Weniger Gigantomanie wagen

Weniger Gigantomanie wagen

Neuere Geschichte der Bundeswehr und mögliche Entwicklungsperspektiven

von Lutz Unterseher

Aus dem Rückblick auf die vergangenen 30 Jahre ergibt sich eine neuere Geschichte der Bundeswehr, die für den heutigen Zustand ausschlaggebend ist. Der Beitrag entfaltet diese zentralen Entwicklungen (Personalstärke, Finanzierung, Auftrag) seit 1990 und skizziert abschließend eine alternative Perspektive für den Weg voran. Für transformative Perspektiven auf die Organisierung der militärischen Friedenssicherung in der Zukunft müssen neue Impulse gesetzt und bestehende Praktiken in Frage gestellt werden.

Das Jahr 1990 bezeichnet das Ende der NATO-Phalanx in Mitteleuropa. Die Bundeswehr war mit ihrem Heer in das System der alliierten Korpsstreifen integriert. Es gab 36 stehende Brigaden und 11 des Heimatschutzes. Der präsente Umfang lag bei 470.000 Personen. Diese Streitmacht erforderte einen Verteidigungshaushalt von 52,5 Mrd. DM. Mit den Versorgungslasten, noch nicht in diesem Budget geführt, ergaben sich etwa 60 Mrd. DM. Damit machten die Ausgaben für die militärische Sicherung 3,6 % des Brutto-Inlandsproduktes (BIP) aus.

Mit der Übernahme der Reste der NVA schwoll der Personalbestand auf 600.000 an. 1991/92 begann dann ein Schrumpfungsprozess, 1999/2000 lag der Umfang bei nur noch 330.000. Zehn Jahre später, vor der Aussetzung von Wehrpflicht und Zivildienst, war der Bestand auf unter 250.000 gesunken.

Heute dienen 180.000 Frauen und Männer freiwillig in der Bundeswehr. Das Heer umfasst 10 Brigaden (Heimatschutzverbände gibt es nicht mehr). Der Verteidigungshaushalt beträgt rund 50 Mrd. €, mit den Versorgungslasten. Hinzu kommen 8,5 Mrd. €: die erste Tranche aus dem 2022 kreierten Sondervermögen von 100 Mrd. € zur Beseitigung vorgeblicher Finanzierungsdefizite der Streitkräfte. Auch mit diesem Zuschuss gilt die Bundeswehr für Politik und die meisten Medien immer noch als unterfinanziert.

Fast 60 Mrd. €: Damit liegen die Verteidigungsausgaben etwa beim Doppelten dessen, was 1990 ausgewiesen war – und das bei einer Schrumpfung des Personalbestandes auf unter 40 % der Ausgangsgröße. Sollte die damit gegebene Ausgabensteigerung pro Soldat*in nicht die Geldentwertung mehr als kompensiert haben?

Ein anderer Eindruck ergibt sich daraus, dass die Verteidigungsausgaben, einschließlich des Zuschusses aus der Wundertüte Sondervermögen, nur noch 1,5 % des BIP ausmachen: ein Absturz gegenüber 1990, weit entfernt vom Ziel, einen Anteil von 2 % zu erreichen.

Dies lässt aber nicht auf eine Unterfinanzierung der Bundeswehr schließen, sondern eher darauf, dass die Deutschen die Sicherheitslage für nicht sehr problematisch halten und dass es in der Konkurrenz um knappe öffentliche Mittel Anliegen gibt, die legitimer erscheinen als die des Militärs (siehe dazu auch Wulf, S. 11 in dieser Ausgabe).

Rettung

Als der Warschauer Pakt sich auflöste und die UdSSR von Russland beerbt wurde, fehlte der NATO plötzlich die Daseinsberechtigung. Dass Russland instabil war, in nun unabhängigen Staaten Truppen unterhielt (Armenien, Moldawien, Tadschikistan) und Nachbarn bedrohte (Georgien, Baltische Staaten), schien als Herausforderung unzureichend. Ein neues Handlungsfeld wurde gefunden: in Gestalt der bewaffneten Konflikte an der Peripherie des Bündnisses (Balkan) und der »Neuen Kriege«.

Die Orientierung vor allem an letzterem Phänomen wurde durch einen Diskurs gestützt, den Politolog*innen initiiert hatten (Creveld 1991, Kaldor 2000, Münkler 2002). Mit der Globalisierung würde die Regierungsautorität gerade in den ärmeren Ländern geschwächt, womit partikulare Interessen – im Bündnis mit internationalem Kapital – sich gestärkt sähen und zu eigenem Vorteil Bürgerkriege anzettelten. Zweierlei wurde insinuiert: Zum einen, dass die Dynamik der Globalisierung auch zu einer solchen der bewaffneten Konflikte führen müsse, und zum anderen, dass es im westlichen Interesse liege, in das entstehende Chaos mit militärischen Mitteln einzugreifen – aus humanitären, vor allem aber auch ökonomischen Gründen. Empirische Studien zeigten jedoch, dass die erhöhte Häufigkeit von Bürgerkriegen nach der Ost-West-Konfrontation deren Nachwehen geschuldet war und dass sich das Konfliktgeschehen danach auf ein deutlich niedrigeres Niveau einpendelte (AKUF 2008).

Doch die NATO erklärte bereits Anfang der 1990er, und die EU gegen Ende der 1990er Jahre, ihre Zuständigkeit für Engagements »out of area«. Dafür schuf die NATO das »Allied Rapid Reaction Corps«, das sich zu einem Koloss mit weit über 100.000 Soldat*innen aufblähte. Es ging um das Dabeisein, also Status. Strukturanpassungen zwecks Interventionsfähigkeit blieben aus. Das nächste Großgebilde war ein EU-Produkt. Die Mitgliedsländer beschlossen 1999, in Reaktion auf die Dominanz der USA im Balkankonflikt, den Aufbau einer respektablen Eingreiftruppe: Entsendung von bis zu 60.000 Soldat*innen innerhalb von 60 Tagen bei mindestens einem Jahr Stehzeit vor Ort. Auch dieses Konstrukt erwies sich als Papiertiger.

So begann man, kleinere Brötchen zu backen und die Süd- durch eine Ostorientierung zu ersetzen: gegenüber der perzipierten russischen Bedrohung. Es wurden verschiedene Formationen geboren, im Umfang zwischen einer Brigade und einer Division, die innerhalb weniger Wochen einsatzbereit sein sollten: die »EU Battle Groups« und die »NATO Response Force« sowie deren Teilelement, die »Very High Readiness Joint Task Force«.

Neue Aufgabe: Machtprojektion

Den Eingreifkontingenten würden von Fall zu Fall Luft- und Seekomponenten zugeordnet werden. Hierzu ist von US-Militärs die Konzeption der »jointness« entwickelt und von ihren europäischen Kamerad*innen willig übernommen worden. Angestrebt wird die Vernetzung von Land-, Luft- und – wenn erforderlich – Seestreitkräften, um in engster Kooperation optimalen Effekt auch gegen starken Widerstand erzielen zu können. Den Hintergrund bildet die Annahme, dass es darauf ankommt, geballte Kampfkraft über große Distanzen zu projizieren, etwa gegen einen »rogue state«. Die realen Interventionsszenarien, in denen Infanterie möglichst ohne »Bombenterror« in »taktischer Kleinarbeit« die Aufgabe der Konfliktdämpfung zu leisten hat, kommen in diesem Denkraster nicht vor.

Die Konzeption der »jointness«, die der Luft-, aber auch der Seekomponente große Bedeutung verlieh, wurde von den Vertreter*innen dieser Teilstreitkräfte im Verein mit der einschlägigen Rüstungsindustrie genutzt, ihre Ressourcen zu Lasten der Landkomponente zu mehren. Beispiel Bundeswehr: Im Kalten Krieg bekam das Heer, weil man vor allem eine Bedrohung zu Lande sah, die Hälfte der Investitionsmittel. Heute ist die Luftwaffe entsprechend privilegiert. Dabei sind doch die allermeisten Aufgaben in der Krisenreaktion, trotz »jointness«, weiterhin vom Heer bewältigt worden. Diese zweckwidrige Zuweisung von Mitteln ist der Hauptgrund dafür, dass der öffentliche Eindruck des »Ausblutens« der Streitkräfte entstand.

Interventionspraxis

Der erste Ferneinsatz der Bundeswehr, Somalia 1993, war peinlich – die logistisch zu unterstützende indische Brigade kam nie an – und rechtlich nicht abgesichert. Erst ein Jahr später ermöglichte das Bundesverfassungsgericht Missionen über die Landes- und Bündnisverteidigung hinaus, wenn ein positives Votum des Bundestages vorläge und es die Legitimierung durch ein System kollektiver Sicherheit gäbe. Das sind völkerrechtlich gesehen die Vereinten Nationen (VN) oder eines ihrer Regionalregime. Abweichend davon sah das Gericht aber auch die NATO, ein militärisches, kein politisches Bündnis, als Quell der Legitimität (Rauch 2006).

Auf so wackliger Rechtsgrundlage beteiligte sich die deutsche Luftwaffe 1999 mit 14 ihrer damals insgesamt 450 Kampfflugzeuge am NATO-Angriff auf Rumpf-Jugoslawien. Der Einsatz war seither der einzige dieser Teilstreitkraft, der über symbolische Präsenz oder Aufklärungsmissionen hinausging, die auch von anderen – kostengünstigeren – Instrumenten hätten wahrgenommen werden können.

Die Marine übernahm mit der Kampfmittelbeseitigung in der Adria nach der Bombenkampagne von 1999 eine wichtige Aufgabe. Im Übrigen wurde sie, in internationalem Verbund im Sinne symbolischer Präsenz (Seepatrouillen nach dem Libanonkrieg 2006) und etwa zum Schutz von Handelsschiffen gegen Piraten am Horn von Afrika eingesetzt (2008-2016).

Das Heer als Hauptträger der militärischen Krisenreaktion beteiligt sich seit 1999 – anfangs mit 6.000, gegenwärtig nur noch mit 70 Soldat*innen – an der von den VN legitimierten Überwachungsmission im Kosovo: unspektakulär, aber bedeutsam, weil damit nach Beendigung der Kampfhandlungen zumindest die akute Gewalt eingehegt bleiben konnte – zwar fragil, aber immerhin. Schon vorher hatte es mit kleineren Kontingenten die Beteiligung an ähnlichen Missionen gegeben: ab 1985 in Bosnien-Herzegowina und ab 1998 in Mazedonien (Keßelring 2023).

