»Designing Peace« – Den Frieden gestalten

»Designing Peace« – Den Frieden gestalten

Jetzt eine bessere Zukunft schaffen

von Cynthia E. Smith, Kuratorin von »Designing Peace«

Bild von Näherin

Designing Peace: Safe Passage Bags Workshop« | Lesvos Solidarity
Collaborators: Humade Crafts | Lesbos | 2015-heute

Ich stand am Eingang eines von Bürger*innen betriebenen Geflüchtetenlagers auf Lesbos, einer kleinen griechischen Insel mit etwa 100.000 Einwohner*innen in der Nähe der Türkei. Es sah nicht wie ein typisches Flüchtlingslager der Vereinten Nationen aus, mit einer Reihe einheitlicher weißer Zelte. Mehrere orangefarbene Schwimmwesten, die an einem Zaun aufgereiht waren, verkündeten in großen schwarzen Buchstaben die hoffnungsvolle Botschaft »SAFE PASSAGE«. Diese wiederverwendeten Westen waren von Tausenden von Migrant*innen zurückgelassen worden, die die tückische acht Meilen lange Überfahrt von der Türkei über die Ägäis erfolgreich hinter sich gebracht hatten. Sie wurden von Inselbewohner*innen gesammelt und zeugen von dem Mut, den man braucht, um seine Heimat zu verlassen – auf der Flucht vor Konflikten, Verfolgung und Armut – und sich auf eine ungewisse Reise auf der Suche nach Sicherheit und einer besseren Zukunft zu begeben.

Neben einladenden Schildern sah ich geschäftige Werkstätten im Freien, Menschen auf dem Weg zu medizinischer und juristischer Unterstützung, von Gärten umgebene Wohnviertel, Versammlungsräume mit schützenden Baumkronen und mit großen Wandmalereien versehene Gebäude. Als 2012 die ersten Geflüchteten ankamen – zu Spitzenzeiten waren es fünftausend pro Tag – übernahmen die Anwohner*innen ein leerstehendes ehemaliges Kinderferienlager namens »Pipka« und richteten in Solidarität mit den Neuankömmlingen ein offenes Camp ein.1 In den darauffolgenden acht Jahren bot es den Bedürftigsten einen würdigen Empfang und bot medizinische und rechtliche Unterstützung sowie Sprach- und Berufsausbildung für Geflüchtete und Einheimische gleichermaßen.2

Das Pipka-Solidaritätscamp ist ein Beispiel für die Bemühungen einer wachsenden globalen Bewegung, die der zunehmenden Uneinigkeit und Unsicherheit entgegentreten und eine weitaus friedlichere Zukunft anstreben und aufbauen will. Von Nachbarschaften bis hin zu globalen Netzwerken stellen die Menschen Institutionen und Strukturen in Frage, die durch Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Dominanz entstanden sind, und sie nutzen dabei die Prinzipien, Strategien und Praktiken des Designs.3 Sie erforschen und entwerfen eine andere Welt mit inklusiven, partizipativen Gesellschaften, die Gleichheit, Gerechtigkeit, Kreativität und gegenseitige Zusammenarbeit schätzen, die unsere voneinander abhängigen belebten und nicht-belebten Ökosysteme respektieren, die frei von Gefahr, Ausgrenzung, Gewalt und Angst sind und die unterschiedliche Stimmen, Verhaltensweisen, Ansichten sowie kulturelle und geschlechtliche Ausdrucksformen akzeptieren.

Meine bisherigen Forschungen haben zu einer Reihe von Ausstellungen, Programmen und Publikationen geführt, die sich mit der Frage befassten, wie Design – in jedem Maßstab und in allen Teilen der Welt – einige unserer drängendsten Probleme angehen kann. In einer Zeit wachsender Unsicherheit und Chaos, eskalierender Umweltschäden und sozio­ökonomischer Ungleichheit, die durch zunehmenden Extremismus und Nationalismus noch verstärkt werden, begann ich meine aktuelle Untersuchung mit der Frage, was möglich wäre, wenn die Gesellschaft für den Frieden gestalten würde.

Die Arbeit an der »Gestaltung des Friedens« wird überall auf der Welt geleistet und ist äußerst vielfältig, wie die in dieser Zusammenstellung versammelten Arbeiten zeigen. Sie reichen von theoretischen Erkundungen bis hin zu praktischen Lösungen und spiegeln das Ausmaß und die Reichweite der Praxis in verschiedenen Regionen und Kulturen wider. Design und Friedensförderung sind dynamische Prozesse, die durch Engagement, Vertrauensbildung, Kommunikation, Iteration und ein Verständnis für den Kontext positive Veränderungen ermöglichen. Zusammengenommen bieten sie unvergleichliche Möglichkeiten für die Formulierung und Umsetzung von transformativen Antworten auf schlimme Situationen und ungerechte Systeme. Insgesamt erforscht »Designing Peace« die Möglichkeiten, wie wir unsere kreativen Kräfte bündeln können, um uns die Zukunft vorzustellen, in der wir leben wollen – und um Maßnahmen zu ergreifen, um sie zu schaffen.

Auszug aus dem einleitenden Essay zur »Designing Peace: Building a Better Future Now«-Publikation. Die namensgleiche Ausstellung im New Yorker »Cooper Hewitt, Smithsonian Design Museum« war von Juni bis August 2023 zu sehen, digital ist sie hier zu finden: cooperhewitt.org/channel/designing-peace.

Anmerkungen

1) Die organisierende Gruppe Lesvos Solidarity beschreibt ihr Solidaritätsmodell als Förderung von „Gleichheit, Vertrauen, Gerechtigkeit, Respekt voreinander und vor der Umwelt, Kreativität, Empowerment und aktiver Beteiligung“.

2) Das Lager wurde von der griechischen Regierung im Oktober 2020 geschlossen.

3) Caroline Hill, Michelle Molitor und Christine Ortiz von der Equity Design Collaborative behaupten, dass „Rassismus und Ungerechtigkeit Produkte des Designs sind. Sie können auch redesigned werden.“ (15.11.2016, ­medium.com).

In Zeiten dystopischer Weltzustände

In Zeiten dystopischer Weltzustände

Migration als demokratische Chance

von Bahar Oghalai und Maria Hartmann

Globale Zukunftsperspektiven lassen sich nicht ohne eine Analyse von Migration entwickeln. Nicht zuletzt für friedensutopische Überlegungen müssen wir Gründe und Dynamiken der Migration von Menschen ins Zentrum unserer Analyse stellen – zeigen sich doch die Auswirkungen globaler Krisen und Konfliktlinien darin wie in einem Brennglas. Konfliktlinien in postmigrantischen Gesellschaften können sich aus Identitätsfragen, Rassismus und dem ungleichen Zugang zu Ressourcen sowie politischer Teilhabe ergeben. Der Beitrag erörtert die möglichen demokratischen Chancen, die sich aus diesen Konflikten ergeben können.

Die Welt stehe vor einer »Zeitenwende«. So formulierte es die deutsche Bundesregierung im Februar 2022, damals noch vor dem Hintergrund der gerade begonnenen Invasion Russlands in die Ukraine (Bundesregierung 2022). Wenn wir auf den Zustand der Welt schauen, drängt sich in der Tat das Gefühl auf, das Maß des Erträglichen sei überschritten, eine »Zeitenwende« unumgänglich. Eingestellt hat sich der prophezeite Zustand der »Wende« jedoch bisher nicht. Beschreiben lässt sich der globale Ist-Zustand vielmehr als Zustand der Verzweiflung im Angesicht multipler Krisen, in dem sich (Post-)Pandemie, Krieg, Verwüstung unseres Klimas und ein neuer Autoritarismus kreuzen.

In einem solchen Status quo lassen sich zentrale Zukunftsperspektiven auf Konflikt und Frieden für diesen Globus nicht ohne eine Analyse von Migration verstehen. Nicht zuletzt für friedensutopische Überlegungen müssen wir Gründe und Dynamiken des Wanderns, des Gehens, (An-)Kommens und Bleibens von Menschen ins Zentrum unserer Analyse stellen. Migration ist nicht nur ein zentraler Kulminationspunkt für Konflikte unserer Zeit – sondern auch für ihre demokratischen Utopien.

Vor der Migration – real-dystopische Weltzustände

Es sind die globalen Migrationsbewegungen, die zu einem Spiegel der real-dystopischen Weltzustände werden: Die Zahl der Menschen, die weltweit aufgrund von Kriegen, Umweltkatastrophen und Verfolgung fliehen müssen, hat einen Höchststand erreicht. Laut dem jüngsten Global Trends Report des UNHCR waren Ende 2022 weltweit 108,4 Mio. Menschen auf der Flucht.1 Ende 2022 gab es 19 Mio. mehr Geflüchtete als Ende 2021, was einem Anstieg von 21 Prozent entspricht. Dies ist der größte Anstieg in einem einzelnen Jahr, den das UNHCR bisher zu verzeichnen hatte (UNO Flüchtlingshilfe o.J.).

Wir müssen uns dabei vergegenwärtigen, dass für die Migrierenden selbst Migration selten das erste und bevorzugte Mittel im Umgang mit solchen Zuständen ist. Erinnern wir uns an die Revolutionen des letzten Jahrzehnts, die sich in der gesamten Region Westasien/Nordafrika (WANA) ereigneten, dann wollten die Protestierenden vielmehr vor Ort tiefgreifende gesellschaftliche und politische Transformationen herbeiführen, um ihre Gesellschaften lebenswerter zu gestalten. Was 2010 in Tunesien begann und sich zuletzt erneut mit aller Deutlichkeit im Iran zeigte, ist ein Kreislauf andauernden Wiederaufflammens von Protesten für ein besseres Leben und deren gewaltsamer Niederschlagung seitens autoritärer Staaten. Die Aufstände zeigen, dass die Veränderung ihrer Herkunftsgesellschaften für ungezählte Menschen höchste Priorität hat. Wird die Migration zu ihrer letzten Antwort auf autoritäre Herrschaft und Staatsterror, liegt dies an der Stagnation der Situation vor Ort. Autoritarismus und Menschenrechtsverletzungen gehören zu den Hauptursachen für zunehmende Zwangsmigration.

Es sind jedoch nicht nur autoritäre, zum Teil offen faschistische Zustände, vor denen Menschen fliehen: Ursache der zunehmenden Migrationsbewegungen sind zu einem beträchtlichen Teil auch die Folgen der sich verschärfenden Klima­krise. Die globale Erderwärmung stellt eine existenzielle Bedrohung dar, sie vernichtet heute bereits ganze Lebensräume und verschärft Konflikte, die von ökonomischen und politischen Krisen herrühren, für die maßgeblich die Länder des Globalen Nordens verantwortlich sind.

Es kommen immer weiter sich zuspitzende ökonomische Krisen und eine desaströse Sicherheitslage hinzu, die auf (staats-)politische Instabilität zurückzuführen sind. Mit Blick auf die WANA-Region trägt dabei der Globale Norden Mitschuld an einer tiefgreifenden Destabilisierung, welche die Jahre nach 2001 aus heutigem Blick zu verlorenen Jahrzehnten werden ließ (Helberg 2021). Das zugleich jüngste und schlagendste Beispiel für das Scheitern der gegenwärtigen Weltordnung und ihres »Krieges gegen den Terror« liefern der Abzug der internationalen Streitkräfte aus Afghanistan und die Machtübernahme der Taliban im August vor zwei Jahren. Vor allem für die Menschen in der WANA-Region hatte der Anti-Terror-Krieg katastrophale Folgen, von Konfliktdynamiken im Irak über jene in Syrien bis nach Ägypten und darüber hinaus. Er bestimmte die innenpolitische Entwicklung in vielen Ländern, verstärkte Repression, Korruption und Menschenrechtsverletzungen (ebd). Weder hat er für mehr Demokratie und Menschenrechte gesorgt, noch für mehr Stabilität.

