Dossier 4

(West-)Europäisierung der Sicherheitspolitik oder neue Friedenspolitik in Europa

von Martin Broszka, Corinna Hauswedell und Klaus Peter Weiner

»Abschied vom Kalten Krieg«, »Das System von Jalta löst sich auf«, »Der Beginn der Nach-Nachkriegszeit« –Schlagzeilen, die den Wandel der durch die Ost-West-Konfrontation geprägten Epoche andeuten. Ein Schauplatz dieses Wandels ist Europa, sein östlicher Teil mit einer noch größeren Dynamik als der Westen: Die stürmischen Entwicklungen in der Sowjetunion, in Polen und Ungarn, die Konkretisierungen des Gemeinsamen Europäischen Hauses durch Michail Gorbatschow bei seinen Besuchen in Bonn, Paris und Straßburg im Juni und Juli auf der einen Seite, der Beginn der »heißen Phase« für den EG-Binnenmarkt 1993, die Versuche einer Neuorientierung im westlichen Bündnis seit dem Brüsseler NATO-Gipfel im Mai dieses Jahres andererseits.
Das Ende alter Gewißheiten erfordert neue Sicherheiten im Umgang miteinander, nicht gegeneinander. Die globalen Herausforderungen haben alle, auch »Good Old Europe«, eingeholt. Verschiedene Entwicklungsrichtungen sind offen: Modernisierung auf den alten Grundlagen, vielleicht etwas befreit vom Druck der ehemaligen Großmächte. Die bisherigen Konzepte westeuropäischer Sicherheitspolitik tendieren in diese Richtung. In Europa könnte aber auch –in Korrespondenz mit den anderen Teilen der Welt –in den nächsten Jahren der Versuch Konturen gewinnen, die Gedanken einer »Festung« durch die Ideen eines »Gemeinsamen Hauses« abzulösen. Für den Übergang von militärisch geprägter (hegemonialer) Politik zu ziviler (gleichberechtigter) Kooperation könnte ein Beispiel entstehen. Die Rolle ökonomischer Macht müßte dabei neu bestimmt werden.
Die zunächst ausschließlich vorgesehene kritische Bestandsaufnahme der (West-)Europäisierung der Sicherheitspolitik schien uns zu kurz zu greifen angesichts der (zumindest) gesamteuropäischen Dimension des Wandels. Deshalb haben wir uns entschieden – etwas anders als bei den Dossiers Nr. 1 bis 3 -, das politische Umfeld des Themas einschließlich der friedenspolitischen Alternativen stärker zu berücksichtigen. Die Dynamik, Widersprüchlichkeit und Offenheit der Entwicklung in Europa setzen einem »klassischen« Dossier Grenzen. Manches ist ausschnitthaft, Hintergrundinformation und Diskussionsbeitrag liegen diesmal eng beieinander.
Teil 1 des Dossiers verfasste Klaus Peter Weiner, Teil 2 erarbeitete Michael Broskza, die Teile 3 und 4 stammen von Corinna Hauswedell. 

I. Die Krise der Nato

Auf das westliche Bündnis kommen Anpassungserfordernisse zu, deren Umsetzung “sich als eine der schwierigsten Phasen” in der vierzigjährigen Geschichte der NATO erweisen könnte1. Diese von – der NATO nahestehenden – Fachleuten abgegebene Situationseinschätzung deutet nicht nur die Dimension der Probleme an, denen sich die herrschende Sicherheitspolitik gegenwärtig und in den nächsten Jahren gegenübergestellt sieht. Sie spiegelt zugleich die Skepsis gegenüber den eigenen Fähigkeiten wider, die Reorganisation der NATO angesichts der internationalen Umbruchsituation über das Management der aktuellen Interessendifferenzen und Meinungsunterschiede zwischen den NATO-Staaten hinaus bündnisverträglich und organisationskonform gestalten zu können.

Denn ein Bündel von Problemen hat zu einer Konstellation geführt, die es auch den Kräften, die das Bündnis politisch tragen, als zunehmend fraglich erscheinen läßt, ob sich die Grundlagen der NATO ohne eine einschneidende Reform des Bündnisses in die neunziger Jahre verlängern lassen. Zu dem Problembündel gehören die wachsenden Probleme der USA, nationale Ressourcen und Globalpolitik in Einklang zu bringen, das veränderte ökonomische Kräfteverhältnis zwischen den USA und Westeuropa, die zunehmende politische Bedeutung der außerhalb der NATO-Vertragsgrenzen liegenden Weltregionen und die Dynamik der Reformpolitik der UdSSR verbunden mit ihrer auf substantielle Abrüstungsschritte zielenden Außen- und Sicherheitspolitik. Eine Neubestimmung der Funktionen, der Politik und Struktur der NATO ist für den Fortbestand des Bündnisses notwendig.

Diese Neubestimmung fällt mit einem sukzessiven Bedeutungsverlust der NATO als dem zentralen Bezugsrahmen der Sicherheits- und Militärpolitik ihrer Mitgliedstaaten zusammen. Durch die »selbstabschreckende« Wirkung nuklearer und konventioneller Rüstung erodiert die Rolle der NATO als militärisch-politisches Druckpotential, ihre Funktion als politische Klammer ökomomischer Konkurrenten schwächt sich mit dem Hegemonieverlust der USA zunehmend ab und ihre Aufgabe, die Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in das westliche System zu garantieren, übernehmen zunehmend die Europäische Gemeinschaft (EG) und die Westeuropäische Union (WEU).

Vorschläge zur Reorganisation des westlichen Sicherheitssystems und zur Neuformulierung seiner strategischen Konzeption haben daher Konjunktur. Beide Teile des Bündnisses, der nordamerikanische und der europäische Teil, suchen nach einer neuen »Geschäftsgrundlage«. Die Notwendigkeit des Wandels liegt offen, hingegen sind Richtung, Weg und Ziel weiterhin Gegenstand der bündnisinternen Auseinandersetzung. Während die USA eine neue, den real verfügbaren Ressourcen angepaßte und stärker an den als national deklarierten Interessen ausgerichtete globalstrategische Konzeption formulieren2, befinden sich die europäischen NATO-Staaten auf der Suche nach einer »europäischen Identität«3 als Grundlage ihrer außen-, sicherheits- und militärpolitischen Kooperation in einer »Zwei-Säulen-NATO.«

»Europäisierung«: Interessengemeinschaft zur Wahrung der Entspannung

Sicherheitspolitische Motive sind ein Grundzug der westeuropäischen Integration. Bereits die Gründerväter hatten die westeuropäische Integration nicht nur als ökonomisches, sondern auch als politisches Projekt auf den Weg gebracht. Dennoch scheiterten bis in die siebziger Jahre Versuche einer engeren sicherheits- und außenpolitischen Kooperation der westeuropäischen Staaten, für die die NATO als ein hinlänglicher Rahmen erschien. Erst die Verdichtung des Konfliktpotentials zwischen den westeuropäischen Staaten und den USA in der Reagan-Ära forcierte die politische und institutionelle Ausformung einer eigenständigeren Sicherheitspolitik im westeuropäischen Rahmen. Sie sollte die europäischen NATO-Staaten in die Lage versetzen, ihre Interessen gegenüber den USA besser zur Geltung zu bringen.

Die Differenzen mit der Reagan-Administration in den Bereichen Entspannungs- und Rüstungskontrollpolitik, Militärstrategie, Ost-West-Wirtschaftsbeziehungen und Umgang mit der Dritten Welt4 hatten es den westeuropäischen Staaten als nicht ausreichend erscheinen lassen, zur Wahrung ihrer Interessen lediglich auf die von den USA dominierte NATO angewiesen zu sein, da die Remilitarisierung der Sicherheitspolitik durch die USA die spezifischen Entspannungsinteressen der westeuropäischen Staaten zu verdrängen drohte5. Dies führte zur Suche nach einem Kooperationsrahmen, in dem die negativen Folgen der Konfrontationspolitik der USA begrenzt werden konnten. Diese Entwicklung vollzog sich auf mehreren Ebenen:

• Auf Initiative der Bundesrepublik nahmen die EG-Staaten 1981 die Sicherheitspolitik in den Kompetenzrahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) auf. Aber während die politischen und wirtschaftlichen Aspekte der Sicherheitspolitik als in der EPZ und dem Europäischen Rat zu behandelnde Themenkreise festgeschrieben werden konnten, scheiterte das Ziel, neben dem »Rat der Außenminister« einen »Rat der Verteidigungsminster« zu schaffen, an dem Widerstand Dänemarks, Griechenlands und Irlands6. Parallel weitete das Europäische Parlament seine Debatten auf sicherheitspolitische Themen aus und richtete einen Unterausschuß »Sicherheit und Abrüstung« ein.

• In der 1987 ratifizierten Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) verpflichten sich die EG-Staaten, in der Außenpolitik geschlossener zu agieren und die politischen und wirtschaftlichen Aspekte der Sicherheitspolitik verbindlich zu koordinieren. Hingegen mußten die EG-Staaten die militärpolitischen Aspekte der Sicherheitspolitik in die WEU verweisen7.

• Die 1984 reaktivierte WEU soll die Behandlung der “spezifischen Sicherheitsinteressen Europas” 8 ermöglichen. Als Themenkomplexe wurden die Analyse des militärischen Kräfteverhältnisses als Grundlage eines zu erstellenden Sicherheitskonzepts, die Abschätzung internationaler Entwicklungen auf die Sicherheit Westeuropas und eine Intensivierung der Rüstungskooperation vereinbart. Die Außen- und Verteidigungsminister der WEU-Staaten kamen überein, halbjährliche Treffen durchzuführen und eine Reform des institutionellen Gefüges der Organisation vorzunehmen9.

• 1987 verabschiedete der Ministerrat der WEU die »Plattform der Europäischen Sicherheitsinteressen«10, deren Eckpunkte die Bekenntnisse zur nuklearen und konventionellen Abschreckung, zum Bündnis mit den USA und zu den Nuklearpotentialen Frankreichs und Großbritanniens bilden. Zugleich wird an der im Harmel-Bericht formulierten Konzeption von politischer Entspannung auf der Grundlage militärischer Stärke festgehalten. Die Anerkennung der in der Plattform formulierten Positionen bildete die Voraussetzung für den Beitritt Spaniens und Portugals zur WEU. Die Verdichtung der Kooperation im Ministerrat der WEU geht jedoch einher mit dem Verfall der Organisation. Da sich die WEU-Staaten bisher weder über eine Reform des institutionellen Gefüges der WEU noch über einen Erhöhung des Haushalts oder den Sitz der Organisation nach einer Kollokation verständigen konnten, zeigen die Agenturen und Gremien der WEU Auflösungstendenzen11.

• Parallel zu der multilateralen hat sich das Netzwerk der bilateralen Kooperation verdichtet. Anknüpfend an den Elysée-Vertrag von 1963 setzten die Bundesrepublik und Frankreich 1988 einen »Sicherheits- und Verteidigungsrat« ein. Aufgabe des Rates ist die Erarbeitung einer abgestimmten Militärkonzeption als Grundlage einer »Europäischen Sicherheitsunion«. Den militärischen Unterbau des Rates bilden eine gemischtnationale Brigade, gemeinsame Manöver und Rüstungsprojekte. Frankreich erklärte sich darüber hinaus bereit, die Bundesregierung vor einem Einsatz nuklearer Kurzstreckenraketen zu konsultieren12. Die bundesdeutsch-französische Miltärkooperation hat jedoch die Befürchtung eines »Sonderbündnisses« hervorgerufen und ließ weitere WEU-Staaten Interesse an einer engeren westeuropäischen Streitkräfteverzahnung anmelden13.

Das Interesse an einer europäischen Fraktionierung in der NATO – unter Einschluß Frankreichs – mußte nach dem Kurswechsel in der Politik der USA gegenüber der UdSSR wieder nachlassen, zumal trotz aller Tendenzen zur Verselbständigung das Bündnis mit den USA von den europäischen NATO-Staaten als nach wie vor notwendig erachtet wird.

Management der sicherheitspolitischen »Dilemmata« der NATO

Dennoch sind die Tendenzen einer »Europäisierung« der Sicherheitspolitik nicht ein auf die konfrontative Phase der Reagan-Adminstration beschränktes Intermezzo in den Bündnisbeziehungen gewesen. Die zweite Phase der Europäisierung der Sicherheitspolitik beinhaltet vielmehr den Versuch, den Übergang von einem hegemonial durch die USA strukturierten Militärbündnis in eine »Zwei-Säulen-NATO« bündnisverträglich zu managen.

Die Rückkehr der USA zu einer kooperative Elemente aufnehmenden Politik gegenüber der UdSSR war begleitet von zwar nicht neuen, aber mit ungewohnter Deutlichkeit vorgetragenen Forderungen nach einer gerechteren Lasten- und Risikoteilung. In diesen Forderungen drückt sich ein Wechsel in der Politik der USA gegenüber Westeuropa aus, dem ein relativer Positionsverlust der USA in der Weltwirtschaft und das Ende ihrer historischen Ausnahmestellung als Hegemonialmacht zugrundeliegt.