Es gab aber auch, im internationalen Verbund, den Einsatz von Bundeswehrkontingenten, vor allem des Heeres, in Ländern mit offener Gewalt: Afghanistan (2001-2021) mit bis zu 6.000 Soldat*innen und Mali (2013-2023) mit 450 (formell für Ausbildungsaufgaben). Beide Missionen scheiterten.

Empirische Studien legen nahe: Im ersten Fall fehlte es an Truppen. Zur – auch nur oberflächlichen – »Befriedung« wäre im Vergleich mit dem Insurgentenpotenzial ein Vielfaches erforderlich gewesen (Lange 2008). Westliche Demokratien, die militärisch intervenieren, scheinen zu einer solchen Truppenpräsenz offenbar nicht gewillt zu sein – oder es fehlt ihnen an der entsprechenden demokratischen Legitimierung für solche Einsätze. Und: Die Truppe muss Respekt vor der Kultur der Region haben. US-Kontingente und auch deutsche in Afghanistan und französische in Mali entsprachen dem nicht. Zudem muss es vor Ort einen verlässlichen politischen Partner von Autorität geben, mit dem die Ziele der Operation geteilt werden. In beiden Fällen, vor allem in Mali, fehlte dies. All dessen hätte sich das deutsche militärpolitische Establishment bewusst sein können.

Auf anderer Ebene liegen die Probleme, die – besonders in Afghanistan – die Bundeswehr mit ihrer Ausrüstung hatte. Ursachen waren nicht nur die Fehlallokation von Mitteln, sondern auch der Umgang von Militär und Industrie miteinander. Beispiel: Da von militärischer Seite kein Bedarf angemeldet wurde, musste die Industrie ein Minen-geschütztes Patrouillenfahrzeug im Alleingang entwickeln.

Aussetzung der Wehrpflicht

Die Wehrpflicht wurde 2011 suspendiert. Es war eine Augenblicksreaktion angesichts fiskalischer Probleme – versprach doch die Nicht-Einberufung von Wehrpflichtigen kurzfristig Entlastung. Dahinter stand aber ein Votum der sogenannten »Weizsäcker-Kommission«, die eine solche Aussetzung wenige Jahre zuvor erarbeitet hatte.

Ein Argument war dabei zentral: Auch ein demokratischer Staat darf nicht so einschneidend, wie es die Wehrpflicht ist, in die Entwicklung junger Menschen eingreifen – vor allem dann nicht, wenn dieser Eingriff unfair erfolgt (nur Männer nach immer weiter willkürlichen Kriterien einbezieht). Andere Argumente konnten weniger überzeugen (Ahammer und Nachtigall 2010):

  • Für Militärinterventionen sind Wehrpflichtige unbrauchbar, weil sie nur zur Landes- und Bündnisverteidigung herangezogen werden können. Aber was, wenn das Intervenieren nicht mehr »in« ist?
  • Technik macht Armeen vorgeblich leistungsfähig. Wehrpflicht bedeutet billige Arbeitskraft, was die Technisierung behindert. Aber: In vielen modernen Kriegsszenarien kommt es auf menschliches Handeln an – ob beim Peacekeeping oder infanteristischen Operationen in der heutigen Ukraine.
  • Fortschrittliche Militärtechnik ist so komplex, dass ihre Nutzung Längerdiener erfordert. Aber: Modernste Waffensysteme werden für einfache Bedienung konstruiert.

Situation nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine

Als Russland die Ukraine überfiel, reagierte Deutschland mit einem Rüstungsschub zur Stärkung der eigenen Streitkräfte: 100 Mrd. € Sondervermögen und Anstreben eines dauerhaften BIP-Anteils des Wehretats von mindestens 2 %. Zum Vergleich: An die Ukraine gingen Waffen und Gerät zu Kosten von bisher ca. 4 Mrd. €. Diese Politik wurde mit bürokratischen Prozeduren und damit begründet, dass nicht mehr Waffensysteme unmittelbar verfügbar seien, vor allem weil die Bundeswehr nichts aus eigenen Beständen hergeben könne: In der Krise dürfe man sie nicht schwächen (als wäre Deutschland unmittelbar bedroht).

Gigantische Mittel werden in die Streitkräfte gepumpt, ohne deren Strukturprobleme anzupacken, die ursächlich für die Misere des Verteidigungssektors sind: Bürokratie, sachfremde Rüstungsplanung und die Privilegierung der Luftwaffe zu Lasten vor allem des Heeres. Letzteres wird auch damit begründet, dass unter deutscher Ägide ein Europäisches Luftverteidigungssystem (European Sky Shield Initiative) aufgebaut werden soll: zum Ruhm des Landes und zur Irritation wichtiger Partner.

Mit dem Geldsegen dürfte auch weiterhin versucht werden, im Sinne der Statuskonkurrenz mit den größeren Nachbarn, die Präsenzstärke der Bundeswehr auf über 200.000 Soldat*innen zu heben. Ein unsinniges Unternehmen gegen die Demografie: Es beschert exponentiell steigende Kosten der Personalwerbung bei sinkender Verfügbarkeit der Applikant*innen. So ist es trotz aller Finanzspritzen sehr wahrscheinlich, dass die Bundeswehr auch künftig ein innenpolitischer Krisenherd sein und Fähigkeiten aufweisen wird, die eher Status- als Aufgabenbezug haben.

Alternativen auch denken – und handeln

Es lässt sich für eine friedenspolitisch weitsichtigere Politik eine Bundeswehr konzipieren (Unterseher 2023), die in ihrem Mittelbedarf im Rahmen der früheren Planung oder darunter bleibt und die dem Gemeinwesen substanziell mehr Luft für zentrale Aufgaben lässt: Sozialstaat, In­frastruktur, Bildung, Umweltschutz (vgl. auch Wulf, S. 11 in dieser Ausgabe und in 1/1983). Es geht um Streitkräfte, die – ohne andere zu provozieren – an wesentlichen Aufgaben orientiert sind: Heimatschutz, defensive Unterstützung von Nachbarn und Überwachung von Waffenstillstandsabkommen im Rahmen der VN (vgl. auch Mengelkamp 2023). Das Profil im Telegramm:

Zur Entlastung von kostenträchtiger Personalgewinnung: Verringerung der Präsenz auf höchstens 170.000. Verkleinerung des Umfanges von Streitkräftebasis, Marine und Luftwaffe zu Gunsten des Heeres durch Rationalisierung und präzisere Funktionsvorgaben. Reform des Beschaffungswesens: mehr Marktorientierung statt Eigensinn und Europawahn. Revision des Investitionsschlüssels. Reduzierung der fliegenden Kräfte der Luftwaffe um bis zu 50 Prozent – vor dem Hintergrund eines Überangebots an taktischen Kampfflugzeugen in der westlichen Allianz. Reorientierung der Marine von der Hochseepräsenz mit »Dickschiffen«, die es in der NATO im Überfluss gibt, zur flexiblen Randmeerkontrolle. Strukturreform des Heeres: statt des heutigen Wirrwarrs straffere Führung (Korps und Brigaden, Wegfall der personalintensiven Divisionsebene). Nur zwei Typen von Brigaden: 3-4 schwere für Ex­tremsituationen und 6-7 leichte, schnell verlegbare, die vor Ort nur in der Defensive bestehen können.

Es mag den Traum geben, dass die Irrationalismen des deutschen Verteidigungssektors sich eines Tages in einer großen Krise von selbst erledigen. Dies ist aber aus der Eigenlogik der Verteidigungsbranche heraus illusorisch – und teuer obendrein. Besser wäre es, die Streitkräfte, aufgabenorientiert und bezahlbar, am Leben zu erhalten, damit aber auch die Chance zu bekommen, unbeirrt durch Kassandrageschrei die Möglichkeit weiterer Abrüstungsschritte und die Einpassung in ein künftiges Europäisches Sicherheitssystem zu durchdenken. Dieser Aufgabe hat sich bislang noch niemand im Verteidigungssektor ernsthaft angenommen – es wird aber eine unabwendbare Aufgabe friedens­politischer Verantwortung sein.

Literatur

Ahammer, A.; Nachtigall, S. (2010): Wehrpflicht – Legitimes Kind der Demokratie. Berlin: BWV.

AKUF (2008): Das Kriegsgeschehen 2005. Daten und Tendenzen der bewaffneten Konflikte,hrsg. von W. Schreiber. Wiesbaden: Springer.

Creveld, M. van (1991): The Transformation of War. New York: Free Press.

Kaldor, M. (2000): Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Keßelring, A. (2023): Die Bundeswehr auf dem Balkan. Göttingen: V&R.

Lange, S. (2008): Die Bundeswehr in Afghanistan, SWP-Studie 9, Berlin.

Mengelkamp, L. (2023): Defensive Verteidigung. Orientierungshilfen aus den 1980ern. W&F 1/2023, S. 10-13.

Münkler, H. (2002): Die neuen Kriege. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt.

Rauch, A. M. (2006): Auslandseinsätze der Bundeswehr. Baden-Baden: Nomos.

Unterseher, L. (2023): Die Mär von der unterfinanzierten Bundeswehr. In Ebd. (Hrsg.): Russland und die Ukraine. Berlin: LIT, S. 44-51.

Lutz Unterseher, Soziologe und Politologe, war sicherheitspolitischer Berater und hat an Universitäten und Militärakademien im In- und Ausland gelehrt. Sachgebiete u. a. Militärtheorie, NS-System.

Haushalts-Déjà-vu

Haushalts-Déjà-vu

Heute und vor 40 Jahren: Weniger Geld für Soziales, Spendierhosen für die Streitkräfte

von Herbert Wulf

Mit der »Zeitenwende« wird der militärischen Priorität im Haushalt fast alles untergeordnet. Trotz drängender sozialer Probleme steigt, wie schon früher, der Haushalt für die Bundeswehr. Neben den Steigerungen des regulären Haushalts gibt es ein »Sondervermögen« von 100 Mrd. €. Es ist ein Mythos, dass der Zustand der Streitkräfte aufgrund mangelnder Finanzen so miserabel ist. Vielmehr sind Bürokratie, Überteuerung deutscher Waffen und Fixierung auf Hochtechnologie die Ursache. Solange es keine solide friedens- und sicherheitspolitische Diskussion gibt, wird sich hieran kaum etwas ändern.