Dystopische Verhältnisse wie die in der WANA-Region finden sich auch in vielen anderen Regionen der Welt – sie treiben die Zwangsmigration weiter voran. Dabei sind sowohl Klima- als auch Finanzkrisen und, wenn auch indirekt, die Entstehung und der Machterhalt autoritärer Regime historisch mit dem Kolonialismus, dem Aufstieg des globalen Kapitals und der Industrialisierung eng verflochten (Ituen und Kennedy-Asante 2019). Postkoloniale und kapitalismuskritische Stimmen weisen schon lange auf die historische Verstrickung des Globalen Nordens mit der derzeitigen Situation hin. So betonen kritische Klimaforscher*innen unter dem Streitbegriff der »Klimagerechtigkeit« den Mangel an Verantwortungsübernahme des Globalen Nordens für die Folgen des Klimawandels. Während der historische Globale Norden (USA, industrialisiertes Europa und Japan) Hauptverursacher eines Großteils der bisher ausgestoßenen Treibhausgase ist, sind die Länder des Globalen Südens viel stärker von den negativen Auswirkungen des Klimawandels betroffen (Andert et al 2021).

Während der Migration – Gewalt und Autonomie

Mit Blick auf die herrschende Migrationspolitik in Europa kann allerdings nicht von einer »Zeitenwende« gesprochen werden. Seit Jahrzehnten ist die stetig verschärfte Abschottungspolitik die forcierte Antwort der EU und ihrer Grenzregime auf die Migrationsbewegungen aus den real-dystopischen Zuständen im Rest der Welt (Andersson 2016). So kritisiert die Migrations- und Grenzregimeforschung seit über einem Jahrzehnt den gewaltvollen Abwehrmechanismus im Umgang mit Migrationsbewegungen, mit dem die europäischen Staaten sich nicht nur in eine zutiefst menschenrechtsverachtende und anti-humanistische, sondern auch in eine strategielose Vorgehensweise hineinmanövriert haben. Tatsächlich zeigt die empirische Erkenntnis, dass zunehmend rigide und militarisierte Grenzregime Menschen nicht von der Suche nach Sicherheit und einem besseren Leben abhalten werden, das sie insbesondere in Europa zu finden hoffen (Prokla 2016, Trilling 2021). Der Sommer der Migration 2015 war dabei nicht wie oft bezeichnet ein Sommer der Krise, sondern der Moment, in dem sich der politische Anspruch eines Menschenrechts auf Bewegungsfreiheit und Unversehrtheit für die fliehenden Menschen nicht in der Krise befand.

Wenn wir die heutigen Migrationsbewegungen eingebettet in ihre Entstehungsbedingungen aus den real-dystopischen Weltzuständen von Klimakrise, Autoritarismus und Krieg betrachten, dann ist Migration nicht nur als eine Bewegung von Menschen von einem Ort zum anderen, sondern auch als ein Akt des Widerstands gegen unerträgliche Lebensbedingungen und soziale Verhältnisse zu verstehen. Deshalb sind Migrationsbewegungen, wie einschlägige Arbeiten der kritischen Grenzregimeforschung bereits herausgearbeitet haben, keine lediglich territorialen, sondern auch soziale Bewegungen als Reaktion auf eine externalisierte Krise (Hess und Schmidt-Sembdner 2021). Während Europa zu einem beträchtlichen Teil für die Entstehung dieser Krisen (mit-)verantwortlich ist, hat es lange Zeit erfolgreich seine Folgeverantwortung ignoriert (Braunsdorf 2016). Es ist die Autonomie, die von Migration ausgeht, die diese Herrschaftsverhältnisse herausfordert (Transit Migration Forschungsgruppe 2007). Sie erschwert die Externalisierung von Krisen in andere Regionen der Welt und trägt diese Krisen an die Grenzen der Europäischen Union und in die europäischen Einwanderungsgesellschaften. So ist spätestens seit dem sogenannten Sommer der Migration von 2015 nicht mehr von der Hand zu weisen, dass jene Krisen, die Menschen »dort« zur Migration zwingen, unmittelbare Folgen für das »Hier« haben (medico international und GEW 2023).

So verstanden sind Migrant*innen widerständige Akteur*innen, die sich sowohl in ihren Herkunftsländern als auch während ihrer Migration beispielsweise an den EU-Außengrenzen auch dann autonom gegen autoritäre, gewaltvolle und ungerechte Verhältnisse zur Wehr setzen, wenn Widerstand und Autonomie nicht ausdrücklich Bestimmungsgründe ihres Handelns sind (ebd). In einem Europa, das in den letzten Jahren selbst in einer Krise steckt und vom Aufstieg rechter Politik, verschwörungstheoretischen Verwirrungen und neuen anti-emanzipatorischen Ideologien gezeichnet ist, ist es die Ankunft von Migrant*innen, die den Status Quo herausfordert – und gleichzeitig als identifiziertes »Übel« diskursiv produziert wird. Sie bringt Aushandlungsprozesse um Macht, Anerkennung und Teilhabe hervor, die europäische Gesellschaften langfristig verändern und prägen und so zu »postmigrantischen« Gesellschaften werden lassen (Foroutan 2016).

Nach der Migration – (Neu-)Aushandlung als demokratische Chance

Trägt die Migration nicht nur das nicht mehr zu externalisierende Krisenhafte, sondern auch das Widerständige in europäische Gesellschaften hinein, dann birgt eben die Widerständigkeit ihrer Autonomie nach unserer Analyse eine demokratiepolitische Chance. Provoziert Migration unumgänglich Polarisierungen, dann bringt sie darin immer auch neue Positionierungen und Allianzbildungen zwischen verschiedenen Gruppen unterschiedlicher sozialer Kämpfe hervor. Hierdurch wird Migration zum Motor einer »Gesellschaft neuer Aushandlungen«. Laut Naika Foroutan entstehen in Gesellschaften, die von Migration und kultureller Vielfalt geprägt sind, vielfältige Spannungen und Konflikte. Diese postmigrantischen Konfliktlinien können sich aus Identitätsfragen, dem in Gesellschaft eingeschriebenen Rassismus, auch dem ungleichen Zugang zu begrenzten wirtschaftlichen Ressourcen und zu politischer Teilhabe ergeben. In­härenter Bestandteil dieser Konfliktlinien ist die dialektische Aushandlung des versprochenen Gleichheitsanspruchs demokratischer Gesellschaften, der jedoch ein selektiver und unerfüllter ist (Foroutan 2019).

In der Vergangenheit konnten wir feststellen, dass die Dynamiken, die Migration in die Gesellschaft hineinträgt, herkunftsübergreifende soziale Bewegungen fördern. Laut den Migrationsforscher*innen Bojadžijev und Liebelt (2014) geht von der Widerständigkeit dieser Migrationsbewegungen auch das Potential aus, auf Kämpfe um Geschlechterverhältnisse, politische Teilhabe und Bürger*innenschaft einzuwirken. Diese neuen Widerstandsbewegungen können politische Implikationen haben, Solidarität und Identität fördern, Veränderungen in Herkunfts- und Zielländern bewirken und transnationale Verflechtungen prägen. Allerdings dürfen sie dabei nicht nur in ihren jeweils individuell bewussten Entscheidungen und Absichten isoliert, sondern müssen maßgeblich als eine kollektive Aktion und soziale Dynamik betrachtet werden. Diese Dynamik wird von verschiedenen gesellschaftlichen Akteur*innen beeinflusst, die auf die emanzipatorische Veränderung von Gesellschaften und politischen Systemen abzielen (Bojadžijev und Liebelt 2014, S. 341-344). Von einem prozessualen, agonistischen Demokratieverständnis ausgehend, demzufolge demokratische Willensbildung und Entscheidung durch den konfliktiven Austrag ausgehandelt werden (Mouffe 2014), birgt Migration eben durch die Erzeugung eines Zustands der Unbestimmtheit und Unruhe die Chance, eine zutiefst demokratie-erzeugende Kraft zu sein. Weder das Widerständige an der Autonomie der Migration noch das der postmigrantischen Aushandlung sollte dabei als emanzipatorisch-revolutionäres Heilsversprechen missverstanden werden, sondern als eine Chance der Infragestellung bestehender Ordnungen und eine Öffnung der Zustände, die sich emanzipatorisch entwickeln können, sofern sie als solche genutzt werden.

Dabei ist es unserer Analyse nach nicht bloß der Akt der Migration, aus dem die Widerständigkeit für neue gesellschaftliche Kämpfe entsteht. In den Blick zu nehmen sind vielmehr die Brücken, die eine Verbindung zwischen dem Moment der Migration und den Kämpfen in den Herkunftskontexten herstellen (Hartmann und Oghalai i.E. 2023). Von zentraler Bedeutung sind dabei die spezifischen Kontinuitäten von Erfahrungen in den Diasporas der Dissidenz: Menschen, die autoritären Regimen entfliehen, verfügen als dissidentisch-diasporische Subjekte häufig durch ihre komplexen Erfahrungen in Konfrontationen mit autoritärer Staatsgewalt, im Widerstand gegen Repression und Menschenrechtsverletzungen auf der einen und durch die Erfahrungen der Migration und Ankunft auf der anderen Seite über eine besondere gesellschaftspolitische Analyseperspektive. Jene ist in der Lage, die Komplexität und Verwobenheit heutiger global-lokaler Herrschaftsverhältnisse in besonderem Maß zu erfassen. Gerade wenn es um Menschenrechts- und Demokratiefragen geht, wird diese Analysefähigkeit in der Konfrontation mit der Migrationserfahrung und der diasporischen Gesellschaftsposition, die von Marginalisierung und Diskriminierung seitens der Dominanzgesellschaft geprägt ist, geschärft.

Maßgeblich kann dieses komplexe widerständige Bewusstseins- und Wissensarchiv über globale Unrechts- und Herrschaftszustände dann werden, wenn es gerade in den europäischen Ankunftsgesellschaften im Kampf gegen die aufkeimende globalisierte Rechte zur Geltung kommen darf. Dissidentisch-diasporisches Wissen kann Analysen, Diskurse und Wissen der Zivilgesellschaften zwischen dem Hier und dem Dort verketten und zwischen ihnen vermitteln. Im Kampf gegen rechts-autoritäres Gedankengut wird postmigrantisches Erfahrungswissen damit zum zentralen emanzipatorischen Gegenelement. Utopisch gesprochen wäre es dann die Demokratie der Aushandlungsgesellschaft, die in der Lage ist, dieses Wissen nutzbar und sichtbar zu machen.

