den Unkenrufen der Kritiker*innen Heinemanns, inzwischen sehr wohl Bedeutung für die praktische Politik erlangt, wenn auch ganz anders als diese meinten: Nicht kritisch hinterfragend, sondern systemkonform optimierend geriert sich der mainstream der heutigen Friedensforschung. Die kurze Geschichte der deutschen Friedensforschung könnte und sollte ein Lehrstück dafür sein, dass Wissenschaft einen gesellschaftlich verantwortlichen Beitrag zu einer friedlicheren Welt leisten muss – und kann.

Anmerkungen

1) Gemäß der Organisationsvorstellung der Stiftung selbst, vgl. bundesstiftung-friedensforschung.de/organe-gremien

2) Vergleiche hierzu das Förderarchiv der Stiftung, unter bundesstiftung-friedensforschung.de/foerderarchiv

Literatur

Debiel, T. et al. (1999): Effektive Krisenprävention. INEF Policy Paper Nr. 23, Juni.

Michal, W. (2023): Warum die Friedensforschung in einer tiefen Krise steckt. Der Freitag Nr. 1/2023.

Däniker, G. (1999): Die ‚neue‘ Dimension des Terrorismus – Ein strategisches Problem. In: Reiter, E. (Hrsg.): Jahrbuch für internationale Sicherheitspolitik. Hamburg: E. S. Mittler und Sohn Verlag, S. 77-86.

Deutsche Stiftung Friedensforschung (DSF) (2022): Newsletter „Notizblog 4“ 2022, 6.10.2022.

Krippendorff, E. (Hrsg.) (1973): Internationale Beziehungen. Köln: Kiepenheuer & Witsch.

Koppe, K. (2004): Dreimal getauft und Mensch geblieben. Berlin: Rohnstock.

Müller, H. (2011): Ein Desaster. Deutschland und der Fall Libyen.Wie sich Deutschland moralisch und außenpolitisch in die Isolation manövrierte. HSFK-Standpunkte Nr. 2/2011. Frankfurt a.M.: Eigenverlag.

Ruf, W. (2009): Quo Vadis Friedensforschung? In: Baumann, M. et al. (Hrsg.): Friedensforschung und Friedenspraxis. Ermutigung zur Arbeit an der Utopie. Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel, S. 42-56.

Senghaas, D. (1974): Peripherer Kapitalismus. Analysen über Abhängigkeit und Unterentwicklung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Senghaas, D. (1969): Abschreckung und Frieden. Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit. Frankfurt a. M.: Europ. Verlags-Anstalt.

Strutynski, P. (2002): Friedens- und Konfliktforschung politisieren. W&F 2/2002, S. 52-55.

Vilmar, F. (Hrsg.) (2007): Herrschaftskritik und solidarisches Leben: Beiträge zur kritischen Friedensforschung. Münster: agenda Verlag.

Wasmuht, U. (1998): Geschichte der deutschen Friedensforschung. Entwicklung – Selbstverständnis – Politischer Kontext. Münster: agenda Verlag.

Dr. Werner Ruf war von 1982 bis 2003 Professor für internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Kassel und gehörte mehrere Jahre dem AFK-Vorstand an.

Friedensforschung vom Frieden her denken – auch in Kriegszeiten?

von Sabine Jaberg

Friedensforschung ist vom Frieden her zu denken. Doch mit dieser Selbstverständlichkeit fangen die Schwierigkeiten erst an. Was ist überhaupt unter Friedensforschung zu verstehen? Welcher Friedensbegriff liegt ihr zugrunde? Welchen Umgang pflegt sie mit ihm? Und nicht zuletzt: Sind Kriegszeiten Zeiten für eine Normalfriedensforschung, oder setzen sie deren Programm außer Kraft? Auf diese Fragen soll im Folgenden zumindest näherungsweise eine Antwort erfolgen.

Welche Friedensforschung?

Friedensforschung als eigenständige wissenschaftliche Disziplin ist im internationalen Raum seit Ende der 1950er Jahre in Abgrenzung zur Disziplin der Internationalen Beziehungen, nicht zuletzt der Strategischen Studien, entstanden. Grund war ein Unbehagen am Normverlust dieser Fachrichtungen, deren Praxisempfehlungen zur Kriegsvermeidung immer stärker am nuklearen Abgrund balancierten und den Friedensbegriff teilweise in jenem des begrenzten Kriegs aufgehen ließen. Allerdings ist Friedensforschung zum Plural disponiert: So finden sich neben der Mono-Bezeichnung unterschiedliche Kombinationen wie Friedens- und Konfliktforschung, Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Friedensforschung und Entwicklung. Hinzu kommen disziplinäre Zuweisungen wie z.B. Friedenspädagogik, Friedenspsychologie und Friedensphilosophie. Friedensforschung gilt im Folgenden als Sammelbegriff für all jene Forschung, die über oder für den Frieden betrieben wird – egal um welche seiner Facetten es ihr gerade geht, egal welchen wissenschaftlichen Disziplinen sie entspringt, egal an welchen Orten sie stattfindet.

Welcher Friedensbegriff?

Kein Blick in die Natur gibt darüber Aufschluss, was unter Frieden zu verstehen ist. Frieden im Sinne eines Begriffs stellt mithin eine Konstruktionsleistung dar. Bei allem Streit über ihren namensgebenden Gegenstand herrscht in der Disziplin doch dahingehend Konsens, dass sie sich nicht auf die (stets prekäre) Abwesenheit personaler Großgewalt beschränken dürfe, sondern auch weitere Faktoren, insbesondere Gerechtigkeitsvorstellungen, einbeziehen müsse – sei es im Friedensbegriff selbst, sei es in einer elaborierten Friedenstheorie.

Auch über andere Merkmale besteht weitgehend Einigkeit: Erstens stellen Frieden und Gewalt kategoriale Gegensätze dar; dort, wo sie noch ineinander verwoben sind, gilt es Frieden zu maximieren und Gewalt zu minieren. Frieden markiert zweitens eine Zielvision, die sich in einem langwierigen, widerspruchsvollen und auch regressgefährdeten Prozess realisiert. Frieden erfasst drittens sämtliche Ebenen vom Lokalen bis zum Universellen; und er adressiert viertens alle Akteure vom Individuum bis hin zur Weltgemeinschaft. Zudem bildet sich mittlerweile nicht zuletzt angesichts der Klimakrise ein wachsendes Verständnis für die Relevanz planetarer Dimensionen heraus (vgl. Wintersteiner 2021), auch wenn deren Platz innerhalb der Friedensforschung noch unklar bleibt.

Welcher Umgang mit dem Friedensbegriff?

Friedensforschung muss sich gegenüber anderen Fächern, die wie die Internationalen Beziehungen oder die Strategischen Studien einen irgendwie gearteten Friedensbezug für sich reklamieren können, durch einen spezifischen Umgang mit dem Friedensbegriff auszeichnen. Andernfalls wäre sie als Disziplin überflüssig. Dazu gehört nicht nur ein ambitionierterer Friedensbegriff (siehe obige Abschnitte), sondern auch ein direkterer Zugriff auf ihn: Frieden ist Aufgabe im Hier und Jetzt, nicht erst Auftrag in einer weit entfernten Zukunft; es gilt, ihn mit ihm entsprechenden (friedlichen) Mitteln ohne den Umweg der Kriegsvorbereitung zu erreichen. Strategien, die wie die Rüstungskontrolle auf der Scheidelinie zwischen para pacem und para bellum balancieren, bleiben ohne Elemente eines nachhaltigen Friedens friedenswissenschaftlich unzureichend.

Der Aufgabe, die Grammatik des Friedens freizulegen, hat sich der Ansatz der Friedenslogik verschrieben (vgl. Birckenbach und Jaberg 2020). Dieser denkt vom Ziel des Friedens her und setzt sowohl in der Analyse als auch in der Praxis auf dessen Prinzipien. In Anlehnung an einen Flyer der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung (2017) lässt er sich idealtypisch wie folgt umreißen: (1.) Für Friedenslogik ist das Problem die Gewalt, die stattfindet oder bevorsteht – und zwar unabhängig davon, wer sie ausübt, wen sie betrifft und in welchen Formen sie sich manifestiert. Sie orientiert sich mithin am Ziel der Gewaltprävention und des Gewalt­abbaus. (2.) Friedenslogik begreift das Problem als Folge komplexer Konflikte. Sie unternimmt daher eine vielschichtige Konfliktanalyse, die eigene Anteile einbezieht. (3.) Zudem setzt sie auf kooperative Konfliktbearbeitung. Deshalb bemüht sie sich um Deeskalation, Opferschutz und eine gewaltfreie (dialogverträgliche und prozessorientierte) Konflikttransformation. (4.) Friedenslogik rechtfertigt eigenes Handeln mit der Universalität von Völkerrecht und Menschenrechten. Eigene Interessen sind dementsprechend werteorientiert zu hinterfragen und im Sinne globaler Normen zu modifizieren. (5.) Im Falle des Scheiterns setzt Friedenslogik auf offene kritische Selbstreflexion. Sie räumt daher eigene Fehler ein und sucht nach (möglichst) gewaltfreien Alternativen. Mit Blick auf die Friedensforschung als einer akademischen Disziplin verlangt Selbstreflexion darüber hinaus, sich der eigenen Konstruktionsmuster ebenso bewusst zu sein wie den prinzipiellen Grenzen eigener Erkenntnis (vgl. Weller 2017).

Friedensforschung und argumentative Herausforder­ungen durch den Ukrainekrieg

Für die Friedensforschung stellt Russlands völkerrechtswidriger und menschenverachtender Angriff auf die Ukraine eine argumentative Herausforderung dar, werden doch innerhalb und auch außerhalb der Disziplin Positionen vorgetragen, die ihrem bisherigen Selbstverständnis widersprechen. Besonders deutlich wird das Problem, wenn die Frage erörtert würde, wie eine Friedensforschung aussähe, wenn sie die speziell mit Blick auf den Ukrainekrieg formulierten Argumente zu einem friedenswissenschaftlichen »Gesetz« verallgemeinerte. Gegen diese Denkoperation einer hypothetischen Verallgemeinerung könnte allenfalls der Einwand erhoben werden, dass es sich um eine Ausnahmesituation handele. Allerdings fällt deren Begründung angesichts etlicher opferreicher Gewaltkonflikte schwer. Zudem steht zu befürchten, dass die Ausnahme zum Regelfall avancieren könnte. Denn wenn ein Argument im Ukrainekontext sticht, kann ihm in anderen Zusammenhängen kaum die Plausibilität abgesprochen werden.

Jede Argumentationsfigur wird nun in einem Dreischritt aufbereitet: Am Anfang steht die Skizzierung der jeweiligen Position. Auch wenn diese durch konkrete schriftliche wie mündliche Beiträge stimuliert sein mag, handelt es sich um ein idealtypisches (generisches) Konstrukt (1). Danach gilt es, die Auswirkungen auf eine Friedensforschung aufzuzeigen, die sich die jeweilige Position generell zu eigen machte (2). Abschließend werden Alternativen für eine Friedensforschung erörtert, die sich stärker innerhalb des oben skizzierten friedenslogischen Gesamtrahmens bewegte, der sich von jenem anderer Disziplinen – nicht zuletzt der Strategischen Studien – deutlich abhebt (3).

Das machtpolitische Argument: Sprache der Stärke

(1) Gemäß dem Argument, Russland verstehe nur die Sprache der Stärke, werde jedes Entgegenkommen auf russischer Seite als Schwäche ausgelegt, das Moskau zudem in seinem Agieren weiter bestätige. Deshalb müsse die militärische Unterstützung der Ukraine fortgesetzt und gegebenenfalls intensiviert, aber auch das Territorium der NATO-Staaten durch Aufrüstung geschützt, also Russland von einem Angriff auf Bündnismitglieder abgeschreckt werden.

(2) Befleißigte sich Friedensforschung dieses Argumentationsmusters, dann mutierte sie zu jenen Strategischen Studien, gegen die sie ursprünglich angetreten war. Sie beförderte genau die gleiche Politik, deren Risikopotential sie zu Zeiten des Kalten Kriegs als unverantwortlich hoch einstufte. Sie redete quantitativer wie qualitativer Aufrüstung das Wort.

(3) Eine gewaltaverse Friedensforschung, die sich von den Strategischen Studien signifikant abhöbe, legte demgegenüber die immanenten Gefahren des Stärkearguments offen: Infolge des Sicherheitsdilemmas würde der Weg militärischer Aufrüstung in eine neue Eskalationsspirale mit all ihrem Destabilisierungspotential führen. Bereits während des Kalten Kriegs stand die Welt bekanntermaßen mehrfach am atomaren Abgrund.

Das konfliktwissenschaftliche Argument: reifer Moment durch Aufrüstung

(1) Das Stärkeargument kennt ein moderates konfliktwissenschaftliches Pendant: Dieses stützt sich auf Ira William Zart­mans (1985) Figur des reifen Moments (»ripeness«) ab. Demnach wäre ein Konflikt dann reif zur friedlichen Beilegung, wenn beide Parteien in einem gleichermaßen schmerzenden militärischen Patt ohne realistische Gewinnchance gefangen wären. Da die ukrainischen Streitkräfte den russischen haushoch unterlegen seien, müssten sie mithin so lange aufgerüstet und ertüchtigt werden, bis sie Moskau in ein solches Patt gedrängt hätten.

(2) Eine Friedensforschung, die dieses konfliktwissenschaftliche Argument übernähme, stünde vor einem disziplinären Gestaltwechsel, beruht sie doch bislang auf dem Ansinnen, Gewalt als Mittel des Konfliktaustrags zu überwinden. Konsequent zu Ende gedacht führte der so gespielte Reifeansatz über das friedenswissenschaftlich bereits problematische „Wenn Du den Frieden willst, bereite den Krieg vor“ hinaus auf ein „Unterstütze die schwächere der kriegführenden Parteien auch militärisch“. Hier ginge die disziplineigene Gewaltaversität verloren.

(3) Eine stärker im Sinne des Gesamt­rahmens ausgerichtete Friedensforschung verwiese demgegenüber auf die Kritik an der Argumentationsfigur des reifen Moments: Für Ulrich Schneckener (2002, S. 489f.) ist »ripeness« „kein Datum oder Momentum, sondern ein Prozess“, bei dem kollektive Lernprozesse und kluge institutionelle Arrangements eine wichtige Rolle spielen können. Auf dieser Annahme basieren unterschiedliche Verfahren friedlicher Konfliktbearbeitung. Des Weiteren problematisierte eine friedenslogische Friedensforschung die Unterstellung des Reifeansatzes, wonach ein durch aufreibende Kriegshandlungen errungenes Patt die Parteien gleichsam automatisch zur Vernunft führen würde. Dagegen ließe sich Friedrich Glasls konfliktpsychologische Warnung mobilisieren. Demnach drohte am Ende eines vielstufigen Eskalationsprozesses ein „Gemeinsam in den Abgrund“ (Glasl 2020, S. 245). An diesem Punkt seien die Parteien zum Untergang bereit, sofern sie ihre Widersacher nur mitreißen können. Das gilt umso mehr, je stärker kühl kalkulierbare Interessenskonflikte durch existentiell aufgeladene Identitätskonflikte überlagert oder gar verdrängt würden. Dies dürfte am Beispiel des Kriegs gegen die Ukraine auf allen Seiten in unterschiedlicher Ausprägung der Fall sein: Kiew kämpft um seine Selbstbestimmung, Moskau um seine imperiale Mission – und der »Westen« um seine hegemoniale Vormachtstellung.

Das historische (kausale) Argument: Fehleinschätzungen über Russland

(1) Das historische Argument lautet, der »Westen« habe sich über den wahren Charakter Russlands und seiner Absichten getäuscht: Bereits seit dem Georgienkrieg 2008, spätestens jedoch nach der Annexion der Krim 2014, hätten die großrussischen, imperialen Absichten Moskaus offen zu Tage gelegen. Das historische Argument wird darüber hinaus mit einer monokausalen Annahme verknüpft: Demnach besitze die Genese des Ukrainekriegs ihre (alleinigen) Wurzeln in Russland – seinem innenpolitischen Autoritarismus (mit teils faschistischen Zügen) und seinem außenpolitischen imperialen Nationalchauvinismus.

(2) Eine Friedensforschung, die den Verdacht eigener historischer und kausaler Fehlannahmen kritisch überprüfte, entspräche ihrem selbstreflexiven Anspruch ebenso wie ihn eine Friedensforschung verfehlte, die Anteile der eigenen Gesellschaftsformation am Konflikt ignorierte. Das bedeutet keineswegs, dass dieser eigene Anteil stets vorhanden oder gar ausschlaggebend gewesen sein muss. Aber ihn von vornherein auszuschließen hieße zudem, die Konfliktkomplexität über Gebühr zu reduzieren.