Die Zunahme des weltwirtschaftlichen Gewichts Westeuropas, die gewachsene eigene Abhängigkeit von der Entwicklung der Weltwirtschaft und die Überforderung der nationalen Wirtschaft durch eine expansive Weltmachtpolitik werden in den USA als Ursachen eines relativen Machtverlustes gewertet, der eine Überprüfung der »nationalen Interessen« und eine Reformulierung ihrer Durchsetzungsstrategien erforderlich macht14. In dieser – unilateralistisch gefärbten – Neubestimmung globalstrategischer Zielsetzungen steht nicht mehr Westeuropa, sondern der pazifische und karibische Raum im Zentrum der Überlegungen15. Diese Relativierung der einst einen privilegierten Stellenwert in der strategischen Politik der USA einnehmenden Region Westeuropa versuchen Vorschläge einer weitgehenden Reduzierung der Bündnisverpflichtungen zu operationalisieren. Sie zielen darauf ab, die europäischen Verbündeten zur Übernahme eines höheren Anteils an den Rüstungslasten zu bewegen (burden sharing) oder das Engagement der USA in Westeuropa zu reduzieren (devolution). Einige Vorschläge gehen bis zu einer Aufkündigung des militärischen Bündnisses mit den europäischen NATO-Staaten (disengagement)16 Kern der Vorschläge ist es, die aus der Mitgliedschaft in der NATO resultierenden Lasten und Risiken in einem stärkeren Maß als bisher auf den europäischen Teil der NATO abzuwälzen.

Eine »gerechtere« Lastenteilung, die mit einer politischen Aufwertung der europäischen NATO-Staaten im Bündnis einhergehen würde, löst für die USA aber nicht das Dilemma der mit der Strategie der »extended deterrence« verbundenen nuklearen Risiken. Daher ist vorgeschlagen worden, die nukleare Eskalationsgefahr dadurch zu beseitigen, “daß Nuklearwaffen künftig nicht mehr als Bindeglied zu einem erweiterten, noch verheerenderen Krieg eingesetzt werden.” 17

Auch ohne Übernahme dieser offenen Absage an die gültige Bündnisstrategie in die offizielle Militärpolitik der USA sind mit dieser Aussage die Fundamente der NATO erschüttert worden18. Denn erstens können die europäischen NATO-Staaten und insbesondere die Bundesrepublik das strategische Nuklearpotential der USA nicht mehr als Unterpfand ihrer Politik reklamieren. Zweitens erhalten für die USA mit einer strategischen Abkoppelung vom europäischen »Schauplatz« –unter dem Gesichtspunkt der Wiedererlangung militärischer Handlungsfähigkeit – regional begrenzte nukleare und konventionelle Kriegsführungskonzeptionen einen neuen Stellenwert19.

Vor dem Hintergrund der Suche nach einer neuen Globalstrategie in den USA trägt die »Europäisierung« der Sicherheitspolitik einen doppelten Charakter. Zum einen kommt sie den Forderungen der USA nach Übernahme größerer Lasten entgegen, um eine nach wie vor als notwendig erachtete Reduzierung des militärischen Engagements der USA in Europa zu verhindern20. Ein besseres »Marketing« westeuropäischer Rüstungsanstrengungen in den USA und eine durch intensivierte Kooperation gesteigerte Effektität der Rüstungspolitik soll die Forderung nach einer neuen Lastenteilung entschärfen und Vorschläge eines reduzierten Engagements der USA in Westeuropa zurückdrängen. Zugleich wird versucht, den Risikoverbund mit den USA aufrechtzuerhalten.21.

Gleichzeitig ist »Europäisierung« der Sicherheitspolitik Vorbereitung für den Fall, daß eine Reduzierung des sicherheitspolitischen Beitrags der USA zur NATO eintritt und von den westeuropäischen Staaten kompensiert werden muß – mit der Folge, daß eine solche Entwicklung wahrscheinlicher wird. Denn ein effektivierter Beitrag der westeuropäischen Staaten zur NATO verstärkt auch den politischen Druck in den USA, die projektierten Einsparungen im Rüstungsetat bei den Ausgaben für die NATO vorzunehmen. Der Einstieg in den Ausstieg als Garantiemacht des europäischen NATO-Teils wäre dann vollzogen.

Damit sind auch die europäischen NATO-Staaten in ein Bündnisdilemma geraten: »Europäisierung« der Sicherheitspolitik in der Diskrepanz zwischen weitreichenden Ankündigungen und verhaltener Dynamik, einer pragmatischen Politik der kleinen Schritte.

»Europäisierung«: Nationale Machtpolitik im westeuropäischen Rahmen

Die Bewegungsform der Europäisierung der Sicherheitspolitik läßt sich aber nicht nur aus den Konfliktstrukturen mit den USA erklären. Das wird in der erst in Ansätzen erkennbaren dritten Phase der »Europäisierung« der Sicherheitspolitik deutlich. Denn die Formierung einer westeuropäischen Außen- und Sicherheitspolitik verschränkt sich mit Umorientierungen in der Politik einzelner EG-Staaten, die über die EG verstärkt »nationale« Ziele verfolgen.

So versucht die Bundesrepublik ihr ökonomisches Potential über die EG in internationalen Einfluß umzusetzen. Dieses “Ausgreifen in die Weltpolitik” 22 markiert gegenwärtig eine wichtige außen- und sicherheitspolitische Tendenz. Nach der Westintegration und der Entspannungspolitik, die beide die äußere Handlungsfreiheit der Bundesrepublik vergrößerten, werden nun die als national deklarierten Interessen global definiert. Die beanspruchte Ausweitung des außenpolitischen Handlungsfeldes geht einher mit dem Versuch, Machtpolitik, die auch den Einsatz militärischer Mittel nicht ausschließt, zu relegitimieren. Das politische Muster eines – im Vergleich zu Frankreich oder Großbritannien – eher niedrigen Profils in der Außen-, Sicherheits-, Militär-, Außenwirtschafts- und Entwicklungspolitik beginnt auszulaufen. Die Bundesrepublik entwickelt sich zu einem “Staat wie jeder andere”, der für sich ein Anrecht auf eine “verantwortliche Machtpolitik” reklamiert23.

Aufgrund des antizipierten äußeren und inneren Widerstandes kann die Bundesrepublik einen offenen »nationalen« Kurswechsel kaum vollziehen, sondern verfolgt ihn über die westeuropäische Integration. Denn auf der westeuropäischen Ebene lassen sich die verschiedenen nationalen Interessen in einem globalen Handlungsanspruch, der die »weltpolitischen Herausforderungen« als potentielle Gefährdungen eigener Interessen rezipiert und “die Bereitschaft zu einem auch sicherheitspolitisch relevanten Engagement in der Dritten Welt” 24 einfordert, zusammenfassen. Die Perzeption einer äußeren Bedrohung nationaler Interessen verschiebt sich mit der »Europäisierung« der Sicherheitspolitik so zunehmend von den sozialistischen Länder auf die außereuropäischen Regionen in der Dritten Welt.

Kompensatorischer Ausgleich divergenter nationaler Interessen

Die »Fraktionierung« der europäischen NATO-Staaten kann nicht verdecken, daß es zwischen den Mitgliedstaaten jenseits einer Konservierung tradierter Sicherheitsstrukturen nach wie vor große Differenzen über Zielstellung, Reichweite und Tempo der »Europäisierung« der Sicherheitspolitik gibt. Denn die Erosion der Klammerfunktion der hegemonialen Stellung der USA in der NATO setzt sich nicht umgekehrt proportional in eine Zunahme gemeinschaftlicher sicherheits- und militärpolitischer Interessen der westeuropäischen Staaten um. Vielmehr treten auch divergente nationale Interessen wieder deutlicher zutage.

Trotz der politischen Verflechtung der EG-Staaten hat sich die westeuropäische Integration bisher nicht zu einer politischen Gemeinschaft mit einer weitgehend autonomen Sicherheits- und Militärpolitik entwickelt. Vorhandene Strukturen der politischen Integration, wie die EPZ oder der Europäische Rat, eignen sich aufgrund des Zwangs zum Konsens weniger zum machtbetonten Agieren als zum weltpolitischen Reagieren25. Diese “mangelnde politische Selbstorganisationsfähigkeit und Identität” 26 Westeuropas wird gelegentlich als Diskrepanz zwischen Problemstrukturen und Lösungskapazitäten beklagt, die es politisch zu überbrücken gelte27. Aber der oft geforderte »große Sprung« in die sicherheitspolitische Integration ist kaum wahrscheinlich.

Denn im integrationspolitischen Alltag sind Fortschritte nur unter der Voraussetzung möglich, daß einzelstaatliche Interessen zu »Paketen« zusammengefaßt und unterschiedliche Interessen kompensiert werden. Die Heterogenität der EG-Staaten in Wirtschaft und Politik wirkt einer Vertiefung der Integration entgegen, auch wenn der Zwang zur gegenseitigen Abstimmung zunimmt. Der sicherheitspolitische Akteur Westeuropa verfügt daher nicht über die politische und ideologische Geschlossenheit einer Weltmacht, sondern bleibt nach innen und nach außen vielfältig und komplex strukturiert28. Als national fragmentiertem Machtzentrum sind der Kohärenz und Wirksamkeit westeuropäischer Außen- und Sicherheitspolitik innere Schranken gesetzt, deren Überwindung einen kompensatorischen Ausgleich nationaler Interessen verlangen.

II. Wege und Hindernisse westeuropäischer Militärintegration

Die Institutionen der militärischen Zusammenarbeit

Westeuropäische Union (WEU)

Unter dem Eindruck der zwei von Deutschland entfachten Weltkriege schlossen die Benelux-Staaten, Frankreich und Großbritannien 1948 einen gegenseitigen Beistandspakt ab. Der Brüsseler Pakt wurde, obwohl die Beistandsverpflichtung im Kriegsfall weiterreichend ist, schon bald vom Ost-West Gegensatz überlagert. Die Vertragsstaaten wurden Mitglieder der NATO und mußten sich mit dem Problem der Wiederaufrüstung Deutschlands beschäftigen. Nachdem der Versuch der Schaffung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) gescheitert war, fand man den Kompromiß, daß die BRD zwar als NATO-Mitglied voll aufgerüstet wurde, sich jedoch als Mitglied des zur Westeuropäischen Union (WEU) erweiterten Brüsseler Paktes Rüstungskontrollen unterwerfen mußte. In den Pariser Verträgen vom 23.10.1954 verpflichtete sich die Bundesregierung auf die Herstellung, den Erwerb und Besitz bestimmter konventioneller Waffensysteme und Massenvernichtungswaffen auf ihrem Boden zu verzichten. Zur Überprüfung wurde in Paris ein Rüstungskontrollamt geschaffen. Die Beschränkungen für den konventionellen Bereich sind nach und nach gefallen, bis sie 1984 auf französischen Vorschlag ganz aufgehoben wurden (siehe S. XIII).

Im WEU-Vertrag wurde ein Primat der NATO festgelegt. In Artikel VI heißt es, daß mit der WEU keine Parallelorganisation zur NATO aufgebaut werden solle. Bis Anfang der 80er Jahre hatte die WEU weder militärisch noch politisch große Bedeutung, obwohl die vorgesehen Gremien – der Rat der Außenminister und die Versammlung von Parlamentariern aus den Mitgliedsstaaten – regelmäßig tagten und das Pariser Amt Kontrollen durchführte.

Nur aus Frankreich, das 1966 aus der militärischen Integration der NATO ausgetreten war, kamen gelegentlich Anstöße für eine Vitalisierung der WEU. Aber erst 1984, nachdem die Bundesregierung eine entsprechende französische Initiative aufgenommen hatte, kam es anläßlich der 30 Jahr-Feier zu einer Neubelebung. In der “Erklärung von Rom” wurde beschlossen, die WEU strukturell zu reformieren und besser für die Koordination westeuropäischer Politik zu nutzen. Der Rat der Minister wurde um die Verteidigungsminister erweitert. Das weitgehend arbeitslos gewordene Kontrollamt wurde mit der neuen Aufgabe der Ausarbeitung von Studien zur Sicherheitspolitik und zu Rüstungskontroll- und Abrüstungsfragen betraut.

Ein weiterer Schritt, die WEU zu aktivieren erfolgte mit der »Plattform über europäische Sicherheitsinteressen von Den Haag« vom 27. Oktober 1987. Mit ihr wurde die WEU eindeutig in den Gesamtkontext der Bildung einer westeuropäsichen Union gestellt. “Wir sind überzeugt, daß die Schaffung eines integrierten Europas unvollständig bleiben wird, solange es nicht Sicherheit und Verteidiung einschließt… Wir sehen die Revitalisierung der WEU als einen wichtigen Beitrag zum größeren Prozeß der Europäischen Einigung.”29 Um die ihr von Befürwortern einer Westeuropäisierung der Sicherheitspolitik zugeschriebene Schrittmacherrolle übernehmen zu können, müßte die WEU auf alle interessierten Staaten erweitert werden. In einem ersten Schritt wurden 1988 Spanien und Portugal aufgenommen; mit Griechenland und der Türkei wird über das zukünftige Verhältnis verhandelt.

Die Revitalisierung blieb Stückwerk. Dazu gehört die politische Unsicherheit, welche Funktion die WEU zukünftig haben soll. Angesichts der abrüstungspolitischen Aktivitäten in Osteuropa wackelt sogar der Konsens, die WEU als ein auf Westeuropa begrenztes Bündnis zu begreifen30. Im November 1988 beschloß der Rat, über ein neues Konzept zu verhandeln, mit der möglichen Konsequenz einer Änderung des WEU- Vertrages.