Am Ende, so schließen wir, wird sich Europa der Auseinandersetzung mit dem krisenhaften Globalzustand nicht länger entziehen können. Wir befinden uns in einer Zeit, die geprägt ist von aufstrebenden faschistischen Kräften, aber gleichzeitig auch von einem postmigrantischen Willen zum Widerstand. Dieser kann seinen Ursprung außerhalb Europas haben, sich aber hier fortsetzen – dann jedenfalls, wenn diese in sich längst postmigrantische Gesellschaft sich den dissidentisch-diasporischen Wissensbeständen öffnet und deren Erfahrung politisch anerkennt. Genau gesehen stellt dieser Widerstand sogar die einzige realistische Chance dar, dem real-dystopischen Zustand der Welt emanzipatorisch zu begegnen. Er kann die »Zeitenwende« einläuten, nach der diese Welt ruft.

Anmerkung

1) Zahl einschließlich Geflüchtete, Asylsuchende, Binnenvertriebene und andere Personen, die internationalen Schutz benötigen. Vgl. W&F 3/2023, S. 23.

Literatur

Andersson, R. (2016): Schuss in den Ofen. Warum Kriegsschiffe die Flüchtlingskrise nicht lösen können. IPG Journal. Friedrich-Ebert-Stiftung.

Andert, M; Helleckes, H.; Kunz, C.; Mertens, M. (Hrsg.) (2021): Überall Klima, nirgendwo Gerechtigkeit? Zu den verschiedenen Dimensionen der Klimakrise. Fridays for Future Tübingen, Broschüre (Januar 2021).

Bojadžijev, M.; Liebelt, C. (2014): Cosmopolitics. Migration als soziale Bewegung: Von Bürgerschaft und Kosmopolitismus im globalen Arbeitsmarkt. In: Nieswand, B.; Drotbohm, H. (Hrsg.): Kultur, Gesellschaft, Migration. Die reflexive Wende in der Migrationsforschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 325-346.

Braunsdorf, F. (Hrsg.) (2016): Fluchtursachen »Made in Europe«. Über europäische Politik und ihren Zusammenhang mit Migration und Flucht. Internationale Politikanalyse. Friedrich-Ebert-Stiftung.

Die Bundesregierung (2022): Reden zur Zeitenwende. Bundeskanzler Olaf Scholz. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, September 2022.

Foroutan, N. (2016): Postmigrantische Gesellschaften. In: Brinkmann, H.U.; Sauer, M. (Hrsg.): Einwanderungsgesellschaft Deutschland. Entwicklung und Stand der Integration. Wiesbaden: Springer VS, S. 227-254.

Foroutan, N. (2019): Die postmigrantische Gesellschaft: Ein Versprechen der pluralen Demokratie. Bielefeld: transcript.

Hartmann, M.; Oghalai, B. (i.E. 2023): Jenseits von Migration. Zur Wiedergewinnung des Diasporabegriffs. movements – Journal for Critical Migration and Border Regime Studies 7(2/2023) (im Erscheinen).

Helberg, K. (2021): Wie der “Krieg gegen den Terror“ den Nahen und Mittleren Osten destabilisiert. Qantara.de, 13.09.2021.

Hess, S.; Schmidt-Sembdner, M. (2021): Grenze als Konfliktzone – Perspektiven der Grenzregimeforschung. In: Gerst, D.; Klessmann, M.; Krämer, H. (Hrsg.): Grenzforschung – Handbuch für Wissenschaft und Studium. Baden-Bade: Nomos, S. 190-205.

Ituen, I.; Kennedy-Asante, R.A. (2019): 500 Jahre Umweltrassismus. Kolonialismus und Klimakrise. taz, 18.11.2019.

medico international, GEW (Hrsg.) (2023): Warum Menschen fliehen. Ursachen von Flucht und Migration – Ein Thema für Bildung und Gesellschaft. Frankfurt, April 2023.

Mouffe, C. (2014): Agonistik. Die Welt politisch denken. Berlin: Suhrkamp.

Prokla Redaktion (2016): Ökonomie der Flucht und der Migration. PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 46(183), S. 172-180.

Transit Migration Forschungsgruppe (2007): Turbulente Ränder – Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas. Bielefeld: transcript.

Trilling, D. (2021): Europa steht an einem Scheidepunkt. Übersetzter Beitrag aus The Guardian, Der Freitag, 11.11.2021.

UNO Flüchtlingshilfe (o.J.): Zahlen & Fakten zu Menschen auf der Flucht. Online unter: uno-fluechtlingshilfe.de/informieren/fluechtlingszahlen.

Bahar Oghalai ist Sozialwissenschaftlerin und promoviert zu Politisierungsbiografien migrantischer Feministinnen aus dem Iran und der Türkei an der Universität Koblenz-Landau. Sie ist außerdem Dozentin an der Alice-Salomon-Hochschule und publiziert regelmäßig zu den Themen Feminismus und Migration mit einem besonderen Fokus auf Westasien/Nordafrika.
Maria Hartmann forscht, arbeitet und engagiert sich politisch zu Fragen von transnationaler Solidarität und Diaspora-Aktivismus im Kontext der neuen emanzipatorischen Bewegungen in Westasien/ Nordafrika. Sie promoviert am Zentrum für Konfliktforschung in Marburg zum Thema syrische Diaspora und Dissidenzerfahrung als geteilte Erinnerung in der postmigrantischen Gesellschaft.

Erhalten, Entfalten, Gestalten

Erhalten, Entfalten, Gestalten

Mittel der Konflikttransformation für Wege aus der Klimakrise einsetzen

von Rebecca Froese, Melanie Hussak, Dani*el*a Pastoors und Jürgen Scheffran

Die Zusammenhänge zwischen Klimawandel und Konflikten sind vielfältig und werden in Politik und Forschung zunehmend thematisiert. Die positiven Verbindungen von nachhaltigem, herrschaftskritischem Frieden und Klimagerechtigkeit sind hingegen noch wenig erforscht. Da anstehende sozial-ökologische Transformationen mit Konflikten einhergehen, müssen diese konstruktiv angegangen werden. Zugleich sind (koloniale) Herrschafts-, Macht- und Ungleichheitsstrukturen als Hindernisse zu überwinden. Im Beitrag denken wir klimapolitische Strategien mit ziviler Konfliktbearbeitung zusammen und skizzieren Ideen zu einer »Gestaltung der erhaltenden Entfaltung«.

Die seit der kolonialen Expansion Europas beschleunigte menschenzentrierte Entwicklung stößt zunehmend an planetare Grenzen: Im sogenannten Anthropozän1 werden die negativen Auswirkungen des Klimawandels, des Artensterbens und der ausbeuterischen Praktiken des neokolonialen Extraktivismus immer offensichtlicher. Das Wechselspiel von Wachstum, Macht und Gewalt führt zu multiplen Krisen, die die Lebensbedingungen untergraben, insbesondere von marginalisierten Gruppen und Menschen im Globalen Süden (Scheffran 1996; 2023). Es stellt sich die Frage nach notwendigen Handlungsansätzen und -potentialen, um Kipppunkte und Gewaltkonflikte zu vermeiden und eine Transformation der hegemonialen, anthro­pozentrisch verstandenen Mensch-Natur-Herrschaftsbeziehungen hin zu gesellschaftlichen Naturverhältnissen zu ermöglichen, die allem Lebendigen ein gutes Leben auf diesem Planeten ermöglichen.

Der mediale und öffentliche Diskurs zu Klimapolitik und sozial-ökologischer Transformation im Globalen Norden spricht aktuell vermehrt von einer (vermeintlichen) Polarisierung der Gesellschaften: den einen geht es zu langsam, die anderen fühlen sich abgehängt. Diese Vereinfachung bestehender Konfliktlinien ist nicht förderlich, da sie zum einen nicht die Interessens- und Bedürfnisvielfalt der involvierten Akteur*innen abbildet und zum anderen keinen konstruktiven Beitrag zur Transformation bestehender Konflikte leistet. Wir argumentieren in diesem Artikel, dass sozial-ökologische Transformationsprozesse hin zu einer »erhaltenden Entfaltung« durch Konflikttransformation konstruktiv gestaltet und unterstützt werden können (Pastoors et. al. 2022). Zivile Konfliktbearbeitung, wie sie etwa in Deutschland im Bereich der konfliktsensiblen Gemeinwesenarbeit angewandt wird, bringt in diese scheinbare Polarisierung Prozessverständnisse und Bedürfnisorientierung ein. Dieser Ansatz lädt dazu ein, entlang verschiedener Positionalitäten, Interessen und Bedürfnisse innerhalb eines mehr-dimensionalen Werte- und Handlungsraums die Schnittmengen für die Gestaltung eines soliden sozialen Fundamentes im Rahmen der planetaren Grenzen (Rockström et al. 2009; Raworth 2017) zu erkunden und zu verhandeln. Dafür ist eine Änderung des Verständnisses von »nachhaltiger Entwicklung« zentral, das diese nicht als einen linear-expansiven Prozess, der wiederum an Grenzen des Wachstums stößt, sondern als »erhaltende Entfaltung« und als relational versteht – also als Prozess, der notwendigerweise in Balance mit der mehr-als-menschlichen Natur2 ist.

Unser Artikel stellt die Frage, wie dieses als »erhaltende Entfaltung« gedachte Verständnis in Wissens- und Handlungsräumen durch zivile Konfliktbearbeitung und Klimaaktivismus gestaltet werden kann. Weitere zentrale Fragen sind, auf welche Weisen Ansätze der Konflikttransformation nicht nur auf soziale und gesellschaftspolitische Konflikte, sondern auch auf sozial-ökologische Konflikte und damit auf die Gestaltung von gesellschaftlichen Naturverhältnissen erweitert werden können, welches Wissen anerkannt wird und welche Annahmen zu Natur, Nachhaltigkeit, Entwicklung und Frieden diesen zugrunde liegen.

Globale Machtstrukturen und koloniale Verflechtungen

Länder des Globalen Südens sind stärker von Ressourcenausbeutung und den unmittelbaren Auswirkungen der Klimakrise betroffen als Länder des Globalen Nordens, die über lange Jahrzehnte die Hauptverursachenden von Emissionen und Umweltzerstörungen waren (und vielfach noch sind). Damit verbunden sind Zerstörungen von Lebensräumen indigener Nationen durch Landaneignung, die aus (neo-)kolonialen Herrschaftsprozessen resultieren und „epistemisch und physisch gewalttätige Hierarchien“ hervorbringen (Huaman und Swentzell 2021, S. 7). Die hier benannten „epistemischen Hierarchien“ beziehen sich auf die Dominanz von Wissen, das aus einem eurozentrischen Referenzrahmen entspringt. Dieses auf der europäischen Moderne basierende Paradigma versteht unter anderem den Menschen als eine außerhalb und von der Natur getrennt stehende Entität und stellt so ein Hindernis für die Anerkennung anderslautender Verständnisse von Natur, Nachhaltigkeit und Frieden aus anderen Wissenssystemen dar. So wird auch Wissen über Klima und Nachhaltigkeit in einem hierarchischen, von Kolonialisierung und Kolonialität beeinflussten Raum (vgl. Krohn 2023) entwickelt und verhandelt. Damit wird deutlich, dass im Rahmen aktueller Klimaschutzverhandlungen die Bemühungen um Interessensausgleich und für die Teilhabe marginalisierter Gruppen an Klimaverhandlungen zu kurz greifen und es in wissenschaftlichen wie auch gesellschaftspolitischen Diskursen einer Bearbeitung kolonialer Kontinuitäten bedarf. Eine Analyse der zugrundeliegenden Gewalt-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse muss als Basis für Fragen zu Klimagerechtigkeit und Frieden verstanden werden. Wie nachfolgend diskutiert, umfasst dies neben dem Abbau von strukturellen Ungleichheiten auch die Ebene von Wissen(-schaft-)sparadigmen und Beziehungen.