(3) Eine sich im beschriebenen Gesamt­rahmen bewegende Friedensforschung wäre multiperspektivisch aufgestellt. Sie würde mithin Forschungen über intrinsische Verursachungen begrüßen. Solche Erklärungsmuster sind ihr wie das innengeleitete »Autismus«-Theorem organisierter Friedlosigkeit (Senghaas 1972, S. 51) durchaus vertraut. Gleichwohl würde eine komplexitätsorientierte Friedensforschung ihren Wahrnehmungshorizont nicht auf eine Mono-Perspektive verengen, stattdessen weitere Pfade in den Ukrainekrieg erkunden und als prinzipiell legitim anerkennen. Dazu gehört nicht zuletzt ein kritischer Blick auf die Politik des »Westens«, dem vorgeworfen werden könnte, nach dem Ende des Kalten Kriegs 1989/90 den Aufbau einer inklusiven und zur konstruktiven Konflikttransformation fähigen Friedensordnung blockiert zu haben. Gleichzeitig müsste sich eine solche Friedensforschung der erkenntnistheoretischen Problematik kontrafaktischer Konditionale bewusst zeigen (vgl. Müller 2022, S. 36-78): Gedankenspiele mit einer alternativen Vergangenheit – getreu dem Motto „Was wäre geschehen, wenn …“ – können bei aller Plausibilität ihrem spekulativen Charakter jedoch nicht entkommen.

Das prognostische Argument: Ende der Ukraine, Genozid und weitere Kriege

(1) Heutiges Handeln wird nicht nur aus der Deutung der Vergangenheit, sondern auch aus der erwarteten Zukunft bestimmt. Und eine gängige Prognose lautet: Wenn der »Westen« seine militärische Unterstützung einstellen würde, dann führte dies zum Ende der Ukraine als selbständigem Staat, ja sogar in einen Genozid. Zudem würde Russland zu weiteren Eroberungszügen ermuntert. Stützen kann sich das Argument zum einen auf Aufrufe des russischen Präsidenten zur »Entnazifizierung« der Ukraine, der Lobpreisung des Stalinismus und zur imperialen Tradition Peters des Großen, zum anderen auf die gnadenlose Brutalität, in der Russland den Krieg führt, die diesen eventuell sogar überdauern könnte.

(2) Eine Friedensforschung, die die gestellte Prognose als eine mögliche Zukunft zuließe, entspräche einerseits ihrem gewaltsensiblen Anspruch und nähme ihre Opferorientierung ernst. Würde sie sie hingegen als einzige tatsächliche Zukunft festschreiben, drohte sie andererseits jedoch an einem Feindbild mitzuwirken, das Moskau und seine Armee zweifelsohne nach Kräften befeuern. Gleichzeitig bliebe Friedensforschung hinter ihrem wissenschaftlichen Anspruch zurück. Denn die Antwort im prognostischen Futurum auf die Frage „Was wird geschehen, wenn …?“ kennt die gleiche Problematik wie das bereits erwähnte kontrafaktische Konditional: Es bleibt ein spekulatives Moment. Und dieses hätte weitreichende Konsequenzen: Denn angesichts drohender Mega-Gewalt erscheint jede Gegengewalt legitimiert. Letztlich läuft diese Argumentation auf eine Halbierung der Gewaltsensibilität hinaus, wie sie bereits in den problematischen friedenswissenschaftlichen Denkfiguren der emanzipatorischen wie der rechtserhaltenden Gewalt angelegt ist.

(3) Eine Friedensforschung, die sich stärker innerhalb des skizzierten Gesamt­rahmens bewegte, würde erstens den spekulativen Charakter jedweden prognostischen Futurums anerkennen, mithin multiperspektivisch mehrere Zukunftsoptionen zulassen. Zweitens würde sie die Plausibilität des Arguments hinterfragen, indem sie auch gegenläufigen Fakten und Entwicklungen nachginge sowie alternative gewaltfreie Handlungskonzepte ins Spiel brächte. Drittens richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die in der obigen Prognose (weitgehend) ausgeblendeten Gewaltrisiken. Dazu zählen mit Blick auf den Ukrainekrieg das Anheizen der Gewaltspirale, die Gefahr nuklearer Eskalation oder atomarer Unfälle sowie die Möglichkeit einer direkten Konfrontation zwischen NATO und Russland.

Das rechtliche Argument: Ausübung des Selbstverteidigungsrechts

(1) Ein weiteres Argument betont den Sachverhalt, dass die Ukraine ihr Recht auch auf militärische Selbstverteidigung gemäß Artikel 51 der UNO-Charta wahrnimmt. Dessen Kehrseite bestehe in der Zulässigkeit militärischer Nothilfe. Mithin schöpfe der kollektive »Westen« das Erlaubnisspektrum des Völkerrechts gar nicht aus, solange er nicht selbst aktive Kriegspartei würde. Es gehe im Ukrainekrieg um die Stärke des Rechts an Stelle des Rechts des Stärkeren.

(2) Eine Friedensforschung, die allein auf die Völkerrechtskonformität ausgeübter Gewalt pochte, drohte einem Rechtspositivismus anheim zu fallen, bei dem der Frieden als Ziel in der Rechtmäßigkeit des kriegerischen Vorgehens verschwände. Friedensforschung mutierte mithin zum wissenschaftlichen Arm jener Kriegspartei, die sich rechtmäßig gegen einen Aggressor verteidigt. Sie verlöre mithin einen Teil ihrer Gewaltaversität.

(3) Eine gewaltsensible Friedensforschung wiese darauf hin, dass die korrekte Ausübung des Selbstverteidigungsrechts zwar Bestandteil der Konzeption eines Friedens durch Recht ist, allerdings in einer besonderen Funktion: Es markiert den regelkonformen Ausstieg aus dem Ansatz, Frieden durch Recht etwa durch das Gewaltverbot und Verfahren friedlicher Streitbeilegung zu gewährleisten. Mithin suchte Friedensforschung nach Wegen, auch rechtskonforme Gewalt konstruktiv zu überwinden. Sie bliebe, wie es Harald Müller (2002) mit Blick auf einen „unbeugsamen Pazifismus“ formuliert, „Stachel im Fleisch der Selbstgerechten“, der an die „unverrückbare Ungerechtigkeit jedes Krieges“ (Herv. SJ) erinnere – und damit auch an die des zulässigen Verteidigungskriegs.

Das dekoloniale Argument: das Recht auf Selbstbestimmung

(1) Das der dekolonialen Perspektive entlehnte Argument lautet: Die Ukrainer*innen haben selbst zu entscheiden, ob und wie sie das ihnen zustehende Recht auf militärische Selbstverteidigung ausüben. Damit korrespondiert die aus der Konfliktforschung bekannte Figur der »conflict ownership«. Demnach »gehöre« der Konflikt ausschließlich den direkt involvierten Parteien. Jeder Ratschlag von außen verbiete sich daher von selbst.

(2) Eine Friedensforschung, die sich dieses dekolonialen Argumentationsmusters befleißigte, zeigte sich sensibel gegenüber kulturellen einschließlich epistemischer Gewaltformen, die dem »kollektiven Westen« höherwertige Erkenntnisformen und überlegenes Wissen attestierte. Einer Friedensforschung, die jedwedes dekoloniale Programm einschließlich seiner eventuell gewaltsamen Programmatik unreflektiert übernähme, wie dies „Theorien der Nachhut“ (Santos 2018, S. 73) zumindest nahelegen, drohte indes eine Halbierung ihrer Gewaltaversität sowie der Teilverlust eines selbstbestimmten kritischen Standpunkts.

(3) Eine Friedensforschung, die sich stärker innerhalb des skizzierten Gesamt­rahmens bewegte, versuchte eine Balance zwischen dekolonialer Zurückhaltung einerseits und dem Recht ihrer eigenen Positionierung andererseits. Zudem verwiese sie auf eventuelle Grenzen des konfliktwissenschaftlichen Arguments der »conflict ownership«: Denn wenn ein Konflikt wie der Ukrainekrieg schwerwiegende Folgen für Dritte zu zeitigen droht (z.B. nukleare Eskalation, Atomunfälle, Einbeziehung der NATO als aktive Kriegspartei), entwächst er der exklusiven Zuständigkeit der eigentlichen Parteien. Hierauf aufmerksam zu machen bliebe Aufgabe einer gewaltsensiblen Friedensforschung. Außerdem würde sie beispielsweise versuchen, solchen Stimmen Gehör zu verschaffen, die sich – wie die ukrainische pazifistische Bewegung – gegen den Krieg engagieren, aber auch Aktionen gewaltfreien Widerstands besser sichtbar machen.

Schluss

Wenngleich die Argumente speziell zum Ukrainekrieg formuliert sein mögen: Würden sie innerhalb der Friedensforschung zum allgemeinen »Gesetz« erhoben, zeitigten sie erhebliche Auswirkungen auf ihr disziplinäres Profil. Das sollten die obigen Ausführungen in ihrer idealtypischen Zuspitzung verdeutlicht haben. Sie bezwecken keineswegs, außerhalb des skizzierten Rahmens liegende Positionen aus der Friedensforschung auszugrenzen. Das widerspräche ohnehin dem geforderten komplexitätsorientierten Multiperspektivismus. Sensibilisieren für die möglichen Gefahren sollten sie aber schon. Friedensforschung muss vom Frieden her gedacht werden. Das gilt auch und gerade in Kriegszeiten.

Literatur

Birckenbach, H.-M.; Jaberg, S. (2020): Friedenslogik – ein heuristisches Projekt. Sicherheit und Frieden (S+F) 38 (3), S. 129-134.

Glasl, F. (2020): Konfliktmanagement. Ein Handbuch für Führung, Beratung und Mediation. 12., aktualisierte und ergänzte Aufl. Stuttgart: Haupt, Freies Geistesleben.

Müller, H. (2002): Stachel im Fleisch der Selbstgerechten. Frankfurter Rundschau, 24.01.2002.

Müller, O. (2022): Pazifismus. Eine Verteidigung. Ditzingen: Reclam.

Plattform Zivile Konfliktbearbeitung (2017): Friedenslogik weiterdenken (Flyer). URL: bit.ly/3XAxNBu

Santos, B. (2018): Epistemologien des Südens. Gegen die Hegemonie des westlichen Denkens. Übersetzt aus dem Englischen von Felix Schüring. Münster: Unrast.

Schneckener, U. (2002): Auswege aus dem Bürgerkrieg. Modelle zur Regulierung ethno-nationalistischer Konflikte in Europa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Senghaas, D. (1972): Abschreckung und Frieden. Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch.

Weller, Chr. (2017): Friedensforschung als reflexive Wissenschaft. Lothar Brock zum Geburtstag. Sicherheit und Frieden (S+F) 35 (4), S. 174-178.

Wintersteiner, W. (2021): Die Welt neu denken lernen. Plädoyer für eine planetare Politik. Lehren aus Corona und anderen existentiellen Krisen. Hrsg. von Hans Karl Peterlini, Nachwort von Helga Kromp-Kolb. Bielefeld: Transcript Verlag.

Zartman, I. W. (1985): Ripe for Resolution. Conflict and Intervention in Africa. New York; Oxford: Oxford University Press.

Dr. Sabine Jaberg ist Dozentin für Friedensforschung und Mitglied in der AG Friedenslogik der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung.

Friedliebende Blicke auf eine friedlose Welt

Haben pazifistische Sichtweisen noch einen Platz in der Friedensforschung?

von Olaf L. Müller

Seit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine sind Pazifistinnen wieder einmal schärfster Kritik ausgesetzt.1 Auch in der Friedensforschung stehen sie unter starkem Rechtfertigungsdruck. Zwei Vorwürfe melden sich in der deutschen Debatte besonders lautstark zu Wort. Laut dem einen Vorwurf hat sich die altbekannte Naivität des Pazifismus, aus den Tagen vor der »Zeitenwende«, inzwischen in eine krankhafte Form von Unbelehrbarkeit gesteigert, die sich angesichts der russischen Kriegsverbrechen nur mit geschlossenen Augen durchhalten lässt. Laut dem anderen Vorwurf steckt im Pazifismus eine rabiate Form von Prinzipienreiterei, die den Opfern der russischen Aggression eine zynische Gleichgültigkeit entgegenbringt und sich nur mit verschlossenem Herzen durchhalten lässt.

Beiden Vorwürfen liegt ein bestimmtes Bild von Pazifismus zugrunde: das Zerrbild von einem gesinnungsethischen Pazifismus. Wer sich dieser ethischen Position verschreibt, der erklärt (so das verbreitete Bild) ohne weiteres Nachdenken und ohne Rücksicht auf die Folgen ausnahmslos jede kriegerische Handlung für moralisch unzulässig – und zwar offenbar nur mit dem Ziel, eine saubere Weste zu behalten.

Dem steht in den handelsüblichen Überblicken zur moralischen Diskussion über Krieg und Frieden eine verantwortungsethische Position gegenüber, der zufolge wir für die Folgen unseres Tuns und Lassens verantwortlich sind, wir also nicht einfach tatenlos am Rande stehenbleiben dürfen, wenn wir ins Geschehen eingreifen können, um das Schlimmste zu verhindern. So gesehen mag es immer wieder vorkommen, dass wir kriegerische Mittel einsetzen müssen, weil sie mit Blick auf die Opferbilanz weniger schlimme Folgen nach sich ziehen als ihre angeblich so sauberen pazifistischen Alternativen.

Doch so einfach verhält es sich nicht. Wie ich in der folgenden Betrachtung aus einer erkenntnistheoretischen, wissenschaftsphilosophischen Perspektive darlegen möchte, hat die verantwortungsethische Sichtweise mit einer Schwierigkeit zu kämpfen, die von ihren Anwendern selten bemerkt wird und die mit der unerreichbaren Objektivität ihrer Tatsachenbehauptungen zu tun hat. Wer die fragliche Schwierigkeit hingegen in den Blick nimmt, gelangt dadurch zu einer attraktiveren Form von Pazifismus.

Ein Mittelweg für Pazifisten

In der Tat, wenn wir in der Diskussion über Krieg und Frieden lediglich zwischen gesinnungsethischem Pazifismus und verantwortungsethischer Abwägung zu wählen hätten, so stünde der Pazifismus ohne gute Karten da. Dies Manko betrifft aber nicht alle Formen von Pazifismus, denn die eingangs skizzierte Auswahl zweier Positionen ist zu eng. Wie ich dartun möchte, gibt es einen plausiblen Mittelweg zwischen pazifistischer Gesinnungsethik und verantwortungsethischem Anti-Pazifismus – und zwar einen Mittelweg für eine wohlverstandene Form von Pazifismus.

Dieser Pazifismus ist anstrengend. Er fordert von uns immer wieder aufs Neue eine intensive Auseinandersetzung mit den Tatsachen einer Welt voller Horror (wie jetzt in der überfallenen Ukraine); er hat keine eingebaute Richtigkeitsgarantie, sondern kann scheitern; und schlimmer noch, wir können uns schuldig machen, wenn wir ihm folgen.

Ein so charakterisierter Pazifismus wurzelt nicht in einer einzigen moralischen Norm wie „Sag immer Nein zu Krieg und Waffenlieferungen“; vielmehr beginnt er bereits weiter vorne in der Auseinandersetzung: beim Blick auf die kriegerische Wirklichkeit. Bereits in die Feststellung der Tatsachen, so die Idee, gehen unweigerlich unsere Werthaltungen ein; Pazifisten blicken demzufolge im Lichte anderer Werte auf die Wirklichkeit als ihre kriegsbefürwortenden Gegnerinnen. Die Pointe lautet, dass keine der beiden Seiten ohne Werthaltungen auskommen kann – jedenfalls dann nicht, wenn es gilt, zu denjenigen Informationen vorzudringen, die wir für eine verantwortungsethische Entscheidung über Krieg und Frieden benötigen.