Wenige Tage nach Russlands Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz die »Zeitenwende«. Da die Grundfesten der europäischen Sicherheitspolitik erschüttert waren, musste der Schalter sofort umgelegt werden. Die von ihm konstatierte Vernachlässigung der Bundeswehr sollte revidiert werden, um endlich die der NATO zugesagte Verpflichtung einzuhalten, 2 % des Bruttosozialproduktes für die Streitkräfte auszugeben. Um dieses Ziel zu erreichen und gleichzeitig die im Grundgesetz verankerte »schwarze Null« zu halten, müssen leider andere Ausgaben gekürzt oder zumindest in Grenzen gehalten werden: Kindergrundsicherung, Demokratieförderung, Pflege, Entwicklungshilfe usw. Überall wird gespart und gekürzt, nur nicht beim Etat der Bundeswehr.

Ist das das Resultat der propagierten »Zeitenwende«? Soll diese Politik die Probleme Deutschlands lösen: die wirtschaftliche Schwäche, den schleppend umgesetzten Klimaschutz, Wohnungsnot, Bildungsnotstand, Krankenhausdefizite, die beschämend langsame Digitalisierung?

Déjà-Vu: Rüstung und Sozialabbau vor 40 Jahren

Liebe Leser*innen, hier unkommentiert sechs Zitate aus dem allerersten Heft von Wissenschaft und Frieden im Jahr 1983, also vor genau 40 Jahren:

„Kürzungen im Verteidigungshaushalt vorzunehmen und soziale und wirtschaftliche Probleme wie Arbeitslosigkeit, mangelnde Studienplätze, zu große Klassen in den Schulen, steigende Gesundheitskosten, Wohnungsnot, Energieversorgungsengpässe, Unterentwicklung in der dritten Welt usw., durch kräftige Ausgabenerhöhungen bei den zuständigen Ressorts anzupacken – diese Möglichkeit wird in den westlichen Industrieländern von der politischen Führung nirgendwo ernsthaft in Erwägung gezogen.“

„In der Bundesrepublik ist die Umschichtung knapper staatlicher Mittel zugunsten des Militärapparates keine pessimistische Zukunftsahnung, sondern Realität.“

Für Rüstung „mußten immer wieder zusätzliche Finanzmittel bereitgestellt werden. Finanziert wurden die drei außerplanmäßigen Erhöhungen […] durch Kürzungen vor allem in den Haushalten Verkehr, Arbeit und Soziales, Forschung und Entwicklung; Rüstungsmehrausgaben schlagen sich also auch bei uns unmittelbar in gekürzten Ausgaben in anderen Bereichen nieder.“

„Der Haushalt ‚Verteidigung‘ stieg überdurchschnittlich. Von Kürzungen wie gelegentlich in der Presse behauptet – kann keine Rede sein…“

„Während die Politik des Sozialabbaus bei gleichzeitiger Aufrüstung in den USA meist mit einer offensiven Ideologie von den Konservativen vertreten wird, ging man in der Bundesrepublik zunächst verschämt daran, Sozialleistungen und Arbeitslosenunterstützung zu kürzen und sprach verharmlosend von der Beseitigung bestimmter Auswüchse. Inzwischen wird aber auch bei uns das ‚Anspruchsdenken‘ gegeißelt und ‚Opferbereitschaft‘ verlangt, um die Rahmenbedingungen für einen Aufschwung zu schaffen.“

„Auch heute geht es also um mehr als eine oberflächliche ‚Sparpolitik‘; eine staatlich geförderte Haushaltsstrategie dient der Pflege des privatwirtschaftlichen Wachstums mit der Betonung von Großtechnologie, Rüstung und internationaler wirtschaftlicher Expansion. Daß durch diese Politik das soziale System verletzt und die Lebensqualität der Bevölkerung verschlechtert wird, ist in den Hintergrund gedrängt worden.“ (alle zitiert nach Wulf 1983)

Manche der Aussagen und Analysen klingen wie Echtzeit 2023. Die Parallelen zu heute sind offensichtlich.

Zeitenwende oder Panikpolitik?

Anfang September 2023 debattierte der Bundestag den Haushaltsentwurf 2024. Bereits im Vorfeld hatte Finanzminister Christian Linder eines deutlich gemacht: Eine weitere Umverteilung zugunsten des Sozialstaates dürfe es nicht mehr geben. Bei der beschlossenen Kindergrundsicherung handele es sich um die letzte sozialpolitische Reform für die nächsten Jahre. Eine kritische Kolumne in der Süddeutschen Zeitung bringt die Essenz dieser Politik auf den Punkt: „Die mickrigen Beträge für Kindergrundsicherung sind eine Schande. Wer die Sozialpolitik einfriert, friert die Demokratie ein […]. Das Ergebnis dieser Debatte ist ärmlich: Der Betrag, der für diese Sicherung nach langem Hin und Her in der Ampelkoalition ausgegeben werden soll, verhöhnt den Namen ‚Grundsicherung‘ – es sind 2,4 Milliarden. Damit wird gesichert, dass alles so bleibt, wie es ist: Die armen Kinder bleiben am Rand der Gesellschaft.“ (Prantl 2023) Auch beim Klimaschutz fehlen die Mittel und die Bundesregierung verheddert sich im Streit über den richtigen Weg.

Der militärischen Priorität wird im Haushalt für die kommenden Jahre fast alles untergeordnet. Bei Kürzungen ist der Verteidigungsetat ausdrücklich ausgeschlossen (BMF 2023). Es beginnt schon mit dem Namen »Sondervermögen Bundeswehr«. Außerhalb des regulären Haushaltes 100 Mrd. € für die Bundeswehr bereitzustellen und diese weitgehend kreditfinanzierte Maßnahme als »Vermögen« zu bezeichnen, kann man getrost als Orwellschen »Neusprech« bezeichnen.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Die Neuausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik ist durch den Krieg Russlands eine dringende Notwendigkeit. Auch die Bundeswehr, als Rückgrat der Verteidigung, bedarf der Reform und neuer strategischer Ausrichtung (vgl. Unterseher in dieser Ausgabe). Doch dies vor allem durch mehr Geld in Angriff zu nehmen, führt zur Verschwendung knapper Ressourcen. Jetzt ist vorrangig eine friedenspolitische und strategische Debatte über die künftigen Aufgaben der Bundeswehr nötig, nicht aber eine riesige Geldspritze.

Natürlich kann die Bundeswehr mehr finanzielle Mittel gebrauchen, um Panzer, Hubschrauber, Schiffe, Kampfflugzeuge oder Drohnen zu beschaffen. Aber für welchen Zweck? Um weiterhin Auslands­einsätze zu ermöglichen oder sie effizienter zu gestalten? Die Auslandseinsätze sind nach den Erfahrungen in Afghanistan und Mali gescheitert. Geht es jetzt um den in unserer Verfassung verankerten Auftrag zur Landesverteidigung? Um die Ostflanke der NATO? Um Solidarität mit der Ukraine? Und soll dies im Rahmen einer auch militärisch unterfütterten Rolle der EU passieren, wie schon länger vom französischen Präsidenten Macron gefordert wird? Oder geht es etwa sogar zusammen mit den USA um den Stopp der chinesischen Marineaktivitäten im Südchinesischen Meer? Oder gegen die Iraner in der Straße von Hormus, wenn »unsere« Ölversorgung bedroht werden sollte? Angesichts der völlig neuen sicherheitspolitischen Lage muss zunächst einmal das Aufgabenspektrum der Bundeswehr geklärt sein, bevor Geld mit vollen Händen ausgegeben wird (Wulf 2022).

Es gibt überhaupt keinen Grund, überstürzt ein so riesiges »Sondervermögen Bundeswehr« zu initiieren. Der Krieg in der Ukraine wird dadurch keinen Tag früher enden und die Neuausrichtung der Bundeswehr geschieht ebenso wenig kurzfristig.

Wider die Mythen

Aber, so heißt es, die Bundeswehr ist unterfinanziert; sie wurde kaputt gespart. Kampfflugzeuge sind nur bedingt einsatzfähig, U-Boote tauchen nicht, die schon lange avisierten Fregatten werden nicht ausgeliefert, Hubschrauber und Lufttransportkapazitäten sind Mangelware. Ersatzteile fehlen an allen Ecken und Enden. Die Maschinengewehre taugten nicht bei den hohen Temperaturen in Afghanistan und Mali. Es fehlt an warmer Kleidung und Zelten. Die Liste ließe sich fortsetzen. Dies ist aber nicht eine Folge fehlender Finanzierung.

Die deutschen Ausgaben für Verteidigung (nach NATO-Kriterien) stiegen seit 2014 von 34,7 Mrd. € auf 57,7 Mrd. € im Jahr 2022 (vgl. NATO 2023a, S. 157). Das ist ein satter Anstieg um 66 % in acht Jahren. Es ist ein Mythos, dass die Bundeswehr schlecht ausgerüstet ist, weil sie zu wenig Geld bekommt. Im Haushalt 2024 ist für die Bundeswehr eine Erhöhung des Etats um 1,7 Mrd. € vorgesehen. „Aus dem Sondervermögen Bundeswehr stehen darüber hinaus rund 19,2 Milliarden Euro bereit.“ (BMVG 2023)

Mangelnde Finanzen sind nicht das eigentliche Problem, sondern verkrustete Strukturen bei der Beschaffung, strukturelle Defizite bei Entwicklung, Produktion und Beschaffung und erhebliche zeitliche Verzögerungen bei der Auslieferung der bestellten Waffen.

Beispiele zum Beleg dieser miserablen Lage gibt es allenthalben. Die Probleme des Lufttransportflugzeugs A400 sind ein Paradebeispiel für verzögerte und überteuerte Lieferung, zudem unterhalb der zugesagten Leistungen. Seit sich das Parlament erstmals mit dem Transportflugzeug befasste, hat sich das Vorhaben um mehr als zwölf Jahre verzögert. Noch immer sind die Flugzeuge nicht ausgereift, ein Armutszeugnis für den Hersteller. Dies ist nicht das einzige Gerät, mit dem sich die Luftfahrtindustrie verhoben hat und damit die Bundeswehr in Schwierigkeiten bringt. Deutliche Parallelen zeigen sich beim deutsch-französischen Transporthubschrauber NH90. Das Verteidigungsministerium bezifferte 2018 die durchschnittlichen zeitlichen Verzögerungen bei Großprojekten auf fünf Jahre und drei Monate.