Sozial-ökologische Prozesse als »erhaltende Entfaltung«

Auch wenn Entwicklung zumeist dynamisch und als das Gegenteil eines statischen Zustands verstanden wird, so wird mit »nachhaltiger Entwicklung« doch vielfach ein lineares Paradigma beschrieben – wie nicht zuletzt die Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) der Vereinten Nationen verdeutlichen. Klar definierte Ziele mit Teilzielen und messbaren Indikatoren dienen insbesondere westlichen Gesellschaften als Orientierungspunkte, um Ergebnisse festzustellen und offenzulegen. Die gemeinsame Zielformulierung wird dabei als hilfreich empfunden, um sich in Verhandlungen mit globalen Akteur*innen zu orientieren und gemeinsam eine Ausrichtung und ein Tempo vorzugeben. Außer Acht gelassen wird von den Entscheidungstragenden jedoch, wer an derartigen Zielformulierungen tatsächlich beteiligt ist und welche Gruppen systematisch aus diesen Prozessen ausgeschlossen werden.

Die kritischen Hinweise dekolonialer und indigener Autor*innen verweisen hier auf die Grenzen zentraler Begriffe wie der »nachhaltigen Entwicklung«, der auf menschliche Lebensqualität fokussiert ist, „wirtschaftliche, soziale und ökologische Ressourcen auf Dauer erfordert“ (Sumida Huaman und Swentzell 2021, S. 9) und aufgrund des hegemonialen Paradigmas auf „Annahmen über unendliches Wachstum“ (Vásquez-Fernández und Ahenakew pii tai poo taa 2020, S. 66) beruht sowie Ausbeutungsmuster (re-)produziert (ebd., S. 65). Demgegenüber stehen Perspektiven für eine Gleichwertigkeit und ein Gleichgewicht zwischen Menschen, mehr-als-menschlicher Natur und der Aufrechterhaltung von Wissen innerhalb von Gemeinschaften und zwischen Generationen (Sumida Huaman und Swentzell 2021, S. 10).

Auch wenn in dieser Kritik ebenfalls Ziele definiert werden, unterscheiden sich die Fragen nach dem »Wie«, also den Prozessen zur Zielerreichung, deutlich. Mit Blick auf das dort formulierte »Wie« und die Fähigkeit, lebenswerte und lebensfähige Wege zu verfolgen, verschiebt sich die Perspektive von den Zielen auf die Prozesse, und ein lineares Denken weicht einem zirkulären Verständnis. Wir rücken im Folgenden die mit dieser Zirkularität und Prozesshaftigkeit beschriebenen Handlungen in den Fokus (siehe Abbildung 1). Die drei Ecken des Dreiecks zeigen je einen zentralen Prozess sozial-ökologischer Transformationen.

Abb. 1: Erhalten, Entfalten, Gestalten: Drei Schlüsselprozesse sozial-ökologischer Trans­formation

Der Prozess des Erhaltens legt den Fokus darauf, Bewahrenswertes zu erhalten und spiegelt dabei zunächst die ökologische Dimension wider. Die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und die Einhaltung der planetaren Grenzen sind Existenzbedingungen für das Leben. Zudem geht es um das Lebendige selbst, wenn die Bewahrung der Artenvielfalt gefordert wird. Dabei ist es notwendig, moderne Paradigmen zu überwinden und anzuerkennen, dass der Mensch selbst Natur und Teil der ökologischen Systeme ist, die menschliche Spezies mit allem Leben auf dem Planeten verbunden ist und alles Lebendige miteinander in wechselseitiger Beziehung steht (Kothari et al. 2014). Im erweiterten Verständnis geht es auch darum, menschliches Leben und menschliche Lebensweisen zu erhalten, die durch gewaltvolle menschliche Herrschaftssysteme bedroht, begrenzt und zerstört werden.

Neben dem reinen Überleben und über den Schutz des vorhandenen Zustands hinaus geht es darum, die Entfaltung des Lebens so zu ermöglichen, dass sie seine Erhaltung nicht gefährdet. Im Sinne eines »Buen Vivir« (Kothari et al. 2014), eines Guten Lebens für alle, streben die Entfaltungsprozesse in der sozialen Dimension nach Freiheit und Gerechtigkeit für alle Menschen und Lebewesen, die in einer nicht-destruktiven Balance zueinander stehen. Die menschlichen Entfaltungsprozesse fokussieren primär auf gesellschaftliche soziale Systeme, wobei auch hier das Bewusstsein leitend sein muss, dass es um gesellschaftliche Naturverhältnisse geht und sich soziale und ökologische Prozesse nicht voneinander trennen lassen (Drees et al. 2021). Zusammengenommen beschreiben diese beiden Prozesse die »erhaltende Entfaltung« und »entfaltende Erhaltung« zugleich.

(Konflikt-)Transformation als »Gestaltung erhaltender Entfaltung«

Die Herausforderung ist, diese Prozesse der erhaltenden Entfaltung und der entfaltenden Erhaltung aktiv und konstruktiv zu gestalten. Ein Konzept einer friedensfördernden sozial-ökologischen Transformation würde hier eine Hinterfragung bestehender Strukturen fordern, diese wenn nötig aufbrechen und in neue noch auszuhandelnde Formen umwandeln. Solche Veränderungsprozesse müssen den konstruktiven Umgang mit einhergehenden Konflikten gleich mitdenken. Die Gestaltung ist somit der dritte Prozess und umfasst die Dimension der (Konflikt-)Transformation hin zu nachhaltigen, herrschaftskritischen und beziehungsorientierten Frieden (im Plural).

Was beispielsweise im Sinne der Erhaltung als »bewahrenswert« gilt oder was genau entfaltet werden kann, darf und soll, muss als Gegenstand gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse verstanden werden, die herrschaftskritisch und machtsensibel geführt werden müssen. Dieser Aushandlungsprozess stellt demnach auch hegemoniale Diskurse, wie klassische Nachhaltigkeitskonzepte und ihre Reduktion auf die Dimensionen sozial, ökologisch und ökonomisch, zur Diskussion. Er lädt zur Erweiterung – etwa auf politische, identitäre und spirituelle Dimensionen – ebenso ein wie zur Diskussion von alternativen Konzepten.

Die größten Herausforderungen dieses Prozesses der Gestaltung sind, zum einen die Komplexität dieses Vorhabens anzuerkennen, ohne vorschnell auf vermeintliche einfache Lösungen zu verweisen, die nur auf kurze Sicht einen Wandel erreichbar und akzeptierbar erscheinen lassen, jedoch auf längere Sicht einige Konfliktpotenziale bergen. Zum anderen ist es wichtig sich auch der Gefahr bewusst zu sein, dass ein Nicht-Handeln – z.B. als ohnmächtige Handlungsunfähigkeit angesichts wahrgenommener extremer Komplexität und Konfliktivität – dazu beiträgt, dass ein gewaltvoller Status Quo aufrechterhalten bleibt.

Im Sinne der »Gestaltung der erhaltenden Entfaltung« ist es daher essentiell, die strukturelle Gewalt globaler und lokaler Machtbeziehungen und kolonialer Verflechtungen zu überwinden und in einer Konflikttransformation zu bearbeiten, Beziehungen gleichwertig zu gestalten und „die Bedürfnisbefriedigung der menschlichen Spezies mit den Bedürfnissen des weiteren Lebens auf der Erde in Einklang zu bringen“ (Pastoors et al. 2022, S. 299). Mit dem Blick auf diese Konflikte, Bedürfnisse, Strategien und Beziehungen wird deutlich, wie bedeutsam Friedens- und Konfliktarbeit in sozial-ökologischen Transformationsprozessen ist und dass zivile Konfliktbearbeitung Wege eröffnet, Sackgassen politischer und gesellschaftlicher Diskurse zu transformieren, indem die Frage nach den zugrundeliegenden Strukturen der Klimakrise gestellt wird und somit nicht nur die Symptome der Klimakrise, sondern ihre vielschichtigen Wurzeln in die Aushandlungsprozesse integriert werden.

Abb. 2: Graphic Recording der Workshopsession »Frieden verbessert das Klima« auf dem Jubiläumssymposium von W&F; Künstlerin: Eva Ewerhart

Paradigmen, Strukturen und Beziehungen transformieren

Die Bedeutung der Konflikttransformation in sozial-ökologischen Transformationsprozessen zeigt sich auch in verschiedenen Vorstellungen von Frieden und den zugrunde liegenden Paradigmen. Viele indigene Gruppen beziehen das Verhältnis zur Natur in ihre Vorstellungen und Wahrnehmungen von Frieden mit ein, bspw. das hawaianische »Ho‘oponopono« (Walker 2004, S. 534f.). Frieden wird prozessual und relational verstanden, und ist aufgrund unterschiedlicher Erfahrungen, Lebenswelten und Land-Verortungen durchaus kontextuell. Relationalität kann dabei Beziehungen zwischen ganz unterschiedlichen Entitäten mit einschließen: jene zwischen verschiedenen Menschen, zwischen Menschen und Mitwelt und auch jene zwischen Lebewesen und nicht-belebten Teilen des Planeten. Trotz unterschiedlicher Konzepte und Lebensweisen des Friedens gibt es Gemeinsamkeiten, wie die Wiederherstellung von Beziehungen sowie die Orientierung an einem lebendigen Kosmos (Brigg und Walker 2016, S. 260). Für die Gestaltung der Beziehungsebene einer sozial-ökologischen Transformation bedeutet dies, auch Raum und Ort relational zu denken (Brigg 2020, S. 549) und ebenso die Mitwelt in Beziehungen gleichwertig und respektvoll anzuerkennen (Vásquez-Fernández und Ahenakew pii tai poo taa 2020, S. 65).3

Wie kann eine solche Gestaltung, das heißt konflikttransformative Arbeit der erhaltenden Entfaltung also aussehen? Diese Gestaltungsprozesse können, wenn sie bspw. kollektives Handeln initiieren, Dominanzstrukturen bewusst aufbrechen und Beziehungen gestalten sowie Räume für den Austausch und den Aufbau von Beziehungen zwischen Menschen mit verschiedenen Wissenssystemen öffnen helfen – was ein grundlegendes Element einer Konflikttransformation darstellt.

Derartige Verständigung über verschiedene Wissenssysteme hinweg hat zudem das Potenzial, die Barrieren des Silodenkens und Sektorhandelns zu überwinden – und Probleme von verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten (vgl. Berg 2020). In erster Linie geht es uns daher um die Erweiterung der Perspektive und das Bewusstmachen und Anerkennen der benannten Aspekte. Ganz praktisch kann dies beispielsweise in dezentralen Räumen geschehen, in denen viele kleine Transformationen entstehen können: sowohl in Form

(i) physischer Räume zur Ermöglichung von Aushandlungsprozessen, Koproduktion und transdisziplinärer Dialoge (z.B. Stadtteilkulturzentren und Nachbarschaftstreffs in der konfliktsensiblen Gemeinwesenarbeit), die als

(ii) Veranstaltungen zur Vernetzung gesellschaftlicher Akteursgruppen für den Austausch von Wissen und Ressourcen, und die Stärkung politischer Teilhabe, als auch

(iii) als »Spielwiese« für das Ausprobieren neuer Formate transformativer Prozesse (z.B. Reallabore) funktionieren können.