Werte und Wirklichkeit

Die zuletzt formulierte Pointe fußt auf einer philosophischen Einsicht, die wir dem nordamerikanischen Pragmatismus von Vordenkern wie William James oder Charles Sanders Peirce verdanken – einer Einsicht, die von Neopragmatisten wie Hilary Putnam geschärft worden ist:

„Es ist schön und gut, hypothetische Situationen zu beschreiben, in denen zwei Leute ‚bei den Tatsachen übereinstimmen und sich über Werte streiten‘, doch sind mir solche Fälle bislang nirgends begegnet. Wann und wo sind sich denn jemals ein Nazi und ein Nazigegner über die Fakten einig gewesen? Oder […] ein Republikaner und ein Demokrat? Nehmen wir nur irgendeinen beliebigen politischen Streitgegenstand, etwa über den Verfall des amerikanischen Bildungssystems oder über Arbeitslosigkeit oder Drogenmissbrauch: in wirklich jedem Argument, das mir dazu bislang begegnet ist, waren Wertung und Beschreibung unauflösbar miteinander verquickt. Es ist erstaunlich, wie krass sich die tatsächlich vorkommenden moralischen Argumente jedesmal von dem unterscheiden, wie sie seitens philosophierender Anhänger einer scharfen Trennung von Beschreibung und Wertung zurechtgebogen werden“ (Putnam 1992, S. 167).

Meines Wissens hat Putnam das Gesagte nirgends auf die Diskussion über Krieg und Frieden angewandt; doch liegt diese Anwendung nahe. Dafür möchte ich zunächst anekdotische Evidenz beibringen. In der Tat war es mir während dreier Jahrzehnte, in denen ich gegen unsere Kriege argumentiert habe, kein einziges Mal vergönnt, mich mit der Gegenseite über wesentliche Beschreibungen des jeweiligen Konflikts einig zu wissen. Kein einziges Mal haben wir es hinbekommen, zunächst einmal in aller Ruhe die Fakten zu klären (um erst danach zu Wertungsfragen überzugehen).

Trotzdem könnte man denken, dass in jeder solchen Diskussion höchstens eine der beiden Seiten – objektiv – recht haben könne und dass es sich mit den rationalen Methoden ordentlicher Wissenschaftlichkeit – etwa der Friedensforschung – stets herausfinden lassen müsse, wo die Wahrheit liegt. Dass dem nicht so ist, kann man sich leicht klarmachen. Zuerst durch eine abstrakte Überlegung: Träfe der Einwand ins Schwarze, so müsste es objektive, wertfreie Geschichtsschreibung geben. Es liegt aber auf der Hand, dass in jede Darstellung historischer Ereignisse unweigerlich narrative Entscheidungen einfließen und dass sich in diesen Entscheidungen auch Werthaltungen widerspiegeln. Um das etwas konkreter zu unterfüttern, brauche ich nur daran zu erinnern, dass jedes Stück Geschichtsschreibung – so wie überhaupt jede Geschichte – einen Anfang braucht und dass die Wahl dieses Anfangs nicht von der Wirklichkeit vorgegeben wird.

Lassen Sie beispielsweise den gegenwärtigen Konflikt am 24. Februar 2022 beginnen? Oder im Jahr 2014 mit der völkerrechtswidrigen Krimannexion? Oder mit dem umstrittenen Sieg in der Stichwahl des prorussischen Präsidenten Janukowitsch am 7. Februar 2010? Oder mit seiner verfassungsmäßig so nicht vorgesehenen, jedenfalls strittigen Abwahl am 22. Februar 2014 durch das ukrainische Parlament? Oder mit der orangen Revolution Ende 2004? Oder mit bestimmten östlichen Beitrittsrunden der NATO? Oder mit dem deutschen und französischen Nein zum NATO-Beitritt der Ukraine? Oder mit dem ersten Vertrag zum Bau einer Gas-Pipeline durch die Ostsee? Oder mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion? Oder mit deren Bildung als Union angeblich autonomer Staaten? Oder mit der Unabhängigkeitsbewegung der Ukraine im 19. Jahrhundert? Kein Zweifel: Welchen Anfang Sie mit welcher Begründung wählen, daraus wird sich auch ablesen lassen, wie weit Sie sich auf die ukrainische Bewertung des langjährigen Konflikts einlassen und wie weit Sie der russischen Bewertung entgegenkommen.

Um nicht missverstanden zu werden: Es gibt gute und schlechte Geschichtsschreibung. Putin müssen wir beispielsweise als lausigen Historiker ansehen, der sich keinen Deut um die wohletablierten Erkenntnismethoden der Geschichtsschreibung schert. Aber das ändert nichts daran, dass gute Geschichtsschreiber mit beidseits guten Gründen darüber streiten können, womit eine erhellende Darstellung des Kriegs in der Ukraine beginnen muss.

Kontrafaktische Wenn/Dann-Sätze der Verantwortungsethik

Dass die Unmöglichkeit der sauberen Trennung von Wertung und Beschreibung weiter geht, als bislang zum Vorschein gekommen ist, möchte ich nun durch einen etwas genaueren Blick auf die vielgepriesene Verantwortungsethik herausarbeiten. Ihre Anwendung auf echte Fälle ist nämlich verzwickter, als man denken könnte. Wer sie zur Beurteilung einer kriegerischen Handlung einsetzen möchte, muss die Folgen der kriegerischen Handlung mit den Folgen derjenigen Handlung vergleichen, die an die Stelle der Kriegshandlung treten könnte. Wie objektiv, wie wertfrei sind Aussagen über solche Folgen?

Dass Wertungen in die Folgenabwägung und damit in die verantwortungsethische Gesamtentscheidung eingehen müssen, ist vergleichsweise unstrittig und stellt noch kein großes Problem dar. Um die Sache brutal zu vereinfachen, könnten wir diesen Gesichtspunkt vielleicht auf den Vergleich von Totenzahlen reduzieren: Infolge der kriegerischen Handlung sterben so viele Personen eines unnatürlichen Todes, infolge der nicht-militärischen Alternative hingegen so viele. Dann wäre die Handlung mit mehr Toten verantwortungsethisch falsch, ihre Alternative richtig.

Die hierbei verwendete Wertlehre passt offenbar etwas besser zum Pazifismus als zu dessen Gegenpositionen, denen zufolge das bloße Überleben nicht den einzigen oder höchsten Wert darstellt – weil die Freiheit von Zwang und Fremdbestimmung manchmal so wichtig ist, dass man dafür sogar sein Leben und unter Umständen auch das Leben von Mitmenschen opfern sollte. Aber meine Anwendung der These Putnams zielt woandershin: Selbst wenn wir uns als Verantwortungsethiker axiologisch (werttheoretisch) in den Bewertungsmaßstäben der Folgen einig sein sollten, selbst dann funken unterschiedliche Werthaltungen in die Folgenbetrachtung der verschiedenen Handlungsoptionen hinein. Und zwar stehen nicht einmal die noch unbewerteten Folgen der Handlungsalternativen objektiv fest.

Um diese verwirrende und meiner Ansicht nach im besten Sinne tiefsinnige These zu beleuchten, möchte ich annehmen, dass eine von zwei zur Auswahl stehenden Handlungen in die Tat umgesetzt wird. Bevor sich die Folgen dieser Handlung herauskristallisieren, können wir nur Prognosen über den weiteren Verlauf abgeben, die mehr oder minder gut begründet sind. Aber immerhin, welche Prognosen eines konkreten Verlaufs falsch gewesen sind, wird sich am Ende eindeutig herausstellen, und das mit aller Objektivität, die man sich wünschen kann. So weit, so schön – jetzt kommt das tief­liegende Problem: Welche Folgen müssen wir der Alternativhandlung zuschreiben, also derjenigen Handlung, die genau nicht in die Tat umgesetzt worden ist?

Bevor die Entscheidung fällt, stehen wir mit Blick auf diese Alternativhandlung genauso gut oder genauso schlecht da wie mit Blick auf die tatsächlich bevorstehende Handlung; mehr als Prognosen haben wir zu diesem Zeitpunkt nicht. Aber anders als im Fall der tatsächlich vollzogenen Handlung werden wir die Folgen der nicht vollzogenen Alternativhandlungen niemals kennenlernen. Wir werden stets im Reich der Vermutungen stehenbleiben, bekommen also nie und nimmer eine objektive, empirisch gesicherte Endauswertung der Prognose.

Das bedeutet, dass wir uns bei der Anwendung der Verantwortungsethik nicht nur auf die Bewertung objektiver Fakten beschränken können – wir müssen immer auch gewisse hypothetische Sachverhalte bewerten, also Sachverhalte, die niemals eintreten werden, mit einem Wort Kontrafakten. Meine Pointe lautet: Weil wir im Fall von Krieg und Frieden über keine objektive Methode für die Ermittlung der fraglichen Kontrafakten verfügen, müssen wir uns auf andere Ressourcen stützen, und zwar unter anderem auf gewisse Werthaltungen.

Optimistische und pessimistische Menschenbilder

Worin liegt hier die Besonderheit von Krieg und Frieden? Betrifft die Überlegung nicht alles menschliche Handeln, im Kleinen wie im Großen? So weit brauchen wir den Pessimismus mit Blick auf die Objektivität von Prognosen nicht zu treiben. Manche Prognosen unseres Tuns beruhen auf solider Naturwissenschaft, und deren Treffsicherheit informiert uns mit hinreichender Gewissheit auch über die Folgen kontrafaktischer Taten, also solcher Taten, die wir de facto unterlassen. Auch ohne es ausprobieren zu müssen, weiß ich gut genug, was geschähe, wenn ich einen Fahrgast kurz vor Einfahrt des Zuges auf die Gleise schubste – bzw. in der Rückschau: was geschehen wäre, wenn ich es getan hätte.

Krieg hingegen ist in nahezu allen Facetten naturwissenschaftlich unvorhersehbar; und das betrifft in gleicher Weise aus der Rückschau die »Prognose« bei nicht vollzogenen Handlungen. Genau an dieser Stelle kommen die bereits erwähnten Werthaltungen ins Spiel. Beispielsweise sind sich die Befürworterinnen der in Zahl und Wirkmacht zunehmenden Waffenlieferungen an die Ukraine über folgenden Satz weitgehend einig:

(1) Wenn der Westen die Ukraine nicht zügig mit Waffenlieferungen unterstützt hätte, so hätte die Ukraine ihren militärischen Widerstand nicht lange durchhalten können, und ein Völkermord wäre die Folge gewesen, der alles Leid in den Schatten gestellt hätte, das der tatsächliche Krieg nach sich gezogen hat (und noch nach sich ziehen wird).

Demgegenüber gelangt man im Rahmen einer pazifistischen Werthaltung zu einer anderen Sicht der Dinge:

(2) Wenn sich die Ukraine bereits unmittelbar nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 entschieden auf eine zivile Verteidigung gegen einen weitergehenden Überfall vorbereitet hätte, wenn sie den Verzicht auf militärische Konfliktlösungen angekündigt hätte sowie den Verzicht auf Bemühungen um eine NATO-Mitgliedschaft, wenn sie ihren Widerwillen gegen Fremdherrschaft aus Moskau durch millionenfache Demonstrationen mit Slogans wie „Ihr seid nicht willkommen“ gezeigt hätte, und wenn der Westen alles das (sowie vertrauensbildende Maßnahmen auf beiden Seiten) mit denselben finanziellen Summen unterstützt hätte wie jetzt den ukrainischen Verteidigungskrieg, dann hätte Putin seinen Truppen vielleicht keinen Einmarsch befohlen – und wenn doch, dann hätte es im weiteren Verlauf bei nur friedlichem Widerstand weit weniger Tote, Verletzte und Traumatisierte gegeben als im tatsächlichen Kriegsverlauf.

Es liegt auf der Hand, dass für den Streit über die Sätze (1) und (2) zunächst einmal eine große Zahl objektiver Tatsachen aufgeboten werden müssen (was beiden Seiten erhebliche Anstrengungen abverlangen wird). Aber das genügt nicht, denn meiner These zufolge muss etwas anderes hinzutreten: Ob Sie eher (1) oder (2) beipflichten, hängt auch von Ihrem Welt- und Menschenbild ab – oder von Ihrem Russlandbild.

Um mit dem Einfachsten anzufangen: Wer sich in der gegenwärtigen russischen Gesellschaft auf das Kaputte, Menschenverachtende, Irrationale, Verlogene, Gewalttätige, toxisch Männliche, giftig Nationalistische etc. konzentriert und diese Dinge nicht romantisch zu verklären bereit ist, kommt zu einem negativen Russlandbild und wird dem Satz (1) zustimmen, den Satz (2) hingegen für Phantasterei halten.

Es ist klar, dass man zu derselben Beurteilung der beiden Sätze auch mit einem allgemein pessimistischen Blick auf die menschliche Natur kommen kann; nur mit Stärke und Gewaltandrohung, so dieser Pessimismus, kann die Meute davon abgehalten werden, über ihre Nachbarn herzufallen.

Wer hingegen – vielleicht aus religiösen Gründen, vielleicht aus säkularen, philosophischen Gründen – an das Gute im Menschen glaubt, ja wer darauf zielt, jedem einzelnen Menschen (um ein großes Wort zu bemühen) mit Liebe zu begegnen, der wird sich eher gegen den Satz (1) aussprechen und für den Satz (2). Diese Haltung ist einigermaßen selten, aber das bedeutet nicht, dass sie objektiv falsch wäre. Zweifelsohne kann man mit dieser seltenen und zugegebenermaßen extremen Haltung scheitern; aber es ist alles andere als ausgemacht, ab welchem Punkt einer noch so katastrophalen Entwicklung ein für allemal, objektiv, feststeht, dass sich der optimistische Glaube einer Person an das Gute im Menschen als falsch herausgestellt hat.

Ein extremes Beispiel umfassender Menschenliebe

Nehmen wir als bekanntes Beispiel den Jesus aus dem Matthäus-Evangelium; für meine Überlegung kommt es nicht auf die Wahrheit dieser Erzählung an, sondern darauf, dass wir sie gut genug kennen und verstehen. Nachdem also Jesus vorhergesagt hatte, dass Judas ihn verraten würde, trat Judas ihm mit einer bewaffneten Bande entgegen. In diesem Augenblick großer Enttäuschung fragte Jesus ihn ohne Hohn, Spott, Verachtung oder moralische Verurteilung: „Mein Freund, warum bist Du kommen?“ – und ließ sich von ihm küssen, ließ sich abführen, ließ sich foltern und töten.

Wir können es offenlassen, ob sich der Jesus des Matthäus unmittelbar vor dem Tod selber als gescheitert und gottverlassen ansah. Mir ist es nur darum zu tun, dass es einigermaßen verwegen, ja rabiat wäre zu sagen: Als er Judas liebevoll seinen Freund nannte, da irrte er sich objektiv. Es mag sein, dass er durch diese Geste gehofft hat, Judas in letzter Sekunde vom Verrat abzuhalten – und diese Hoffnung hat sich zerschlagen. Aber soll das heißen, dass sich die Freundschaft der beiden unwiederbringlich als gegenstandslos herausgestellt hatte, als objektiver Irrtum?

Nicht, dass ich eine christliche Sicht dieser Geschichte nahelegen wollte; um Gott und die Auferstehung ist es mir in dieser kleinen Betrachtung nicht zu tun. Mir geht es nur um die Handlungsweise eines Ausnahme-Menschen, den wir – ob wir nun gottesgläubig sind oder nicht – als Vorbild sehen können. Wer ihm bei der Beurteilung des Judas einen Fehler vorwirft, gibt sich damit nicht als objektiver Realist zu erkennen, sondern zeigt seine Ablehnung eines allumfassenden Liebes­ideals, also die Ablehnung einer ganz bestimmten Werthaltung.

Was ich hier unter das Vergrößerungsglas einer extremen Geschichte gelegt habe, gilt auch im kleineren, weniger spektakulären Fall. Unser Menschen- und Weltbild kann mehr oder minder von einer umfassenden Liebe zu allen Menschen, auch den scheinbar bösen durchdrungen sein; genau darin spiegelt sich unsere Werthaltung. Je umfassender diese Liebe ist, desto stärker nähern wir uns dem pazifistischen Ideal einer ganz bestimmten Betrachtung der Wirklichkeit. Und im Lichte dieser Betrachtung werden wir mit voller Berechtigung andere kontrafaktische Sätze für wahr halten als die weniger pazifistisch Gesinnten, in deren Urteil über die fraglichen Sätze andere Werte einfließen. Sie vertreten ein anderes Menschenbild – und die Wahl zwischen diesen Grundhaltungen wird uns nicht von der Realität aufgezwungen.

Das legt die Frage nahe, wie wir auf die Wirklichkeit blicken wollen. Für Pazifisten steht die Antwort fest. Und im Rahmen dieser Antwort führt die Verantwortungsethik zu anderen Handlungsempfehlungen als bei Verantwortungsethikern ohne den radikalen Glauben an das Gute im Menschen.