Dieser Zustand hat sich anscheinend durch die »Zeitenwende« überhaupt nicht verändert. Der jüngste »Schildbürgerstreich« (wie ihn die Tagesschau am 26.9.2023 bezeichnete) ist der Kauf digitaler Funkgeräte, die für 1,3 Mrd. € von einem deutschen Hersteller beschafft wurden, obwohl nicht gewährleistet ist, dass die Geräte in den vorgesehenen Fahrzeugen überhaupt eingebaut werden können.

Zweifellos bedarf also die Bundeswehrbeschaffung dringend einer gründlichen Reform. Sie ist auch schon mehrfach angekündigt worden. Doch die bisherigen Reformvorhaben wurden nur kümmerlich umgesetzt. Es gibt vor allem drei Gründe für die Misere der Bundeswehr:

(1) Bürokratische Strukturen verkomplizieren und verzögern die Beschaffungsabläufe. Rund 11.000 Mitarbeiter*innen arbeiten beim Bundesamt für Beschaffung der Bundeswehr. Mitte 2023 betrug die Zahl der Soldat*innen (Berufs- und Zeitsoldat*innen sowie Wehrdienstleistende) 181.000. Ein Verhältnis von einem Mitarbeiter des Beschaffungsamtes für 16 Soldat*innen. Vielleicht könnte man hier den Rotstift ansetzen.

(2) Beschaffung überteuerter deutscher Waffen: Es hat zwar oft Bekenntnisse zur Auswahl der besten Systeme für die Bundeswehr gegeben. In der Praxis wurde aber immer darauf geachtet, dass deutsche Firmen möglichst bei der Auftragsvergabe berücksichtigt werden, auch wenn dann bei der Leistungsfähigkeit der Systeme, bei den Terminen der Auslieferung und auch beim Preis Kompromisse gemacht werden mussten.

(3) Rüstungsbarock: Bei der Beschaffung von Rüstung existiert ein Hang zur Verwendung von Hochtechnologie, ein Trend, der in den USA und der dortigen Rüstungswirtschaft auch als »over engineering«, »gold plating« oder als »Rüstungsbarock« beschrieben wird (Kaldor 1981). Immer mehr Technologie wird in ein Waffensystem gepackt. Dies geschieht einerseits, weil die Streitkräfte auf dem neuesten Stand der Technik sein möchten, und andererseits, weil die Rüstungsindustrie zur Selbstüberschätzung der eigenen technologischen Leistungsfähigkeit neigt. Das Ergebnis: Wegen der immer neuen technologischen Anforderungen »muss« die Industrie den ursprünglich anvisierten Preis des Waffensystems anheben. Michael Brzoska spricht vom „Hang zum Unmöglichen“ und konstatiert neben der Interessenallianz auch „Interessenkollisionen zwischen Militär und Rüstungsindustrie“ (Brzoska 2020, S. 158).

Das 2 %-Ziel: Tanz um das goldene Kalb

Fehlende Finanzen sind, wenn überhaupt, also nur ein Teil des Problems. Deshalb ist es auch falsch, jetzt den Schwur zu tun, in Zukunft das 2 %-Ziel der NATO nicht nur einzuhalten, sondern zu übertreffen. Das ist Symbolpolitik.

Es ist grundsätzlich falsch, eine volkswirtschaftliche Größe wie die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts zum zentralen Kriterium verteidigungs- und sicherheitspolitischer Entscheidungen zu machen. In der Logik dieses 2 %-Ziels liegt das sicherheitspolitisch absurde Ergebnis, dass in einer florierenden Wirtschaft dieses Ziel schwer zu erreichen ist, bei wirtschaftlichem Niedergang aber fast automatisch erzielt wird. Als Satiriker könnte man fragen: Hatte die Ampelregierung beim Versprechen an die NATO etwa den wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands im Blick?

Deutlich wird diese Absurdität am Beispiel Griechenland. Das Land erreichte 2018 mit Verteidigungsausgaben in Höhe von 2,3 Prozent das NATO-Ziel locker, obwohl der Haushalt für die Streitkräfte in den Jahren davor schrumpfte. Inzwischen gibt Griechenland 3,0 Prozent des Bruttosozialproduktes für die Streitkräfte aus (vgl. NATO 2023b, S. 3). Das Schrumpfen der Wirtschaft war in Griechenland eben noch ausgeprägter als die Kürzungen im Verteidigungsetat während der Krise. Das 2 %-Ziel ist daher ein untaugliches Kriterium für sachorientierte sicherheitspolitische Entscheidungen. Es ist ein Fetisch. Der Fraktionsvorsitzende der SPD Rolf Mützenich formulierte im Juli 2019: Es ist „ein Tanz ums goldene Kalb.“ (Wulf 2019).

Der richtige Weg wäre, die heutigen und mögliche künftige Herausforderungen und Gefährdungen zu benennen und die zur Abwehr erforderlichen Kapazitäten aufzubauen. Dies mag zwar erforderliche Ausrüstung für die Bundeswehr mit einbeziehen, fokussiert dann aber nicht nur militärische Kapazitäten. Dies setzt aber eine strategische und friedenspolitische Debatte voraus, die nicht mit der bloßen Verabschiedung einer Nationalen Sicherheitsstrategie erledigt ist. Hieraus ergibt sich dann auch der finanzielle Rahmen, der gegebenenfalls unter oder auch über 2 % des Bruttoinlandsproduktes liegen kann. Jetzt aber wird das Pferd von hinten aufgezäumt: Zuerst werden Finanzmittel bereitgestellt, um dann anschließend zu entscheiden, wozu sie eingesetzt werden sollen.

Mehr Geld ist nicht gleich mehr militärische Leistungsfähigkeit oder Effizienz. Die Höhe des Haushaltes oder des Prozentsatzes am BIP sagen überhaupt nichts über die militärischen Fähigkeiten der Streitkräfte aus. Plakativ ausgedrückt: Mehr Geld ist nicht gleich mehr Sicherheit. Bei aller Dramatik der Ereignisse seit Februar 2022 sollte man jetzt nicht in Panik oder Schockstarre Entscheidungen treffen. Ausgaben für die Streitkräfte stellen noch keine wirksame Sicherheitspolitik dar. Es ist für den Zusammenhalt und die Sicherheit unserer Gesellschaft im Inneren und für die Kooperation im Äußeren keine kluge und überzeugende Politik, im sozialen Bereich und in friedens- und entwicklungspolitischen Haushaltstiteln zu kürzen.

Literatur

Brzoska, M. (2020): Mythos: „Die Bundeswehr ist schlecht ausgerüstet, weil sie zu wenig Geld bekommt“. Die Friedens-Warte 92(3-4), S. 157-161.

Bundesministerium der Finanzen (BMF) (2023): Regierungsentwurf für den Bundeshaushalt 2024 und Finanzplan bis 2027. Für eine verantwortungsvolle und zukunftsorientierte Finanzpolitik: Ausgaben priorisieren, Investitionen stärken. Pressemitteilung 09/2023, 5.7.2023.

Bundesministerium der Verteidigung (BMVG) (2023): Verteidigungsetat 2024 wächst um 1,7 Milliarden Euro – NATO-Quote wird erreicht. Aktuelles, 06.07.2023.

Kaldor, M. (1981): Rüstungsbarock. Das Arsenal der Zerstörung und das Ende der militärischen Techno-Logik. Berlin: Rotbuch.

NATO (2023a): The Secretary General’s Annual Report 2022. Brüssel.

NATO (2023b): Defence Expenditure of NATO Countries (2014-2023). Pressemitteilung, 7.7.2023.

Prantl, H. (2023): Kinder sind wichtiger als die schwarze Null. Süddeutsche Zeitung, 1. September 2023.

Wulf, H. (1983): Sozialabbau und Rüstung. Informationsdienst Wissenschaft und Frieden 1/1983, S. 11ff.

Wulf, H. (2019): Das goldene Kalb der AKK. IPG-Journal, 25.7.2019.

Wulf, H. (2022): Panikpolitik. IPG-Journal, 15.3.2022.

Prof. Dr. Herbert Wulf ist ehemaliger Leiter des Bonn International Center for Conflict Studies (BICC). Er ist heute Fellow am BICC und am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) an der Universität Essen/Duisburg. Er war von 2001 bis 2008 Vorsitzender von W&F.

Wissenschaft für den Frieden

Wissenschaft für den Frieden

von Hans-Jörg Kreowski

konfliktsensitiv
Sicherheitsstrategie
Sicherheitssektor
Entscheidungssysteme
Wirtschaftssanktionen

gläsernes Gefechtsfeld
Informationsrevolution
Peace Worker
Friedensbildung
Unlock Europe

wissenschaftshistorisch
feministische Außenpolitik
Konfliktforschung
Klimakrise
Violence & Vulnerabiliy

gewaltfrei
criticality
Friedensinformatik
Friednsbewegung
5 vor 12

bebildert
quo vadis
verifiziert
soziale Verteidigung
Nachhaltigkeit

ELSA
Zivilgesellschaft
Neo-Kolonialismus
digitale Ära
Grundrecht

humanitäres Völkerrecht
Friedenslogik
elicitiv
Abrüsten
Angriffskrieg

Konfliktivität
Afroplanetarismus
vom 100. ins 1000.
Wannseeerklärung
Lösungsvorschläge

Wissenschaft für den Frieden

Hans-Jörg Kreowski, 7. Oktober 2023.
Das Gedicht ist inspiriert von der konkreten Poesie. Seine Konstruktion ist einfach: Jedem Titel aus dem Programm des Symposiums »Wissenschaft für den Frieden« ist ein signifikanter Begriff entnommen, und die Begriffe sind dann zu Fünfergruppen zusammengestellt. Da die Wahl der Begriffe nicht eindeutig ist, hätten auch andere Gedichte entstehen können.