Klar ist, dass die hier kritisierten Dominanzstrukturen und hegemonialen Wissensformen nicht durch arglose, falsche Interpretationen und Aneignungen dekolonialer und machtkritischer Konzepte durch westlich-europäische Akteure abbaubar und transformierbar sind. Aushandlungsprozesse in dezentralen Räumen müssen daher auch auf Akteurs- und Sprecher*innenebene ihre Erweiterung finden und Raum für vielfältige Perspektiven und Positionalitäten ermöglichen. Solange diese Relevanz dezentralisierter und ermöglichender Strukturen nicht mit- und weitergedacht wird, bleibt das Narrativ der »Großen Transformation« ebenso eine Illusion wie das Narrativ eines nachhaltigen Friedens (Brauch et. al. 2016).

Auf dem Weg zu lebensfähigen Gesellschaften

Es bedarf einer Abkehr von bestehenden expansiven Entwicklungsmodellen, die in ihren kolonialen und imperialen Varianten das von Europa ausgehende Herrschaftsmodell auf den gesamten Planeten ausgeweitet haben und in der Globalisierung zur Trennung von Biosphäre und Soziosphäre geführt haben. Der erzwungene Beziehungsabbruch zur mehr-als-menschlichen Natur und zum eigenen Land gehört zu den tiefgreifendsten Aspekten der Kolonialprozesse (Walker 2004, S. 530). Nur wenn die Interdependenz allen Lebens ernst genommen wird, können die Prozesse des Erhaltens, Entfaltens und Gestaltens im Rahmen von sozial-ökologischen Transformationsprozessen zu nachhaltigen Friedensbeziehungen führen.

Eine dekoloniale Perspektive macht dabei auf epistemische und ontologische Gewaltformen dominanter Wissenschaftsdiskurse aufmerksam (ebd., S. 527), die zur Aufrechterhaltung kolonialer Herrschafts- und Machtverhältnisse beitragen und die bisher verunmöglichen, diese Interdependenz ernst zu nehmen. Für herrschaftskritisch orientierte, sozial-ökologische Transformationsprozesse ist es daher wesentlich, epistemische, ontologische, methodologische und ethische Grundlagen des hegemonialen Diskurses zu hinterfragen und indigene Wissenssysteme als gleichwertig anzuerkennen.

Für Transformationsbemühungen hin zu mehr Klimagerechtigkeit folgt daraus, dass globale und koloniale Machtstrukturen aufgebrochen werden müssen. Eine Konflikttransformation, die es sich zur Aufgabe macht, multiple Frieden als sozial-ökologische Transformationsprozesse zu denken und Klimagerechtigkeit mitzugestalten, braucht die Bereitschaft, unterschiedliche Verständnisse und Positionalitäten mit einzubeziehen und gegenhegemoniale Wissens- und Handlungsperspektiven als Ausgangspunkt weiterführender Überlegungen anzuerkennen. Eine Grundbedingung für eine regenerative Gesellschaft, die Leben erhält und entfaltet, ist die »Kompostierung« des kolonialen Erbes und Herrschaftswissens dieser Welt (Or 2023). Zurücktreten, Zuhören und Verlernen (ebd.) sind wesentliche Bestandteile von Konfliktarbeit und Transformationsprozessen und somit zentral für die »Gestaltung der erhaltenden Entfaltung«, die Schaffung lebensfähiger Gesellschaften.

Anmerkungen

1) Das Konzept des Anthropozäns wurde von Paul Crutzen zu Beginn des 21. Jhdt. als Definition eines neuen Erdzeitalters vorgeschlagen, in dem die vom Menschen verursachten planetaren Veränderungen, insbesondere die Steigerung des CO2-Gehalts in der Atmosphäre durch dessen Auswirkungen auf globaler Skala ein neues geologisches Zeitalter definieren (vgl. Crutzen 2022). Das Konzept wurde bereits vielfach kritisiert, insbesondere von Autor*innen aus dem Globalen Süden und indigenen Autor*innen, da das Narrativ einer geteilten Verwundbarkeit von einer homogenen Weltgesellschaft spricht, und damit die Fragen nach Verantwortlichkeiten für die Veränderungen und Ungerechtigkeiten verschiedener Wirtschaftssysteme, sowie deren Verflechtungen in (neo-)kolonialen Machtstrukturen nicht aufwirft (vgl. Simmons 2019).

2) Der Begriff »mehr als menschliche« (»more than human«) Natur macht deutlich, dass der Mensch Teil der Natur ist und dennoch gerade über den Teil der Natur jenseits dieser Spezies gesprochen wird. Er stellt den Anthropozentrismus und die Dichotomie zwischen Mensch und Natur in Frage und fokussiert auf die interdependenten Beziehungen, die Leben miteinander verflechten (vgl. Posthumanismus, neuer Materialismus u.a.).

3) Dabei wird die anthropozentrische Perspektivierung in der europäischen Moderne hinterfragt, die den Menschen im Zentrum der Welt und die Natur als Objekt der Beherrschung sieht und die auf der Trennung und Hierarchisierung zwischen Menschen, anderen Lebewesen und der Natur aufbaut. Stattdessen wird im Sinne indigener Konzeptionen die sogenannte »Umwelt« nicht als getrennt, sondern vielmehr als eine Art »Mitwelt« begriffen, in der der Mensch als Teil der Natur und als eine gleichwertige Spezies mit allen anderen verbunden ist (Vásquez-Fernández und Ahenakew pii tai poo taa 2020).

Literatur

Berg, C. (2020): Ist Nachhaltigkeit utopisch? Wie wir Barrieren überwinden und zukunftsfähig handeln. München: Oekom Verlag.

Brauch, H. G. et al. (2016): Handbook on sustainability transition and sustainable peace. Cham: Springer International Publishing.

Brigg, M. (2020): The spatial-relational challenge: Emplacing the spatial turn in peace and conflict studies. Cooperation and Conflict 55 (4), S. 535-552.

Brigg, M.; Walker, P. O. (2016): Indigeneity and peace. In: Richmond, O.P.; Pogodda, S. und Ramović, J. (Hrsg.): The Palgrave handbook of disciplinary and regional approaches to peace. London: Palgrave Macmillan, S. 259-271.

Crutzen, P. J. (2002): Geology of mankind. Nature 415, S. 23.

Drees, L.; Lütkemeier, R.; Kerber, H. (2021): Necessary or oversimplification? On the strengths and limitations of current assessments to integrate social dimensions in planetary boundaries. Ecological Indicators 22(129), 108009.

Kothari, A.; Demaria, F.; Acosta, A. (2014): Buen Vivir, Degrowth and Ecological Swaraj: Alternatives to sustainable development and the Green Economy. Development 57(3-4), S. 362-365.

Krohn, J. (2023): (K)Ein Frieden mit der »Natur«? Zum anthropozentrischen Frieden der kolonialen Moderne. W&F 2/2023, S. 14-16.

Or, Y. (Hrsg.) (2023): Praxisbuch Transformation dekolonisieren. Ökosozialer Wandel in der sozialen und pädagogischen Praxis. Weinheim: Beltz.

Pastoors, D.; Drees, L.; Fickel, T.; Scheffran, J. (2022): „Frieden verbessert das Klima“ – Zivile Konfliktbearbeitung als Beitrag zur sozial-ökologischen Transformation. Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 15, S. 283–305.

Raworth, K. (2017): A doughnut for the Anthropocene: humanity’s compass in the 21st century. The Lancet Planetary Health 1(2), e48-e49.

Rockström, J. et al. (2009): A safe operating space for humanity. Nature 461, S. 472-475.

Scheffran, J. (1996): Leben bewahren gegen Wachstum, Macht, Gewalt: Zur Verknüpfung von Frieden und nachhaltiger Entwicklung. W&F 3/1996, S. 5-9.

Scheffran, J. (2023): Limits to the Anthropocene: geopolitical conflict or cooperative governance? Frontiers of Political Science 5, 1190610.

Simmons, K. (2019 [post print]): Reorientations; or, An indigenous feminist reflection on the Anthropocene. JCMS: Journal of Cinema and Media Studies 58 (2), S. 174-179.

Sumida Huaman, E.; Swentzell (2021): Indigenous education and sustainable development: Rethinking environment through indigenous knowledges and generative environmental pedagogies. Journal of American Indian Education 60(1-2), S. 7-28.

Vásquez-Fernández, A. M.; Ahenakew pii tai poo taa, C. (2020): Resurgence of relationality: reflections on decolonizing and indigenizing ‘sustainable development’. Current Opinion in Environmental Sustainability 43, S. 65-70.

Walker, P. O. (2004): Decolonizing conflict resolution: Addressing the ontological violence of Westernization. The American Indian Quarterly 28(3), S. 527-549.

Dr. Rebecca Froese forscht am Zentrum für Interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung an der Universität Münster zu Fragen von Partizipation in der sozial-ökologischen Transformation, eingebettet in größere Fragen nach Friedensförderung, Konflikttransformation und Gerechtigkeit.
Melanie Hussak ist wissenschaftliche Mitarbeiterin (Postdoc) am Friedensinstitut Freiburg der Evangelischen Hochschule Freiburg und Mitglied der W&F-Redaktion.
Dr. Dan*iel*a Pastoors lebt im Land des Westfälischen Friedens und erkundet, wie individuelle, kollektive und planetare Fürsorge zusammenspielen und wie Friedens- und Konfliktarbeit ein Gutes Leben für alle unterstützen kann.
Dr. Jürgen Scheffran ist Professor (em.) für Integrative Geographie, Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg und Mitglied der W&F-Redaktion.

Afroplanetarismus als Friedensphilosophie

Afroplanetarismus als Friedensphilosophie

von Korassi Téwéché

Wie lässt sich nach den Gräueln des Kolonialismus über Frieden sprechen? Dieser Text diskutiert die Hypothese, dass die Voraussetzung für eine echte Emanzipation des postkolonialen Subjekts die Transzendenz1 des Historizismus ist. Mit dem Ansatz der organischen Philosophie und des Afroplanetarismus wird diese neue Art und Weise vorgestellt, die individuelle und kollektive Existenz des Menschen auf einer neuen Grundlage, d.h. jenseits des Einzelfaktors Geschichte zu verstehen und positiv zu gestalten.

Eine kritische Analyse der zeitgenössischen philosophischen Reflexionen über »Krieg« und »Frieden« in der Welt und insbesondere in Afrika zeigt eine ständige Bezugnahme auf die Kolonialgeschichte (vgl. Mbembe 2017; Mamdani 2020). Dies basiert auf der Annahme, dass die heutigen Konflikte im Bereich der internationalen Beziehungen ein Abbild der Kolonialkriege von gestern seien (Mamdani 1996, 2003; Henderson und Singer 2020). Im Folgenden argumentiere ich, dass dieser Bezug auf die Geschichte ein epistemisches Hindernis für ein klareres analytisches Verständnis der Gegenwart darstellt. Als Alternative zum postkolonialen Ansatz postuliere ich die Methode der organischen Philosophie, die eine Transzendenz des Historizismus voraussetzt.2 Die Analyse der Grundlagen, der Bedeutung und der Implikationen des Konzepts der »Transzendenz« ist die Basis für die Diskussion des daraus sich ergebenden Afroplanetarismus als einer Friedensphilosophie.