Schlussfolgerungen für die Friedensforschung

Was bedeutet das Gesagte für die Friedensforschung? Solange sich ihre Protagonisten am Ideal objektiver, wertfreier Wissenschaftlichkeit orientieren, werden Friedensforscher sich vom hier skizzierten Pazifismus abgrenzen müssen. Ihr Wissenschaftsideal gerät in Gefahr, wenn ich recht haben sollte, dass bereits die Betrachtung der Wirklichkeit im Umfeld und Vorfeld von Kriegen nicht ohne Wertungen auskommt. Doch da Werte, wie dargetan, auch in die Wirklichkeitsbetrachtung der Gegner des Pazifismus einfließen, müsste sich eine streng wertfreie Friedensforschung im Streit zwischen diesen beiden Parteien neutral verhalten.

Und nicht nur in diesem Streit. Welche gesellschaftliche Bedeutung der solcherart geläuterten Friedensforschung noch zukäme, ist fraglich. Vielleicht wäre es daher hilfreicher, das Ideal preiszugeben, stattdessen die erkenntnisleitenden Werte offenzulegen und dadurch einer kritischen Diskussion zugänglich zu machen. Der von mir vorgetragene Pazifismus könnte hierfür den einen oder anderen Impuls geben.2

Anmerkungen

1) Weil schematisches Gendern zuweilen stilistisch akzeptable, verständliche oder sachlich korrekte Formulierungen verhindert, rücke ich zwar oft genug nicht-maskuline Formen in den Vordergrund, nutze aber im freien Wechsel damit immer wieder Ausdrücke, die unspezifisch für irgendwelche Personen stehen, mit den traditionell hergebrachten grammatischen Genusformen und stipuliere, dass alle diese Ausdrücke unabhängig vom Genus sämtliche geschlechtlichen Existenzmöglichkeiten bezeichnen (also Männer, Frauen und alle anderen); das betrifft maskuline Formen („Pazifist“, „wer“, „niemand“) genauso wie solche im Neutrum („Kriegsopfer“) und solche im Femininum („Person“, „Kriegsbefürworterin“).

2) Die in diesem Text knapp skizzierten Überlegungen habe ich an anderer Stelle ausführlicher entfaltet und mit weiteren Literaturnachweisen abgestützt (Müller 2022). – Ich danke Sabine Jaberg für hilfreiche Anmerkungen zu einer Vorfassung.

Literatur:

Müller, O. (2022): Pazifismus, eine Verteidigung. Stuttgart: Reclam.

Putnam, H. (1992): Realism with a human face. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.

Dr. Olaf L. Mülller ist Professor für Natur­philosophie und Wissenschaftstheorie am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität Berlin (www.farbenstreit.de).

Soziale Verteidigung

Fortentwicklung des Konzepts als originärer Beitrag der Friedensforschung

von Christiane Lammers und Christine Schweitzer

Über dreißig Jahre war die grundsätzliche Frage nach der Art der Verteidigung, der mit ihr verbundenen Zielsetzung und den zu schaffenden Voraussetzungen praktisch nicht mehr auf der Tagesordnung – weder der gesellschaftlichen noch der fachdisziplinären. Angesichts des Kriegs in der Ukraine steht sie wieder im Raum: Kann nur Militär uns letztlich vor einem Angriff von außen schützen? Muss deshalb eine neue Hochrüstung akzeptiert werden (Stichwort 100 Mrd.-Programm), deren eskalierende und destruktive Auswirkungen Gegenstand vieler Untersuchungen der Friedensforschung waren? Kann eine Gesellschaft andere Formen der Wehrhaftigkeit entwickeln, die an sich gewaltärmer sind und weniger Opfer verlangen?

Im Folgenden soll ein in den 1970er und 80er Jahren in der deutschen Friedensbewegung vielbeachtetes Konzept in Erinnerung gebracht werden: die sogenannte Soziale Verteidigung. Nachgezeichnet werden die Entwicklungsschritte, die tragenden Grundelemente und empirischen Befunde. Am Ende werden einige offenen Fragen angerissen, die es wert wären, sich diesen seitens der Friedens- und Konfliktforschung zu widmen. Dies wäre ein originärer und wichtiger Beitrag der Friedenswissenschaft zur Debatte.1

Entwicklungsphasen der Sozialen Verteidigung

Der Übergang von den 1960er zu den 1970er Jahren gilt in Deutschland als die Geburtsstunde der sogenannten »Kritischen Friedensforschung«. Im Kontext der Kritik an (staats-)autoritären und gewaltbereiten Denkfiguren, an undemokratischen Strukturen und elitärem Herrschaftshandeln, an Militär und Hochrüstung formierte sich in den Sozialwissenschaften eine junge Generation an Wissenschaftler*innen auf der Suche nach Alternativen zum gängigen sicherheitspolitischen Denken der militärischen Stärke. Es standen zwar theoretische Fragen wie z.B. die Begriffsbildung von Gewalt oder konzeptionelle Probleme der Entspannungs- und Abrüstungspolitik im Vordergrund, dennoch wurde auch an grundlegend anderen Verteidigungsstrategien und sicherheitspolitischen Modellen gearbeitet. Das Konzept der Sozialen Verteidigung ist eines davon, in Deutschland aufgegriffen von Theodor Ebert, der sich 1970 mit einer Arbeit zur Sozialen Verteidigung, den Voraussetzungen und Möglichkeiten des zivilen Widerstandes gegen Staatsstreiche und Fremdherrschaft habilitierte.

Vier Entwicklungsphasen des Konzepts der Sozialen Verteidigung lassen sich grob voneinander abgrenzen:

1. Die Anfänge gehen bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurück, mindestens bis zu einer Schrift des britischen Pazifisten William James »The Moral Equivalent to War« (1910; siehe Bogdonoff 1982). In den 1930er Jahren wurde die Idee einer gesellschaftlich getragenen Verteidigung verschiedentlich formuliert. So sah Gandhi in mehreren Ländern Ansätze hierfür: in der Schweiz 1931, Abessinien 1935, der Tschechoslowakei 1938 und Großbritannien 1940. In den Niederlanden formulierte der Antimilitarist Bart de Ligt angesichts der Bedrohung durch Deutschland das Konzept einer „gewaltfreien Volksverteidigung“.2 Die Arbeiten von Richard Gregg, Jessie Wallace Hughan, Krishnalal Shridharani und Kenneth Boulding fallen ebenso in diesen Zeitraum (vgl. Bogdonoff 1982).

2. Zwischen den 1950er und 1970er Jahren wurde die Soziale Verteidigung zu einem bis ins Detail durchdachten Konzept weiterentwickelt. Den Anfang machte der hochdekorierte britische Offizier Stephen King-Hall mit seinem Werk »Defence in the Nuclear Age« (deutsch: »Den Krieg im Frieden gewinnen«, 1958). Angesichts der Unmöglichkeit, sich mit Atomwaffen zu wehren, schlug er vor, sich mit gewaltfreien Mitteln gegen eine mögliche sowjetische Invasion zu verteidigen. Ihm folgten bald Friedensforscher*innen nach: Gene Sharp, Johan Galtung, Quincy Wright, April Carter, Adam Roberts und aus dem deutschen Sprachraum der Politologe Theodor Ebert. Etwas später kamen Gernot Jochheim, Anders Boserup und Andrew Mack hinzu, um nur einige zu nennen.

3. Theodor Ebert war es, der in den 1980er Jahren den Gedankengang einbrachte, dass der erste Testfall für Soziale Verteidigung eintreten könnte, wenn eine deutsche Regierung eine radikale politische Wende hin zu vollständiger Abrüstung und einer ökologisch nachhaltigen Politik vollziehen würde. In diesem Fall bestünde die Gefahr eines Putsches durch innenpolitische Kreise, um einer solchen Wende radikal entgegenzutreten. Namen aus dieser dritten Phase – alles Personen, die auch heute noch an dem Thema arbeiten – sind u.a. Jørgen Johansen, Barbara Müller und Brian Martin. Graswurzelaktivist*innen begannen zur gleichen Zeit die Frage zu stellen, ob eine Etablierung Sozialer Verteidigung durch eine Bundesregierung überhaupt realistisch sei, oder ob eine solche Wende nicht von unten durch gewaltfreien Widerstand erkämpft werden müsse.3

Nach 1989 wurde es erst einmal still um die Soziale Verteidigung. Die friedens­politische Debatte nicht nur in der Politik, sondern auch seitens der Friedensbewegung fokussierte sich auf Konflikte andern­orts, wie den Irakkrieg 1991, die Sezessionskriege im ehemaligen Jugoslawien, den Völkermord in Ruanda 1994. Von Landesverteidigung sprach kaum jemand mehr. Wer sich mit Sozialer Verteidigung weiter befasste, schaute entweder auf Staaten, bei denen eine militärische Bedrohung eine reale Gefahr zu sein schien (Baltikum) oder auf Bürgerkriegssituationen: dies mit der Fragestellung, welche Möglichkeiten Soziale Verteidigung hier eröffnen könnte.

4. Seit zwei oder drei Jahren tritt das Thema »Verteidigung« wieder mehr in den Vordergrund sicherheitspolitischer Diskussionen. Nun nach dem russischen Angriff auf die Ukraine (ab 2022) wenden sich etliche Friedensaktivist*innen, besonders in Deutschland, wieder dem Konzept der Sozialen Verteidigung zu: In der Ukraine sah man, dass Elemente Sozialer Verteidigung parallel zur militärischen Verteidigung praktiziert wurden und werden (vgl. Sierra 2022) und gefragt wird, ob Soziale Verteidigung dort nicht eine Alternative zur militärischen Verteidigung hätte sein können. Hierzulande wurde die Kampagne »Wirksam ohne Waffen«4 mit dem Ziel ins Leben gerufen, Soziale Verteidigung in der deutschen Gesellschaft bekanntzumachen und in »Modellregionen« konkret zu entwickeln.

Was ist Soziale Verteidigung?

Das Konzept der Sozialen Verteidigung lässt sich wie folgt umreißen:

1. Im Mittelpunkt steht das Ziel der Verteidigung der Lebensweise und der Institutionen gegen die Absicht des Gegners, sei es ein internationaler militärischer Aggressor, eine Bürgerkriegspartei oder Gruppierungen, die einen Staatsstreich versuchen, um die Herrschaft im Lande zu übernehmen.5 Verteidigung der Grenzen und des Territoriums steht hierbei also nicht im Fokus. Der Grundgedanke ist: Ein militärischer Besatzer braucht die Bevölkerung, um seine Besatzung aufrechterhalten zu können. Wenn keine*r die Anweisungen der Besatzungssoldat*innen befolgt, keine*r die Rohstoffe abbaut oder die Infrastruktur aufrechterhält, keine*r zu Parteiversammlungen geht, kein*e Lehrer*in die Besatzungs-Curricula umsetzt, dann mag der Angreifer zwar überall seine Truppen oder Sicherheitskräfte stehen haben, aber seine Ziele erreicht er vermutlich nicht.

2. Durch die Ankündigung, diesen zivilen Widerstand leisten zu wollen, soll ein Gegner von seinem Angriff abgehalten werden.

3. Praktisch jeder Mensch kann sich nach seinen Möglichkeiten an dem Widerstand beteiligen. Anders als bei herkömmlicher militärischer Verteidigung braucht es weder besondere physische noch technische Kompetenzen. Dennoch bedarf es für zivilen Widerstand der Vorbereitung in Trainings für gewaltfreien Widerstand.

4. Die Mittel der Sozialen Verteidigung sind die des zivilen Widerstands. Sie lassen sich in drei Kategorien einteilen:

(a) Methoden, die der Schaffung und Stärkung des Zusammenhalts der Aktiven gelten, also dem Erhalt der Widerstandskraft und der Erhöhung der Mobilisierung. Hierzu gehören symbolische unterstützende Maßnahmen, wie z.B. Protestmärsche, Heraushängen von Betttüchern oder das Tragen eines solidarischen Zeichens. In Norwegen war es unter den Nazis eine Büroklammer, die sich Menschen an die Jacke hefteten, in den besetzten Gebieten der Ukraine sind es gelbe Bänder.

(b) Methoden, die das Konfliktverhalten des Gegners ändern, insbesondere Gewaltanwendung verhindern sollen. Ziel ist, nicht nur auf das Verhalten, sondern auch auf die Einstellung des Gegners einzuwirken. Die Methoden beruhen dabei auf der Annahme, dass es Hemmschwellen gegenüber der Gewaltanwendung an einem unbewaffneten Menschen gibt, zumal wenn internationale Reaktionen erfolgen. Dazu gehören auch Mittel der Dokumentation und Veröffentlichung der Gewalt.

(c) Methoden, die die gegnerische Partei von ihren Zielen abzubringen suchen, also auf den Konfliktinhalt gerichtet sind. Hierzu gehört vor allem Nicht-Zusammenarbeit: von Boykott über Streik, Steuerverweigerung, zivilem Ungehorsam bis hin zu Theodor Eberts „Dynamischer Weiterarbeit ohne Kollaboration.

5. Studien zu erfolgreichem zivilem Widerstand belegen, dass es offensichtlich entscheidend ist, sich tatsächlich auf gewaltlose Methoden zu beschränken. Denn kommt es parallel zu größerer Gewaltanwendung seitens der Verteidiger*innen, wird sie zur Rechtfertigung der Gewaltanwendung des Angreifers genutzt. In der Literatur ist hier vom »Backfire«-Effekt die Rede (siehe für viele Martin 2012).

Neue Erkenntnisse über zivilen Widerstand

Heute wissen wir viel mehr als in den 1980er Jahren darüber, wie ziviler Widerstand funktioniert, denn damals standen nur wenige empirische Erkenntnisse zur Verfügung. So finden sich in fast allen damaligen Studien der Widerstand gegen den Kapp-Putsch in Deutschland 1920, der Aufstand im Ruhrgebiet gegen die französisch-belgische Besatzung 1923 (Ruhrkampf), der Widerstand der Lehrer*innen in Norwegen gegen die nationalsozialistische Gleichschaltung und der Widerstand gegen die Truppen des Warschauer Pakts in Prag 1968.

Inzwischen gibt es zahlreiche neue Untersuchungen, die sich mit Aufständen und Widerstand befassen. Erica Chenoweth und Maria J. Stephan (2011) zählen 107 gewaltfreie Aufstände im Zeitraum zwischen 1900 und 2006. Diese gewaltfreien Aufstände waren mehr als doppelt so erfolgreich (53 %) wie die gewaltsamen im gleichen Zeitraum. Allein zwischen 1972 und 2002 wurden nach den Erkenntnissen von Adrian Karatnycky und Peter Ackerman (2005) 67 autoritäre Regime beseitigt, mehr als 70 % davon als Ergebnis gewaltloser Aufstände. Mary B. Anderson und Marshall Wallace (2013) haben 13 Fälle analysiert, in denen Gemeinden oder ganze Regionen sich aus einem sie umgebenden gewaltsamen Konflikt erfolgreich heraushielten. Hieraus leiteten Anderson und Wallace eine Reihe allgemeiner Faktoren ab. Den Begriff »Soziale Verteidigung« wird man in ihrem Buch wie auch in den meisten anderen Veröffentlichungen jedoch vergeblich suchen. Dennoch wird im Kern verdeutlicht, was mit Sozialer Verteidigung gemeint ist: die gesellschaftliche Verteidigung der eigenen Lebensweise gegen einen militärischen Übergriff. Und diese aktuelleren Studien bestätigen im Wesentlichen die früheren Annahmen: die Bedeutung der Vorbereitung auf den Widerstand, des Entzugs bzw. der Verweigerung von Kooperation, des entschlossenen Festhaltens an der Gewaltlosigkeit auch angesichts massiver Repression und der Etablierung eher dezentraler Führungsstrukturen. Sie gehen aber auch deutlich darüber hinaus und tragen neue Erkenntnisse darüber bei, wie gewaltloser oder ziviler Widerstand »funktioniert« – wie z.B. mit ihren Hinweisen auf das zentrale Moment des Überlaufens von Sicherheitskräften (vgl. Chenoweth und Stephan 2011).

