Kunst im Heft 4/2022
Industrial Scars
von J Henry Fair
Um zu verstehen, wie Gesellschaft funktioniert, bietet das Zusammenspiel von Geld, Macht und Ressourcen schon seit jeher einen guten Ansatzpunkt. Die Fotos in dieser Ausgabe von Wissenschaft und Frieden zeigen die Auswirkungen dieser Kräfte auf die Umwelt, von der wir alle für sauberes Wasser, Luft, Nahrung und ein stabiles Klima abhängen. Der Bedarf an Energie ist elementar für die menschliche Zivilisation, insbesondere seit der industriellen Revolution. Die
Menschheit neigt dazu, jede Energiequelle, die sie sich erschließt, vollständig auszubeuten, bevor sie zu einer anderen übergeht, die dann in der Regel eine noch zerstörerische Wirkung entfaltet als die vorherige.
Kohle wurde 1704 in Leipzig entdeckt, zeitgleich mit dem Aufblühen von Wissenschaft, Mathematik, Kunst und Technik – eine Verkettung, die zur kohlengetriebenen industriellen Revolution führen sollte.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass kohlenstoffbasierte Energieprozessketten so perfekt mit dem Kapitalismus ineinandergreifen: Jedes Kilo wird von Lohnarbeiter*innen abgebaut und dann mit Gewinn an ein anderes Unternehmen verkauft, das es zur Energieerzeugung verbrennt. Der Abbau und die Verbrennung hatten schon immer schädliche Auswirkungen vor allem auf die Arbeiter*innen und die Umwelt, Auswirkungen, die von den Profiteuren des Verkaufs ignoriert oder abgetan wurden. Ob es sich nun um Lungenkrankheiten bei den Bergleuten handelt, um Städte, die durch den Ruß der Kohlenverbrennung geschwärzt werden, oder um sauren Regen, der Gebäude zerstört und den Boden vergiftet – diese Auswirkungen wurden von den Kohlebaronen nur widerwillig erst dann korrigiert, als die Bürger*innen massenhaft protestierten.
Zu den großen Erfolgen der Bürger*innenproteste gehört der Marsch von 50.000 Europäer*innen zum Hambacher Forst 2018. Sie forderten ein Ende der Abholzung dieses uralten Waldes, nur um an den zerstörerischen fossilen Brennstoff zu gelangen, der darunter verborgen ist. Erst die konzertierte Aktion dieser großen Gruppe ernsthaft besorgter Bürger*innen konnte die deutschen Gerichte davon überzeugen, ihre früheren Urteile zu revidieren und die Abholzung dieses wertvollen Waldes zu stoppen.
Doch die Vergiftung der Umwelt geht weiter. Die Kohle aus dem Hambacher und dem nahe gelegenen Garzweiler Bergwerk wird in drei Kraftwerken zwischen Köln und Aachen verfeuert, die zusammengenommen die größte Quelle für Kohlenstoffemissionen in der EU sind. Sie sind auch die größten Verursacher von Verschmutzungen mit Quecksilber, Uran, Arsen, Dioxin, Blei und vielen anderen Giftstoffen. Die meisten Deutschen glauben, dass es sich bei den aus den Kühltürmen aufsteigenden Dampfschwaden um reinen Wasserdampf handelt – ein völliger Irrglaube. Die Vorschriften, die die Kraftwerksbetreiber dazu gezwungen hatten, den Schwefel, der sauren Regen erzeugt, aus den Emissionen zu waschen, erlaubten es ihnen im gleichen Moment, alle anderen Giftstoffe in die Kühltürme zu leiten, um sie mit dem Dampf in die Wolken zu befördern. Der Regen in der Umgebung von Köln ist also mit Quecksilber und einer Vielzahl anderer schädlicher Stoffe belastet.
Unsere Bequemlichkeit und Selbstgefälligkeit ermöglicht es den Profiteuren, daraus Nutzen zu ziehen: So war vor der Covid-19-Pandemie beispielsweise die deutsche Fluggesellschaft EasyJet einer der größten Verursacher von Kohlenstoffemissionen in Europa. Wir alle wollen billige Urlaubsflüge, und wir wollen nicht über die wahren Kosten nachdenken. Die wahren Kosten unserer Energieversorgung müssen auch die Auswirkungen auf die Systeme der Umwelt beachten. Diese Systeme sind komplex und zerbrechlich, und unsere Störungen führen zu katastrophalen Ergebnissen, die teilweise vorhersehbar sind, teilweise nicht.
Wenn die Menschen die Energiequellen ausgebeutet und erschöpft haben, die am einfachsten zu erreichen waren, neigen sie dazu, zur nächst einfacheren zu wechseln. Für Europa bedeutete das den Import von russischem Gas, das direkt von der Jamal-Halbinsel über eine Pipeline durch die Ukraine kommt. Was könnte einfacher sein? Doch dann entwickelten die USA die Fracking-Technologie zur Gewinnung von Schiefergas, und das überbewertete Potenzial dieser Ressource führte zu enormen Kapitalinvestitionen und damit zu einer Angebotsschwemme, die die Preise weit unter den Weltmarktpreis drückte. Da das Angebot in den USA größer war als die Nachfrage, bestand die einzige Hoffnung der Investoren auf Gewinne darin, das Gas auf dem Weltmarkt zu verkaufen, wobei Europa der offensichtliche Abnehmer war. Die Verbindung der deutschen Technologie mit den russischen Ressourcen war für die USA schon immer ein großes Problem. Ist es da ein Wunder, dass die NATO eine Politik der Trennung der traditionellen Satellitenstaaten von Russland verfolgte? Hat die NATO Putin in die Enge getrieben und sein Vorgehen auf der Krim und in der Ukraine erzwungen?
Wir stehen vor einer Krise ohne historischen Präzedenzfall. Dies ist der Moment, unsere Energieproduktion auf nachhaltige Quellen umzustellen. Es ist klar, dass die Regierungen auf Geld reagieren und nicht auf das Wohl der Gesellschaft. Unsere einzige Hoffnung ist ein gemeinsames und konzertiertes Handeln der Bürger*innen auf der ganzen
Welt. Wir können einen Wandel einfordern – und er wird eintreten.
J Henry Fair ist ein Fotograf und Geschichtenerzähler, der in New York und Berlin arbeitet und wann immer möglich den Zug nimmt. Mehr Informationen zu den Hintergründen der Bebilderung finden sich auf jhenryfair.com/wissen.
Heft 4/2022 geht dem grundsätzlichen Verhältnis zwischen unseren Wirtschaftsformen und Gewalt und Gewaltformen nach. Die Autor*innen fokussieren dabei auf eine grundlegende Kritik am Kapitalismus und führen Ansätze für eine mögliche Transformation aus.