Der Historizismus des postkolonialen Paradigmas

Unter »Historizismus« ist eine mimetische und fetischistische Bezugnahme der postkolonialen kritischen Theorie auf die Geschichte des Kolonialismus und seine Wissensobjekte zu verstehen.3 Ziel eines solchen Ansatzes ist es, eine Erklärung für die zeitgenössischen soziopolitischen, wirtschaftlichen und kulturellen Dynamiken zu liefern und deren Logik aus der Reflexion über die Vergangenheit zu ermitteln.

Die Theorie wird als »mimetisch« bezeichnet, da die Beobachtung der Realität Afrikas und der heutigen Welt ausschließlich durch die koloniale Vergangenheit erfolgt. Die aktuelle Realität wird nicht unmittelbar in sich selbst erfasst. Zwischen ihr und dem Blick der beobachtenden Person befindet sich die Maske der Kolonialgeschichte, ihrer Figuren, ihrer Verbrechensszenen, ihrer makabren Ästhetik (vgl. Mbembe 2017, S. 26; 2016). Die Realität wird als ständige Wiederkehr dieser Logik begriffen, die Kritiker*innen mithilfe der Sprachanalyse und der Kritik sozialer, politischer, wirtschaftlicher, kultureller, religiöser, ästhetischer u.a. Strukturen auf ihren Sinn hin untersuchen wollen (vgl. Mbembe 2014, S. 122). Deshalb werden in der Kritik ständig Kategorien wie »Weiß«, »Schwarz«, »Europäer*innen«, »Afrikaner*innen«, »westlich« usw. verwendet, als würden diese auf greifbare Identitäten verweisen und etwa der »Kolonialherr« und der »Kolonialisierte« diesen »Essenzen« entsprechen (vgl. Mbembe 2014, S. 256). Sie existieren jenseits von kolonialem Raum und Zeit und werden in der Gegenwart verkörpert, wenn auch unter mehr oder weniger veränderten Aspekten.

Die Idee des »Fetischismus« erklärt die psychologische Basis des Historizismus. Sie bedeutet, dass die Reproduktion der vergangenen Wissensobjekte in der Theorie keinen Selbstzweck hat. Vielmehr dient sie als Grundlage für eine praktische Moral der postkolonialen Subjekte im Alltag. Der Zweck des postkolonialen Handelns besteht in der Befreiung der postkolonialen Subjekte von der Gewalt dieser andauernden Vergangenheit. In diesem Sinne ist auch das Argument des »strategischen Essentialismus« von Gayatri Spivak (1988) in ihrem Beitrag »Can the subaltern speak?« zu interpretieren. Die Verwendung essentialistischer Kategorien wird durch ihren praktischen Zweck gerechtfertigt. Sie dienen als Organisationsmittel der »Subalternen« gegen die neokolonialen Mächte (Spivak 2001). Eine ähnliche »Strategie« findet sich auch in den Arbeiten von Edward Said (1978) und Achille Mbembe (2014), insbesondere bei der gezielten Verwendung der Begriffe »Orientalismus« und »Neger«.

Zwar lässt sich einwenden, dass der Bezug auf die Geschichte eine polemische, subversive oder kritische Bedeutung hat. Doch die kritische Analyse dieses Ansatzes lässt einen Widerspruch erkennen (vgl. Theombogü 2023). Einerseits beansprucht die Theorie, das koloniale Ereignis, seine Objekte, seine Raum-Zeit-Dimension und die Strukturen seines Imaginären zu kritisieren (vgl. Mbembe et al. 2006). Andererseits essentialisiert und verstetigt sie diese Objekte, indem sie ihnen eine Vorrangstellung gegenüber allen anderen Zeit- und Räumlichkeiten einräumt. Im weiteren Verlauf dieses Beitrags erörtere ich die Frage nach den Konsequenzen eines solchen Historizismus für die effektive Befreiung und Emanzipation von Menschen aus zeitgenössischer Gewalt. Dabei wird vor allem die Frage beantwortet, was es unter einem solchen Kontext bedeutet, Frieden zu schaffen.

Eine organische Philosophie für eine Transzendenz des Historizismus

Was ich als organische Philosophie bezeichne bedeutet, den Menschen nicht als reines Produkt der Geschichte zu betrachten, sondern als Konjunktion4 von Subjektivität und Realität des Lebens.5 Dies bedeutet zum einen die Fähigkeit des Subjekts, sich selbst und der Welt unmittelbar anwesend zu sein, und zum anderen die Aktualisierung seiner Fähigkeiten durch Handeln und positive Selbsttransformation im Alltag. Das Subjekt nimmt seine Existenz als das Ereignis eines Aufenthalts auf, den es unmittelbar hinterfragt, versteht und gestaltet (vgl. Boulaga 1977). Daraus ergibt sich das Postulat dieser Philosophie, dass der Reparation notwendigerweise die Transzendenz des Historizismus vorausgeht. Die Erläuterung dieser These wird Gegenstand der folgenden Ausführungen sein. Dafür werde ich den Begriff von »Reparation« einführen, der zugleich als Transzendenz und Emanzipation des Diskurses über die Vergangenheit gelten soll.

Das Konzept der »Transzendenz« bedeutet nicht eine Verleugnung des Kolonialismus, vielmehr die Konjunktion des Subjekts und der Realität der Phänomene, die es unmittelbar in seinem Alltag erfährt. Zwar begleitet die Vergangenheit den Menschen in seinem Verhalten, seinem Denken, seinen Gefühlen und seinem Gedächtnis. Jedoch ist er nicht unbedingt durch diese Einflüsse bestimmt. Die Wirklichkeit, die er erlebt, ist der kontinuierliche Ausdruck einer Transzendenz, d.h. einer unmittelbaren Beziehung zum Dasein, und nicht die Reproduktion einer Vergangenheit, die sie absolut determiniert. Im Alltag zeigt sich diese Kraft der Transzendenz in der Betätigung des eigenen Willens, der Wünsche, der Gefühle und der Motivation. Die Kriege der Gegenwart sind deswegen keine Wiederholung der Vergangenheit. Wenn jemand nicht als Mensch respektiert wird, oder wenn seine Rechte auf Meinungsfreiheit, Mobilität, Bildung, Gemeineigentum, usw. verletzt oder vorenthalten werden, dann weiß der Mensch, dass er sich im Krieg befindet. Außerdem ist ihm Frieden unmittelbar im Alltag bekannt. Der Mensch erfährt ihn, wenn er in die Ruhe kommt, im Einklang mit sich selbst und dem Universum ist. Diese Ruhe kommt nur, wenn man sich gegenseitig zuhören kann, wenn man respektiert wird, wenn das Gemeineigentum des Lebens gerecht verteilt wird. Daher lässt sich argumentieren, dass die Transzendenz ein Symbol der Freiheit sowie der Verantwortung des Menschen im Alltag ist.

Außerdem setzt die Idee des »emanzipatorischen Diskurses«, wie ich sie hier verwende, eine unmittelbare Kenntnis der Wirklichkeit im Alltag voraus. Dieser Diskurs ist keine Rede über die Vergangenheit mehr, sondern ein Schweigen. Schweigen heißt in der Gegenwart agieren, sich von der Ignoranz freizumachen, über die Geschichte zu reden, ohne die unmittelbare Realität und die aktuelle Freiheit bzw. Verantwortung des Menschen gegenüber seinem Dasein zu berücksichtigen. Es heißt auch, das alltägliche Leben selbst zu reparieren, Frieden in der aktuellen Wirklichkeit zu schöpfen. Ein Beispiel für diese Art des Denkens ist die ursprüngliche Version des postkolonialen Diskurses. Dies war die Rede Fanons, der sein berühmtes Werk »Schwarze Haut, weiße Masken« mit einer langen Prosa an die Freiheit beendete, in der er schrieb: „Ich erkenne mich als Mensch in einer Welt, in der die Worte sich in Schweigen auflösen; in einer Welt, in der der andere sich endlos verhärtet. Nein, ich habe kein Recht, mich hierhin zu begeben und meinen Hass auf den Weißen herauszuschreien. Ich bin nicht verpflichtet, dem Weißen meine Dankbarkeit zuzuflüstern. Es gibt mein Leben, das im Lasso des Daseins gefangen ist. Es gibt meine Freiheit, die mich auf mich selbst zurückwirft. Nein, ich habe kein Recht, ein Schwarzer zu sein. Ich habe keine Pflicht, dies oder jenes zu sein.“ (Fanon 1952, S. 185)6 Ziel von Fanons Diskurs war, nicht eine bloße Kritik des sogenannten »Westens« zu formulieren, sondern im Alltag ganz konkret das Leben vor der Macht des Todes zu retten. Reden bedeutete zuerst schweigen, danach agieren, die Realität positiv gestalten; Frieden in der Wirklichkeit realisieren. Die Rede begleitet immer das Handeln und zielt darauf ab, über dieses zu reflektieren bzw. zu meditieren.

Mit meinem Postulat der organischen Philosophie möchte ich also diese Rückkehr zum Leben des Subjekts selbst, jenseits des Historizismus, hervorheben. Diese Rückkehr kann zwar mit dem Fanon’schen Konzept der Freiheit verglichen werden, wenn er schreibt: „Ich bin mein eigenes Fundament. Und indem ich die historische, instrumentelle Gegebenheit überwinde, führe ich den Zyklus meiner Freiheit ein“ (Fanon 1952, S. 187). Jenseits der Bestätigung der Freiheit möchte allerdings die Idee der Transzendenz die konkrete, alltägliche und effektive Dimension der Entdeckung des Fundaments hervorheben. Das postkoloniale Subjekt ist nur dann wirklich frei, wenn es das Leben selbst erfährt und seinen Alltag transformiert. Mit dem Begriff der Transzendenz bezeichne ich diese Konjunktion des Subjekts mit dem Leben, die seine Transformation über die bloße Grundsatzerklärung einer Freiheit hinaus bewirkt. Dies scheint mir die grundlegende Voraussetzung dafür zu sein, dass die Freiheit des postkolonialen Subjekts verwirklicht werden kann.

Dieser Diskurs unterscheidet sich grundsätzlich von dem Diskurs, den ich »Historizismus« nenne. Gegenstand von diesem ist nicht Frieden durch Handeln zu schaffen; vielmehr geht es darum, das Bild einer Epoche widerzuspiegeln. Zwar wird über Krieg, Frieden, Leben und Tod geredet. Doch die Rede wird durch den Spiegel einer Epoche reflektiert. Die Protagonist*innen dieser Epoche – »Afrika«, der »Westen«, der »Neger«, der »weiße Kolonialherr« usw. – werden dargestellt, kritisiert, dekonstruiert. Es geht wesentlich um einen Kampf der Repräsentation, bei denen die Szene die Vergangenheit ist und die Protagonist*innen immer wieder dieselben Gesten, Worte, Gedanken und Gefühle mimen. Reden heißt in diesem Fall, eine Szene vorstellen, sie vergleichen, oder gleichsetzen. Handeln wird mit Reden gleichgesetzt. Die historizistische Grundannahme ist, dass der Mensch nicht genug weiß, was Krieg ist, weder jener der Vergangenheit noch jener der Gegenwart. Darüber zu reden, heißt, so lautet die zweite Annahme des Historizismus, eine Reparation zu leisten. Doch die Frage ist, inwiefern dieser Diskurs einen echten Weg zur Wiedergutmachung bzw. zum Frieden in Afrika und in der Welt bildet? Im letzten Teil meiner Argumentation möchte ich erklären, wie das Postulat der organischen Philosophie, wie es zuvor formuliert wurde, der Ausgangspunkt für ein neues Konzept von Frieden und Reparation als Alternative zu der Perspektive des Historizismus in Afrika sein könnte.