In den letzten zehn Jahren (2010-2019), so haben neuere Untersuchungen von Chenoweth (2021) gezeigt, ist die Erfolgsquote des Sturzes eines Regimes – sei es durch gewaltfreien Widerstand oder durch gewaltsame Aufstände – drastisch gesunken. Weniger als 34 % gewaltfreier Revolutionen führten in diesen Jahren zu Erfolg, weniger als 9 % waren es bei den gewaltsamen. Prominente Beispiele für das Scheitern sind die Widerstandsbewegungen in Myanmar (2021) und Belarus (2020-21). Chenoweth sieht die Ursachen in erster Linie bei den Bewegungen selbst, aber auch die Gegner*innen haben sich inzwischen auf zivilen Widerstand eingestellt:

  • Die Beteiligung an den Widerstandsbewegungen hat abgenommen, sie lag nun mehr durchschnittlich nur noch bei weniger als 1,3 % der Bevölkerung. Vorherige Studien hatten gezeigt, dass bei einer dauerhaften aktiven Teilnahme von mindestens 3,5 % der Bevölkerung die Chancen für eine Bewegung vorliegen, immerhin in 50 % der Fälle erfolgreich zu sein (vgl. Chenoweth und Stephan 2011). Diese Chancen schwinden natürlich bei geringerer Teilnahme.
  • Die Aktionsformate konzentrierten sich auf Massendemonstrationen, und es gab wenig Versuche, andere Techniken – wie z.B. Generalstreiks – einzusetzen.
  • Der stark angewachsene digitale Aktivismus erweist sich als nicht so effektiv und kann leichter von Regimen unterwandert werden.
  • Die sog. „gewaltsamen Ränder“ von Bewegungen sind stärker geworden, was offenbar eher dem Gegner nutzt.
  • Aber auch ausgeklügeltere Repressionsmethoden spielen eine Rolle, wie auch andere Formen der Zersetzung des Widerstands. D.h. auch die autoritären Regime haben aus der Vergangenheit gelernt und setzen oft sogenannte „smarte Repression“ ein, die nicht zu einem »Backfire« führt, bei dem sich die Menschen über die Gewalt des Regimes empören und mit der Bewegung solidarisieren. Der Einsatz von Überwachungssoftware (Gesichtserkennung, Überwachung per Smartphones wie in China) oder die massive Verbreitung von schädigender Falschinformation über die sozialen Medien (wie in Belarus) sind Beispiele hierfür (vgl. Zeitzoff 2017).6

Mit Blick auf die Besatzungszonen in der Ukraine muss auch hinzugefügt werden: Es ist nicht nur »smarte« Repression, sondern es sind auch Terrormaßnahmen (z.B. Folter, Ermordung sowie Verschleppung von Aktivist*innen und deren Familien), die offenen Widerstand weitgehend lähmen. Es gibt weiterhin zivilen Widerstand in der Ukraine – parallel zum militärischen, aber er ist weitgehend in den Untergrund gegangen.7

Wissenschaftliche Fragen für heute

Wenn heute Soziale Verteidigung angesichts der Militarisierung Europas wieder als nichtmilitärisches, gewaltfreies Konzept zumindest in Teilen der Friedensbewegung diskutiert wird, drängen sich Fragen auf: Welche neueren Entwicklungen bei gewaltlosen Aufständen, bei der Reaktion der gegnerischen Regime, den Möglichkeiten neuer Kommunikations-Technologien wie auch neuer Waffensysteme und der Kriegsführung im Allgemeinen, aber auch der Bedrohungsszenarien müssen bei der Weiterentwicklung der Sozialen Verteidigung berücksichtigt werden? Hier ist die Friedens- und Konfliktforschung ebenso wie die Forschung über zivilen Widerstand gefragt, die dabei ist, sich aus der Bewegungs- und Konfliktforschung zu einer eigenen Unterdisziplin weiterzuentwickeln.8 In den Augen der Autorinnen sind die wohl wichtigsten Fragestellungen:

1. Die klassischen Studien zur Sozialen Verteidigung nehmen implizit an, dass der Gegner vom Einsatz ziviler (statt gewaltsamer) Widerstandsmittel überrascht wird. Dass hiervon nicht mehr auszugehen ist, wurde oben schon angesprochen. Wie kann im Rahmen Sozialer Verteidigung dennoch auf massive und auf smarte Repression reagiert werden? Was soll der Nachahmung von Unterdrückungs- und Terrormethoden, gekoppelt mit digitaler Überwachung und gezieltem Einsatz von Falschinformationen über soziale Medien, entgegengesetzt werden? Welche Wege haben Aktivist*innen bereits gefunden, die Wirksamkeit dieser Methoden zu unterminieren?

2. Zu den gut begründeten Grundsätzen des zivilen Widerstands gehört, dass er nur erfolgreich ist, wenn nicht gleichzeitig Gewalt eingesetzt wird. In der Ukraine beobachten wir wie schon früher im Zweiten Weltkrieg (vgl. Semelin 1995), dass ziviler Widerstand, klassische militärische Verteidigung und Partisanenkampf parallel ablaufen. Was bedeutet das für das Konzept der Sozialen Verteidigung? Kann Soziale Verteidigung überhaupt zielführend und gewaltmindernd sein, wenn man sich vom Grundsatz der Gewaltfreiheit löst? Welche Gefahren sind mit der Konzeptualisierung einer solchen allumfassenden Kriegsführung verbunden, in der es dann keine wirkliche Unterscheidung mehr zwischen Kombattant*innen und Zivilbevölkerung gibt?

3. Zum Stichwort »neue Kommunikations-Technologien«: Die neuen digitalen Medien erlauben eine ganz andere Qualität dezentraler Kommunikation und eine Beinahe-Live-Dokumentation von Aktionen, aber auch Menschenrechts- und Kriegsverbrechen. Wie kann dies genutzt werden, wie mit den Kehrseiten (digitale Kontrolle, Nachverfolgung, Abschalten der Kommunikationskanäle, Verbreitung von Propaganda) umgegangen werden?

4. Nicht zu vernachlässigen sind bei der Konzeptionierung Sozialer Verteidigung neue verfügbare Waffengenerationen. Gerade im Kontext des Kriegs in der Ukraine wird oft gefragt: „Was kann Soziale Verteidigung ausrichten, wenn der Gegner mit Raketen oder Drohnen gezielt die Infrastruktur lahmlegt, um so den Widerstand zu schwächen?“ Vermutlich ist eine Antwort darauf, der Aufbau weniger anfälliger, dezentraler Infrastruktur oder auch zu schaffende Möglichkeiten, elek­tronisch gesteuerte Waffen zu stören oder zu eliminieren.

5. Die klassischen Studien über Soziale Verteidigung wie auch die meisten Studien über zivilen Widerstand gehen in der Regel von einer kurzen Dauer des Konflikts aus (ein Jahr z.B. bei Chenoweth und Stephan 2011). Welche Erfahrungen gibt es für Langzeitkonflikte und welche konzeptionellen Überlegungen gibt es für den Umgang mit dem Scheitern? Wie hoffnungslos sich eine solche Situation gestaltet, kann sowohl in Palästina als auch in Südossetien und Abchasien beobachtet werden. Es fehlen weitgehend Langzeitstudien, die hierzu Erkenntnisse hervorbringen.

Soziale Verteidigung: Utopie, Dystopie oder eine seriöse Alternative?

Es gab und gibt viele Einwände gegen die Soziale Verteidigung. Vielen scheint sie, trotz der erzielten Erfolge, lediglich eine Utopie zu sein – etwas für die ferne Zukunft, in der die Konflikte der Gegenwart überwunden sind. Andere sind noch kritischer und meinen, dass eine Realisierung Sozialer Verteidigung und der damit verbundene Verzicht auf militärische Abschreckung neue Kriege verursachen wird, weil ein Gegner – derzeit wieder Russland – dies geradezu als Aufforderung betrachten würde, weitere Länder zu überfallen. Die Protagonist*innen Sozialer Verteidigung verweisen demgegenüber darauf, welche Gefahren mit atomarer Abschreckung und wieviel Leid und Zerstörung mit militärischer Verteidigung verbunden sind. Warum sollte in der Konsequenz ausgerechnet hier seitens der Friedensforschung einem Fatalismus das Wort geredet werden? Entmilitarisierung und die Entwicklung Sozialer Verteidigung kann eine seriöse und wirklich nachhaltige Alternative sein – zumal eine solche Neuausrichtung gewiss auch international Signale für ein neues Verständnis »Gemeinsamer Sicherheit« setzen würde. Und gerade dieses brauchen wir, wenn wir die tatsächliche »Zeitenwende«, die vom Klimawandel heute eingeläutet wird, als Menschheit erfolgreich bewältigen wollen.

Anmerkungen

1) Der vorliegende Beitrag greift in weiten Teilen auf den verschriftlichen Vortrag »Ziviler Widerstand und Soziale Verteidigung« von Christine Schweitzer zurück, gehalten bei der Jahrestagung des BSV 2018 (siehe ibid. 2018).

2) Zum Werk von Bart de Ligt siehe die Studie von Arnold (2011).

3) Siehe die Sondernummer der Graswurzelrevolution von 1988 (Sonderheft, Nr 123/124) und die Kongressmaterialien des Bundeskongresses »Wege zur Sozialen Verteidigung« aus dem selben Jahr (verfügbar auf der Homepage des BSV).

4) Die Kampagne kann über ihre Homepage aufgesucht werden: wehrhaft-ohne-waffen.de

5) Schwierig wird es in den Augen der Verfasserinnen, wenn der Gegner lediglich das Land oder dessen Rohstoffe nutzen will, aber die Bevölkerung nicht braucht. Ob gewaltfreier Widerstand der einer solchen Situation innewohnenden Gefahr eines Genozids begegnen kann, erscheint fraglich.

6) Die Aussagen zu Belarus beruhen auf persönlicher Kenntnis Ch. Schweitzers über die Arbeit der belarusischen NRO „Unser Haus“, deren Aktivist*innen durch ehrenrührige, gefälschte Posts auf den sozialen Medien angegriffen werden.

7) Die oben zitierte Studie von Daza (2022) beschreibt den Zeitraum bis Juni 2022. In einem von der rumänischen NGO »Patrir« organisierten Webinar Anfang Dezember 2022 berichteten neben Daza zwei Aktivist*innen aus der Ukraine über die Fortsetzung dieses Widerstands.

8) Siehe hierzu die Versuche »Resistance Studies« zu etablieren, u.a. durch den Lehrstuhl von Stellan Vinthagen oder das »The Journal of Resistance Studies« (resistance-journal.org).

Literatur

Anderson, M. B.; Wallace, M. (2013): Opting Out of War: Strategies to Prevent Violent Conflict. Boulder, CO: Lynne Rienner Publishers.

Arnold, M. (2011): Gütekraft – Bart de Ligts humanistische Geestelijke Weerbaarheid. Overath: Verlag Bücken & Sulzer.

Bogdonoff, Ph. (1982): Civilian-Based Defense. A brief history. In: Newsletter of the Association for Transarmament Studies, November 1982.

Chenoweth, E.; Stephan, M. J. (2011): Why Civil Resistance Works. The Strategic Logic of Nonviolent Conflict. New York: Colombia University Press.

Chenoweth, E. (2021): Civil Resistance. What Everyone Needs to Know. Oxford u.a.: Oxford University Press.

Karatnycky, A.; Ackermann, P. (2005): How Freedom is Won. From Civic Resistance to Durable Democracy. Washington, DC: Freedom House.

Martin, B. (2012): Backfire Manual. Tactics against Injustice. Sparsnäs: Irene Publishing.

Schweitzer, Ch. (2018): Ziviler Widerstand und Soziale Verteidigung. In: Bund für Soziale Verteidigung (Hrsg.): Schnee von gestern oder Vision für Morgen – Neue Wege Sozialer Verteidigung? Dokumentation der BSV-Jahrestagung April 2018, Minden August 2018, S. 28-36.

Semelin, J. (1995): Ohne Waffen gegen Hitler. Eine Studie zum zivilen Widerstand in Europa, Frankfurt a. M.: dipa Verlag.

Sierra, F. (2022): Analysis of trends, impacts and challenges of nonviolent action in Ukraine between February and June 2022. ICIP, Novact, Friedrich-Schiller Universität Jena und Corridors.

Zeitzoff, Th. (2017): How Social Media Is Changing Conflict. Journal of Conflict Resolution 61 (9), S. 1970-1991.

Christiane Lammers ist Mitglied der Arbeitsgruppe Friedenslogik der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung (PZKB) und der Redaktion der Zeitschrift W&F.
Christine Schweitzer ist Geschäftsführerin des Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und Mitarbeiterin im Institut für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung (IFGK).

Impulse für ein Neudenken von Frieden

Jenseits von Liberalismus, Staat und Status Quo

von Mechthild Exo

Zur Inspiration für ein Neudenken in der Friedens- und Konfliktforschung werden hier drei wenig wahrgenommene Friedenskonzepte kurz vorgestellt, die aus anarchistischer, feministisch-dekolonialer und demokratisch-konföderaler Perspektive formuliert sind. Zuvor werden drei Ansätze skizziert, die lange die Diskurse der Friedens- und Konfliktforschung dominierten, aber Schaden anrichteten anstatt selbstgesetzte Ziele zu erreichen. Das betrifft erstens das Konzept des liberalen Friedens, zweitens das Rahmenkonzept des Nationalstaats und drittens generell die Suche nach Lösungen im Rahmen des Bestehenden.

Wir befinden uns in einer Zeit von Krisen, die einen Paradigmenwechsel (in) der Wissenschaft und ganz besonders beim Denken von Frieden erfordert. Verhindert doch die Nichtanerkennung nicht-westlicher, demokratischer und frauenrechtszentrierter Logiken und Friedenskonzepte, dass Lösungen für grundlegende soziale Probleme Realität werden können, während konkrete Theorien und Konzepte, die die europäische Wissenschaftstradition hervorgebracht hat, mehr Probleme schaffen als dass sie Lösungen bereithalten. Obwohl wir die Möglichkeit haben, von nicht-westlichen Wissensansätzen viel zu lernen, herrscht in der deutschsprachigen Friedens- und Konfliktforschung, nicht anders als in anderen Wissenschaften, weiterhin eurozentrisches, orientalistisches Überlegenheitsdenken vor.

Jenseits des liberalen Friedens

Das Konzept des liberalen Friedens wurde zum Standardkonzept der internationalen Politik. Damit legitimierte Friedens­einsätze basieren auf der Ideologie der missionarischen Demokratisierung und rechtfertigen machtvolle geopolitische Eingriffe und Kontrolle. Mit diesem Konzept wurde ein koloniales Verständnis von Peacebuilding verfestigt (Exo 2017). Demnach werde die nicht-liberale Welt von liberalen Staaten gerettet. Liberalismus, kapitalistische Werte, Märkte sowie nach westlichem Vorbild gestaltete Staaten und Gesellschaftsstrukturen wurden zum unhinterfragten Entwicklungsziel der Menschheit erhoben. Gewalt im Zuge dieser zivilisatorischen Missionen wurde normalisiert (Meyer 2008). Die Friedensforschung hat trotz dieser vernehmbaren Kritik nicht aufgehört, sich mit der Verbesserung dieses Konzeptes und mithin seiner Erhaltung zu beschäftigen. Die alles dominierende liberale Ideologie muss für Friedenskonzepte nicht reformiert, sondern überwunden werden. Für ein Neudenken von Frieden brauchen wir radikale Fragen, die die Wurzeln der zugrundeliegenden Logiken erreichen, und kontroverse Auseinandersetzungen, ethische und utopische Debatten um die Ausgestaltung einer lebenswerten Zukunft.

Jenseits des Rahmenkonzepts des Nationalstaats

Statebuilding ist vom liberalen Peacebuilding nicht zu trennen. Es wurde in den 1990er und 2000er Jahren in zahlreichen militärisch dominierten, aber als »vernetzte Konzepte« beschriebenen Einsätzen machtvoll in andere Weltregionen getragen. Staat mit Gewaltmonopol ist dabei das Ideal und gilt als unumgänglich für Ordnung, Sicherheit und für die Teilnahme an internationaler Politik. Ganz anders problematisierte noch bis in die 1980er Jahre u.a. der Friedensforscher Ekkehart Krippendorff Staat als „aus Gewalt entstandene und mit monopolisierter Gewalt gesicherte Herrschaft“ (1985, S. 10), die auf eine Logik der Gewalt- und Machtpolitik festgelegt ist, sowie Kriege als „manifest werdende organisierte Gewalt von Staaten (ebd., S. 206). Sowohl anti-­koloniale als auch links-revolutionäre Bewegungen hatten sich in weiten Teilen des 20. Jahrhunderts die Sprache der staatlichen Souveränität angeeignet, u.a. um im internationalen Recht Ansprüche stellen zu können. Ziele der nationalen Selbstbestimmung und Machtveränderungen erschienen durch die Übernahme staatlicher Macht erreichbar. Diese Diskurse veränderten sich allmählich ab den 1990er Jahren. Das Konzept Nationalstaat wurde als soziale Konstruktion hinterfragt, die als natürlich und einzig mögliche politische Ordnung behandelt wird. Auf die Gewalt, die für die Schaffung und Erhaltung von Nationalstaatlichkeit, u.a. durch die Notwendigkeit territorialer Grenzziehungen, aufgewandt wird, sowie auf die Machtdurchzogenheit von Nationalstaaten wurde verwiesen (bspw. Shaw 2002). Diese wurden nunmehr als ungeeignet für die Verwirklichung von Zielen der Freiheit und Selbstbestimmung verstanden. Mit den praktischen Konsequenzen, die sie aus dieser Kritik zog, ragte in den 1990er Jahren die revolutionäre zapatistische Bewegung in Chiapas, Mexiko, heraus. Neue Konzepte und Praktiken demokratischer Selbstbestimmung und für Gemeinschaftsleben in Freiheit von Unterdrückung wurden vielerorts entwickelt. Einige dieser paradigmatischen Umorientierungen von indigenen und anti-kolonialen Bewegungen werden in untenstehenden Beispielen deutlich. Aus feministischen und anarchistischen Positionen ist uns die Kritik am Konzept Staat bereits länger bekannt, zum einen als Institution patriarchaler Männlichkeit, zum anderen als hierarchische Struktur und zentralisierende Macht, die Selbstregierung unterbindet.