Von 1983 bis heute

Von 1983 bis heute

Impulse aus einem wissenschaftshistorischen Dialog

mit Eva Senghaas-Knobloch und Jürgen Altmann

Im Rahmen der Feierlichkeiten zum 40. Jubiläum von W&F wurde kein Festvortrag gehalten. Stattdessen unterhielten sich mit Prof. Dr. Eva Senghaas-Knobloch (Bremen) und PD Dr. Jürgen Altmann (Dortmund) zwei profilierte Kenner*innen der Entwicklung der akademischen Friedens- und Konfliktforschung wie auch der Friedensbewegung auf dem Podium über ihre ganz persönlichen Geschichten von 1983 bis heute. Um die Szene zu setzen, wurde vor dem Gespräch ein kurzer Zusammenschnitt eines Tagesschau-Berichts vom 22. Oktober 1983 gezeigt: Menschenkette über die Schwäbische Alb gegen die Pershing-II-Stationierung, Demonstration im Bonner Hofgarten zum Nachrüstungsbeschluss u.a. Dies ist ein nachbearbeitetes Transkript des Gespräches, das von W&F Vorstandsmitglied Dr. Michaela Zöhrer moderiert wurde.

Michaela Zöhrer (Moderation): Ich würde gerne im Jahr 1983 starten, in dem Jahr also, aus dem wir gerade beeindruckende Bilder von Massenprotesten gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen auf westdeutschem Boden gesehen haben. Wie habt ihr diese Zeit erlebt? Was hat euch damals bewegt, was ihr auch den Jüngeren unter uns mit auf den Weg geben wollt?

Jürgen Altmann: Ja, 1983. Bei mir hat Gesellschaftskritik deutlich früher angefangen. Als ich 1970 zum 3. Semester des Physikstudiums nach Hamburg kam, war die Ur-Achtundsechziger-Geschichte schon in vollem Gang, zunächst in den sozialwissenschaftlichen Fachbereichen, dann auch in der Physik. Mich hat es in die linke Ecke verschlagen. Mit vielen anderen habe ich bei Studienreformen mitgemacht, z.B. Orientierungseinheiten für Erstsemester mitgegründet, in Fachschaft und Fachbereichsrat mitgearbeitet. Dabei hat die Friedensfrage eher am Rande eine Rolle gespielt. Das hat sich dann später geändert, als nämlich die neue Friedensbewegung bundesweit anfing. Da waren wir in der Naturwissenschaft zunächst Nachzügler*innen. Wir haben das Problem erst eine Weile nicht so richtig verstanden, aber dann ging es los, speziell bei uns in der Physik in Marburg (wo ich seit 1980 war): uns zu fragen, wenn jetzt hier über die sogenannte Nachrüstung diskutiert wird, in Westeuropa nukleare Marschflugkörper und Pershing-II-Raketen zu stationieren, um ein Gegengewicht zu haben gegen die SS-20 in der Sowjetunion, hat das etwas mit Physik zu tun? Natürlich sind die Atombomben von Leuten aus der Physik erforscht und zum Funktionieren gebracht worden. Aber hatte das auch heute noch eine Bewandtnis? Dazu haben wir 1981 ein Seminar veranstaltet, »Physik und Rüstung«, und daraus auch ein Buch gestaltet im Selbstverlag, das gut 12.000 mal in Deutschland verbreitet wurde. Dabei haben wir gemerkt, dass auch die aktuelle Aufrüstung noch viel mit Physik zu tun hatte. Wir haben uns einerseits mit den Techniken der verschiedenen Waffensysteme beschäftigt und uns andererseits an die allgemeine Friedensbewegung angeschlossen, an Demonstrationen in Bonn teilgenommen usw. Es gab eine große Bewegung in der Naturwissenschaft in Deutschland, mit Dutzenden von Naturwissenschaftler*innen-Friedensgruppen, Ringvorlesungen, überörtlichen Vereinigungen und großen Kongressen. Daran hatten wir – auch durch dieses Buch – einen erheblichen Anteil.

Eva Senghaas-Knobloch: 1983 war auch das Jahr, das das Ende der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung (DGFK) bedeutete, aufgrund einer zunehmenden Gegnerschaft in den Kreisen der CDU/CSU – innenpolitisch gegen die Orientierung auf Konfliktanalyse, außenpolitisch gegen die Entspannungspolitik – ausgehend von Baden-Württemberg und Bayern. Die DGFK war ein innovatives Bund-Länder-Vorhaben der damaligen sozialliberalen Koalition, das meines Erachtens nur noch mit dem »Humanisierung des Arbeitslebens«-Programm vergleichbar war. Es verfolgte die Idee, auch gesellschaftliche Kräfte bei neuen gesellschaftspolitisch relevanten Forschungsfragen einzubeziehen, also Gewerkschaften, Arbeitgeber, Konfessionen, neben den Wissenschaften und Parteien. Während so in einem Kuratorium übergreifende Fragen behandelt wurden, entschied eine kleine Kommission über konkrete Forschungsförderung. Daneben gab es ein Konzil der Friedensforscher und Friedensforscherinnen; wir hatten noch eine Initiative zur Beachtung besonders drängender Fragen initiiert. Das hat aber am Ende nichts genutzt, weil der Austritt wichtiger Länder aus der Bund-Länder-Konstruktion das Aus bedeutete.

Was mich selbst anbetrifft, habe ich mich erinnert an eine APUZ-Beilage der Bundeszentrale für politische Bildung von 1970. Da waren Carl Friedrich von Weizsäcker und ich mit Beiträgen vertreten; er schrieb über die nukleare Abschreckung, vor allem mit Blick auf physikalische Zusammenhänge. Es ging ihm um »Damage Assessment«, also die Abschätzung der Zerstörungen bei einem Einsatz von Nuklearwaffen. Und ich hatte über internationale Organisationen geschrieben. Das waren ziemlich gegensätzliche Blickweisen auf Konflikte in den internationalen Beziehungen. Obwohl er vieles über Schäden und Nichtverteidigungsfähigkeit im Detail ausgeführt hatte; Weizsäcker hat nukleare Abschreckung weiterhin befürwortet: Es ginge nicht anders, wir müssten jetzt noch diese Abschreckung im Sinne der Abhaltung von Angriffen leider weiterhin haben. Ich habe demgegenüber versucht zu betonen: Welche Möglichkeiten bestehen zur Verbindung zwischen den Staaten? Wie kann man Brücken bilden? Und welche Probleme und Konflikte tauchen dabei auf? Das war 1970.

In den 1980er Jahren, beginnend in den 1970er Jahren, war aber das Kapitel Ost-West-Konflikt schon komplementiert durch die Nord-Süd-Konfliktlage. Es gab den Anspruch des Globalen Südens, wie wir heute sagen würden, auf eine »Neue Weltwirtschaftsordnung«. Zugleich gab es real eine neue internationale Arbeitsteilung, die im Grunde genommen eine neokoloniale Arbeitsteilung war: Austausch von Rohstoffen gegen Fertigprodukte und Nutzung billiger Arbeitskräfte für Vorprodukte. Man weiß inzwischen, dass das kein Entwicklungsprojekt ist.

Michaela Zöhrer: Ich hake mal kurz bei dir, Jürgen, nach: Ich habe dich so verstanden, dass bei dir diese Phase Anfang der 1980er Jahre – also das Entstehen oder das Aufkommen der neuen Friedensbewegung – auch entscheidend war für deine Auseinandersetzung mit friedenswissenschaftlichen Fragestellungen als Physiker. Habe ich dich richtig verstanden?

Jürgen Altmann: Ja, friedenswissenschaftlich in dem Sinne, dass man selbst forscht und sich nicht nur zu eigen macht, was im Wesentlichen einige wenige aktive Kollegen – Kolleginnen gab es nicht viele – in den USA herausgefunden und dann auch aufklärend an die Öffentlichkeit gebracht haben. Da ist zu nennen die Bewegung gegen die Aufstellung von Raketenabwehrsystemen in den USA. Dabei haben Leute wie Richard Garwin und Hans Bethe, die beide am Manhattan-Projekt beteiligt gewesen waren, in den späten 1960 Jahren versucht, die US-Öffentlichkeit aufzuklären, dass Abwehrsysteme zwar defensiv klingen, aber eine Menge Probleme mit sich bringen: Zündung nuklearer Explosionen im eigenen Land, leichte Umgehung durch Aufbau von mehr Raketen. Auch in den 1980er Jahren gab es von einigen US-Kollegen Veröffentlichungen, zum Beispiel dazu, wie ein Marschflugkörper gelenkt wird. Solche Analysen haben wir uns erarbeitet oder nachgearbeitet und in dem Buch veröffentlicht.

1984 ging meine Höchstbefristungsdauer in Marburg zu Ende. Wir hatten die Erfahrung gemacht, dass es sinnvoll sein kann, sich in der Physik mit neuer Rüstungstechnik und ihren Problemen zu beschäftigen und auch mit den Möglichkeiten, sie zu begrenzen. Ich habe mich gefragt: Es kann doch kein Naturgesetz sein, dass solche Rüstungstechnik-kritischen Artikel nur in den USA geschrieben werden. Können wir das nicht auch? Dann kam ein Ein-Jahres-Stipendienprogramm der Volkswagenstiftung zu Fragen der Rüstungskontrolle. Ermuntert wurden auch Personen aus Disziplinen, die traditionell nichts mit Rüstungskontrolle zu tun haben. Dort haben sich zwei Physiker aus Marburg beworben, Jürgen Scheffran und ich, und wurden sofort genommen. Wir haben ein Jahr lang unsere Projekte bearbeitet (meins ging um Laserwaffen im Weltraum) und wurden mehr oder weniger ermuntert, das in anderer Form und systematischer weiterzuführen. Das war der Beginn meiner professionellen Forschung zu Militärtechnikfolgenabschätzung und präventiver Rüstungskontrolle.

Michaela Zöhrer: Eva, du hast erwähnt, dass 1983 nicht nur ein Jahr mit einem Hoch für die Friedensbewegung war, sondern in vielerlei Hinsicht gleichzeitig einen Rückschlag für die damals ja ohnehin nur prekär institutionalisierte Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland darstellte. Wie hast du alle diese Jahre auch für dich persönlich erlebt? Vielleicht magst du dich nochmal ein bisschen zurückerinnern, als eine in dem Moment ja schon zum Frieden forschende Sozialwissenschaftlerin. Waren diese Jahre für dich besonders einschneidend, bewegend auf eine Art und Weise?