Eurogroup

Die EUROGROUP ist eine in den NATO-Statuten oder Abkommen nicht vorgesehene informelle Gruppierung westeuropäischer NATO-Mitglieder (und damit ohne Frankreich). Sie entstand 1968, um “sicherzustellen, daß der europäische Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung so stark, zusammenwirkend und wirksam wie möglich ist”.31

Um diese Ziele zu erreichen finden häufig parallel zu Sitzungen diversen Gremien der NATO, wie des Ministerrats, Sitzungen ohne US-amerikanische, isländische und kanadische Vertreter statt. Themen der zahlreichen Arbeitsgruppen der EUROGROUP sind Abstimmung von Bedarfsplanungen, Interoperabilität der Streitkräfte und Ausrüstungen, aber auch Abstimmung von taktischen Planungen und militärischen Doktrinen. In den späten 80er Jahren ist die EUROGROUP vor allem ein Instrument der Darstellung des europäischen Anteils an der NATO, nicht zuletzt in den USA, geworden. So schrieb der damalige Vorsitzende der EUROGROUP, der niederländische Verteidigungsminister van Eekelen 1988 in seinen Jahresbericht: “Die EUROGROUP hat eine Menge Arbeit geleistet, um Politikern, Regierungsvertretern und der Öffentlichkeit in Amerika klarzumachen, daß wir einen fairen Anteil zur NATO leisten.”32

Independent European Programme Group (IEPG)

Als Antwort auf die amerikanische Herausforderung im Rüstungsbereich wurde 1976 in Rom die Unabhängige Europäische Programmgruppe (Independent European Programme Group) gegründet. Ihr gehören alle europäischen NATO-Mitgliedsstaaten außer Island (das keinerlei Rüstungsindustrie hat), gegenwärtig sind das 13, an. Der große Unterschied zur Eurogroup besteht darin, daß Frankreich aktives Mitglied ist.

Als Ziele der Gruppe wurden 1976 festgelegt:

  • “zu einer effektiveren Nutzung der verfügbaren Mittel für Forschung, Entwicklung und Beschaffung beizutragen;
  • die Standardisierung und Interoperabilität von Gerät zu fördern und voranzutreiben;
  • die Aufrechterhaltung einer gesunden industriellen und technologischen Basis für die Verteidigung Europas und des Bündnisses zu gewährleisten;
  • zum Wohle beider Seiten des Atlantik die europäische Identität gegenüber den Vereinigten Staaten und Kanada zu stärken.”33

Die eigentliche Arbeit erfolgt in einer Reihe von Ausschüssen. Hier wird versucht, die Bedarfsanforderungen der verschiedenen Streitkräfte zu vergleichen, und falls sinnvoll, zu koordinieren. Dafür werden Unterausschüsse gebildet. Vertreter der beteiligten Staaten sind Beamte aus den den jeweiligen Verteidigungsministerien und Beschaffungsbehörden.

Als koordinierendes Gremium fungiert die Runde der nationalen Rüstungsdirektoren34, die sich in der Vergangenheit ca. acht Mal jährlich getroffen haben. Grundlegende Entscheidungen werden von der Runde der zuständigen Staatssekretäre, oder der Runde der Verteidiungsminister getroffen. Solche Sitzungen erfolgen, je nach Bedarf, nur wenige Male pro Jahre.

Treffen der Verteidigungsminister gibt es erst seit 1984, als beschlossen worden war, die IEPG politisch aufzuwerten und ihren Aufgabenbereich zu erweitern. Es sollten nicht nur einzelne Projekte koordiniert, sondern auch allgemeine Zukunftsplanung betrieben werden. Unter anderem wurde ein Aktionsplan für die (west)europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Aeronautik erarbeitet, und der Vredeling-Bericht in Auftrag gegeben (siehe unten).

Die Institutionen der Europäischen Gemeinschaft (EG)

Der Vertrag von Rom, auf dem die Europäische Gemeinschaft fußt, schließt Rüstungsfragen explizit aus. In Artikel 223 ist festgelegt, daß jedes Mitglied die Maßnahmen ergreifen kann, “die seines Erachtens für die Wahrung seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen erforderlich sind, soweit sie die Erzeugung von Waffen, Munition und Kriegsmaterial oder den Handel damit betreffen.” Die eingeschlossenen Materialien sind in einer besonderen Liste aufgeführt.

Diese Enthaltsamkeit ist immer wieder in Frage gestellt worden. Das zentrale Argument lautet, daß eine Staatengemeinschaft diesen Bereich einfach nicht ausschließen kann, insbesondere, wenn sie in eine politische Union münden soll. So heißt es schon im vom EG-Ministerrat gebilligten Tindemans-Bericht über die Europäische Union von 1975, daß die “Europäische Union … so lange unvollständig (bleibt), wie sie keine gemeinsame Verteidigungspolitik besitzt.”35

In den frühen 70er Jahren geriet zunächst die Außenpolitik in den Sog der EG-Integration, was in der Etablierung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) deutlich wurde.

Eine Vorreiterrolle bei der Etablierung rüstungs- und sicherheitpolitischer Themen hatte ab Ende der 70er Jahre das Europäische Parlament (EP).

In den 80er Jahren ist die Beschäftigung von EG-Organen mit rüstungs- und sicherheitspolitischen Fragen deutlich intensiver geworden. Ein Grund dafür ist die verstärkte Diskussion um die wirtschaftliche und politische Integration Westeuropas. Auf dem Weg zur Europäischen Union, die – mit unterschiedlichen Nuancen – offizielles Ziel aller EG-Staaten ist, gerät dieser Bereich immer stärker ins Blickfeld. Zum anderen haben politisch relevante Kräfte in Frankreich – sowohl Gaullisten als auch Sozialisten – ihre sehr skeptische Haltung gegenüber einer Westeuropäisierung der Rüstungs- und Militärpolitik aufgegeben und sind stattdessen zu aktiven Befürwortern geworden. Als Bremser sind somit vor allem Politiker aus kleineren EG-Staaten wie Dänemark, Griechenland und Irland geblieben.

Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ)

1970 vereinbarten die Mitgliedsstaaten der damaligen EWG auf einer Tagung in Luxemburg, Stellungnahmen und Maßnahmen zur Außenpolitik mit dem Ziel der Koordination gemeinsam zu besprechen. Von einem völlig informellen Abstimmungsinstrument hat sich die EPZ allerdings inzwischen zu einer auch in der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) festgeschriebenen Institution entwickelt, mit festen Regeln und Sekretariat in Brüssel.

Erste Bewährungsprobe der EPZ war die Abstimmung einer einheitlichen Haltung der Westeuropäer zum KSZE-Prozess. Schon hier zeigt sich, daß sich Außen- und Sicherheitspolitik nicht trennen lassen. Dies wurde von den Verantwortlichen bald auch positiv vertreten. Im Londoner Bericht der Außenminister über die EPZ vom Oktober 1981 etwa reklamiert man das Recht “bestimmte außenpolitische Fragen zu erörtern, die die politischen Aspekte der Sicherheit berühren.” 36 In der »Feierlichen Deklaration zur Europäischen Union« vom Juni 1983 versprachen sich die Staats- und Regierungschefs der EG-Staaten: “verstärkte Konsultationen im Bereich der Außenpolitik enschließlich der Koordinierung der Positionen der Mitgliedsstaaten zu den politischen und wirtschaftlichen Aspekten der Sicherheit.”37

Die ablehnenden Haltungen der dänischen und griechischen Regierung und das Sonderproblem Irland haben die EPZ allerdings bisher nicht zu einem zentralen Instrument der sicherheitspolitischen Abstimmung der westeuropäischen NATO-Mitgliedsstaaten werden lassen. Dies wird von Befürwortern einer »Europäischen Sicherheitsunion«, wie Alfred Dregger, oder dem CDU-MdEP Hans-Gerd Pöttering als unbefriedigend kritisiert.38 Schon während der Verhandlungen zur Einheitlichen Europäischen Akte, die mit der im Kasten 4 wiedergegebenen »weichen« Formulierung zur Kompetenz in rüstungs- und sicherheitspolitischen Fragen führte, gelang es den Befürwortern, eine spätere Revision zu vereinbaren. Artikel 30, Ziffer 12 der EEA sieht vor, daß 5 Jahre nach Inkrafttreten (d.h. am 1. Juli 1992), die Bestimmungen über die EPZ überprüft, und falls notwendig, geändert werden.

Europäisches Parlament (EP)

Die erste große Diskussion um Rüstungspolitik im Europäischen Parlament war vor allem eine Diskussion darüber, ob das Parlament dieses Thema überhaupt diskutieren könne. Einige Abgeordnete verließen den Saal, andere argumentierten heftig dagegen. Aber eine Mehrheit aus liberalen, christdemokratischen und konservativen Abgeordneten überstimmte die der Gaullisten und Links-Fraktionen, so erstmals am 6. April 1973, als in einem EP-Bericht stand, daß “die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Außenpolitik in der Praxis fast nie von der Verteidigungs und Sicherheitspolitik zu trennen ist”39 1978 nahm das Parlament nach heftiger Debatte mehrheitlich den ersten »Klepsch-Bericht« an. Vom deutschen CDU-MdEP Egon Klepsch verfaßt, wurde in ihm eine Verstärkung der Zusammenarbeit der westeuropäischen Staaten bei der Rüstungsbeschaffung bis hin zur Schaffung einer gemeinsamen Rüstungsagentur befürwortet.40

Danach nahm der Widerstand ab, die Mehrheiten für die Behandlung von Rüstungsthemen wuchsen. Der vom EP im Februar 1984 angenomme Vertragsentwurf für eine Europäische Union (Spinelli-Entwurf) legt in Artikel 68 ausdrücklich fest, daß Kompetenzen auch für den militär-, rüstungs- und rüstungskontrollpolitischen Bereich eingefordert werden sollten.

Im April 1984 wurde auf Anregung von Egon Klepsch ein Unterausschuß »Sicherheit und Abrüstung« eingerichtet, in dem – unter dem Vorsitz von MdEP Hans-Gert Pöttering – zahlreiche Resolutionen und Berichte erarbeitet worden sind, zu Themen wie der Bedeutung Nordeuropas für die Europäische Sicherheit, über die Sicherheit Westeuropas, oder Waffenexporte. Debatten über rüstungs- und militärpolitische Themen gehören mittlerweile zum Alltagsgeschäft in Straßburg und Brüssel, gegen die sich nur noch kleinere Gruppen von Abgeordneten, wie die der Regenbogenfraktion, wenden.

Im März 1989 verabschiedete das EP eine umfassende Entschließung zur »Sicherheit in Westeuropa«. Darin wurde unter anderem die Verstärkung der Rüstungszusammenarbeit der Westeuropäer in der IEPG gefordert und beschlossen, daß “die in der Einheitlichen Europäischen Akte als Ziel angestrebte Europäische Union auch eine europäische Sicherheitspolitik betreiben muß”, daß der Europäische Rat eine Sachverständigengruppe einsetzen solle, um schon jetzt die Revision von Artikel 30 Ziffer 6 der EEA vorzubereiten, sowie daß “Sicherheitsfragen verstärkt im Rahmen der EPZ behandelt werden und daß gegebenenfalls, wenn dies durch aktuelle Ereignisse geboten erscheint, Sondertagungen über Sicherheitsprobleme einberufen werden” 41.

EG-Kommission

Verglichen mit dem EP war die Kommission in der Frage der EG-Zuständigkeit für Fragen der Rüstung und Sicherheit lange Zeit deutlich zurückhaltend. Als das EP den ersten Klepsch-Bericht beschloß, ließ sich die Kommission vom britischen Rüstungsexperten David Greenwood ein Gutachen erstellen, in dem dieser die Möglichkeiten für eine aktivere Rolle der EG sehr viel skeptischer beurteilte als die Mehrheit des EP42.

Erst Ende der 80er Jahre hat die EG-Kommission, vor allem einzelne Mitglieder wie der französische Präsident Jacques Delors und der deutsche Vizepräsident Karl-Heinz Narjes begonnen, eine aktivere Politik der EG-Kommission zu betreiben.

Ein Instrument ist die Neudefinition der Liste der Waren, für die die EG gemäß der Römischen Verträge nicht zuständig ist. Nach einem Bericht des zuständigen EG-Kommissars Lord Cockfield gehen den EG-Staaten jährlich mehr als 200 Millionen ECU an Zolleinnahmen dadurch verloren, daß eigentlich zivile Güter wie Transportflugzeuge für die Streitkräfte zollfrei in die EG importiert werden.43 Ein anderes Instrument der EG-Bürokratie ist die Technologieförderung und Forschung im Rahmen großer Programme wie ESPRIT. In vielen Bereichen der Hochtechnologie sind militärische und zivile Technologien so verwandt, daß über die Steuerung ziviler Forschung auch der militärische Sektor beeinflußt wird.

Deutsch-französische militärische Zusammenarbeit

Schon im Elysée-Vertrag vom 22. Januar 1963 wurde vereinbart, regelmäßige Konsultationen zwischen Verteidigungsministern und den Generalstabschefs durchzuführen, Militärpersonal auszutauschen und die Rüstungskooperation zu verstärken. Daraus erwuchsen einige konkrete Rüstungskooperationsprojekte, aber keine besonders engen militärpolitischen Bande – die vorgesehenen Konsultation etwa fanden nicht statt. Das änderte sich erst ab 1982. Die gewandelte Haltung der französischen Sozialisten und, weniger umfassend, auch der Gaullisten zu verstärkter europäischer Zusammenarbeit bei Militär- und Rüstungspolitik, sowie die Sorge um ein »Abdriften« der Westdeutschen in Neutralität leiteten eine Phase verstärkter deutsch-französischer Zusammenarbeit ein. Erstes Ergebnis war die 1982 vereinbarte »Revitalisierung« des militärpolitischen Teil des Elysée-Vertrages. Ein »Ausschuß für Sicherheit und Verteidigung«, bestehend aus zivilen Offiziellen und Offizieren wurde ins Leben gerufen, um Ansätze und Probleme der Zusammenarbeit zu erörtern. Anfang 1988 wurde das Netzwerk noch enger geknüpft, indem die Einrichtung eines kleinen Sekretariat in Paris beschlossen wurde. Die seit längerem jährlich zweimal stattfindenden Treffen der Staats- und Regierungschefs, sowie Außen- und Verteidigungsminister, wurden unter Einbeziehung einiger weiterer Mitglieder aufgewertet und erhielten einen neuen Namen: Deutsch-französischer Rat für Verteidigung und Sicherheitspolitik.