Jenseits von Lösungsversuchen innerhalb der bestehenden Ordnung

Zwar wurde in der Friedensforschung seit einigen Jahrzehnten kaum gepflegt, sich bewusst nicht auf die Lösung der Probleme des internationalen Systems und der Fragen der Regierung bzw. des Staates auszurichten. Doch gehört es zu ihrer Gründungsgeschichte, Frieden notwendigerweise auch jenseits von staatlichem Militarismus sowie, angesichts deren struktureller Gewalt, jenseits von kapitalistischen, patriarchalen Ordnungen gesucht zu haben (Ruf 2009), die bis heute katastrophale Ungleichheit, Hunger, Unterdrückung, Ausbeutung, Zerstörung von Natur und von Gesellschaftlichkeit, Entrechtung, Mord, Gewalt und Rassismus als Grundmuster nationaler wie internationaler Verhältnisse produzieren. Heute ist der weltweite Krisenzustand nicht mehr zu leugnen und ein Paradigmenwechsel für Forschung und Praxis zu Konflikt und Frieden wird von verschiedenen Seiten angestrebt. Auf dieser Basis möchte ich Alternativen zur vorherrschenden Ideologie des Liberalismus und zur kapitalistischen Moderne aufdecken helfen.

Impuls 1: auf Grundlage anarchistischer Theorie

Der Bezug auf anarchistische Theorie ist bei bisherigen Friedenskonzepten eher schwach entwickelt. Anarchismus ist auf machbare Utopien für die Gestaltung von Gesellschaftlichkeit orientiert, die auch auf Weltverhältnisse übertragen werden können. Zentralistische Regierungsformen und Staat lehnt er zugunsten der Autonomie von Individuen und sozialen Gruppen ab. Jede Person sollte die Möglichkeit zur direkten Teilhabe erhalten, statt die Regelung gesellschaftlichen Lebens an Repräsentant*innen zu übertragen. Dass der Anarchismus in horizontalen und dezentralen Modellen denkt, hat Konsequenzen für daraus erwachsende Friedenskonzepte. Statt auf die Bevormundung durch externe Architekt*innen und Sozialingenieur*innen des vermeintlichen Demokratie- und Staatsaufbaus wird aus einer anarchistischen Perspektive in Regionen mit Gewaltkonflikten auf Selbstregierung und Partizipation der Gesellschaften gesetzt. Friedenspraktiker*innen und -forscher*innen könnten Prozesse begleiten, wenn sie dabei lokal verankerte Formen der Selbstregierung stärken. Eine solche Anwendung anarchistischer Philosophieelemente schlägt Jonas Rusche (2022) vor. Es müsse von Friedensförderung (»peacefacilitation«) anstatt von Friedensaufbau (»peacebuilding«) gesprochen werden. Das dürfe allerdings nicht herausgelöst werden aus der umfassenden Staats- und Kapitalismuskritik, hebt Rusche hervor. Doch sei Anarchismus auch kein fest gerahmtes ideologisches Manifest, sondern eher eine dominanz-ablehnende Methodologie für die Praxis direkter Aktion und der Gesellschaftsorganisierung (Rusche 2022, S. 26). Das ermöglicht, die radikale Kritik und Veränderungsvision mit einer Praxis im Hier und Jetzt zu verbinden. Auch in einem machtvoll und hierarchisch strukturierten politischen Kontext wird die Utopie der Selbstorganisierung in den Mitteln und Formen, wie beispielsweise den Räten, vorweggenommen und so gehandelt, als entspräche das bereits dem politischen Rahmen der gewünschten Transformation. Die Ausgestaltung dessen, was als gesellschaftliches Leben im (positiven) Frieden angestrebt wird, wird präfigurativ bereits in Interaktionen und Gegeninstitutionen praktiziert.

Impuls 2: auf feministisch-dekolonialer Grundlage

Feministisch-dekoloniale Ansätze arbeiten den Ausschlüssen von Perspektiven entgegen, die aufgrund von eurozentrisch-kolonialer Herabsetzung und patriarchalen Mustern kaum in westliche Wissensproduktion eingehen. Anhand des Desasters der zwanzigjährigen militärischen Intervention in Afghanistan und eines positiven Beispiels aus Nordost-Indien zeige ich, wie nötig feministisch-dekoloniale Friedenskonzepte sind.

Die afghanischen Feministinnen von RAWA (»Revolutionary Association of the Women of Afghanistan«) organisieren die Gesellschaft seit 1977 im Untergrund – seit August 2021 erneut unter der Herrschaft der Taliban. Als 2001 die westliche Intervention begann, waren sie in der Gesellschaft verankert und besaßen gut organisierte Strukturen parallel zum Taliban-Staatssystem. RAWA war damals bereit, bei der Gestaltung der neuen Strukturen mitzuarbeiten, wurde jedoch vom Bonner Afghanistan-Gipfel zu deren Planung im letzten Moment wieder ausgeladen (Benard und Schlaffer 2002). RAWAs Analysen betonten die Notwendigkeit, Kriegs- und Menschenrechtsverbrecher und Frauenfeinde von politischen Ämtern auszuschließen. Damit standen sie im Widerspruch zur Praxis des westlich gesteuerten, sogenannten demokratischen Staats- und Friedensaufbaus. RAWA wurde daher zunehmend diskreditiert und von westlichen Organisationen abgelehnt (vgl. Exo 2017). Sie hatte von Beginn an zu Recht davor gewarnt, dass durch die Interventionspraxis frauenfeindliche, menschenverachtende und antidemokratische Islamisten Macht wiedererlangen würden. Die Missachtung des Willens der Bevölkerung wurde auch von anderen gesellschaftlichen Gruppen kritisiert. Sie entwickelten Widerstand gegen zentrale Aspekte des Friedensaufbaus wie die Verhinderung der Aufarbeitung der Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen und setzten sich – wenn auch vergebens – für die Beteiligung der Frauen und der Kriegsopfer am Friedens- und Versöhnungsprozess ein (TJCG 2010).

Im Folgenden geht es um das gelungene Beispiel der Interventionen der indigenen Naga-Frauen für einen Waffenstillstand und für einen langanhaltenden Friedensprozess im Indo-Naga-Konflikt in Nordost-Indien. Frieden zu schaffen geht hier von der Basis der (indigenen) Gesellschaft und hier insbesondere der organisierten Frauen aus. Es ist eine erprobte Art, soziale, demokratische Lösungen zu finden und umzusetzen.

Die indigene Naga-Gesellschaft erklärte 1947 einen Tag vor der Unabhängigkeit Indiens von der britischen Kolonialmacht ihre Unabhängigkeit, die jedoch international und durch den neuen indischen Staat nicht anerkannt wurde. Nach gescheiterten Verhandlungen über eigenständige Selbstbestimmung und Jahren des zivilen Ungehorsams folgten etwa vier Jahrzehnte bewaffneten Widerstands durch zuletzt zwei Naga-Guerillaorganisationen. Dieser wurde mit der militärischen Besatzung der gesamten Region und massiver Repression und Gewalt seitens des indischen Staates beantwortet. Nationale Selbstbestimmung und Integrität sowie staatliche Souveränität werden sowohl vom indischen Staat wie auch von den indigenen Untergrundgruppen mit Gewalt eingefordert. Der Konflikt wird gewöhnlich in diesen Begriffen erklärt.

Die indigene Frauendachorganisation »Naga Mothers Assosciation« (NMA) war die erste Frauenorganisation Asiens, die (1997) einen Waffenstillstand und lang­andauernden Friedensprozess ausgehandelt hat. Die Autorität der Frauen ist über Praktiken aufgebaut worden, die sich an den dringlichsten Bedürfnissen der Menschen und ihren täglichen Erfahrungen orientierte. Sie haben die Verantwortung für die Sicherheit der Familien, von Bedürftigen und für die jungen Menschen in einem Kontinuum vom eigenen Zuhause über die Nachbarschaft und die weitere Community bis hin zur ganzen Gesellschaft übernommen (Manchanda 2004). Das umfasste soziale, kulturelle, wirtschaftliche und politische Fragen der Sicherheit einschließlich ihrer Verflechtungen und Wechselwirkungen. Die Prio­ritäten richteten sich nach den Bedürfnissen der Menschen nach Gesundheit, besseren Lebensbedingungen und Frieden.

Die NMA geht davon aus, dass jedes Leben heilig sei. Dementsprechend organisierte sie für alle nicht identifizierten Leichen würdige Bestattungen: Die Frauen bedeckten auch Nicht-Naga-Tote mit traditionellen Naga-Tüchern (ebd.). Statt den Konflikt zwischen der Selbstbestimmung der Naga und der indischen Souveränität einer machtorientierten Lösung zuzuführen, die auf Ein- und Ausschluss, Grenzziehung, homogenen Identitäten und der Durchsetzung einer exklusiven Autorität mit einem Gewaltmonopol beruht, stellt NMA ihr Motto der »menschlichen Integrität« nach vorne, die die Verbindung zwischen allen Menschen betont. Dementsprechend organisierte sie Hilfe für die durch die Kriegssituation nicht versorgten Personen; sie verhinderte die weitere Zerstörung sozialer Strukturen durch Alkoholkonsum und Drogen; sie setzte sich für die Freilassung inhaftierter Jugendlicher und gegen das weitere Blutvergießen ein. Die Frauen verhandelten mit dem indischen Militär, der indischen Regierung und den Führungspersonen der in Fraktionen aufgespaltenen Guerillagruppen. Sie verwendeten die Beziehungssprache der Familienstrukturen, um zu beschreiben, dass ihre Praxis das Überleben und den Schutz „aller ihrer Kinder“ organisiert. Ohne sich abstrakt theoretisch oder in politischen Ämtern an Debatten zu beteiligen, wurden dichotome Denk- und Handlungsweisen überwunden, die durch den Diskurs der Nationalstaatlichkeit erzeugt worden sind und Gewalt legitimieren: nationale Integrität des bestehenden Staates versus nationale Selbstbestimmung als indigene Gesellschaft.

Durch den außergewöhnlichen Erfolg der NMA wurden Friedensforscher*innen auf diese Organisation aufmerksam und gaben den Frauen die Empfehlung, offizielle politische Positionen, z.B. im Parlament, anzustreben (u.a. Manchanda et al. 2002). Diese Form von Politik haben die Frauen von NMA jedoch immer wieder zurückgewiesen. Zu weit klaffen die Handlungskonzepte auseinander. Der vorherrschende Begriff des Politischen ist nicht gut in der Lage, diese Erfahrung erfolgreicher Friedensförderung, die an der Basis der Gesellschaft entstanden ist, zu erfassen.

Impuls 3: auf Grundlage der politischen Philosophie der kurdischen Bewegung

Das Friedensdenken der kurdischen Freiheitsbewegung basiert auf einer Logik, die Lösungen für soziale Probleme und für das demokratische Zusammenleben in den Mittelpunkt stellt, anstatt Friedensverhandlung als Machtaushandlung zu verstehen. Dies ist in der politischen Philosophie um das Konzept des »Demokratischen Konföderalismus« verankert, in dem der Begriff der moralisch-politischen Gesellschaft grundlegend ist. Gemeint ist eine Gesellschaft, die Entscheidungen nicht an einen Staat delegiert, sondern für sich selbst Verantwortung übernimmt und dafür die Bedeutung gemeinsamer ethischer Werte stärkt (Öcalan 2020).

In der Friedenskonzeption, die von Abdullah Öcalan auf Anfrage der türkischen Regierung als »Roadmap für Verhandlung« (2009, deutsch 2013) vorgelegt wurde, wird der Staat nicht als Akteur, der in Friedensverhandlungen Lösungen schafft, angesprochen – bedingt durch die staatliche Logik der Macht und Gewalt. Stattdessen wird er im angestrebten Ergebnis durch Demokratisierungsprozesse darin eingeschränkt, diese Machtlogik entgegen der Logik gesellschaftlicher, demokratischer Lösungen zu verfolgen. „Staat und Demokratie sind Bereiche, die sorgfältig getrennt voneinander behandelt werden müssen.“ (Öcalan 2013, S. 25) Für die Konzeption von Öcalan können beide parallel auf einem Territorium existieren und in Friedensverhandlungen wird jeweils die Legitimität des anderen anerkannt werden müssen (ebd.). Für die kolonialisierte kurdische Gesellschaft wird das Streben nach staatlicher Macht nicht als Lösung für Selbstbestimmung verstanden. Staat wird vielmehr als ein Machtverhältnis abgelehnt, das nicht zu gesellschaftlichen Lösungen beiträgt. Die Unterscheidung zwischen etatistischen und demokratischen Lösungen wird als äußerst wichtig erachtet (ebd.). Öcalan nennt dieses Friedenskonzept »Theorie der demokratischen Lösung«.

Frieden bedeutet demnach, den Raum für die Lösung sozialer und auch ökologischer Belange als demokratischen Prozess zu gestalten und die Partizipation aller gesellschaftlichen Gruppen in ihrer Vielfalt zu ermöglichen. Demokratie wird in der politischen Philosophie der kurdischen Bewegung konsequent im Sinne der selbstorganisierten Gesellschaft, einer Selbstbestimmung sozialer Gruppen und Individuen, und nicht mit Bezug auf Staat gedacht. Das Zentrum für Zivile Diplomatie aus der Selbstverwaltungsregion Nord- und Ostsyrien äußerte dazu: „Es ist wichtig, aus der Staatslogik auszusteigen und einen dritten Weg zu finden. Staaten sind Herrschaftsstrukturen, die mit Freiheit unvereinbar sind. […] Es bedarf eines anderen Systems, eines Systems jenseits von Staat und Patriarchat. Wir brauchen ein kommunales System, ein radikal demokratisches System.“ (2022)

Demokratisierungsprozesse werden generell sowohl als der Kern des Ziels von Verhandlungen als auch Voraussetzung für die partizipative Gestaltung von Friedensverhandlungen angesehen. Entsprechend wird das Ziel in der gesellschaftlichen Praxis in den kurdischen Gebieten, insbesondere im multiethnischen Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien, bekannt als Rojava, bereits umgesetzt. Kollektive Selbstorganisation wird aufgebaut, wie Räte in Stadtteilen, Basisstrukturen der Jugend- und der Frauenorganisation, Wirtschaftskollektive und vieles mehr. Die Freiheit der Frauen wird als Grundlage für eine freie Gesellschaft betrachtet, demnach erhalten sowohl die autonome Frauenorganisierung als auch Doppelspitzen in allen Leitungspositionen bestehend aus einer Frau und einem Mann Priorität. Ein (typischer) Ausschluss der selbstorganisierten Gesellschaft, insbesondere der autonomen Strukturen der Frauenorganisierung, aus möglichen Friedensverhandlungen wird auf dieser Grundlage schwer aufrechtzuerhalten sein.

Die Sprecherin des Frauendorfes Jinwar in der Selbstverwaltungsregion Nord- und Ostsyrien, Hevala Canda, beschreibt die Verbindung zwischen Verteidigung und dem Aufbau eines freien Lebens.