Eva Senghaas-Knobloch: Die große Demonstration 1983 war natürlich bewegend. Die Einschätzung, die hinter der Bewegung stand, war aber umstritten in der Friedensforschung – anders als in der Friedensbewegung, die ja zum Teil unmittelbar einen Erstschlag befürchtete. Ich erinnere mich noch an die Stirnbinden: „Angst!“ Das erschien mir persönlich schwierig nachzuvollziehen. Wir hatten selbstverständlich in der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung alle Einschätzungen und Fragen aufgegriffen und streitbar diskutiert. Ich war sehr beeindruckt davon, dass so viele Menschen sich organisieren. Und gleichzeitig war ich nicht überzeugt davon, was die erklärte Angst angetrieben hat. Ich meine, dass sich dahinter eine ganze Reihe verschieden motivierter Ängste gebündelt hat. Es war ja eine hoch krisenreiche Zeit, die sicherlich dieses starke Gefühl unmittelbarer Bedrohung durch die sogenannte Nachrüstung mit angefeuert hat: außenpolitisch amerikanische Geiselkrise im Iran, militärische Intervention der UdSSR in Afghanistan. Beruflich hatte ich mit anderen Themen zu tun, war aber viel unterwegs, um Klärungen zu versuchen und nukleare Abrüstung zu thematisieren, denn nukleare Waffensysteme sind nicht Waffen, mit denen man im herkömmlichen Sinn umgehen kann. Und doch gab es schon seit Ende der 1950er/1960er Jahre bei den Nuklearmächten nukleare Kriegsführungsoptionen. Die darauf resultierende Bedrohungslage war immer aktuell.

Jürgen Altmann: Die grundsätzliche Bedrohung war uns klar, zumindest nachdem wir aufmerksamer geworden waren auf das Atomwaffenproblem. Aber es gab auch spezielle Fragen: Kann die Pershing-II Moskau erreichen oder nicht? So dass also mögliche Erstschlagsbefürchtungen auf östlicher Seite vielleicht doch berechtigt wären? Und wie ist das mit der SS-20? Wir haben schon gesehen, dass die Vorwarnzeiten, wenn man über 2.000 Kilometer schießt, vielleicht fünf Minuten sind. Das ist anders als bei den langreichweitigen Raketen, die von den USA über die Arktis in die Sowjetunion fliegen oder umgekehrt. Die brauchen um die 35 Minuten, von U-Booten in vorderen Stationen vielleicht zehn Minuten. Da besteht ein Grundsatzproblem: Wie entscheidet man, wenn ein Angriff gemeldet wird? Ist der echt? Und muss ich meine Raketen schon starten, bevor sie am Boden zerstört werden durch die gerade ankommenden gegnerischen? Das bringt die Gefahr des »Atomkriegs aus Versehen«, wenn ein Fehlalarm nicht als solcher erkannt wird und man den Atomkrieg auslöst, den man eigentlich vermeiden möchte.

Diese generellen Fragen waren uns im Kopf. Ja, aber es gab schon die allgemeine Befürchtung, dass der neue Aufrüstungszyklus das Ganze schlimmer macht. In der professionellen Friedensforschung wird man ein bisschen nüchterner, obwohl es um den Untergang der Zivilisation geht und um das potenzielle Umbringen großer Teile der Weltbevölkerung.

Michaela Zöhrer: Ich mag das Wort zwar nicht, aber es wurde 1983 durchaus postuliert, dass die Friedensbewegung seinerzeit gescheitert ist, an dem Punkt, dass die Stationierung auf westdeutschem Boden nicht verhindert werden konnte.

Wenn wir ein wenig in der Zeit voranschreiten und auf das Ende der 1980er Jahre bis hin zum großen Umbruch 89/90 blicken: Beim heutigen Symposium hat schon jemand drauf hingewiesen, dass 1990 im Raum stand, ob die Frage von Krieg und Frieden überhaupt noch relevant sei. Wie habt ihr diese Jahre des Umbruchs und der Wende erlebt? Was hat das mit der Friedenswissenschaft und mit euch als Wissenschaftler*innen gemacht?

Eva Senghaas-Knobloch: Wenn ich noch einmal kurz zurück darf, ich möchte gern unterstreichen: Am Anfang der nuklearen Militärdoktrinen war es schon sehr wichtig, dass sich die Naturwissenschaftler sehr stark geäußert haben. Wenn man bis in die 1950er Jahre zurückdenkt, als Adenauer sogenannte taktische Nuklearwaffen für eine bessere Artillerie hielt, spielte Carl Friedrich von Weizsäcker eine große Rolle bei den 18 Nuklearphysikern, die sich in der »Göttinger Erklärung« scharf dagegen verwahrt hatten. Später, mit Wurzeln in den 1970er Jahren, bzw. noch weiter zurück, haben sich im Westen vielfältige emanzipative, oft antikapitalistische Bewegungen gebildet, so auch die vielstimmige Frauen- und Frauenfriedensbewegung. Und in den osteuropäischen und zentraleuropäischen Ländern entstanden – unter sehr repressiven Bedingungen – dissidentische Bewegungen, Bürgerrechtsbewegungen, um sich zu befreien von der Umarmung durch eine Sowjetunion, die die Luft zu mehr Eigenständigkeit, Freiheit, Demokratie geraubt hatte. Dazu gehörten z.B. in Polen die breite Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc, in der UdSSR unter anderem der Nuklearphysiker (1955 befasst mit der Wasserstoffbombe) Andrej Sacharow und Jelena Bonner. Nicht nur in der DDR waren unter den kritischen Schriftsteller*innen und Dissident*innen die Themen Frieden und Umwelt von großer Bedeutung. Und in der Tschechoslowakei nannte sich die Prager Dissidentenbewegung »Charta 77«; der Name bezog sich auf die Schlussakte des blockübergreifenden Konferenzprozesses in Helsinki zum Thema »Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« im Jahr 1975. In der Schlussakte war die Verstetigung zu den folgenden Themen vorgesehen: 1. Vertrauensbildende Maßnahmen, Aspekte der Sicherheit und Abrüstung, 2. Zusammenarbeit in Wirtschaft, Wissenschaft, Technik, Umwelt, 3. Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen. In Kapitel VII der Schlussakte ging es um „Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit“, genau das war für die Dissidenten und Dissidentinnen im politischen Osten zentral. In den westlichen Friedensbewegungen bemühten sich aber nur wenige, besonders der überkonfessionelle Rat der Kirchen in den Niederlanden, darum, gleichermaßen für nukleare Abrüstung und die Beachtung der Bürgerrechtsbewegungen in zentral- und osteuropäischen Ländern öffentlich einzustehen.

Ich habe Anfang der 1980er Jahre in Berlin miterlebt, wie wichtig für Prager Dissidenten das Thema Vertreibung der Deutschen war, für dessen Aufarbeitung sie plädierten. Das war für mich zu diesem Zeitpunkt politisch irritierend und berührend; 1965 war in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) eine Denkschrift erschienen, die damals die Entspannungspolitik mitinitiiert oder befördert hatte. Diese »Ost-Denkschrift« hatte den Titel: »Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn«. Es wurde dafür plädiert, politisch nicht weiter auf einer Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937 zu beharren. Das war ein politisch sehr umstrittener Schritt, der jedoch zur Entspannung beigetragen hatte. (Der scharfe innenpolitische Streit darüber war übrigens der Hintergrund, wie ich zur Friedens- und Konfliktforschung kam; die Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD suchte jemanden, die ihr die Fragestellungen und Argumente dieses neuen Forschungszweigs zugänglich machte).

Jürgen Altmann: Die Entspannungspolitik und die Verträge von Warschau und Moskau (1970) sowie der 2+4-Vertrag von 1990 waren wichtige Voraussetzungen, hier in Mitteleuropa die drängenden Bedrohungen zu reduzieren. Die Freiheitsbewegungen in Mitteleuropa haben in der deutschen Friedensbewegung keine Rolle gespielt und wurden fast eher als Störfaktoren empfunden, weil man meinte, dass zur Entspannung gehört, dass man die Zustände ‚da drüben‘ akzeptiert.

Ich möchte den Blick auf die Mitte der 1980er lenken. 1985 wurde ein neuer Generalsekretär der KPdSU gewählt, Michail Gorbatschow. Nach zwei Jahren gab es plötzlich einen echten Durchbruch. Vorhin hattest du gesagt, Michaela: Die Friedensbewegung ist gescheitert oder hatte verloren. In der Tat, hier wurde stationiert. Aber dann plötzlich wurde abgerüstet mit Reagan und Gorbatschow, und zwar alle diese Mittelstreckenwaffen. Das war der Mittelstrecken- oder INF-Vertrag, durch den zum ersten Mal eine gesamte Nuklearwaffenkategorie auf Null heruntergefahren wurde. Es war ein gewisses »Wunder«, dass Gorbatschow kam und die Abrüstung so auf den Weg brachte. Wir bräuchten mehr Wunder von der Sorte. In unserer Friedensforschung untersuchen wir Verifikationsmethoden für einen zukünftigen, vielleicht einmal kommenden Nuklearwaffen-Abschaffungsvertrag. Das ist Vorratsforschung und liegt jetzt in Aktenschränken, auf Festplatten und wartet auf das nächste Wunder. Es könnte ja auch einmal eines im Westen sein. Das ist natürlich in den jetzigen Zuständen sehr schwierig.

Eva Senghaas-Knobloch: Das Interessante war 1987, dass tatsächlich ein Vertrag zustande kam zwischen zwei gegensätzlicher kaum vorstellbaren Partnern, nämlich zwischen Gorbatschow auf einen Seite und auf der anderen Seite Reagan, der die UdSSR als »Reich des Bösen« bezeichnet hatte. Und trotzdem kamen Gespräche und ein Abrüstungsvertrag über Mittelstreckenraketen zustande. Und das hängt – glaube ich – auch mit der westdeutschen Friedensbewegung zusammen, die sich als Friedensbewegung titulierte und sicher auch so verstand, aber in erster Linie eine Anti-Pershing-Bewegung war.