Am medienwirksamsten war sicherlich die Einrichtung einer gemischten Brigade in Böblingen. Die Einschätzungen schwanken zwischen “Spielwiese der Armeen” und “Laboratorium der taktischen Zusammenarbeit”44

Das Verhältnis der Institutionen zueinander

“Die Sicherheitsunion kann schrittweise verwirklicht werden, ohne daß dazu neue Verträge zeitraubend ausgehandelt werden müßten. Alle möglichen Ansätze sind dazu zu nutzen: die Europäische Gemeinschaft (EG), die Westeuropäische Union (WEU), die Einheitliche Akte und die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ). Auch bilaterale Vertragswerke, wie z. B. der Elysée-Vertrag und die darin begründete deutsch-französische Kooperation, können wesentliches beitragen.”45 So beschreibt der Befürworter einer militärpolitischen Integration Westeuropas, Alfred Dregger, sein politisches Konzept. Für ihn sind die vielfältigen Institutionen kein Hindernis, sondern sie bieten die Möglichkeit, daß sich Staaten mit »unterschiedlichen Geschwindigkeiten« auf die Sicherheitsunion hin bewegen können. Wichtigste westeuropäische Pole sind dabei WEU und EPZ für die politische Integration und IEPG und EG-Kommission für die Rüstungszusammenarbeit46. Selbst zwischen multi- und bilateralen Vorstößen, wie der »Achse« Bonn-Paris werden keine Widersprüche gesehen.

Es ist allerdings fraglich, ob diese Vorstellung realistisch ist. Die Multiplizierung der Institutionen zeigt sowohl die Stärke als auch die Schwäche der Befürworter einer verstärkten sicherheits- und rüstungspolitischen Integration. Sie sind in der Lage, das Thema überall auf die Tagesordnung zu bringen, aber bisher ist auf keinem Forum der große Durchbruch gelungen.

Projekte und Probleme der Rüstungskooperation

Im fünften Jahrzehnt NATO ist das Waffengerät der Truppen unterschiedlicher als im ersten. So gibt es, um nur ein Beispiel zu nennen, neun verschiedene Kampfpanzertypen (Leopard I, Leopard II, M-48, M-60, M-1, AMX-30, AMX-32, Chieftain, Centurion), mit zum Teil unterschiedlicher Munition, unterschiedlichen Betriebsstoffen und natürlich unterschiedlichen Ersatzteilen. Nicht einmal die Funkkommunikation ist möglich, so daß im Ernstfall Fernmelde-Offiziere mit der jeweils eigenen Geräteausstattung zu den militärischen Verbänden der anderen Verbündeten abgestellt werden müssen47.

Der Mangel an Koordination, Kooperation und Interoperabilität ist – immer wieder –festgestellt und von offizieller Sieite zutiefst bedauert worden. Er resultiert sicher nicht aus einem Mangel an Möglichkeiten des Gesprächs. Bereits im Rahmen der westeuropäischen NATO-Mitgliedsstaaten gibt es die Doppelstruktur von IEPG und Eurogroup, hinzukommen andere Gremien innerhalb der Gesamt-NATO, und, besonders wichtig, häufige bi- und multilaterale Ad-Hoc- Gespräche.

Noch relativ groß ist das Interesse an Kooperation in den allersten Phasen der Entwicklung eines neuen Waffensystems. An den Diskussionen darüber beteiligen sich Experten aus vielen Staaten (siehe Kasten zu IEPG-Projekten). Bald jedoch zeigen sich regelmäßig Probleme: die Anforderungen der einzelnen Streitkräfte sind unterschiedlich, die Zulaufzeiten stimmen nicht überein, und die beteiligten Rüstungsfirmen zeigen Desinteresse. Nach und nach werden es weniger Partner, bis nur wenige übrig bleiben – bei laufenden Projekten mit bundesdeutscher Beteiligung im Schnitt 2,8.48

Die Abwicklung vereinbarter Kooperationsprojekte kann auf verschiedene Art geschehen, wobei sowohl für die Herstellerfirmen als auch die Abnehmer, die Beschaffungsbehörden, unterschiedliche Modelle möglich sind. Eine Möglichkeit ist, daß eine Firma in einem Land die Systemführerschaft übernimmt und für die Abwicklung den anderen Beschaffungsbehörden gegenüber verantwortlich ist. Ein Beispiel für dieses Modell ist die deutsch- französische Zusammenarbeit beim Alpha Jet Trainings- und Erdkampfflugzeug, für die Dassault verantwortlich zeichnet. Ein anderes Modell ist die Gründung von internationalen Managementfirmen durch die beteiligten Rüstungsfirmen. Die Beschaffungsbehörden können entweder direkt mit diesen in Kontakt treten, Modell Euromissile (gemeinsame Tochter von MBB und Aerospatiale) oder ihrerseits eine gemeinsame Beschaffungsbehörde organisieren, Modell Tornado (hier kontrolliert die NAMMA, siehe S. XI, die Panavia, eine gemeinsame Tochterfirma von MBB, British Aerospace und Aeritalia).

Untersuchungen über Rüstungskooperation in der NATO unterscheiden zwei Fälle, in denen es regelmäßig zu Kooperation kommt49: entweder weil die Kosten für ein Projekt für einen Staat zu groß sind, oder weil durch Kooperation relativ billig Technologie ins Land geholt werden kann. Darüber hinaus gibt es noch eine dritte Fallgruppe: wenn auf höchster politischer Ebene Kooperation beschlossen wird. Das derzeit wichtigste deutsch-französische Kooperationsprojekt, der Panzerabwehrhubschrauber PAH-2, wäre nicht zustandegekommen, hätten nur die Rüstungsbürokratien in beiden Ländern zu entscheiden gehabt. Aber die Bundesregierung und ihr französisches Pendant wollten das Projekt als politisches Signal, nicht zuletzt, weil wenige Jahre vorher ein anderes Großprojekt, der deutsch-französische Panzer Napoleon, kläglich gescheitert war.

Kooperation verteuert Rüstungswaren, nicht nur weil viel international koordiniert werden muß, sondern vor allem, weil die einzelnen beteiligten Staaten strikt darauf bestehen, daß an die einheimische Rüstungsindustrie Aufträge vergeben werden, die in etwa dem eigenen Anteil am Projekt entsprechen, auch wenn die Firmen im eigenen Land teurer produzieren als andere. Unter diesen Bedingungen macht es für die nationalen Rüstungsindustrien Sinn, sich an Koproduktionsprojekten zu beteiligen, aber sonst ist aus ihrer Sicht nationale Produktion vorzuziehen, da die Firmen als »Systemführer« finanziell und technologisch besser fahren als Partner in Koproduktionsprojekten. Die zunehmende technologische Kompetenz der bundesdeutschen Rüstungsindustrie zeigt sich nicht zuletzt in ihrem abnehmenden Interesse an Koproduktionsprojekten. “Es ist in letzter Zeit zunehmend schwieriger geworden, erfolgreich zu kooperieren”50 resümiert der zuständige Beamte aus dem BMVg.

Andererseits müssen auf Grund des ständigen Kostenanstieg für Rüstungsprojekte aller Art übernationale Lösungen gefunden werden. Andernfalls sind die Projekte, schon gar in Zeiten sinkender Rüstungshaushalte nicht finanzierbar. Wenn Kooperation Beschaffung verteuert und auch immer schwieriger auszuhandeln ist, bleibt als Möglichkeit die Ausweitung des Rüstungsmarktes, z. B. auf westeuropäische Ebene. Eine Variante einer solchen Ausdehnung ist die gemeinsame Beschaffung von Rüstungsgütern durch eine übernationale Behörde. Eine andere ist die Öffnung der jetzt meist national gehaltenen Vergabe von Rüstungsaufträge für ausländische Firmen.

Schon seit den 50er Jahren gibt es Bestrebungen, eine übernationale Beschaffungsbehörde der NATO-Streitkräfte zu schaffen, die ohne großen Erfolg blieben, aber zur Einrichtung des Instituts der NATO-Rüstungsagentur (S. XI) geführt haben, aber ohne Erfolg. Mitte der 70er Jahre wurde die Idee einer gemeinsamen westeuropäischen Rüstungsbeschaffungsagentur mehrheitsfähig. Mehrere Berichte, die zwischen 1975 und 1979 im EG-Rahmen behandelt wurden, so der Tindemans-Bericht über die europäische Union von 1975 und der Klepsch-Bericht an das EP von 1978, erwähnen eine solche Behörde. Inzwischen ist die Zahl der Befürworter weniger geworden; inzwischen wird das Konzept einer NATO-Europa-weiten Beschaffungsbehörde allgemein als unrealistisch angesehen51.

Trotz aller Bekenntnisse zum Willen zu mehr Zusammenarbeit: nationale Regierungen und Parlamente wollen weiter allein entscheiden, welche Rüstungsgüter in welcher Zahl beschafft werden. “Dabei stehen”, so schrieb der damalige Abteilungsleiter Rüstungswirtschaft im BMVg, Generalleutnant Wolfgang Tebbe,“nationale Interessen auf dem Spiel.”52

Diese nationalen Interessen sind vor allem wirtschaftliche: würde der jetzt praktizierte Schutz der nationalen Rüstungsindustrien aufgegeben, würden einige Firmen verdrängt werden. Beschäftigung und Technologie könnten verloren gehen. Die enge Bindung zwischen nationaler Industrie, eigenen Streitkräften und Rüstungsbürokratie, der nationale Militärisch-Industrielle-Komplex (MIK) würde aufgebrochen.

Einige Vorschläge für Kompromisse zwischen nationalem Interesse an Technologie und Beschäftigung und übernationalem Interesse an Kostendämpfung und Zusammenarbeit machte eine von der IEPG 1986 eingesetzte Kommission. Unter dem Vorsitz des ehemaligen niederländischen Verteidigungsministers Henk Vredeling erarbeitete eine Gruppe von der Rüstungsindustrie nahestehenden Experten Konzepte für eine Reform des Beschaffungswesens ohne wesentliche Einschränkung der nationalen Souveränität. Wesentliche Elemente sind:53

Gegenseitige Information über Ausschreibungen und Anpassung der Ausschreibungsrichtlinien, einschließlich der Schaffung eines Sekretariats in Brüssel

Konkurrenz von mehreren Konsortien mit Partnern aus verschiedenen Ländern um Großprojekte

Vergabe von Aufträgen nach dem Prinzip der »juste retour«. Nicht in jedem Koproduktionsprojekt soll genauso viel Geld in ein Land fließen, wie in das Projekt gesteckt wird, sondern der Ausgleich soll über viele Projekte und zwar möglichst informell, erfolgen

besondere Förderung der südeuropäischen Länder mit weniger entwickelter Rüstungsindustrie

Schaffung eines gemeinsamen Fonds für Rüstungsforschung analog zur Forschungsförderung der EG im Hochtechnologiebereich.

Der Ministerrat der IEPG nahm auf seiner Sitzung im November 1988 die meisten Vorschläge der Vredeling-Kommission an (siehe Kasten). Ausgespart blieb der gemeinsame Forschungsfonds – hier wurde eine Entscheidung vertagt, bzw. eine Studiengruppe für die “Entwicklung eines Europäischen Technologieprogramms” eingesetzt.54

Auf der Juli-Tagung des Ministerrates ist nun ein Forschungs-Pool namens EUCLID eingerichtet worden, dessen Aufgabenstellung im grundsätzlichen mit EUREKA vergleichbar ist.

Insgesamt wird im Vredeling-Bericht die westeuropäische Rüstungsindustrie als weit schwächer dargestellt als sie ist. Gegenwärtig geht von ihr die stärkste Dynamik in Richtung Westeuropäisierung aus (siehe unten).

Die Bedeutung des EG-Binnenmarktes

“Die Vollendung des Europäischen Binnenmarktes setzt Fakten auch für den Rüstungssektor – einmal, weil die Mehrzahl der europäischen Firmen mit Rüstungskapazitäten gleichzeitig – zumeist sogar überwiegend – am zivilen Markt tätig ist, und zum anderen, weil der fortschreitende EG-weite Abbau der administrativen Unterschiede im Wirtschaftsleben der einzelnen Mitgliedsländer auch die nationalen Vergabevorschriften und Verwaltungspraktiken beeinflussen wird. Schließlich aber wird von den Erfolgen des Binnenmarktes ein heilsamer Zwang ausgehen, da es offenkundig werden dürfte, daß es im Interesse der Länder liegt, die Vorteile eines großen Marktes auch bei der Beschaffung von Rüstungsgütern zu nutzen und so die Verteidigungshaushalte zu entlasten.”55 So sieht der für die Kooperation im BMVg verantwortliche Beamte, Ministerialdirigent Dr. Lothar Weber die Vorteile eines gemeinsamen Rüstungsmarktes. Er spricht für die Gruppe von Bürokraten und Politikern, denen es vor allem um eine Verbilligung der Beschaffung geht. Sie sind eine wichtige Lobby für die Westeuropäisierung.

Großes Interesse an einem (west)europäischen Rüstungsmarkt haben auch die umsatzstarken Rüstungsfirmen, allerdings aus anderen Gründen. Sie sind, zumindest in Frankreich, Großbritannien und der Bundesrepublik, an die Grenzen der nationalen Märkte gestoßen. Der Konzentrationsprozeß, der schon in den 70er Jahren soweit fortgeschritten war, daß nur noch ein Hersteller in jedem Sektor angebotsfähig war, ist in Richtung horizontaler Integration weitergegangen. British Aerospace ist nicht nur praktisch konkurrenzlos im Bau von Flugzeugen und Lenkwaffen, sondern hat inzwischen auch Royal Ordnance, den größten Hersteller von Infanteriewaffen und Panzern aufgekauft. MBB ist nach der Übernahme von VfW auch ins Panzermanagement eingestiegen, über eine Minderheitsbeteiligung an Krauss-Maffei. Jetzt will das Management von Daimler Benz diesen Konzentrationsprozeß weiter vorantreiben. In Frankreich erfolgt die Koordination innerhalb der Rüstungsindustrie schon lange über den Staat, in dessen Besitz sich außerdem die meisten großen Rüstungsfirmen befinden.