„Wir bauen hier eine Alternative auf, ein freies Leben. Für uns ist Jinwar Selbstverteidigung. Aber nicht im militärischen Sinne, sondern im sozialen. […] Der Krieg kann nicht mit militärischen Mitteln gewonnen werden. Es geht darum, dass wir als Frauen und als Gesellschaft zusammenkommen und die Grundlagen des Lebens selbst organisieren. Die Entwicklung unseres eigenen Systems, das auf Freiheit und Würde beruht, ist unsere stärkste Selbstverteidigung.“ (Canda, zit. n. Herausgeberinnenkollektiv 2020, S. 397)

Gegenwärtig werden diese Prozesse der demokratischen Selbstorganisation militärisch von der Türkei angegriffen. Die Selbstverteidigung der Gesellschaft umfasst verschiedene Praktiken, auch bewaffnete. Doch entsprechend der politischen Philosophie des demokratischen Konföderalismus werden diese Verteidigungspraktiken nicht als einfache Gegenreaktion mit gleichen Mitteln organisiert. Als Bevölkerung unbewaffnet in den angegriffenen Grenzstädten massenhafte Präsenz zu zeigen, neue soziale Projekte wie Kindergärten oder Frauenforschungszentren zu eröffnen, wenn die militärische Bedrohung zunimmt, gehört ebenso zu den Praktiken in Rojava, wie auch ältere Frauen im Gebrauch eines Gewehres einzuweisen, um ihr Wohnviertel verteidigen zu können. Verteidigung ist so verstanden gesellschaftliche Praxis, die auf vielen Ebenen geschieht. Vor allem werden Bildungsprozesse und Persönlichkeitsentwicklung, die anstreben, patriarchale und kapitalistische Prägungen zu überwinden und demokratisches Bewusstsein zu stärken, als wichtige Verteidigungspraktiken verstanden. Es wird angestrebt, nicht die Logik der Macht und des Krieges zu reproduzieren, die als eine unterdrückerische und patriarchale Logik gilt. Ähnlich der unter Impuls 1 festgehaltenen praktischen Utopie des Anarchismus wird auch hier in allen Handlungen versucht, die Werte und Ziele der freien, demokratischen Gesellschaft bereits Realität werden zu lassen.

Schluss

Es erscheint mir sinnvoll, dass Friedensforscher*innen in Europa mit ihren Lösungsvorschlägen bescheiden zurücktreten und stattdessen dem Friedenswissen oder den Friedenskonzepten zuhören, die aus den skizzierten indigenen und anderen nicht-westlichen sowie feministischen und anarchistischen Ansätzen entstanden sind. Für eine Friedensforschung, die den Status Quo nicht erhalten möchte, weil dieser ein immer größeres Ausmaß an Gewalt produziert, sind gerade solche Wissensformen des Globalen Südens und von politischen Bewegungen, die nicht selten diffamiert werden, von besonderem Interesse. Um diese verstehen zu können, ist es jedoch erforderlich, uns von festgefahrenen Denkmustern des liberalen Friedens zu lösen und uns in andere Begriffe des Politischen, andere Logiken und Philosophien hineinzudenken.

Literatur

Benard, C.; Schlaffer, E. (2002): „Die Politik ist ein wildes Tier.“ Afghanische Frauen kämpfen um ihre Zukunft. München: Droemer.

Exo, M. (2017): Das übergangene Wissen. Eine dekoloniale Kritik des liberalen Peacebuilding durch basispolitische Organisationen in Afghanistan. Bielefeld: transcript.

Herausgeber_innenkollektiv des Andrea Wolf Instituts (2020): Wir wissen was wir wollen. Frauenrevolution in Nord- und Ostsyrien. Münster: Edition Assemblage.

Krippendorff, E. (1985): Staat und Krieg. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Manchanda, R. (2004): We do more because we can. Naga women in the peace process. Kathmandu: SAFHR.

Manchanda, R.; Sijapati, B.; Gang, R. (2002): Women making peace. Strengthening women’s role in peace processes. South Asia Forum for Human Rights: Kathmandu.

Meyer, J. (2008): The concealed violence of modern peace(-making). Millennium 36 (3), S. 555-574.

Öcalan, A. (2013): Die Roadmap für Verhandlungen. Köln: Internationale Initiative Edition.

Öcalan, A. (2020): Soziologie der Freiheit. Manifest der demokratischen Zivilisation, Münster: Unrast.

Ruf, W. (2009): Quo vadis Friedensforschung? In: Baumann, M. et al (Hrsg.): Friedensforschung und Friedenspraxis. Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel.

Rusche, J. (2022): Imagining peace outside of liberal statebuilding: Anarchist theory as pathway to emancipatory peacefacilitation. Alternatives 47(1), S. 18-44.

Shaw, K. (2002): Feminist futures: Contesting the political. In: Falk, R.; Ruiz, L. E. J.; Walker, R.B.J. (Hrsg.): Reframing the international. Law, culture, politics. New York und London: Routledge.

Transitional Justice Coordination Group (2010): The statement of the one-day conference on justice and reconciliation, 10.11.2010. URL: tjcgafghanistan.wordpress.com.

Zentrum für Zivile Diplomatie (2022): Gegen die Logik des Dritten Weltkriegs. Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Kampf für den Frieden. Kurdistan Report Nr. 224.

Dr. Mechthild Exo ist Lehrkraft an der Hochschule Emden/Leer und dekolonial-feministische Aktivistin und Forscherin.

Vom andauernden Krieg zum nachhaltigen Frieden

Aufgaben einer kritischen Friedensforschung

von Jürgen Scheffran

Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine hat sich das internationale System weiter massiv in Richtung Konfrontation verschoben. Mit der Rede von einer umfassenden »Zeitenwende« wird der Eindruck erweckt, bis dahin geltende Orientierungen der Sicherheitspolitik seien nun obsolet. Wenn die Kriegslogik die Herrschaft übernimmt, wird die Logik des Friedens in die Ecke gedrängt, obwohl sie wichtiger denn je wäre, um aus der Eskalation wieder herauszukommen. Der Konformitäts- und Anpassungsdruck ist eine Herausforderung auch für die Forschung über Krieg und Frieden. Eine Konflikttransformation von der andauernden Gewaltspirale zum nachhaltigen Frieden braucht das Verständnis der Konfliktursachen ebenso wie kritische Lösungsansätze. Wie bei der sozial-ökologischen Transformation geht es um einen Systemwandel von einer destruktiven Wachstums- und Machtpolitik zu einer nachhaltigen, solidarischen und friedlichen Wirtschafts- und Lebensweise.

Im Unterschied zur militärischen Forschung muss die kritische Friedensforschung nicht für die Front kämpfen und Kriege gewinnen, sondern den Frieden. Sie muss nicht das allseits Bekannte wiederholen und auch nicht die herrschende Politik rechtfertigen, sondern sie kritisch und konstruktiv begleiten, um konfliktverschärfende Mechanismen aufzuzeigen und abzuschwächen, Freund-Feind-Trennlinien zu überbrücken und eine nachhaltige Friedensordnung anzuvisieren. Das bedeutet, Kriegsursachen nicht nur bei anderen zu suchen, sondern (selbst-)kritisch auch den Beitrag des eigenen Systems in Augenschein zu nehmen. Dabei kann die Friedenswissenschaft zwischen die Fronten geraten, doch entscheidend ist die Suche nach Wahrheit, nicht wem sie gefällt. Das impliziert, das Verborgene sichtbar zu machen, um von Konfliktparteien propagierte Positionen durch unberücksichtigte Tatsachen zu ergänzen oder in Frage zu stellen und ein ausgeglicheneres Gesamtbild der Konfliktdynamik zu bekommen. Darauf hinzuweisen, bedeutet nicht, diese zu rechtfertigen.

Dazu gehört die Frage, wieweit das von Europa ausgehende expansive Entwicklungsmodell nicht nur an ökologische »Grenzen des Wachstums« stößt, sondern auch an ökonomische, soziale, politische und wissenschaftlich-technische Grenzen. Zu untersuchen sind daraus folgende Grenzkosten und Risiken für die westlich dominierte Weltordnung, die multiple Krisen, Katastrophen und Konflikte fördern (vgl. Scheffran 2022). Damit verbundene Logiken und Ursachen physischer und struktureller Gewalt besser verstehen und bewältigen zu können, ist eine Aufgabe der kritischen Friedensforschung. Dies wird hier beispielhaft verdeutlicht am Krieg zwischen Russland und der Ukraine sowie an den Implikationen für Mediendemokratie, Nord-Süd-Verhältnis und sozial-ökologischer Transformation, die eine Logik des nachhaltigen Friedens erforderlich machen.

Konkurrierende Erzählungen zum Ukrainekrieg

Zum Ukrainekrieg stehen konkurrierende Erzählungen im Widerstreit. Der einen zufolge habe der Westen nach dem Kalten Krieg die Chancen der Friedensdividende genutzt, um eine friedliche Weltordnung aufzubauen, auf Grundlage eigener Werte wie Wohlstand, Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, der sich immer mehr Staaten angeschlossen haben. Dabei habe der Westen übermäßig abgerüstet und sich so praktisch wehrlos gemacht. Diese Weltordnung sei durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin am 24. Februar 2022 brutal und überraschend beendet worden, ohne Grund und gegen das Völkerrecht, was den Westen zu einer Zeitenwende für Aufrüstung zwinge.

Der anderen Erzählung zufolge habe der Westen nach 1990 seine historische Expansion mit der Ost-Erweiterung fortgesetzt und mit geopolitischen Ambitionen, militärischen Interventionen und Aufrüstung abgesichert, lange vor dem Ukrainekrieg. Dabei wurde wenig Rücksicht auf die Sicherheitsinteressen anderer Staaten genommen, von Russland bis in den Globalen Süden, die im Gegenzug ihre Interessen auch mit Gewalt und unter Verletzung des Völkerrechts verfolgten, wie es der Westen ebenso getan hat. Dagegen müsse eine Friedensordnung gemeinsamer Sicherheit und Abrüstung errichtet werden, die die Lösung globaler Probleme kooperativ angeht.

Der Ukrainekrieg hat diese alternativen Erzählungen polarisiert und folgt wie andere Kriege Kriegslogiken und Eskalationsdynamiken – nicht nur in Russland und der Ukraine, sondern auch in westlichen Staaten. Unter dem Druck, im Westen Einigkeit zu demonstrieren, ist es hier für die Friedensforschung schwer, der Kriegslogik zu entkommen. Um dennoch konstruktive Wege aus der Gewalt aufzeigen zu können, müssen nicht nur die aktuelle Konfliktdynamik, sondern auch die Konfliktgeschichte aller Beteiligten und die strukturellen Gewaltursachen in Augenschein genommen werden.

Von der Konfliktdynamik zur Kriegslogik

Konflikte werden durch widerstreitende Motive, Interessen und Fähigkeiten von Konfliktparteien angetrieben, die oft nur die »eigene« Sicht auf das Konfliktgeschehen gelten lassen und die der »anderen« ausblenden. Indem sie damit verbundenen Sachzwängen und Automatismen folgen, laufen sie in eine systemische Kette von Aktionen und Reaktionen hinein, die zu wechselseitigen Schädigungen und zunehmenden Spannungen führt. Um diese eskalierende Eigendynamik von Konflikten zu durchbrechen und einen Wechsel von der Konfrontation zur Kooperation zu ermöglichen, sind deeskalierende Verhaltensänderungen erforderlich, mit wechselseitigen Vorteilen, Absprachen und Verhandlungen. In den 1980er Jahren wurde durch Gorbatschows Neues Denken ein solcher Prozess ausgelöst, der maßgeblich zum Ende des Kalten Krieges beitrug.

Die Entspannung Anfang der 1990er Jahre wurde durch die Ost-Expansion der NATO, Militärinterventionen in Jugoslawien, Irak und Afghanistan, Aufrüstung und die Kündigung von Abkommen durch die USA untergraben, was in Russland zunehmend als Bedrohung wahrgenommen wurde. Eine Konsequenz war die Machtübergabe an Wladimir Putin im Jahr 2000, der nach anfänglichen Verständigungsversuchen zum Feindbild mutierte. Geopolitische Strategien ersetzten Bemühungen um gemeinsame Sicherheit, Rüstungskontrolle und Abrüstung. Das Dreiecks-Verhältnis zwischen Russland, der Ukraine und dem Westen eskalierte in den Jahren vor dem Krieg durch das Handeln aller Konfliktparteien. Während über die West-Integration der Ukraine diskutiert wurde, setzte Russland auf die militärische Karte durch die Kriege in Tschetschenien und Georgien, die Besetzung der Krim 2014 und die Unterstützung der Separatistengruppierungen im Osten der Ukraine. Die Minsker Abkommen verschafften eine Atempause, die der Ukraine Zeit gab für eine Aufrüstung mit westlicher Unterstützung. Seit dem russischen Angriff folgt der Ukrainekonflikt archaischen Mustern der Kriegslogik, die alle Konfliktparteien erfasste.

Im Krieg setzen organisierte Kollektive erhebliche Gewaltmittel ein, um eigene Interessen gegen andere durchzusetzen, was zur Rechtfertigung weiterer Gewalt­anwendung dient und so in die Gewaltspirale führt. Dieser Logik folgend werden auch im Ukrainekrieg immer mehr Gewaltmittel eingesetzt, um scheinbare Stärke zu demonstrieren, wodurch der Konflikt eskaliert. Damit verbunden ist eine Polarisierung in Opfer und Täter*innen, Freund und Feind, Gut und Böse. Um wachsende Kosten und Opfer zu rechtfertigen, steigt der Druck, den Krieg zu gewinnen und der gegnerischen Seite eine Niederlage zu bereiten (gemäß dem Motto „wir oder sie“), mit sinkender Rücksicht auf Verluste. Alles wird zum eigenen Vorteil ausgeschlachtet: die Bedrohung durch den Gegner, die Empörung über eigene Opfer, gegnerische Verluste – sogar eine einseitig verkündigte Waffenrufe oder Zugeständnisse werden als hinterhältiger Plan abgelehnt, statt die Ernsthaftigkeit zu prüfen. Indem alle Schuld der anderen Seite zugewiesen wird, lässt sich jede eigene Verantwortlichkeit leugnen. Dies öffnet die Schleusen für die Entmenschlichung und Totalisierung des Krieges, die alle gesellschaftlichen Bereiche, Infrastrukturen und Lebensgrundlagen einbezieht und sich verselbständigt. Mit dem Streben nach »Sieg«, der die eigenen Opfer rechtfertigt, wächst die Bereitschaft, bis zum Äußersten zu gehen. Das Kriegsende ist erreicht, wenn zumindest eine Seite erschöpft ist oder sich mit dem Ergebnis zufriedengibt, wenn weitere Kriegshandlungen aufgrund der Kosten und Risiken nicht möglich oder sinnvoll erscheinen.

Kriegsfolgen als Krisen-Multiplikator

Eine kritische Friedensforschung stellt die Kriegslogik und ihre vernunftwidrigen Konsequenzen in Frage. Entgegen der nun verbreiteten Vorstellung des Militärtheoretikers Carl von Clausewitz („Vom Kriege“, 1832), dass Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei, standen die verheerenden Kriegsfolgen schon im Dreißigjährigen Krieg im Widerspruch zu vermeintlich rationalen Kriegszielen. Dieser Widerspruch wurde immer krasser, als sich im 19. Jahrhundert mit der industriellen Rüstungsproduktion die »modernen« Massenkriege bis hin zu den Weltkriegen entwickelten. Im nachfolgenden Ost-West-Konflikt manifestierte sich dieser Widerspruch in der Möglichkeit gegenseitiger Selbstvernichtung durch atomare Waffen, was die Kriegslogik und ihre Machtpolitik ins Absurde führte. Die Supermächte USA und Sowjetunion konnten trotz schierer Übermacht auch gegen kleinere Mächte wie Vietnam oder Afghanistan ihre Ziele nicht erreichen, ein Beleg für den „Nebel des Krieges“ (von Clausewitz), der eine schwer kalkulierbare Eigendynamik entfalten und Siegeserwartungen untergraben kann.

Die Folgen der Kriegslogik sind in der Ukraine unübersehbar: massive Zerstörung von Städten und lebenswichtigen Infrastrukturen, zahlreiche Tote und Verwundete, Millionen Flüchtlinge und existenzielle Not der Menschen. Indem Russland und die Ukraine massiv militärische Mittel einsetzen, der Westen harte Sanktionen verhängt und schwere Waffen liefert, eskalieren alle Beteiligten das Kriegsgeschehen und verlängern es damit. Das Risiko eines Welt- und Atomkriegs, ob aus Absicht oder aus Versehen, wird kleingeredet. Wirtschaftskriege haben Russland bislang nicht zum Einlenken bewegt, sich aber durch Inflation und Lieferkettenausfälle als kontraproduktiv erwiesen.