Der Afroplanetarismus als Friedensphilosophie

Unter Afroplanetarismus verstehe ich eine neue Art und Weise, Afrika ausgehend von dem Postulat der organischen Philosophie zu denken. Sowohl dieser Kontinent als auch sein Verhältnis zur Erde werden nicht mehr notwendigerweise in Bezug auf die Kolonialgeschichte betrachtet, sondern aus der Transzendenz, durch die die Subjekte ihre Geschichte überwinden. Das postkoloniale Subjekt, das in einer unmittelbaren Alltagsbeziehung zu sich selbst existiert, erfährt so einerseits seine Freiheit und schafft andererseits die Bedingungen für seine positive Selbsttransformation. Statt als Objekt eines Determinismus der Kolonialgeschichte wird somit die Welt des Subjekts zum Horizont einer Freiheit und einer Möglichkeit, die bereits das unmittelbare Leben auf der Erde in sich birgt. Insofern überwindet der Afroplanetarismus das koloniale Konstrukt »Afrika« in einen neuen Weltbezug zur planetarischen bzw. organischen Realität des Lebens. Aus diesem Ansatz der organischen Philosophie möchte ich nun für ein differenziertes Konzept des Friedens und der Reparation in Afrika argumentieren.

Diese Philosophie will die Bedingung eines friedlichen Lebens in Afrika und der Welt schaffen, indem sie den Weg für einen alternativen Diskurs öffnet. Statt über eine wiederkehrende koloniale Vergangenheit zu reden, wird hier die Macht des Schweigens vorgeschlagen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um ein resigniertes Schweigen, das die Kolonialvergangenheit vergisst bzw. verdrängt, sondern um die Ruhe der Transzendenz. Das Subjekt erkennt zwar die Verbrechen der Kolonialgeschichte an, kann sich dennoch von ihnen befreien. Durch den täglichen Einsatz seines Intellekts, seines Herzens und seines Willens öffnet das Subjekt sich den aktuellen Lebensumständen, um darin neue Möglichkeiten für ein emanzipatorisches Handeln zu entdecken, das überwindet und nicht erstarrt. Es heißt jeden Tag in der Realität zu landen und sie von innen zu gestalten. Der Frieden wird nur dadurch entstehen, indem das Leben im Alltag empfangen wird. Zwei Aspekte scheinen hier wichtig: Erstens, sich als Dasein wahrzunehmen. Dasein bedeutet konkret, die Grundbedingungen des eigenen Lebens und des Zusammenlebens zu manifestieren: den Körper, den Geist, die Intelligenz, die Lebensressourcen zu gestalten. Es geht darum, die Potentiale des Subjekts zu verwirklichen. Ziel ist die positive Transformation des eigenen Lebens durch ein unmittelbares Wissen über die Wirklichkeit zu ermöglichen.

Insofern bedeutet Afroplanetarismus die Geschichte Afrikas und ihre Fetischobjekte bzw. Bilder zu transzendieren. Es heißt zur Realität des Lebens des postkolonialen Subjekts zurückzukehren, die Möglichkeiten seines eigenen Daseins zu übernehmen und die epistemologischen, politischen, und ethischen Implikationen dieses Wissens für das Zusammenleben auf diesem Kontinent und der Welt zu verstehen. Epistemologisch heißt es, dass kein Bild der Geschichte an sich die absolute Wahrheit darstellt, sondern nur einen Teil davon. Politisch bedeutet es, dass die Bilder der Gesellschaften begrenzt sind. Ethisch heißt es, dass das Handeln des Menschen so mit den Potentialitäten des Lebens in Einklang gebracht werden muss, damit der Mensch sich entfalten kann. Was der Mensch wirklich ist, realisiert er im Alltag. Zwar hat die Geschichte eine große Bedeutung für sein individuelles und kollektives Gedächtnis. Doch jenseits der Bilder aus dem kollektiven Gedächtnis hat jedes Individuum bzw. jede Gesellschaft die Kraft, sich immer wieder neu zu erfinden, um über ihre Grenzen hinauszuwachsen. Diese Fähigkeit, sich selbst zu erfinden, kann nur verwirklicht werden, wenn der Mensch sich von der fetischistischen Bindung an die Objekte seiner Vergangenheit löst und sich dynamisch die Wirklichkeit aneignet, die sich unmittelbar in seiner Gegenwart ergibt.

Diese Idee nun zu einem »Afroplanetarismus als ewiger Frieden« (in Symmetrie zur berühmten Kant’schen Konstruktion) erweitert zu denken bedeutet dann, erstens die Bedingungen für ein gemeinsames Leben im Alltag zu schaffen, zweitens, die partikulären Geschichten und Bilder unserer Gesellschaften zu überwinden, und drittens die Ordnung des Universums ins Leben zu bringen. Diese drei Wahrheiten sind meiner Meinung nach die Grundbedingung des ewigen Friedens.

Fazit

Es ist ein großer Fehler mit Heraklit zu behaupten, dass der Krieg der Vater aller Dinge“ ist. Durch seine Intelligenz weiß der Mensch, dass hinter dem scheinbaren Krieg im Weltall eine immanente Harmonie liegt. Die Gegensätze bilden eine lebendige Synthese, in der jedes Element seinen Platz hat. Aber diese Harmonie ist dem Menschen nicht gegeben. Er muss sie verwirklichen, indem er seine Intelligenz, sein Herz und seinen Willen im Alltag koordiniert. Dies setzt eine kontinuierliche Transzendenz seiner gewaltvollen Vergangenheit voraus. Zwar wird ihn dies trotzdem begleiten, jedoch kann er sich davon befreien und die Gegenwart erneut anders gestalten. Erst dann wird seine Menschlichkeit jeden Tag offenbar.

Anmerkungen

1) Hier und im Folgenden wird das Wort »Transzendenz« im transitiven Sinne eines »Übersteigens«, »Überwindens« verwendet.

2) Ich bevorzuge den Begriff »Methode« statt »Tradition« oder »Schule«. Denn die organische Philosophie ist keine etablierte Philosophie, sondern ein epistemologischer Ansatz, den ich vorschlage und der sich vom Ansatz des postkolonialen Historizismus unterscheiden soll.

3) Darin grenzt sich dieser Begriff von dem der deutschen Idealisten sowie von strukturalistischen und poststrukturalistischen Theorien ab (vgl. Scholtz 1989).

4) Ich verwende das Wort »Konjunktion« nach der ursprünglichen Bedeutung des lateinischen »conjunctio«, was eben Verbindung, Vereinigung bedeutet.

5) In einem früheren Text erörterte ich im Zusammenhang mit der Debatte um die Rückgabe afrikanischer Kunstobjekte diese Idee des Primats des Lebens über seine kontingenten Äußerungen (vgl. Téwéché 2023, S. 37).

6) Ich folge hier nicht der deutschen Übersetzung von Fanons Buch, um einige Begriffe besser hervorheben zu können.

Literatur

Boulaga, F. E. (1977): La crise du Muntu: authenticité africaine et philosophie. Paris: Présence africaine.

Fanon, F. (1952): Peau noire masques blancs. Paris: Seuil.

Henderson, E. A.; Singer, J. D. (2000): Civil war in the post-colonial world, 1946-92. Journal of Peace research 37(3), S. 275-299.

Mamdani, M. (1996): Citizen and Subject: Contemporary Africa and the Legacy of Late Colonialism. Princeton: Princeton University Press.

Mamdani, M. (2003): Making sense of political violence in postcolonial Africa. In: Lundestad, G.; Njølstad, O. (Hrsg.): War and Peace in the 20th Century and Beyond. Oslo: World Scientific Publishing Company, S. 71-99.

Mamdani, M. (2020): When victims become killers: Colonialism, nativism, and the genocide in Rwanda. Princeton: Princeton University Press.

Mbembe, A. (2014): Kritik der schwarzen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Mbembe, A. (2016): Postkolonie. Wien: Turia + Kant.

Mbembe, A. (2017): Politik der Feindschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Mbembe, A. et al. (2006): What is postcolonial thinking? Esprit No. 12, S. 117-133.

Said, E. (1978): Orientalism: Western concepts of the Orient. New York: Pantheon.

Scholtz, G. (1989): Das Historismusproblem und die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert. Archiv für Kulturgeschichte 71(2), S. 463-486.

Spivak, G. (1988): Can the Subaltern Speak? In: Nelson, C.; Grossberg, L. (Hrsg.): Marxism and the Interpretation of Culture. Urbana: University of Illinois Press, S. 271-313.

Spivak, G. (2001): The Norton anthology of theory and criticism. New York: WW. Norton.

Téwéché, K. (2023): De-fetishizing restitutions! On the Ethical Stakes of Restitutions Debate. Forum Wissenschaft 2/2023. S. 35-38.

Theombogü (2023): En Afropolitanie. Po&sie 2023/1-2 (183/184), S. 199-206.

Korassi Téwéché interessiert sich u.a. für Philosophie, Kunst – Film, Fotografie – und Geschichte. Sein letzter Artikel »De-fetishizing restitutions! On the Ethical Stakes of Restitutions Debate« erschien in Forum Wissenschaft (2/2023).

Queering Peacebuilding

Queering Peacebuilding

von E. Irem Akı

In den wichtigsten Dokumenten, die internationales Peacebuilding leiten, wird das Geschlecht auf die cis- und heterosexistische Norm von Mann und Frau beschränkt. Auch wenn die Agenda »Frauen, Frieden, Sicherheit« die spezifischen diskriminierenden Auswirkungen von Gewalt auf Frauen benennt und die Notwendigkeit anerkennt, patriarchale Normen zu bekämpfen, scheinen sich Theorie und Praxis des Peacebuilding immer noch mit einer größeren Vielfalt geschlechtsspezifischer Erfahrungen schwer zu tun. Dieser Text will das Potenzial queerer Theoriebildung für Peacebuilding knapp darstellen und die positiven Erfahrungen erörtern, die mit der Einbeziehung von vielfältigen SOGIESC im kolumbianischen Friedensprozess gemacht wurden.

In den letzten zwei Jahrzehnten wurde und wird viel Arbeit zum Thema »Gender« im Bereich und in der Praxis des Peacebuilding geleistet. Allerdings haben geschlechtsspezifische Erfahrungen jenseits der Fokussierung auf Frauen und die Gewalt, der Personen mit unterschiedlichen »sexuellen Orientierungen« und »Genderidentitäten«, »Gender Expressions« und »Geschlechtsmerkmalen« (­SOGIESC)1 ausgesetzt sind, und ihr Beitrag zum Frieden noch nicht genügend Raum im Bereich des Peacebuilding gefunden (Hagen 2020). Dasselbe gilt für den Bereich der Transitional Justice (siehe Akı in Vorbereitung).