Trotzdem ist die westeuropäische Rüstungsindustrie in vielen Hochtechnologiebereichen der Rüstung den US-Amerikanern unterlegen. Der Markt und die Hersteller sind zu zersplittert. Die USA aber sind das Maß des Weltniveaus für die westeuropäische Rüstungsindustrie. J. H. J. Bosma, Vorstandsvorsitzender eines der größten westeuropäischen Rüstungselektronik-Herstellers, der Philips-Konzerntochter Signal erläuterte in einem Interview seine Vorstellungen: “ Meiner Meinung nach könnte die europäische Verteidigungsindustrie allein alles entwickeln, was unsere Streitkräfte brauchen. Wir könnten als europäische Industrie also stärker sein und könnten einen Teil der amerikanischen industriellen Position in Europa ersetzen – hierzu allerdings benötigen wir einen harmonisierten Markt und engere Zusammenarbeit.”56

Der EG-Binnenmarkt wird von den großen Rüstungsfirmen als ein Vehikel angesehen, um über die nationalen Märkte hinauszuwachsen. Durch den Binnenmarkt vereinfacht sich grenzüberschreitendes Vorgehen, zum Beispiel, weil es ein gemeinschaftliches Steuer- und Gesellschaftsrecht gibt. Grenzüberschreitende Euro-Unternehmen wie Panavia oder Euromissile können dann leichter organisiert werden. Auch grenzüberschreitende Kapitalbeteiligungen und -täusche, wie gegenwärtig etwa zwischen Aerospatiale und MBB vorgesehen, werden einfacher.

Wichtiger aber ist die politische Symbolwirkung des gemeinsamen Marktes. Wenn Markt-, Industrie- und Technologiepolitik zunehmend über Brüssel bestimmt werden, läßt sich dann der Rüstungssektor aussparen? Schon ohne Zutun von Rüstungsfirmen oder Politikern scheint das angesichts der engen Verflechtung von ziviler und militärischer Technologie in vielen Bereichen nicht möglich.

Gegen die Kräfte, die eine stärkere Westeuropäisierung der Rüstungsproduktion von der Angebotsseite, den Firmen, her betreiben, gibt es aber auch starke Widerstände. So sehen US-amerikanische Firmen in der beabsichtigten stärkeren Abschottung des IEPG- oder EG-weiten westeuropäischen Rüstungsmarktes eine Bedrohung57 Kleinere Rüstungshersteller bangen um ihre Existenz. Aber auch den großen Rüstungsfirmen ist die Entwicklung nicht ganz geheuer. Zusammen mit vielen Rüstungsbürokraten, Miltärs und Politikern fürchten sie den Verlust der engen nationalen Zusammenarbeit, von der sie profitiert haben.

Die Westeuropäisierung des Rüstungsmarktes ist deshalb nur in kleinen Schritten zu erwarten, wobei die großen Firmen gute Chancen haben, ihre Vorteile zu optimieren. Ein frühes Beispiel bietet gegenwärtig das Verhalten des Managements von Daimler Benz. Einerseits zielt die Fusion mit MBB auf den größeren Markt, die Konkurrenz mit US-Firmen auf gleichem Niveau. Gleichzeitig aber machte das Management zur Bedingung, daß vor Übernahme die Durchführung des für die Zukunft wichtigsten Projekts für MBB, den Jäger-90, von der Bundesregierung garantiert werden müsse – ohne echten Wettbewerb.

Nur wenige Rüstungsfirmen und Politiker wollen einen völlig freien Rüstungsmarkt58, nicht einmal, wenn garantiert wäre, daß alle Aufträge an westeuropäische Firmen gingen. Die meisten Befürworter wollen einen auf Westeuropa erweiterten Markt in Kombination mit einer westeuropäischen Rüstungsindustriepolitik, in der die Wettbewerbsfähigkeit der Rüstungsindustrie gefördert wird, ohne daß politisch gewollte Kapazitäten zerstört werden. Offen ist, wer die Koordination der Rüstungsindustriepolitik übernehmen sollte, in Frage kämen sowohl IEPG oder EG. Mit der Schaffung des Binnenmarktes als Schritt hin auf die geplante Europäische Union scheint die Übernahme einer solchen Funktion durch die EG wahrscheinlicher.59 Der IEPG dürfte die Aufgabe zufallen, diesen Prozeß von der Beschaffungsseite her durch Zurückdrängen nationaler Alleingänge gegenüber abgestimmtem Verhalten der beteiligten Staaten abzusichern.

Aktionsplan für die schrittweise Schaffung eines Europäischen Rüstungsmarktes vom 13. Juli 1988 (Auszüge) vom Ministerrat der IEPG beschlossen am 9.11.1988

1.Einleitung

1.1. Auf ihrer Sitzung am 22. Juni 1987 vereinbarten die IEPG-Verteidigungsminister eine Reihe langfristiger Zielsetzungen zur Verbesserung der europäischen Rüstungsindustrie.

Dazu haben sie generell folgende Entscheidungen getroffen:

  • die schrittweise Schaffung eines Europäischen Rüstungsmarktes soll angestrebt werden
  • Hindernisse im grenzüberschreitenden Wettbewerb sollen beseitigt werden.
  • Aufträge sollen bereitwilliger an Lieferfirmen in anderen Ländern vergeben werden,
  • Forschungsaktivitäten sollen die weitestgehende Nutzung der europäischen Ressourcen an geistigen Fähigkeiten und finanziellen Mitteln ermöglichen,
  • Länder mit weniger entwickelter Rüstungsindustrie sollen an der Zusammenarbeit auf dem Rüstungssektor beteiligt werden…

2.2. Angesichts der sehr wichtigen nationalen Interessen werden die IEPG-Länder nur dann bereit sein, grenzüberschreitenden Wettbewerb zuzulassen, wenn sie sicher sind, in angemessener Zeit einen gerechten Ausgleich zu erhalten, der ihren vitalen Interessen und ihren Möglichkeiten entspricht. Deshalb muß eine Art von »Juste Retour« vorgesehen werden.

Möglicherweise kann ein Spannungsverhältnis zwischen »Juste Retour« und der Forderung nach Wettbewerb auftreten. Aber »Juste Retour« ist nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel, um die Unterstützung der Mitgliedsstaten für einen grenzüberschreitenden Wettbewerb zu erhalten. Deshalb und um die Möglichekit der Finanzierung einer angemessenen konventionellen Verteidigung sicherzustellen sollte der wirtschaftliche Aspekt bei Beschaffung in der Regel Vorrang haben vor einem 100prozentigen Ausgleich um jeden Preis. »Juste Retour« muß im Zusammenhang gesehen werden mit dem Streben nach einer leistungsfähigen und geographisch/technologisch ausgewogenen Rüstungsindustrie….

2.4. Neben dem grenzüberschreitenden Wettbewerb wird die umfassende und systematische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Forschung und Technologie das Kernstück bei der Schaffung eines Europäischen Rüstungsmarktes sein…

Quelle: Kommunique der Minstertagung der IEPG in Luxemburg, Material für die Presse, herausgegeben vom BMVg, Bonn 18.11.1988

Einheitliche Europäische Akte von 1986 (Auszüge)

Titel III

Vertragsbestimmungen über die Europäische Zusammenarbeit in der Außenpolitik

Artikel 30

Für die Europäische Zusammenarbeit in der Auáenpolitik gelten folgende Bestimmungen:

(1)
Die Hohen Vertragsparteien, die Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft sind, bemühen sich, gemeinsam eine europäische Außenpolitik auszuarbeiten und zu verwirklichen.

(6)
a)
Die Hohen Vertragsparteien sind der Auffassung, daß eine engere Zusammenarbeit in Fragen der europäischen Sicherheit geeignet ist, wesentlich zur Entwicklung einer außenpolitischen Identität Europas beizutragen. Sie sind zu einer stärkeren Koordinierung ihrer Standpunkte zu den politischen und wirtschaftlichen Aspekten der Sicherheit bereit.
b)
Die Hohen Vertragsparteien sind entschlossen, die für ihre Sicherheit notwendigen technologischen und industriellen Voraussetzungen aufrechtzuerhalten. Sie setzen sich hierfür sowohl auf einzelstaatlicher Ebene als auch, wo dies angebracht ist, im Rahmen der zuständigen Institutionen und Organe ein.
c)
Dieser Titel steht einer engeren Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Sicherheit zwischen einigen Hohen Vertragsparteien im Rahmen der Westeuropäischen Union und des Atlantischen Bündnisses nicht entgegen.

Quelle: Bundesgesetzblatt, II, Nr. 39, 24.12.1986, S. 1103 ff

Mitgliedschaften westeuropäischer Staaten
LAND EUROGROUP IEPG WEU EG
Belgien x x x x
Dänemark x x - x
BRD x x seit 1954 x
Frankreich x x x x
Griechenland x x   seit 1986
Großbritannien x x x seit 1973
Irland - - - seit 1973
Island - - - -
Italien x x seit 1954 x
Luxemburg x x x x
Niederlande x x x x
Norwegen x x - -
Portugal seit 1976 x seit 1988 seit 1986
Spanien seit 1982 seit 1983 seit 1988 seit 1986
Türkei x x - -
x=Gründungsmitgliedschaft
(EUROGROUP: 1968, IEPG: 1976, WEU: 1948; EG: 1958)
Aufhebung von Beschränkungen im Rahmen der WEU
9.05.1958 gelenkte Panzerabwehrraketen;
16.10.1958 Marinesschulschiff mit Wasserverdrängung von 4800 bis 5000 t;
21.10.1959 gelenkte Boden-Luft und Luft-Luft Flugabwehrraketen mit Annäherungszünder;
24.05.1961 Influenzminen (Seeminen); Raketenzerstörer mit taktischen Raketen für den Seekampf bis zu 6000 t Wasserverdrängung; Hilfsschiffe bis zu 6000 t Wasserverdrängung;
19.10.1962 U-Boote bis zu 450 t;
9.10.1963 sechs U-Boote bis zu 1000 t Wasserverdrängung;
1968 Luft-Boden Lenkflugkörper für die taktische Verteidigung;
1971 Oberfläche-Oberfläche Lenkflugkörper für die taktische Seeverteidigung;
1973 U-Boote bis zu 1800 t;
1980 Streichung aller Beschränkungen im Kriegsschiffbau;
17.06.1984 strategische Bomber; Flugkörper großer Reichweite und Lenkflugkörper.
Quelle: Böge u.a., S. 12 f
NATO-Rüstungsagenturen
NATO-Agenturen haben ihre Rechtsgrundlage im Ottawa Abkommen vom 20.9.1951. Sie sind rechtlich autonome Einheiten der NATO und berechtigt, im Rahmen der ihnen eingeräumten Zuständigkeiten, Verträge mit Rüstungsfirmen abzuschließen. Die NATO-Agenturen sind dem NATO-Ministerrat verantwortlich; die wirtschaftliche Kontrolle erfolgt durch den NATO-Rechnungsprüfungsausschuß.
Bestehende NATO-Rüstungsagenturen:
NAMMA (NATO MRCA Development and Production Management Agency)
NEFMA (NATO European Fighter Aircraft Development, Production and Logistics Management Agency)
NAPMA (NATO AWACS Programme Management Agency)
NHMO (NATO Hawk Management Office)
NACISA (NATO Communications and Informations System Agency)
NAMSA (NATO Maintenance and Supply Agency)
CEOA (Central Europe Operating Agency)

Name Sitz Projekt Personal Beteiligte Staaten
NAMMA München MRCA TORNADO 211 BRD, UK, I
NEFMA München Jäger-90 147 BRD, UK, I, S
NAPMA Brunssum (NL) E-3A AWACS 85 NATO-Staaten außer F, GB, IS
NHMO Rueil-Malmeison(F) HAWK 127 B, DK, BRD, F, GB, I, NL, NOR
NACISA Brüssel (B) Fernmelde- und Führungssystem 253 NATO-Staaten außer S
NAMSA Capellen (L) Ersatzteilversorgung 1189 alle NATO-Staaten außer IS
CEOA Versailles (F) NATO-Pipelines 73 B, BED, GB, CDA, L, NL, USA
Quelle: Wehrdienst 1141/88 vom 5.9. 1988. S. i

III. Festung oder Gemeinsames Haus

Vor dem Hintergrund einer zu Ende gehenden Ära des Kalten Krieges, dem allmählichen Ausstieg aus einer bipolar geprägten Welt erscheinen die Bestrebungen einer Westeuropäisierung der Sicherheitspolitik zumindest als ein sehr eindimensionaler Lösungsansatz, ihre inhaltliche Substanz bleibt im wesentlichen der alten Epoche verhaftet. Die internen Reibungen und Probleme dieses Prozesses verweisen nicht zuletzt auch auf diesen Tatbestand.

Die wiederbegonnene »Europa-Diskussion« geht über diesen Kontext hinaus, speist sich auch aus neuen Denkansätzen in Ost und West.