Ein solcher Krieg ignoriert historische Erfahrungen früherer Kriege, belebt geopolitische Machtkämpfe, Aufrüstung und andere Gewaltkonflikte. Die anhaltende Kriegslogik zerstört die Bedingungen für eine nachhaltige Friedensordnung, verbraucht enorme Finanzmittel und Ressourcen, die zur Lösung drängender Probleme fehlen, Umwelt und Klima belasten. Statt Krisen zu bewältigen, entsteht eine multiple Dauerkrise, verstärkt durch einen andauernden Krieg (»sustained war«), den der frühere US-Präsident George W. Bush schon vor zwei Jahrzehnten in Irak und Afghanistan propagierte (Scheffran 2003). Statt sich daran zu gewöhnen, wäre es sinnvoller, die Ursachen in der heutigen neoliberalen Weltordnung in den Blick zu nehmen und abzustellen, statt die Folgen woanders zu bekämpfen. Hier liegt eine zentrale Aufgabe kritischer Friedensforschung.

Zivilgesellschaft zwischen Wahrheit, Macht und Mediendemokratie

Propaganda gehörte schon immer zum Krieg und macht auch im Ukrainekrieg Informationen aller Konfliktparteien fragwürdig, vermittelt und verstärkt durch die Massenmedien. Während in autokratischen Staaten kritische Positionen Repressionen ausgesetzt sind, wird in liberalen Demokratien durch das öffentliche Zusammenwirken von moralischer Empörung, Selbstzensur, Selektion und Opportunismus ein entsprechender Effekt erzielt. In den medialen Echokammern werden Empörungsreflexe multipliziert, Feindbilder projiziert und Mehrheitsmeinungen erzeugt. Der Komplex aus Politik, Medien und Kapital unterstützt bestimmte Positionen und marginalisiert andere, wird damit zur „Vierten Gewalt“ (Precht und Welzer 2022), die die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Wahrheiten der Mächtigen richtet und die Wahrheiten der Ohnmächtigen marginalisiert. So sind abweichende und kritische Ansichten leichter als Verschwörungstheorien und Fake News zu diskreditieren.

Selbst bekannte Politikwissenschaftler wie John Mearsheimer oder der frühere US-Außenminister Henry Kissinger (2022), die die jüngste Politik des Westens realpolitisch kritisierten und vor einer Eskalation zum Weltkrieg warnten, wurden mit linken und rechten Rändern der Politik in einen Topf geworfen (Zürn 2022). Eine medial konstruierte Expert*inenkultur verschiebt den wissenschaftlichen Diskurs entlang der Freund-Feind-Trennlinien. So kann der auf immer schärfere Kriegsmittel setzende militante Liberalismus weiter den simplen Aktions-Reaktions-Mechanismen des Realismus folgen, die schon vor hundert Jahren vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg führten und die Demokratie untergruben. Ein Ausstieg aus dieser fatalen Dynamik würde auch heute neues Denken, konstruktive Lernprozesse und friedenslogisches Handeln erfordern.

Stattdessen geraten auch die Friedenskräfte auf die Anklagebank, die seit Bertha von Suttner vor Krieg warnen. Oft genug schon wurden Pazifismus und Wehrkraftzersetzung gleichgesetzt, Kritik am Militarismus mit Landesverrat verwechselt. Der Pranger schwarz-weißer Kriegsrhetorik untergräbt auch heute die Grundlagen einer lebendigen Demokratie. Dabei wird eine starke Zivilgesellschaft, die dem Militärischen das Zivile entgegensetzt, besonders in Kriegszeiten gebraucht. Gegen machtpolitische Interessen, bellizistische Stimmungsmache und persönliche Diffamierung sollte die kritische Friedenswissenschaft das Wissen über Kriegsursachen und Friedenslösungen in die Gesellschaft tragen.

Globaler Süden: zwischen kolonialer Expansion und struktureller Gewalt

Die Expansion der liberalen Weltordnung stößt auch im Globalen Süden auf Grenzen und Widerstände, die zu Krisen und Konflikten führen. Auch wenn der Globale Süden vom Ukrainekrieg betroffen ist (durch wirtschaftliche Folgen, Nahrungsmittelkrisen, Energiepreise) und von den Konfliktparteien umworben wird, spielte er in den Debatten über den Ukrainekrieg bislang nur eine geringe Rolle. Obwohl er die große Mehrheit der Menschheit umfasst, ist seine demokratische Repräsentation im Weltmaßstab bislang nicht gewährleistet, was auch an den bis heute reichenden Folgen der von Europa ausgehenden Kolonisierung liegt.

Um die den Konquistadoren wichtigen Reichtümer anzueignen, unterwarfen sie andere Völker durch Waffengewalt, technologische Vorsprünge und christliche Missionierung. Während der Siegeszug der westlichen Kultur die Geschichtsbücher dominierte, wurden andere Kulturen und ihr Wissen ausgelöscht oder behindert, waren furchtbaren Gräueltaten und Ausbeutungen ausgesetzt. Der Kolonialismus trug maßgeblich zum Reichtum und zivilisatorischen Fortschritt Europas bei und ermöglichte einen Vorsprung, der mit fossilen Energien und der Industriellen Revolution bis heute ausgebaut wurde. Dabei ging es mehr um eigene Interessen als um Werte, die oft zur ideologischen Rechtfertigung und zur Abwertung anderer Kulturen als primitiv oder barbarisch dienten. Mit dieser Zivilisierungsideologie konnten vermeintlich friedliche Siedlertrecks die »Neue Welt« erobern. Setzten sich die Einheimischen mit Gewalt zur Wehr, riefen die »Verteidiger« der Wagenburg gegen die »blutrünstigen Wilden« die Armee mit überlegenen Waffen zu Hilfe.

Entsprechende Einstellungen gegenüber Fremden und »Barbaren« finden sich von der Antike über die Kreuzzüge und den Kolonialismus bis in die heutige Zeit, wobei der Limes des Globalen Westens nicht nur an der russisch-ukrainischen Grenze liegt, sondern beispielsweise auch an den Grenzen zur chinesischen oder arabisch-islamischen Welt. Für die USA bleibt die »friedliche« Ausbreitung und gewaltsame »Verteidigung« der eigenen Hegemonie gegen das „Reich des Bösen“ (Ronald Reagan) oder die „Achse des Bösen“ (George W. Bush) handlungsleitend, zuletzt im Kampf „Demokratie gegen Autokratie“ (Joe Biden).

Von den zivilisatorischen Verheißungen sind jene wenig begeistert, die ihre kolonialen Erfahrungen nicht vergessen haben und entwicklungshemmende Varianten der Globalisierung als strukturelle Gewalt empfinden. Auch wenn sie den russischen Angriff nicht unterstützen, sich durch Krieg und Sanktionen benachteiligt sehen, schlagen sie sich nicht automatisch auf die Seite des Westens (Messner 2022). Sie werfen ihm Eurozentrismus und Doppelmoral vor, wenn er seine Interessen an anderer Stelle auch gewaltsam und völkerrechtswidrig durchsetzt. Schlössen sich die nicht-westlichen Kräfte einer möglichen Gegenkoalition wie BRICS an (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), wäre dies eine neue Spaltung der Welt, in der der Westen eine immer noch mächtige Minderheit darstellte.

Die Herausforderung lautet, die Welt nicht als Nullsummenspiel zu gestalten, in der das Prinzip »Winner takes it all« viele unzufriedene Verlierer*innen erzeugt, sondern so fair, dass alle etwas gewinnen können. Statt geopolitischer Machtkämpfe und Klassenkämpfe von oben braucht es eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit für gemeinsame Sicherheit, die globale und weltgesellschaftliche Probleme kooperativ angeht. Dies zu untersuchen, ist eine zentrale Aufgabe für die Friedensforschung, die an frühere Ansätze anknüpfend gerechte Entwicklungschancen und Empowerment im Globalen Süden thematisieren sollte.

Krieg gegen die Natur

Die mit der westlichen Expansion verbundene Wirtschafts- und Lebensweise für 10 Milliarden Menschen zu universalisieren, stößt auch an natürliche Grenzen. In den Zeiten von Kolonialismus und Industrialisierung wurde bei der Ausbeutung der Natur darauf wenig Rücksicht genommen. Mittlerweile erhält die Fortschritts­erzählung aber sichtbare Dämpfer durch die planetaren Grenzen. Schon Friedrich Engels warnte 1876 vor den »Siegen über die Natur«: „Für jeden solcher Siege rächt sie sich an uns. […] Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht.“ (Engels 1975 [1876], S. 452ff.)

Die Folgen und Konsequenzen zeigen sich auch in der Ukraine und in anderen Kriegen mit ihren für Umwelt und Klima schädlichen Belastungen, durch Schadstoffe und Emissionen, Verbrauch und Zerstörung natürlicher Ressourcen sowie der Vernichtung von Infrastruktur, die wiederaufgebaut werden muss. Offenkundig wurden die hohen Risiken durch Angriffe auf Nuklearanlagen der Ukraine; ein Atomkrieg könnte das Weltklima extrem destabilisieren (»Nuclear Winter«). Indirekte Folgen des Krieges wie die Renaissance der Kohleverstromung, die Verlängerung des Betriebs deutscher Atomkraftwerke oder der Ausbau von Fracking-Gas stehen einer Bewältigung der Umweltkrise im Weg, mehr noch Aufrüstung und steigende Militärausgaben.

Nach UNO-Generalsekretär Antonio Guterres führe die Menschheit einen sinnlosen und selbstmörderischen „Krieg gegen die Natur“ (Guterres 2021). Um zu verhindern, dass die Balance zwischen Mensch und Natur kippt, sind Beiträge der Friedensforschung gefragt, um den negativen Nexus von Dauer-Wachstum, Großmachtpolitik und Gewalt mit seinen zerstörerischen Logiken in einen positiven Nexus von Nachhaltigkeit, Entwicklung und Frieden zu transformieren.

Friedenslogik und nachhaltiger Frieden mit der Natur

Während die nachsorgende Schadensbekämpfung zukünftige Handlungsräume einschränkt, schafft präventive Schadensvermeidung mehr Gestaltungsspielräume. Das friedliche und nachhaltige Zusammenleben im gemeinsamen Haus der Erde denken, ermöglichen und sichern zu können, ist ein Zukunftsprogramm auch für die Friedensforschung, das die Kriegslogik durch eine Friedenslogik ersetzt. Hierzu gehören Abbau und Prävention von Gewalt (statt ihrer Propagierung), Schadensminimierung (statt -maximierung), Deeskalation und Abrüstung (statt Eskalation und Aufrüstung), Vermeidung von Polarisierung (statt Schaffung von Feindbildern), gemeinsame Sicherheit miteinander (statt partikularer Sicherheit gegeneinander), Kooperation (statt Konfrontation), Gestaltung des Positiven (statt des Negativen). Machtpolitisch und gesellschaftlich geht es um Inklusion (statt Exklusion), universelle Werte und Normen (statt dem Vorrang eigener Interessen), breite Machtverteilung und Partizipation (statt Machtkonzentration), flache Hierarchie (statt starker Hierarchie), gerechten Ausgleich sowie Symmetrie und Fairness (statt Dominanz und Ungerechtigkeit), (selbst-)kritische Reflexion (statt unkritischer Selbstbestätigung). Bedeutsam sind umfassende Konfliktanalysen, kooperative Konfliktbearbeitung und -transformation (PZKB 2022).

Um Voraussetzungen für die Friedenslogik im Kontext des Ukrainekriegs zu schaffen, ist neben der humanitären Hilfe für Geflüchtete und Gewaltopfer eine Mobilisierung der Zivilgesellschaft und Friedensbewegung aufseiten aller Konfliktparteien wichtig. Durch Deeskalation, Diplomatie, Verhandlung und Vermittlung zwischen den Konfliktparteien lassen sich Kriegshandlungen schlussendlich gänzlich einstellen und die Waffen zurückziehen. Prinzipien der Friedenslogik können dann sukzessive zur Geltung kommen, für eine europäische und globale Friedensordnung, die gemeinsame Sicherheit für alle Akteure und Win-Win-Lösungen anstrebt, Völkerrecht stärkt, menschliches Zusammenleben und gemeinsame Konfliktlösung ebenso kooperativ organisiert wie Interessenausgleich und Aushandlungsprozesse. Statt der von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufenen Zeitenwende für weitere Gewaltmittel und geopolitische Machtkämpfe zur Verteidigung der bestehenden Weltordnung, zeigt der Kriegsverlauf, wie notwendig die Zeitenwende zu einer doppelten Transformation für Frieden und nachhaltige Entwicklung ist. Die Friedensforschung ist auch hier gefragt, nicht nur um Zusammenhänge zwischen Umweltzerstörung und Gewalt zu verstehen, sondern vielmehr um proaktiv integrierte Konzepte und Synergien zu entwickeln, die dem nachhaltigen Frieden dienen.

Während es beim negativen Frieden um Existenzerhaltung gegen physische Gewalt und beim positiven Frieden um Entfaltung von Entwicklungschancen gegen strukturelle Gewalt geht, sind Erhaltung (der Natur) und Entfaltung (des Menschen) auch wesentlich für nachhaltige Entwicklung (Scheffran 1998; vgl. verschiedene Beiträge in Senghaas 1995). So wie die sozial-ökologische Transformation auch ein Friedensprojekt ist (Scheffran 2022), können Konfliktbewältigung und Friedenspolitik den Übergang in eine nachhaltige Welt fördern (Pastoors et al. 2022). Um den von UN-Generalsekretär Guterres vorgeschlagenen »Frieden mit der Natur« zu erreichen (UNEP 2022), muss der »Frieden unter den Menschen« mitgedacht werden (Scheffran und Jathe 1997).

Zukunftsorientierte Friedenswissenschaft

Die doppelte Transformation für eine lebensfähige und lebenswerte Welt (»viable world«) im gemeinsamen Haus der Erde erfordert vielfältige konkrete Maßnahmen für eine friedliche Sicherheitspolitik wie auch eine nachhaltige und solidarische Wirtschafts- und Lebensweise. Hierzu gehören Kooperation, Abrüstung und gemeinsame Sicherheit ebenso wie eine resiliente und konfliktärmere Energieversorgung und wirksamer Klimaschutz. Die Koexistenz und Kohabitation verschiedener Weltordnungen zur Bewältigung dieser Probleme ist erfolgversprechender als weitere geopolitische Machtkämpfe, die andere zwingen, die eigenen Fehler nachzumachen. Statt simpler Freund-Feind-Konstruktionen und eines »Ewigen Kriegs«, der Systemgrenzen gewaltsam überwinden will, sollte ein demokratischer Frieden auf Selbstkritik und Lernfähigkeit, Anpassung und Antizipation setzen. Eine (selbst-)kritische Friedensforschung, die der Komplexität der Welt gerecht wird und die Zukunft in den Blick nimmt, ermöglicht einen Wandel zu ihrer konstruktiven Erhaltung, Entfaltung und Gestaltung.

Literatur

Engels, F. (1975 [1876]): »Dialektik der Natur«. In: Marx, K.; Engels, F.: Werke, Bd. 20, Berlin: Dietz, S. 305-570.

Guterres, A. (2021): ‘We are losing our suicidal war against nature’, United Nations, SG/SM/20959, 11.10.2021.

Kissinger, H. (2022): How to avoid another world war. The Spectator, 17.12.2022.

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Pastoors, D.; Drees, L.; Fickel, T.; Scheffran, J. (2022): „Frieden verbessert das Klima“ – Zivile Konfliktbearbeitung als Beitrag zur sozial-ökologischen Transformation. Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, 15, S. 283-305.

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Dr. Jürgen Scheffran ist Professor für Integrative Geographie, Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg und Mitglied der W&F-Redaktion.

Impressum

Herausgeber: Malte Albrecht, Sabine Jaberg, Christiane Lammers, Werner Ruf und Jürgen Scheffran; Informationsstelle Wissenschaft und Frieden e.V. (IWIF) in Koordination mit der Naturwissenschaftler­Innen-Initiative »Verantwortung für Friedens- und Zukunfts­fähigkeit« e.V. (NatWiss)

V.i.S.d.P.: David Scheuing redaktion@wissenschaft-und-frieden.de

Erscheint als Beilage der Zeitschrift Wissenschaft und Frieden 1/2023

Bestellungen an: Wissenschaft und Frieden, Palanterstr. 55, 50937 Köln, E-Mail: bestellung@wissenschaft-und-frieden.de, Webseite: wissenschaft-und-frieden.de

Satz und Layout: EP Knaab, Marburg

Druck: Häuser Druck, Köln

Preis: 2,- € (zzgl. Versand)

Bildnachweis: Titelbild: Andreas Achenbach (1837) Ein Seesturm an der norwegischen Küste. Öl auf Leinwand. Weitere Bebilderung, wie angegeben: Iwan Konstantinowitsch Aiwasowski (1817-1900). Alle Gemälde Öl auf Leinwand.