Es war in der UdSSR jemand an die politische Spitze gekommen, der überzeugt war, dass es eigentlich um ganz andere Fragen geht, mit denen wir uns global beschäftigen müssen. Und diese waren für Gorbatschow das, was er allgemeine »Menschheitsfragen« genannt hat, vor allem auch ökologische Fragen. Diese gemeinsam zu lösenden Aufgaben stellte er in den Mittelpunkt. Zudem hatte er wohl durch die großen Demonstrationen gegen die Pershing-II den Eindruck, dass offenbar von den Gesellschaften des Westens keine Gefahr für die Sowjetunion ausgeht. Insofern konnte er Abrüstung befördern, abgesehen davon, dass er auch sah, wie es sozio-ökonomisch und sozial um die Sowjetunion stand. Ich war 1988 in Moskau und bei Gesprächen stellte sich heraus, dass es im Land einen Rückgang der Lebenserwartung gab. Und in vielen Bereichen, von denen nicht wenige Menschen hier gedacht hatten, auch ich, da müsste die Sowjetunion eigentlich ganz gut dastehen, gab es offenbar große Probleme, über die aber noch nicht offen gesprochen wurde. Gorbatschow wollte das verändern.

Jürgen Altmann: Ja, die Friedensbewegung hatte bei Gorbatschow ein Echo. Es gab zwar eine gewisse Tradition mit den vorherigen Begrenzungsabkommen; aber dieses Echo hat die weitergehende Lösung mit auf den Weg gebracht. Von daher kann man vielleicht doch sagen, dass in gewisser Weise die Friedensbewegung hinten herum, mithilfe von Reagan und Gorbatschow, doch gesiegt hat!

Michaela Zöhrer: Ich würde gerne jetzt den Fokus hin zur Friedenswissenschaft nach dem Fall des Eisernen Vorhangs lenken. Wie habt ihr das erlebt in den 90er Jahren? Erinnert ihr euch an Ereignisse, bei denen ihr sagt, das war eine Zäsur, da kann man viel für heute mitnehmen, oder genau im Gegenteil?

Jürgen Altmann: Mit 1990 oder schon ab 1987 nach dem INF-Vertrag gab es bei den naturwissenschaftlichen Friedensforscher*innen einen großen Optimismus: „Jetzt wird wirklich abgerüstet, und wir forschen an den Details, wie man das am besten umsetzt, wie man überprüfen kann, dass die Verträge auch eingehalten werden usw.“ Die Geophysik zum Beispiel hat jahrzehntelang daran gearbeitet festzustellen, ob Erdbebenwellen, die irgendwo ankommen, von einer unterirdischen Explosion, sprich einem Kernwaffentest, herkommen oder von einem Erdbeben. Das Problem war eigentlich Mitte der 1980er Jahre gelöst. Aber dann hat es noch bis 1996 gedauert, als der vollständige Teststoppvertrag (CTBT) abgeschlossen werden konnte. Der baut ein sehr ausführliches Verifikationssystem auf mit einem weltweiten Sensornetz. Wir dachten, dass viele unserer Vorschläge umgesetzt werden. Wichtig ist hier auch die internationale Pugwash-Bewegung, wo Kernphysiker – auch wiederum meistens Männer – aus den USA und der Sowjetunion zusammenarbeiteten und die ersten Begrenzungsverträge konzipierten.

Wir haben damals und bis heute weiter geforscht und weitergemacht. Wenn ich »wir« sage, dann ist das ein kleines Grüppchen. Von den etwa 55.000 Mitgliedern der Deutschen Physikalischen Gesellschaft sind 20 oder 30 in der Arbeitsgruppe »Physik und Abrüstung«, von denen nur ganz wenige professionell in der Forschung arbeiten.

Eva Senghaas-Knobloch: Ja, ich möchte die Bedeutung der Pugwash-Bewegung unterstreichen. Eine unglaublich wichtige Bewegung, weil sie über die politisch-ideologischen Grenzen hinweg versucht hat, sich über rein naturwissenschaftliche Zusammenhänge auszutauschen. Sie hat bis heute mit ihrem »Bulletin of the Atomic Scientists«, finde ich, eine bedeutende Rolle. Und das Bulletin ist ja auch ein Beispiel für eine damals blockübergreifende Kommunikation, dank einer in Wissenschaft verankerten Basis. Aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive von Friedensforschung ist das sehr wichtig, die Kommunikation aufrecht zu erhalten.

Aber was ich noch gern sagen wollte, Jürgen, ist: Das Sprechen von einem Sieg der Friedensbewegung, das kann man so sehen, aber ich denke, wir sollten diesen Gegensatz Sieg/Niederlage besser weglassen. Diese Sprache hat uns geschadet in den 1990er Jahren, sie wurde auch hierzulande verwendet, kam besonders aus den USA: „Jetzt haben wir, der Westen, gesiegt“, „das Ende der Geschichte“. Das waren alles Beiträge zu dem Antagonismus, den wir heute erleben. Es gab und gibt – wie wir sozialpsychologisch wissen können – tief gehende emotionale Erfahrungen, die sich innerhalb und zwischen Ländern aufbauen, über Generationen hinweg wirksam werden und eine hoch brenzlige Konfliktsituation schaffen können.

Jürgen Altmann: Ja, akzeptiert.

Eva Senghaas-Knobloch: Ich empfand 1990 als unglaubliche Befreiung der Kommunikation hin zur neuen Möglichkeit aufrichtigen Sprechens. Zuvor war die Situation so, dass – wie in allen zugespitzten Konflikten, jedoch in der Ost-West-Konfliktkonstellation meist asymmetrisch – wenn man sich kritisch auf die Hintergrundsituation im eigenen Land oder Zusammenhang bezog, dies als »Unterstützung der Gegenseite« angesehen wurde. Das schien mir 1990 vorbei zu sein. Dass sich das Fenster für freien Streit und aufrichtige Kommunikation dann wieder schloss, ist ein Unglück. Dieses Reden von Sieg und Niederlage trug dazu bei. Ich glaube, das sind Kategorien, die man besser nicht verwendet, weil es stattdessen um gemeinsame Aufgaben gehen muss. Damit kommen wir zu den Fragen einer gemeinsamen Sicherheitspolitik – alles im Helsinki- und im UN-Kontext vorgedacht in den 1970er und 1980er Jahren: Wir hatten Olaf Palme, wir hatten zuvor Willy Brandt in der Nord-Süd-Kommission, wir hatten Mitte der 1980er Jahre Gro Brundtland zum Konzept nachhaltiger Entwicklung, in der die soziale, ökonomische und ökologische Dimension als zusammenhängend begriffen werden sollten; 2015 kamen die UN-Nachhaltigkeitsziele dazu, mit Ziel 16 für eine friedensförderliche Entwicklung.

Michaela Zöhrer: Ich versuche jetzt eine Überleitung in die Gegenwart. Als ich dir gerade zugehört habe, Eva, da fand ich es bemerkenswert als du sagtest: Das war auch eine Befreiung des Denkens oder Sprechens. Wir haben in der Friedens- und Konfliktforschung in den letzten zwei Jahren immer wieder eine weitere Verengung der Diskursräume erlebt, also dass genau diese Freiheit zu sprechen, zu denken, ohne dass man gleich in irgendwelche ideologischen Schubladen gesteckt wird, eingeschränkt war. Es gibt daneben verschiedene weitere Anknüpfungspunkte zu den Themen von eben, die uns auch in der Gegenwart mit Blick auf die Zukunft immer noch bewegen. Was treibt euch gerade um? Wenn wir das sowohl friedenspolitisch als auch friedenswissenschaftlich betrachten: Was möchtet ihr uns an Impulsen noch mitgeben?

Jürgen Altmann: Das sind zwei verschiedene Dinge. Zu unserer Wissenschaft: Der Wissenschaftsrat hat in seiner Beurteilung der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland von 2019 gesagt, dass sie gut aufgestellt ist. Aber bei der naturwissenschaftlich-technischen Friedensforschung ist die Lage prekär. Daraufhin hat das BMBF, das Bundesministerium für Bildung und Forschung, ein spezielles Förderprogramm aufgelegt, wo sich auch naturwissenschaftliche Personen beteiligen konnten und auch zum Teil Projekte bekommen haben. Das läuft ganz gut. Das »Peace Research Institute Frankfurt« hat ein neues Programm zur natur- und technikwissenschaftlichen Rüstungskontrollforschung gegründet; eine Physikprofessur wurde gerade an der TU Darmstadt ausgeschrieben. Also da tut sich etwas. Das sind dann vielleicht nicht mehr 20 Leute, sondern vielleicht 30 oder 40, wenn man die Doktorand*innen mitzählt. Das ist ein großer Fortschritt.

Was die fachlichen Fragen angeht, die viel größer sind: Die Rüstungsforschung und die Technikentwicklung im Militärbereich haben auch 1990 nicht aufgehört. Es gab in den US-Ausgaben für militärische Forschung und Entwicklung ein kleines Plateau – aber dann ging es schnell wieder hoch. Da wird sehr viel Geld ausgegeben: Zwei Drittel der weltweiten Ausgaben für militärische Forschung und Entwicklung werden von den USA geleistet. Die wollen militärtechnisch so überlegen sein, dass – jetzt ein wörtliches Zitat des US-Verteidigungsministeriums – sie „jeden möglichen Gegner auf jedem möglichen Schlachtfeld besiegen“ können. Das ist zwar eine Illusion, insbesondere wenn man an nukleare Schlachtfelder denkt. Aber es wird sehr viel Geld ausgegeben und kontinuierlich an neuen Waffen- und anderen Militärtechniken gearbeitet. Ich habe mich fachlich unter anderem um besatzungslose Waffensysteme gekümmert, auch etwas geschrieben über die Gefahren von autonomem Schießen. Ich habe große Angst davor, dass damit nicht nur das Kriegsvölkerrecht nicht eingehalten wird, weil da kein Mensch mehr entscheiden würde, ob mögliche Ziele jetzt Kombattant*innen sind oder nicht, sondern dass es dahin gehen kann, dass sich zwischen zwei mit autonomen Waffensystemen ausgerüsteten Armeen instabile Situationen ergeben können, wenn sich bei kurzem Abstand die Reaktionszeiten von zehn bis 30 Minuten zwischen Nuklearmächten auf Sekunden verkürzen. Da besteht dann eine viel höhere Gefahr für Fehlwahrnehmungen und Eskalation – vielleicht nicht gleich nuklear, aber in der Folge dann vielleicht doch.