Zwei alternative Sicherheitskonzepte

“Wir wollen die schmerzliche Teilung Europas, die wir niemals hingenommen haben, überwinden … Ausgehend von der gegenwärtigen Entwicklung zu mehr Zusammenarbeit und den künftigen gemeinsamen Herausforderungen streben wir an, eine neue politische Friedensordnung in Europa zu schaffen…

Für die vorhersehbare Zukunft gibt es keine Alternative zur Bündnisstrategie der Kriegsverhinderung. Dies ist eine Abschreckungsstrategie, die auf einer geeigneten Zusammensetzung angemessener und wirksamer nuklearer und konventioneller Streitkräfte beruht, die weiterhin auf dem gebotenen Stand gehalten werden… Die Präsenz nordamerikanischer konventioneller und nuklearer Streitkräfte in Europa bleibt von vitaler Bedeutung für die Sicherheit Europas…Die wachsende politische Einigung Europas kann zu einer verstärkten europäischen Komponente unserer gemeinsamen Sicherheitsanstrengung und ihrer Wirksamkeit führen.…” (Erklärung der Staats- und Regierungschefs bei der NATO-Gipfelkonferenz in Brüssel am 29./30.5.1989, aus: Bulletin Nr. 53, 31.5.1989)

“Die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion betrachten es als vorrangige Aufgabe ihrer Politik, an die geschichtlich gewachsenen europäischen Traditionen anzuknüpfen, um so zur Überwindung der Trennung Europas beizutragen. Sie sind entschlossen, gemeinsam an Vorstellungen zu arbeiten, wie dieses Ziel durch den Aufbau eines Europa des Friedens und der Zusammenarbeit – einer europäischen Friedensordnung oder des gemeinsamen europäischen Hauses – in dem auch die USA und Kanada ihren Platz haben, erreicht werden kann…

Europa, das am meisten unter zwei Weltkriegen gelitten hat, muß der Welt ein Beispiel für stabilen Frieden, gute Nachbarschaft und eine konstruktive Zusammenarbeit geben, welche die Leistungsfähigkeit aller Staaten ungeachtet unterschiedlicher Gesellschaftssysteme zum gemeinsamen Wohl zusammenführt… verurteilen das Streben nach militärischer Überlegenheit. Krieg darf kein Mittel der Politik mehr sein. Die Sicherheitspolitik und Steitkräfteplanung dürfen nur der Verminderung und Beseitigung der Kriegsgefahr und der Sicherung des Friedens mit weniger Waffen dienen. Das schließt ein Wettrüsten aus…” (Aus der gemeinsamen Erklärung von Helmut Kohl und Michail Gorbatschow, Bonn, 13.6.1989, aus: FAZ vom 14.6.1989)

Sehr unterschiedliche – auf Dauer nicht vereinbare – Konzeptionen von Sicherheitspolitik, bzw. Vorstellungen von Sicherheit überhaupt, existieren gegenwärtig noch nebeneinander. Die politische Führung der Bundesrepublik bewegt sich in beiden Konzeptionen: Während im West-West-Kontext der NATO militärische Stärke in Europa noch als ein zentrales (konfrontatives) Sicherheitsparadigma gilt, ist in der gemeinsamen Erklärung von Kohl und Gorbatschow eine neue Gewichtung ziviler (gemeinsamer) Kriterien erkennbar. Die friedliche Begegnung von Ost und West scheint heute – wenn auch spät – Katalysator für die Zivilisierung der Politik werden zu können. Dies geschieht vor allem über die Bewußtmachung systemübergreifender globaler Herausforderungen, die auch über Europa hinausweisen.

Das von Michail Gorbatschow propagierte »Gemeinsame Haus Europa« kann vor allem als innovatives gedankliches Modell einer (auch in einigen westlichen Ansätzen schon diskutierten) neuen gemeinsamen Konzeption der Sicherheit und des Zusammenlebens an einem Brennpunkt der Welt dienen. Insofern spricht auch nichts gegen die Synonymisierung mit dem Begriff der »Europäischen Friedensordnung«. Gesamteuropa in diesem Sinne jedoch heute als ein einheitliches (völkerrechtliches) Gebäude theoretisch und praktisch zu projizieren, scheint weder realistisch noch hilfreich für die zukünftigen Entwicklungen. Es soll im folgenden vor allem darum gehen,

  • Erfordernisse neuer Sicherheit zwischen Staaten und Völkern zu präzisieren,
  • die Probleme eines solchen Neulandes »Gesamteuropa« unter den heutigen politischen Realitäten in aller Widersprüchlichkeit zu erfassen,
  • sowie auf Defizite bisheriger Konzepte zu verweisen.

Erfordernisse friedlicher Kooperation in Europa

In der Tat beinhalten die genannten unterschiedlichen Sicherheitskonzeptionen zwei alternative Entwicklungswege für Europa (und die Welt): Das Weitergehen in Richtung einer »Westeuropäisierung der Sicherheitspolitik« impliziert unter anderem eine militärisch geprägte Wissenschafts- und Technikentwicklung, den Primat konfrontativer bzw. aggressiver Denkansätze in der Außen- und Wirtschaftspolitik, die Mißachtung anderer (sozialer, ökologischer) Prioritäten gesellschaftlicher und internationaler Kooperation. Dies gilt insgesamt, wenn sich die EG mit ihrem Binnenmarkt vorrangig zu einem “Rollfeld für Multis” (W. Kartte, Chef des Bundeskartellamtes, SPIEGEL 23/1989) entwickelt.

“Mit Sorge betrachten wir deshalb eine Tendenz in der Europäischen Gemeinschaft zur Herausbildung einer dritten, sich ökonomisch und militärisch selbst behaupten wollenden »Supermacht«, die zugleich versucht, Osteuropa zu ihren Bedingungen zu integrieren. Unsere Vorstellungen von Europa zielen auf die Schaffung einer neuen Europäischen Friedensordnung, die frei ist von Militärbündnissen – und damit frei ist für eine ökologische, soziale und ökonomische Kooperation, die auf der Basis der Gleichberechtigung aller Europäischen Staaten und Gesellschaften aufbaut und aus der alle Beteiligten ihren wechselseitigen Nutzen ziehen können…” (Offener Brief der GRÜNEN an Gorbatschow, Frankfurter Rundschau, 14.6.1989)

Die »Bauelemente« aus der gemeinsamen Erklärung von Kohl und Gorbatschow skizzieren eine solche politisch-alternative Richtung, ohne jedoch die zentrale Frage der Militärbündnisse schon zu berühren.

Ein Nebeneinanderexistieren beider Sicherheitskonzeptionen für die nächste Zeit realistisch vorausgesetzt, wird es darum gehen müssen, die Entwicklungsbedingungen für das Neue im Alten gezielt zu fördern. Zentrale Gedanken hierfür sind:

  • Das Gemeinsame Haus Europa, die Europäische Friedensordnung versteht sich als Teil eines zukünftigen Systems internationaler Sicherheit, das friedliche Kooperation auch mit der Dritten Welt einschließt (zur gegenwärtig negativen Rolle Europas beim Anteil am Weltrüstungsexport, siehe u.a. SIPRI-Datenbank, in: IFIAS (Hrsg.), Frieden und Abrüstung Nr.26, Bonn 1988.) Der KSZE-Prozeß kann hierfür wegen der an ihm Beteiligten sowie der dort einbezogenen Themenfelder eine wichtige Grundlage sein.
  • Die »Besonderheiten« Gesamteuropas liegen vor allem in seiner besonderen Friedensverantwortung gegenüber Dritten aufgrund seiner geostrategischen und intersystemaren Lage und Erfahrungen, sowie in seinen Völkervielfalt einschließenden kulturellen Wurzeln. Dies widerspricht jeder Form chauvinistischer Abschottung sowie Großmachtpolitik. (Vgl. u.a. M. Gorbatschow, Perestroika, München 1987, S. 255 ff; W. Brandt, Die richtige Perspektive heißt 2000, SPIEGEL Nr. 23/1989)
  • Europa ist ein »Pulverfaß« im doppelten Sinne – mit der größten Waffenkonzentration auf der Welt und dem engsten Netz hochindustrieller Anlagen. Krieg bzw. militärische Optionen sind deshalb in Gesamteuropa in besonderer Weise obsolet (vgl. hierzu u.a. M. Schmidt/W. Schwarz, Das Gemeinsame Haus Europa, in: IPW-Berichte 9+10/1988, Berlin (DDR); G. Zellentin, Sind Militär und Gesellschaft noch vereinbar? Informationsdienst Wissenschaft und Frieden 2/1989).
  • Die Entmilitarisierung Gesamteuropas ist zugleich Voraussetzung und paralleler Prozeß zu der Entwicklung neuer ziviler Kooperationsstrukturen auf wirtschaftlichem, wissenschaftlichtechnischem, ökologischem und kulturellem Gebiet. Vertrauensbildende Schritte können eine wechselseitige Dynamik entfalten.

Neuland Gesamteuropa

Alle sprechen heute von der »Überwindung der Spaltung Europas«. Die politischen Entwicklungen in West (EG-Integration) und Ost (Perestroika) sind aber zu neu, andere Probleme demgegenüber zu alt (die deutsche Frage) als daß Gegenstand und Wege der Überwindung der Spaltung Europas schon vereinheitlicht wären. Zu unterschiedlich sind noch die Interessenlagen.

EG: Markt und (Über-)Macht

Die Besorgnisse über die Übermacht der westeuropäischen Integration, vor allem in Gestalt des Binnenmarktes ab 1993, sind unüberhörbar und berechtigt (von östlicher Seite vergl. exemplarisch die sowjetischen Teilnehmer des 86. Bergedorfer Gesprächskreises »Das Gemeinsame Europäische Haus aus Sicht der SU und der BRD« im Dezember 1988, Hamburg, 1989; vgl. aber auch die »Festung Europa«-Debatte in den USA)

Die »Selbstbehauptungs-"Linie in der Bundesrepublik – auch jenseits der Unionspolitik – reicht von der Forderung, die “EG müsse zu einem Faktor der Sicherheit (gemeint die militärische, d.V.) werden… gegen die Instabilitäten im kommunistischen Herrschaftsbereich” (C. Bertram, 'Die Zeit' vom 16.6.89) bis zum Philosophieren über das allgemein menschliche Streben nach “Macht und Einfluß”, das natürlich in einem friedlichen Europa nicht aufhöre (E. Bahr, Zum Europäischen Frieden, Berlin 1989, S. 90). “Die Flagge folgt dem Handel” …ist solange noch nicht her. Die Hegemoniebefürchtungen gegenüber den 12 EG-Staaten bestätigen sich auch durch die Austragungsformen von Führungsansprüchen im Innenverhältnis der EG selbst: Die scheinkompensatorischen Zuweisungen ökonomischer bzw. militärischer Macht vor allem zwischen Frankreich und der Bundesrepublik (siehe u.a. E. Bahr, a.a.O., S. 52 ff) enthalten noch wenig verantwortliche Politikansätze für die Zukunft, aber viel nationalistisch geprägtes Machtstreben.

Die ökonomische Integration Westeuropas wird zu den Realitäten des nächsten Jahrzehnts gehören; schon deshalb muß sie zu einer wichtigen Säule in einer Europäischen Friedensordnung werden.

“Die Etablierung einer westeuropäischen Dominanz würde die Teilung Europas verlängern. Das Wohlstandsgefälle zwischen Ost und West würde weiter zunehmen…Dann wird es in Europa Destabilisierung nicht als Übergangsphase zu neuen Strukturen, sondern als Dauerzustand geben.” (G. Gaus, Deutsche Volkszeitung, Nr. 23, 2.6.1989).

Perestroika – Quo Vadis ?

Die politischen Neuorientierungen im Osten, haben viel angestoßen, was eine Europäische Friedensordnung befördern kann; nicht vor allem, weil es den Vereinnahmungsabsichten des Westens entgegenkommt, sondern weil dort versucht wird, der Modernisierung mittels des Primats der Politik auf nationaler und internationaler Ebene zum Durchbruch zu verhelfen. Welche konkreten Entwicklungen Ungarn und Polen nehmen werden, wie sich das komplizierte Wechselverhältnis von Politik und Ökonomie auswirken wird, ist gegenwärtig offen (vgl. u.a. Poszgay, in Frankfurter Rundschau, 13.1.89). Chancen und Gefahren liegen nahe beieinander; ob daraus Instabilität für Gesamteuropa erwächst, hängt allerdings wesentlich auch von der Politik des Westens ab. “Wir müssen eine Verflechtung von Interessen und Kooperationen in Europa schaffen, die es keinem Land mehr erlaubt, sich aus diesem Verbund zu lösen, ohne seine vitalsten Eigeninteressen auf das Schwerste zu verletzen. Wir brauchen gegenseitige Abhängigkeit im guten Sinne des Wortes.” (D. Genscher, Worten müssen auch bei uns Taten folgen, in: SPIEGEL, Nr. 24/1989). Was hier als »systemöffnende Zusammenarbeit« propagiert wird, muß sich –wenn »Gegenseitigkeit« Gleichberechtigung trotz Ungleichheit bedeuten soll – wirklich neue Inhalte und Strukturen der Kooperation suchen. Joint Ventures reichen nicht. “Die Arbeitsteilung könnte weitaus substitutiver (statt komplementärer) Natur sein. …Je intraindustrieller die Arbeitsteilung würde, um so geringer wäre die Gefahr, daß im Westen protektionistische Kräfte gegen eine verstärkte Importkonkurrenz aus dem Osten zum Zuge kommen”. (J.P. Donges, Handelsbeziehungen zwischen Ost und West auf der Basis unterschiedlicher Wirtschaftssysteme, Bremen, April 1988.) Es existieren umfangreiche Vorschläge für gesamteuropäische Institutionen auf dem Gebiet des Umweltschutzes, der Energiewirtschaft, der humanitären Fragen (vgl. u.a. M. Gorbatschow vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarates am 6.7.89, u.a. in: tageszeitung v. 7.7.89).

Das deutsche Problem

Bewegung in Europa ohne Aufwerfen der deutschen Frage ist aufgrund der deutschen Kriegsgeschichte nicht denkbar. Allein das (angesichts der ökonomischen Potenz der Bundesrepublik) berechtigte Mißtrauen der Nachbarn erfordert absolute Abstinenz gegenüber allen »gesamtdeutschen« Vorhaben. Auch wenn die Veränderungen in Europa den Deutschen nach 40 Jahren einen souveräneren Umgang mit ihrer Nationalität ermöglichen können: Die deutsche Besonderheit liegt nicht in einer wie auch immer gearteten Extralösung neben dem gesamteuropäischen Einigungsprozeß, sondern in einer besonders bewußten Verantwortung als Friedensfaktor in eben diesem Prozeß. Nur im Ergebnis dessen, im Kontext von möglicherweise insgesamt veränderten staatlichen (konföderativen) Strukturen in Gesamteuropa wird auch deutsche Zweistaatlichkeit einen neuen vielleicht “außerordentlichen modus vivendi” finden können (G.S. Kennan, The German Problem, in: German Issues, April 1989; vgl. auch T. Sommer, Quovadis Germania,'Die Zeit' vom 23.6.1989 und G. Gaus, in: Die Deutsche Volkszeitung vom 2.6.1989). Jede andere auch von links heute wieder oder neu in die Debatte gebrachte separate deutsche Lösung (vgl. »Memorandum für Blockfreiheit und Neutralität«, in: Mediatus 6/1989) mißachtet die Anerkennung des historischen Status Quo als Ausgangspunkt für Veränderungen. Das bedeutet auch, daß die wünschenswerte Überwindung der (Militär)Blöcke, nicht dort beginnen kann, wo – wie in der DDR – staatliche und systembedingte Blockidentität so existentiell wie in keinem anderen Land Europas miteinander verbunden sind. Diesem Fakt tragen eher Anforderungen an die DDR Rechnung, über Modernisierung unter sozialistischen Vorzeichen – etwa die Verbindung von Gemeineigentum, ökologischen Kriterien und individuellen Freiheiten – neu nachzudenken (vgl. G. Gaus, a.a.O.; E. Eppler, Rede zum 17. Juni 1989, in: Frankfurter Rundschau vom 19.6.1989).

Defizite vorhandener Konzeptionen

Konzeptionelles Nachdenken über ein Europa des Friedens und der gleichberechtigten Zusammenarbeit erfordert unter den aktuellen Entwicklungen neue Anstrengungen auch seitens der Friedensbewegung. Die Kunst wird darin bestehen, umfassende Alternativen zum Status Quo mit konkreten Schritten für die einzelnen Bereiche – Abrüstung, Wirtschaftsbeziehungen, technologische und ökologische Zusammenarbeit, Demokratie und Kultur – zu verbinden. Realismus und Visionsfähigkeit sind zusammen gefordert.

Die vorhandenen Konzepte tragen der neuen Lage aus unterschiedlichen Gründen nur partiell Rechnung.

Strukturelle Angriffsunfähigkeit in Europa

Die seit einigen Jahren relativ intensiv geführte Debatte – zunächst in der Bundesrepublik Deutschland, inzwischen auch im weiteren NATO-Bereich, sowie im Rahmen der Warschauer Vertragsorganisation (WVO) – unter den Oberbegriffen strukturelle Nichtangriffsfähigkeit bzw. defensive Verteidigung versteht sich erklärtermaßen als militärstrategische Alternative zur Flexible Response-Konzeption der NATO. (Eine gute Kurz-Übersicht der verschiedenen Ansätze bietet das Bulletin of Atomic Scientists, September 1988, S. 23; s.a. IWIF-Dossier Nr. 3).

Ihr wesentliches Defizit – sieht man einmal von der grundsätzlichen Schwäche eines solchen eindimensionalen Ansatzes ab – ist ein immanentes: Da die Bedrohungsperzeptionen und damit die Philosophie der Abschreckung keiner prinzipiellen Prüfung unterzogen werden, bleiben alle defensiven Verteidigungsansätze paradoxerweise letztlich Kriegsführungsoptionen. Neuere Erkenntnisse, die Europa allein wegen seiner hohen Verwundbarkeit aufgrund der hochindustriellen Strukturen als weder atomar noch konventionell (defensiv) zu verteidigen ausweisen, werden noch nicht rezipiert. (Vgl. W. Schwarz, Strukturelle Angriffsfähigkeit in Europa, in: Beiträge zur Konfliktforschung 2/1989, S. 5 ff.). Im Ansatz werden diese Defizite erstmals im »Comprehensive Concept« of Defence and Disarmament for NATO: From Flexible Response to Mutual Defensive Superiority, London 1989, bearbeitet, indem auch die Gesamtstruktur der Militärblöcke thematisiert wird (vgl. Informationsdienst Wissenschaft & Frieden 2/89).

Gemeinsame Sicherheit – System kollektiver Sicherheit (SKS)

Das unbestrittene Verdienst des seit dem Palme-Bericht 1982 vor allem von der Sozialdemokratie propagierten Konzeptes der gemeinsamen Sicherheit liegt in der ersten westlichen Formulierung des »Miteinander im Atomzeitalter«. Ansonsten gelten ähnliche grundsätzliche Defizite wie oben. “Eine Fortentwicklung des Gedankens der gemeinsamen Sicherheit zu einer kollektiven Sicherheit” (D. S. Lutz, Kollektive Sicherheit in und für Europa – eine Alternative, Baden-Baden 1985) bezieht eine mehrdimensionale Sicht der neuen Europäischen Friedensordnung (innergesellschaftlich, verteidigungspolitisch, Ost-West-, und Nord-Süd-Ebene) ein. Trotzdem bleibt das SKS selbst eine auf ein militärisches Gewaltmonopol gestützte Allianz vor allem zum Zwecke der Kriegsverhinderung bzw. Kriegsbeendigung (»negativer Frieden«); es findet keine Entmilitarisierung des Sicherheitsbegriffes statt (zur Kritik am SKS vgl. auch G. Zellentin, ebenda, S. 327 ff).

Interessanter als der Endzustand eines SKS erscheinen unter den heutigen Bedingungen die Schritte und Phasen auf dem Weg dahin, u.a.: der Verzicht auf Destabilisierung, Vertrauensbildung, einseitige Abrüstung, atomwaffenfreie Zonen, Defensivumrüstung, Lockerung der Blockintegration. Auch Böge/Wilke entwickeln vor allem Schritte zu einem Europäischen System kollektiver Sicherheit (ESkS) (im Sinne einer Vollendung des KSZE-Prozesses), mit dem Ziel der Lockerung und schließlichen Auflösung der Blöcke (vgl. V. Böge/P. Wilke, Sicherheitspolitische Alternativen, Baden-Baden 1984). Kritikwürdig erscheint hier vor allem die Vorstellung, die Großmächte USA und UdSSR könnten aus dem ESkS weitgehend ausgegrenzt werden.

Gegenüber den genannten Konzepten hat die durch die aktuelle politische Entwicklung vor allem im Osten angestoßene Grundsatzdebatte über das Europäische Haus bzw. die Europäische Friedensordnung den Vorteil einer umfassenderen (globaleren) Sicht auf das Thema. Man kann kritisieren, daß hierin auch die Gefahr einer Diffusität und Abgehobenheit liegt, weil Europa in der konzipierten Form als Handlungsträger gar nicht existent sei (vgl. D. Senghaas, Die Zukunft Europas, Frankfurt 1986). Die Kehrseite eines Pragmatismus, der letztlich Entspannung auf die militärische Seite reduziert (die zugegebenermaßen erst noch zu erreichen ist), ist jedoch in den bisherigen Konzepten evident.

In den Blöcken – für Blocküberwindung

Hilfreicher als Modellbastelei scheinen Beiträge der Friedensbewegung zur Europadebatte, die sich vor allem vornehmen, Prinzipien zu entwickeln, die als unverzichtbar gelten müssen, wenn Demilitarisierung und neue friedliche Kooperationsformen entstehen sollen. (Siehe u.a. Thesen von A. Buro, Antworten der Friedensbewegung auf die »Europäisierung der NATO«, in: Die GRÜNEN, Euromilitarismus, Bonn 1985). Eine prinzipielle Kritik muß an allen Bestrebungen ansetzen, mit der »Europäisierung« der Sicherheitspolitik in neuem Rahmen Aufrüstung und Militärpolitik zu befestigen.

Neu nachgedacht werden muß vor allem über das komplizierte Wechselverhältnis von blockübergreifender Kooperation und der Auflösung der Blöcke als Zielvorstellung. Die meisten vorhandenen Konzeptionen über Blockfreiheit und Neutralismus werden der neuen Situation, den Chancen und Problemen einer möglichen Konvergenz zwischen Ost und West nicht gerecht. (Eine kritische Würdigung der europapolitischen Konzeptionen aus Friedensbewegung und Friedensforschung findet sich bei V. Böge, Arbeitspapier des Instituts für Internationale Politik, Nr. 2, Januar 1988).

“Warum sollte es nicht zentraleuropäische Gesprächskreise geben für verschiedene Sachgebiete? Das könnte mit Experten beginnen, die von den Regierungen entsandt werden. Auf der nächsten Stufe könnten Regierungsvertreter hinzukommen. Das Ganze könnte förmlich zum Teil des KSZE-Prozesses erklärt werden. Blockübergreifende Ebenen würden sicherlich zu einer schrittweisen inneren Veränderung der Blöcke führen. Da kann in ferner Zukunft auch eine Auflösung der Blöcke vorstellbar sein, doch zur Zeit hätte sie eine gefährliche Destabilisierung zur Folge…. (G. Gaus, in: DVZ vom 2.6.1989).

Die Bevölkerung der einzelnen Länder muß an diesem Prozeß des gesamteuropäischen Dialoges direkt beteiligt werden. Das kann durch Teilnahme von »Bürgervertretern« in solchen zentraleuropäischen Gesprächskreisen erfolgen. Es müssen aber auch neue, nichtstaatliche kooperative Strukturen entwickelt werden: Dazu kann der Ausbau von Städtepartnerschaften gehören, die Errichtung von gemeinsamen Beratungsgremien der sozialen Bewegungen (u.a. Abrüstung, Ökologie, Frauenpolitik), die Gründung wissenschaftlicher Einrichtungen »von unten«, um alternative Expertise zu fördern.

IV Schlußfolgerungen

  1. Die Konzeptionen einer (West-) Europäisierung der NATO haben ihre Wurzel in der Krise der NATO als westlichem militärischen und ökonomischen Machtblock. Es geht um geographisch und politisch unterschiedliche Reflexionen der Bedrohung bzw. der Abschreckungsdoktrin; es geht auch um die Dynamik der ökonomischen Integration Westeuropas, um wirtschaftliche Konkurrenzen zwischen den großen kapitalistischen Zentren.
  2. Im Zuge des weltweiten Rückgangs der bipolar geprägten Ost-West-Konfrontation treten die beiden Akteure der »Europäisierung« – die USA und West-Europa – deutlicher hervor: Dort die Forderungen nach einer »gerechteren Lastenteilung im Bündnis«, hier unterschiedliche Konzepte einer »Selbstbehauptung Europas«, die auch den ideologischen Effekt einer eigenständigen »Friedensstrategie« für Europa einschließen.
  3. Die Widersprüche und Reibungen innerhalb Westeuropas bei dem Versuch, die Militärintegration neu zu strukturieren, haben ihre Ursachen nicht nur vordergründig im institutionellen Bereich, sondern hängen mit der Schwierigkeit zusammen, militärische Modernisierung unter bereits im NATO-Bündnis gescheitertem Vorzeichen neu zu fundieren.
  4. Mit diesem Grunddilemma – der Verbindung nationaler Interessen und Weltmachtansprüche vor dem Hintergrund globaler Herausforderungen einer ganz neuen Qualität – hängt es zusammen, daß es gegenwärtig völlig offen ist, ob und in welcher Weise der EG-Binnenmarkt 1993 auch einen Fortschritt im Sinne eines einheitlichen westeuropäischen Rüstungsmarktes bringen wird.
  5. »Europäisierung« ist aus den genannten inhaltlichen Gründen, einschließlich seiner ideologischen Wirkung, kein georaphisch fundiertes Modell einer Friedenspolitik in Europa. Hierzu gehört auch die Tatsache, daß der Begriff der »Europäisierung« nur schwerlich über die Exklusivität des Sicherheitsverständnisses seitens des Westens gegenüber dem Osten Europas hinwegtäuschen kann.
  6. Die neuen Tendenzen im Ost-West-Verhältnis, die Veränderungen im Osten noch mehr als im Westen schaffen Voraussetzungen für eine Gesamteuropa einbeziehende friedenspolitische Diskussion. Gedanken eines »gemeinsamen europäischen Hauses« bzw. einer »Europäischen Friedensordnung« finden erstmals Eingang in Ost-West-Dokumente (gemeinsame Erklärung von Michail Gorbatschow und Helmut Kohl).
  7. Der neue inhaltliche Ansatz – gemeinsame Sicherheit zur Lösung globaler Menschheitsprobleme – wendet sich auch gegen die Gefahren eines Eurozentrismus und erweitert die Tagesordnung der (bisher militärisch geprägten) Sicherheit, um alle Fragen ziviler, internationaler Kooperation (Wirtschaftsbeziehungen, Ökologie, wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit, Kultur und Demokratie). Der KSZE-Prozeß kann wegen der daran Beteiligten (inklusive der USA) und der Themenfelder eine gute Grundlage für eine Neubelebung gesamteuropäischer Friedenspolitik sein.
  8. Die gegenwärtige ökonomische Ungleichheit zwischen West- und Ost-Europa darf nicht zum Ausgangspunkt eines neuen kalten Krieges (diesmal zum Zwecke wirtschaftlicher Hegemonie), eines neuen Anlaufs zum »Siegen« werden. Neue Grundsätze und Strukturen ökonomischer Kooperation müssen zwischen Ost und West entstehen.
  9. Die Friedensbewegung sollte mit eigenen Initiativen in die gesamteuropäische Friedensdiskussion eingreifen. Wesentliche Prinzipien hierfür können sein:

    • Kritik an allen neuen Militärprojekten und -strukturen unter dem Vorzeichen »Europäisierung« (das gilt sowohl für die multilateralen Rüstungsvorhaben wie für die bilateralen, insbesondere die deutsch-französische Militärzusammenarbeit). Ansatzpunkte dieser Kritik sind u.a. die Beibehaltung der Abschreckung, die neuen Beiträge zum Wettrüsten, zur Herausbildung eines militärisch-industriellen Komplexes, zur Forcierung des Rüstungsexportes
    • Die Anerkennung des Status quo der Grenzen in Europa
    • Das Eintreten für gewaltfreie Konfliktlösung und das Prinzip der Nichtbedrohung. Dazu gehört als erste Weichenstellung die Umstrukturierung der militärischen Potentiale in Richtung einer Strukturellen Nichtangriffsfähigkeit, als Übergang zu weiterer bis vollständiger Abrüstung
    • Einseitige Schritte der Abrüstung; multilaterale Verhandlungen
    • Vertrauensbildende Schritte auch auf den Feldern ziviler Kooperation
    • Schaffung neuer staatlicher und nichtsstaatlicher Strukturen gesamteuropäischer, blockübergreifender Zusammenarbeit.
    • Die genannten Prinzipien verstehen sich als Voraussetzung auf dem Weg zu einer schließlichen Auflösung der Militärbündnisse und der Blöcke.
    • Es geht um die Zurückdrängung alter und neuer Nationalismen zu Gunsten globaler humaner Lösungen.