Es gibt noch viele andere Bereiche. Neue biologisch-chemische Agenzien könnten spezifischer wirken. Das ist gut, wenn es gegen Krebs ist oder gegen seltene Krankheiten. Aber wenn man das dann bewusst für neue Kampfstoffe einsetzen würde, wäre das hoch gefährlich. Es gibt einen Verbotsvertrag für Chemiewaffen, der auch überprüft wird; für biologische Waffen haben wir die Verifikation aber leider nicht, es gibt keine Überprüfungsregeln und keine internationale Organisation. Weiterhin gibt es die »traditionellen« Gefahren, mit denen ich wissenschaftlich groß geworden bin, nämlich mit Weltraumwaffen, Raketenabwehr und jetzt Hyperschallraketen. Da tut sich Einiges. Wenn man weiter in die Zukunft denkt, sprechen wir über Modifikationen am menschlichen Körper, um Soldaten und Soldatinnen effektiver kämpfen zu lassen. Da sind eine Menge Dinge in der Pipeline, die die Situation in der Welt erheblich schlimmer machen können, als sie heute schon ist. In der Situation des jetzigen russischen Kriegs gegen die Ukraine ist es natürlich ganz schwierig, zu irgendwelchen Begrenzungen zu kommen. Aber die gemeinsame Beurteilung, dass da Gefahren drohen und dass man sie gemeinsam auch international in den Griff kriegen muss, muss gefördert werden.

Eva Senghaas-Knobloch: Das kann ich nur bestätigen und auf weitere Gefährdungen ausdehnen: Damals hat Gro Brundtland deutlich gemacht, wie bedeutsam die Beachtung des mehrdimensionalen Zusammenhangs nachhaltiger Entwicklung ist. Aber ich möchte auch an Präsident Eisenhower erinnern, der sich sehr früh schon kritisch auf den militärisch-industriellen Komplex bezogen hat. Heute würden wir vielleicht vom militärisch-industriell-wissenschaftlichen usw. Komplex sprechen. Die Interessen spalten sich immer weiter auf und wirken dann zusammen umso mächtiger. Das macht notwendige Veränderungen so schwierig. Die Aufrüstungsdynamik war nur zu Teilen im Ost-West-Konflikt begründet, sie hatte jeweils auch innenpolitische ­Ursachen. Im Westen und Osten wurde jeweils überlegt: Wenn wir dieses neue Waffensystem jetzt haben, dann müssen wir uns auch mit dem vermutlich dagegen gerichteten System der Gegenseite befassen usw. So kommt man in eine stark »selbstbezügliche« Dynamik, die Dieter Senghaas für die Abschreckungslogik beschrieben hat und in der wir weiterhin gefangen sind.

Das Thema »Gemeinsame Sicherheit« ist schon angesprochen worden. Ich sehe eigentlich keinen anderen Weg, als dass wir uns über Wege zu gemeinsamer Sicherheit aus diesem Teufelskreis von Gewaltkonflikten und Waffenverbreitung heraus bewegen. Wenn das Thema gemeinsame Sicherheit vor desaströsen Klimakatastrophen, die so gut wie alle Menschen betreffen, zentrale Priorität gewinnen würde, könnte es gelingen, von festgezurrten Feindseligkeiten und den das Klima aufheizenden Aufrüstungsschüben wegzukommen. Dazu brauchen wir das Spektrum aller Disziplinen der Friedensforschung.

Michaela Zöhrer: Wir haben ganz viele Themen nicht ansprechen können, aber konnten gleichzeitig viele anschneiden und einige auch vertiefen. Ich finde, die Themenvielfalt, mit der sich die Forschung heute auseinandersetzen muss und kann, illustrieren auch unsere W&F-Themenschwerpunkte im Heft ganz gut. Ich möchte mich ganz herzlich bei euch beiden bedanken für eure Eindrücke und sehr bedenkenswerten Impulse.

Eva Senghaas-Knobloch ist Sozialwissenschaftlerin, Prof. i.R. am FZ Nachhaltigkeit der Uni Bremen, vielfältiges Engagement in der Friedens- und Konfliktforschung; erstes Buch 1969: Frieden durch Integration und Assoziation. Stuttgart: Klett.
Jürgen Altmann ist Physiker und Friedensforscher (im Ruhestand); er lehrt weiter an der TU Dortmund. Er ist Vorsitzender des Forschungsverbunds Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS).

Vielfalt mit Ziel: Wissenschaft für den Frieden

Vielfalt mit Ziel: Wissenschaft für den Frieden

Die Debatten der letzten beiden Jahre zum Krieg Russlands gegen die Ukraine und der jüngsten Gewalteskalation im Nahen Osten nach dem Angriff der Hamas auf Israel und dem folgenden Krieg gegen Gaza haben deutlich gemacht: Die Friedens- und Konflikt­forschung hat zuletzt wieder eine bemerkenswerte Relevanz bekommen, die in einer wachsenden Wahrnehmung durch Politik und Medien sichtbar wird. Zugleich zeigt sich eine Spannung zwischen akademischer Forschung sowie der Erkenntnis auf der einen und politischer Beratung auf der anderen Seite. In der Öffentlichkeit sind gesellschafts- oder politikkritische Beiträge eher randständig. Gemäßigt politiknahe oder klar unterstützende Impulse, die oft akademisch erstaunlich blass bleiben, sind hingegen gefragt wie selten zuvor. In der akademischen Sphäre gibt es durch die starke Ausdifferenzierung und Institutionalisierung des Forschungsfeldes eine nahezu unüberblickbare Vielfalt an Fachdiskursen, Journals, Forschungsbereichen sowie epistemologische, methodologische, theoretische und praktische Ansätze zu allen Phasen eines Konfliktverlaufs. Hier sticht eine Vielzahl der Ergebnisse in der Tendenz eher durch ihre Skepsis, Vorsicht, Kritik oder offener Gegner*innenschaft zu etablierten Mechanismen der Friedenserzwingung hervor.

In dieser Vielstimmigkeit ein Angebot mit klarem Kompass zu schaffen, das ist der Anspruch von W&F. Mehr noch als bei der Gründung der Zeitschrift in Marburg vor 40 Jahren, als mit Fragen der Raketenstationierung, Weltraumrüstung und der Friedensbewegung die Themen des Blattes klarer schienen, geht es heute viel stärker um die Herausforderung der Auswahl von friedenspolitisch relevanten Beiträgen, um diese anschließend möglichst auch allgemeinverständlich zu präsentieren. Entsprechend haben sich die Schwerpunkte und der Zuschnitt von W&F verändert. Doch die Aufgabe, Orien­tierung zu bieten und Kompass für die Leser*innen zu sein, ist geblieben.

Damit dieser Vielfalt der Perspektiven genüge getan wird und der interdiszi­plinäre und intergenerationelle Charak­ter von W&F auch zum Anlass von 40 Jahren deutlich hervortreten kann, hatten wir zum Jubiläumssymposium in Bonn absichtlich »breit« aufgerufen – die Ergebnisbreite und -tiefe war beeindruckend, das Symposium aus unserer Warte ein voller Erfolg.

Dieses Heft ist ein Potpourri, das eben diese Vielfalt an Perspektiven und Zu­gängen zeigen wird. Der Schwerpunkt gliedert sich in zwei Abschnitte: die ersten Beiträge üben Kritik am Status quo, die darauf folgenden Beiträge versuchen sich an neuen Impulsen.

Herbert Wulf kritisiert wie schon in Heft 1/1983 (!) die Logik von Sozialabbau und gleichzeitiger Aufrüstung, Lutz Unterseher wirft einen kritischen Blick auf die jüngere Geschichte der Bundeswehr und entwirft Optimierungsoptionen, Christiane Lammers blickt aus aktuellem Anlass auf die vergangenen 25 Jahre des israelisch-palästinensischen Konfliktes aus der Warte des W&F-Archivs; Benno Fladvad weist die Schwierigkeiten mit der Rede von den Erneuerbaren Energien als »Friedensenergien« am Beispiel Kolumbiens nach, Christian Heck blickt auf unseren kriegerischen Umgang mit der technologischen Vorsortierung unserer Welt durch Sprachmodelle von KI und Susanne Schmelter analysiert die Möglichkeiten der Zivilgesellschaft im UN-System.

Ulrich Wagner entwirft dann im zweiten Teil des Heftes in fünf grundlegenden Impulsen notwendige Veränderungen für eine Friedenspsychologie der Zukunft; Irem Akı zeigt das Potential eines Queering von Peacebuilding anhand des kolumbianischen Friedensprozesses auf und Korassi Téwéché skizziert den Entwurf einer Friedensphilosophie im Anschluss an Fanon und in Abkehr von einem von ihm als historizistisch kritisierten postkolonialen Diskurs; Rebecca Froese, Melanie Hussak, Dani*el*a Pastoors und Jürgen Scheffran umreißen eine transformative Konfliktarbeit für die Aufgabe der Großen Transformation, während Bahar Oghalai und Maria Hartmann die demokratiepolitischen Chancen in einer postmigrantischen Gesellschaft erkunden.

Seit 40 Jahren ringt auch W&F um die Frage, was Wissenschaft für den Frieden bedeutet – und die unterschiedlichsten Antworten wurden darauf im Heft gegeben. Ein stolzes Archiv von über 2.500 Beiträgen hat sich angesammelt; ein Erbe, das sich sehen lassen kann, das aber auch einer (selbst-)kritischen Betrachtung unterzogen werden muss. Was gilt (noch) von dem, was in W&F versucht, angedacht, vorausgedacht wurde? Seien Sie unsere schärfsten Kritiker*innen, unsere stärksten Fürsprecher*innen zugleich – und empfehlen Sie uns weiter, damit der mühsame Weg eines wissenschaftlich fundierten Diskurses auf einer breiten Basis gemeinsam leichter zu gehen ist.

Bald schon werden Sie auf der Homepage von W&F eine Dokumentation des Symposiums finden können – mit dem Programm, einigen Bildern sowie einer Vielzahl von Beiträgen, die auf dem Symposium vorgetragen wurden, in verschriftlichter Form.

Wir wünschen Ihnen nun eine anregende Lektüre unseres »Jubiläumshefts«,

Ihre Regine, Klaus, David, Hans-Jörg, ­Jürgen und Paul • Organisationsteam des Jubiläumssymposiums • »40 Jahre W&F: Wissenschaft für den Frieden«