Damit Kurt Tucholsky nicht recht behält, der in den 20er Jahren argwöhnte: “Europa? Ein Vaterlandskomplex mit Ladehemmungen.”

Anmerkungen

1) Die NATO in den 90er Jahren. Ein Sonderbericht des Ausschusses der Nordatlantischen Versammlung, Brüssel 1988, S.7 Zurück

2) So die in sich nicht widerspruchfreie, aber den »main stream« der Diskussion in den USA repräsentierende Studie Discriminate Deterrence. Report of The Commission on Integrated Long-Term Strategy, U.S. Government Printing Office, Washington D.C. 1988 Zurück

3) Vgl. Plattform der Europäischen Sicherheitsinteressen, in: Europa-Archiv 22/1987, S.D613-D616, hier S.D613 Zurück

4) Vgl. Oldag, Andreas, Allianzpolitische Konflikte in der NATO. Die sicherheitspolitischen Interessen der USA und Westeuropas, Baden-Baden 1985 Zurück

5) Weidenfeld, Werner, Bilanz der Europäischen Integration, in: ders./Wessels, Wolfgang, Jahrburch der Europäischen Integration 1981, Bonn 1982, S.26 Zurück

6) Vgl. »Feierliche Deklaration zur Europäischen Union«, in: Auswärtiges Amt (Hrsg.), Europäische Politische Zusammenarbeit. Dokumentation, S.352-364, hier S.362 Zurück

7) Vgl. Einheitliche Europäische Akte, in: Europa-Archiv 6/1986, S.D163-186, hier S.D176-D178. Zurück

8) Rede des amtierenden Vorsitzenden des Ministerrates der WEU, Außenminister H.-D. Genscher, vor der Versammlung der WEU in Rom am 29.10.1984, zit. n. Europa Archiv 24/1984, S.D 708-710, hier S.D 709 Zurück

9) Vgl. »Erklärung von Rom«, in: Europa-Archiv 24/1984, S.D 705-707 Zurück

10) Vgl. Plattform ..., a.a.O. Zurück

11) Vgl. Hintermann, Eric, European Defence: a Role for WEU, in: European Affairs 3/88, S.31-38 Zurück

12) Vgl. Statz, Albert, Eine Achse der Aufrüstung? Militärzwillinge Bundesrepublik/Frankreich, hrsg. von: Die GRÜNEN im Bundestag, Bonn 1988; Yost, David S., Franco-German Defense Cooperation, in: The Washington Quarterly 1/1988, S.173-195; Kaiser, Karl/Lellouche, Pierre (Hrsg.), Deutsch-französische Sicherheitspolitik. Auf dem Wege zu mehr Gemeinsamkeit?, Bonn 1986 Zurück

13) Vgl. Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Versammlung der Westeuropäischen Union, BT-Drs. 11/1546 Zurück

14) Vgl. Kennedy, Paul M., The Rise and Fall of Great Powers. Economic Change and Military Conflict from 1500 to 2000, New York 1987; Calleo, David, Beyond American Hegemony: The Future of the Western Alliance, New York 1987 Zurück

15) Vgl. Brzezinski, Zbignew, America's New Geostrategy, in: Foreign Affairs, Spring 1988, Vol. 66, S.680-699; Discriminate Deterrence ..., a.a.O., S.5-12; Tonelson, Alan, The Real National Interest, in: Foreign Policy No. 65, Winter 1985/86, S.49-68; Zurück

16) Vgl. Gray, Collin S., NATO: Time to Call it a Day?, in: National Interest No.10, Winter 1987/88; Calleo, David P., NATO's Middle Course, in: Foreign Policy No. 69, Winter 1986/87, S.135-147 Zurück

17) Discriminate Deterrence ..., a.a.O., S.33 Zurück

18) Vgl. Haftendorn, Helga, Transatlantische Dissonanzen. Der Bericht über »Selektive Abschreckung« und die Strategiediskussion in den USA, in: Europa-Archiv 8/1988, S.213-222; Howard, Michael/ Kaiser, Karl/de Rose, Francois, Differenzierte Abschreckung, in: Europa-Archiv 5/1988, S.129-131 Zurück

19) Vgl. ebd.; Schülert, Irene, Die Entwicklung der NATO-Strategie – auf dem Weg in die Kriegsführungsfähigkeit?, in: Heisenberg, Wolfgang/Lutz, Dieter S. (Hrsg.), Sicherheitspolitik kontrovers. Auf dem Weg in die neunziger Jahre, Baden-Baden 1987, S.260-270 Zurück

20) Vgl. Hunter, Robert E., Will the United States remain a European power?, in: Survival 3/1988, S.210-231 Zurück

21) Vgl.Brock, Lothar/Jopp, Mathias/Ropers, Norbert/Schlotter, Peter, France, Grat Britain and West Germany: Dissenting Promoters of Security in Western Europe, PRIF Reports No.4., Frankfurt a.M. 1989 Zurück

22) Hacke, Christian, Weltmacht wider Willen: die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1988, S.467. Den “neuen Größenwahn” (Arnulf Baring) dieses Weltmachtanspruchs verdeutlicht die Entlehnung des Titels bei Ernst Fraenkel (USA. Weltmacht wider Willen, Berlin/West 1957). Zurück

23) Vgl. Schwarz, Hans-Peter, Die gezähmten Deutschen. Von der Machtbesessenheit zur Machtvergessenheit, Stuttgart 1985, S.141. Zurück

24) Bertram, Christoph, Aufgaben und Perspektiven der Sicherheitspolitik Westeuropas in den neunziger Jahren, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 18/1988, S.3-11, hier S.7.Vgl. auch ders., Sicherheitspolitische Perspektiven für Westeuropa, in: Genscher, Hans-Dietrich (Hrsg.), nach vorn gedacht. Perspektiven deutscher Außenpolitik, Bonn 1987, S.91-111 Zurück

25) Vgl. Luard, Evan, A European Foreign Policy?, in:International Affairs 4/1986, S. 573-582 Zurück

26) Senghaas, Dieter, Die Zukunft Europas. Probleme der Friedensgestaltung, Frankfurt/M. 1986, S. 97 Zurück

27) Vgl. Weidenfeld, Werner, 30 Jahre EG. Bilanz der Europäischen Integration, Bonn 1987 Zurück

28) Vgl. Rummel, Reinhardt, Zusammengesetzte Außenpolitik, Westeuropa als internationaler Akteur, Kehl a.Rh., Straßburg 1982 Zurück

29) Zitiert nach: Assembly of the Western European Union, Document 1140, S. 7-10 Zurück

30) Siehe z. B. den Redebeitrag des Präsidenten der Versammlung der WEU, Charles Goerens, anläßlich einer Tagung der Versammlung in Florenz vom 21.-23. März 1989 über das Thema: ”Die Zukunft der Europäischen Sicherheit”, Assembly of Western European Union, General Affairs Committee, Paris, 1989, S. 12 Zurück

31) Zitiert aus NATO-Brief. Nr. 5, 1987, S. 20 Zurück

32) Willem F. Van Eekelen, Die Eurogroup und der Amerikanisch-Europäische Dialog, in; NATO-Brief, Nr. 4, 1988, S. 11 Zurück

33) Vgl. Eduardo Serra Rexach, Die unabhängige Europäische Programmgruppe auf dem richtigen Weg, in: NATO- Brief, Vol. 34, Nr. 5, 1986, S. 27 Zurück

34) In der Bundesrepublik ist dies der jeweilige HauptAbteilungsleiter Rüstung im BMVg Zurück

35) Der Tindemans- Bericht über die Europäische Union, in: Europa-Archiv, 31. Jg., Nr. 3, 1976, S. D64 Zurück

36) Londoner Bericht, in: Europa Archiv, 37. Jg. Nr. 2, 1982, S. D46 Zurück

37) Feierliche Deklaration zur Europäischen Union vom 21.6.1983, Bulletin 65, S. 602 Zurück

38) Vgl. Hans-Gert Pöttering, Vom Protest zum gemeinsamen Konzept. Sicherheits- und Abrüstungspolitik in der der EG, in: Das Parlament, Nr. 3, 13.1.1989, S. 8 Zurück

39) Zitiert in: Europäisches Parlament, Generaldirektion Wissenschaft und Dokumentation, Sicherheit und Rüstung: Die Rolle des Europäischen Parlaments in Verbindung mit der Arbeit der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Politischen Zusammenarbeit, Reihe Politik, Nr. 9, März 1985, mimeo, S. 2 Zurück

40) Vgl. EP-Sitzungsdokument 1978/79, Dok. 83/78 Zurück

41) Zitiert nach der Unterrichtung des Bundestages, Bundestagsdrucksache 11/4339, S. 6 Zurück

42) David Greenwood, Report on a Policy for Promoting Defence and Technological Cooperation among West European Countries for the Commission of the European Communities, mimeo, o. O., 1980 Zurück

43) Vgl. Jonathan Braude, EEC seeks to create single European Market, in: Jane's Defence Weekly, 28 May 19, 1988, S. 1044 Zurück

44)in Albert Statz, Militärzwillinge Bundesrepublik/Frankreich. Eine Achse der Aufrüstung?, Bonn 1988 Zurück

45) Dregger, Alfred, Europäische Sicherheitsunion, in: Europäische Wehrkunde 1/1989, S. 5 Zurück

46) Vgl. etwa die Vorstellungen bei David Greenwood, Errichtung der europäischen Säule: Fragen und Institutionen, in: NATO-Brief, Vol. 36, No. 3, 1988, S. 19 Zurück

47) Vgl. Peter Runge, Rüstungszusammenarbeit, Anspruch und Wirklichkeit, in: Wehrtechnik, No. 4, April 1988, S. 20 Zurück

48) Errechnet für Stand 31.8.1987, nach Wehrtechnik, Nr. 4, April 1988, S. 27 Zurück

49) Vgl. z. B. M. Brzoska, P. Lock und H. Wulf, Rüstungsproduktion in Westeuropa, Hamburg 1980 und Wulf, Herbert, Europäische Zusammenarbeit in der Rüstungsproduktion, in: Lothar Brock und Mathias Jopp (Hrsg.), Sicherheitspolitische Zusammenarbeit und Kooperation in der Rüstungswirtschaft in Westeuropa, Baden-Baden 1986 Zurück

50) Vgl. Runge, S. 26 Zurück

51) Vgl etwa Greenwood, S. 19 Zurück

52) Tebbe, Wolfgang, Internationale Rüstungskooperation, in: Wehrtechnik, April 1988, S. 30 Zurück

53) Towards a Stronger Europe, A Report by an Independent Study Team Established by Defence Ministers of Nations fo the Independent European Programme Group to Make Proposals to Improve the Competitiveness of Europe's Defence Equipment Industry, mimeo, Brüssel 1987 Zurück

54) Vgl. Kommunique der Minstertagung der IEPG in Luxemburg, Material für die Presse, herausgegeben vom BMVg, Bonn 18.11.1988 Zurück

55) Lothar Weber, Eine Wende des Denkens? Europäischer Rüstungsmarkt, in: Europäische Wehrkunde/WWR, Nr, 7, 1988, S. 399 Zurück

56) Wehrtechnik, Nr. 8, August 1988, S. 43 Zurück

57) Vgl. etwa U.S. Welcomes Changes in Europe, but fears of trade barriers lingers, in: Aviation Week und Space Technology, June 12, 1989, S. 127-137 (die gesamte Nummer der Zeitschrift ist dem Thema Binnenmarkt gewidmet) Zurück

58) Ein gewisse Ausnahme ist Großbritannien. Hier wird seit Anfang der 80er Jahre verstärkt auf Wettbewerb bei der Rüstungbeschaffung gesetzt, was bei der Rüstungsindustrie durchaus auf starke Kritik stöpßt. Siehe etwa Hall, S. 58 Zurück

59) Vgl. Greenwood S. 19 Zurück

Corinna Hauswedell ist Vorsitzende der IWIF, Bonn, Michael Broskza und Klaus Peter Weiner arbeiten als Friedensforscher und Politikwissenschaftler in Heidelberg bzw. Marburg