Obwohl sich die Forschung und die Praxis von Peacebuilding auf ein sehr begrenztes Verständnis von Geschlecht konzentrieren, das im Allgemeinen durch eine cis- und heterosexuelle Frau verkörpert wird, dokumentiert eine wachsende Zahl von Berichten, dass Menschenrechtsverletzungen gegen Personen mit verschiedenen SOGIESC überall auf der Welt begangen werden. Aufgrund dieser Dokumentationsbemühungen ist es nun offensichtlich, dass es auch in Zeiten von bewaffneten Konflikten, Bürgerkriegen und erzwungener Migration zu solchen Übergriffen kommt (Zea et al. 2013; Moore und Barner 2017; Daigle und Myrttinen 2018; Serrano-Amaya 2018; Maier 2019). Darüber hinaus sind Personen mit verschiedenen SOGIESC nicht nur mit Gewalt von Konfliktparteien und Soldat*innen konfrontiert, sondern auch mit der ihrer eigenen Familien und Verwandten im täglichen Leben, vor, während und nach dem Konflikt (Daigle und Myrttinen 2018).

Daher muss auch die auf SOGIESC bezogene Gewalt in die Praxis der Friedenskonsolidierung mit einbezogen werden, um sie angemessen zu verstehen, darauf zu reagieren und zu verhindern. Wie feministische Wissenschaftler*innen im Bereich der Friedenskonsolidierung und der Transitional Justice gezeigt haben, sind Frauen jedoch sowohl Kriegsopfer als auch Kämpferinnen. Ebenso können Menschen mit unterschiedlichen SOGIESC nicht nur Opfer von Krieg und Konflikt sein, sondern auch Kämpfer*innen (Daigle und Myrttinen 2018). Die Einbeziehung einer queeren Perspektive in Studien zur Friedensförderung vermeidet den Ausschluss dieser Positionen und unterschiedlichen Erfahrungen und trägt zu einem umfassenderen Verständnis der Gewaltdynamiken und der Möglichkeiten des Peacebuilding bei.

In den letzten Jahren haben Wissenschaftler*innen das Feld und die Praxis des Peacebuilding daher auch zunehmend durch eine queere Betrachtung dafür kritisiert, dass sie keine vielfältigere Perspektive einschließt (Hagen 2020, 2016; Ritholtz et al. 2023; Daigle und Myrttinen 2018). Parallel dazu und teilweise als Reaktion auf diese Kritik ist mittlerweile ein wachsendes Interesse an der Literatur zu Transitional Justice zu verzeichnen, die versucht, eine queere Perspektive in das Feld einzubeziehen (Fobear 2014; Fobear und Baines 2020; Bueno-Hansen 2018; Schulz 2019; Schulz und Touquet 2020; Schulz et al., in Vorbereitung). Etwa zeitgleich mit diesen Entwicklungen im Bereich der Friedensförderung haben sich »Transgender Studies« allmählich zu einem bedeutenden eigenständigen akademischen Bereich entwickelt. Darüber hinaus deuten Forschungsarbeiten der »Transgender Studies« und ein gesellschaftlich zunehmendes Bewusstsein für die Pluralisierung der Geschlechter (Monro 2020) darauf hin, dass eine queere Perspektive im Bereich des Peacebuilding nötig wird.

Was bedeutet Queering?

Auch wenn es nicht einfach ist, den Begriff queer zu definieren, beschreibt Jagose queer als „jene Gesten oder analytischen Modelle, die Inkohärenzen in den vermeintlich stabilen Beziehungen zwischen chromosomalem Geschlecht, Gender und sexuellem Begehren dramatisieren. Queer widersetzt sich diesem Stabilitätsmodell – das die Heterosexualität als ihren Ursprung behauptet, obwohl sie eher ihr Effekt ist – und konzentriert sich auf die Diskrepanzen zwischen Sex, Gender und Begehren“ (Jagose 1996, S. 3). Das primäre Ziel einer auf queerer Theorie basierenden Friedensförderung ist es, das Bewusstsein für Begehren jenseits von Heterosexualität, für Geschlechter jenseits der Binarität und für die Pluralität und Intersektionalität der verschiedenen SOGIESC zu schärfen.

Bei einem Peacebuilding, das durch eine solche queere Theoriebildung angereichert ist, geht es dann eben nicht nur darum, Menschen mit unterschiedlichen SOGIESC als Opfer zu sehen, sondern sie auch als aktive Teilnehmer*innen am Peacebuilding ernst zu nehmen. Ausgehend von diesem Grundsatz versucht queeres Peacebuilding, queere und trans Perspektiven im Bereich der Friedensförderung zu berücksichtigen. Darüber hinaus stützt es sich auf queere Epistemologien, die infrage stellen, wie Frieden für wen konstituiert wird, und um das Konzept des Friedens in der Theorie und Praxis des Peacebuildings entsprechend neu zu artikulieren. Kurz gesagt, queeres Peacebuilding bezieht sich nicht nur darauf, Personen mit unterschiedlichen SOGIESC in die Theorie und Praxis der Friedensförderung einzubeziehen. Es geht darum, cis-heterosexistische Normen im Bereich der Friedensförderung zu hinterfragen (Ritholtz et al. 2023). Wie Ritholtz, Serrano-Amaya, Hagen und Judge (2023) argumentieren, hat queeres Peacebuilding vier Dimensionen. Es (1) dokumentiert den Beitrag von Queer-Aktivismus zur Friedensförderung; (2) stellt die Frage, was Frieden für Menschen mit unterschiedlichen SOGIESC bedeutet; (3) trägt die transformative Kraft einer Inklusion von queeren Personen in die Friedensprozesse hinein; und (4) »queert« die »Women, Peace, Security«-Agenda. In Bezug auf die letzte Dimension hat das Konzept der queeren Friedensförderung großes Potenzial. Es kann queere Geschichten mit feministischen Geschichten verbinden und zu Versuchen beitragen, die Agenda »Frauen, Frieden und Sicherheit« (WPS) – ein wichtiger Raum, der Geschlechterperspektiven in das Ringen um Frieden und Sicherheit einbringt – queersensibler zu machen.

Queering der Agenda »Frauen, Frieden, Sicherheit«

Am 31. Oktober 2000 verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einstimmig die Resolution 1325 (siehe Otto 2014, Meinzolt 2018). Die Resolution ist wichtig, da es sich um das erste Dokument zum Verhältnis Frauen, Frieden und Sicherheit handelt.

„Die Resolution besteht aus vier Säulen: 1) Die Rolle der Frauen bei der Konfliktprävention, 2) die Beteiligung von Frauen an der Friedenskonsolidierung, 3) der Schutz der Rechte von Frauen und Mädchen während und nach Konflikten und 4) die spezifischen Bedürfnisse von Frauen während der Repatriierung, der Wiederansiedlung und bei der Rehabilitation, der Reintegration und dem Wiederaufbau nach Konflikten.“ (UNDPPA o.J.)

Es folgten mehrere weitere UN-Resolutionen. Insgesamt gibt es zehn Resolutionen, die in zwei Gruppen unterteilt werden können:

„Die erste Gruppe, die mit der Resolution 1325 eingeleitet wurde und auf die die Resolutionen SCR 1889 (2009), SCR 2122 (2013), SCR 2242 (2015) und SCR 24932019) folgten, befasst sich kurz gesagt mit der Notwendigkeit einer aktiven und wirksamen Beteiligung von Frauen an der Friedensschaffung und Friedenskonsolidierung. Die zweite Gruppe konzentriert sich auf die Verhütung und Bekämpfung von konfliktbezogener sexueller Gewalt (CRSV). Die erste Resolution zu CRSV, SCR (1820), wurde 2008 verabschiedet. Darin wird anerkannt, dass sexuelle Gewalt, wenn sie als Kriegstaktik eingesetzt wird, den Konflikt erheblich verschärfen und eine Bedrohung für den internationalen Frieden und die Sicherheit darstellen kann. Seit 2008 wurden vier weitere Resolutionen zu CRSV verabschiedet: SCR 1888 (2009), SCR 1960 (2010), SCR 2106 (2013) und SCR 2467 (2019).“ (ebd.)

Angesichts der fehlenden oder begrenzten Beteiligung von Frauen an Friedensprozessen und -verhandlungen ist dies eine sehr wichtige Entwicklung. Die WPS-Agenda erkennt jedoch nur die Erfahrungen von cis- und heteronormativen Frauen und ihre Beiträge zur Friedensförderung an. Die Behandlung der von Konflikten Betroffenen als Mitglieder einer homogenen Gruppe führt zum Ausschluss derjenigen Erfahrungen, die nicht in diese Gruppe passen (Stavrevska und Smith 2020). Ein solch enges Verständnis von Geschlecht ignoriert offensichtlich diejenigen, die von Gewalt aufgrund von SOGIESC betroffen waren. So verhindert die cis-privilegierende und heteronormative Architektur des WPS-Ansatzes, dass die Erfahrungen von Menschen mit unterschiedlichen SOGIESC gesehen und anerkannt werden – die Gewalt, die sie erfahren haben, und insbesondere die Gewalt, die sie aus sich überschneidenden Gründen (»Intersektionalität«) erfahren haben (Hagen 2016). Eine intersektionale2 Analyse legt die Erfahrungen und Stimmen von Identitäten offen, die normalerweise von anderen, allgemeineren Identitäten überdeckt werden. Das heißt, Gewalt gegen nicht-binäre, trans, schwule oder lesbische Personen wird üblicherweise als Gewalt gegen Frauen oder Männer verstanden. Die Beschäftigung mit einer bestimmten Form von Gewalt, während andere Formen ignoriert werden, verschleiert die Tatsache, dass Gewalt in verschiedenen sozialen, wirtschaftlichen, politischen, religiösen und nationalen Umfeldern entsteht (Fobear 2014; Daigle und Myrttinen 2018). Wie feministische Wissenschaftler*innen der Transitional Justice gezeigt haben, ist Gewalt zudem nicht auf Kriegs- und Konfliktzeiten beschränkt, sondern existiert sowohl davor als auch danach. Daher ist es wichtig, das Kontinuum der Gewalt zu berücksichtigen und alle Formen von Gewalt und Herrschaft während und nach dem Konflikt ganzheitlich anzuerkennen (Sigsworth und Valji 2012). Darüber hinaus führt die Nichtanerkennung der Erfahrungen diverser SOGIESC-Personen als Opfer dazu, dass Gewalt, Trauma und Ausgrenzung fortbestehen. In diesem Sinne ist der Schutz und die Anerkennung verschiedener SOGIESC „ein Schritt zum Abbau hegemonialer Normen des Patriarchats, der rassistischen Hierarchisierug, der Ungleichheit, des Sexismus und des Heterosexismus, unabhängig davon, ob sie durch Kolonialisierung, staatliche Unsicherheit oder Bürgerkrieg entstanden sind“ (Fobear 2014, S. 53).

Queerness und der kolum­bianische Friedensprozess

LGBTIQ+-Organisationen zu Friedensgesprächen und -prozessen gezielt mit einzuladen kann ein angereichertes Friedensverständnis hervorlocken, das von den Bedürfnissen, Forderungen und Erfahrungen der diversen SOGIESC geprägt ist. Darüber hinaus kann die Post-Konflikt-Phase eine Gelegenheit bieten, eingefahrene heteronormative Normen aktiv zu verändern, die zu Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt gegen Menschen mit unterschiedlichen SOGIESC führen (Hagen 2020).

Der kolumbianische Friedensprozess stellt eine wichtige und einzigartige Erfahrung dar, da es sich bislang um das einzige Unterfangen handelt, bei dem Menschen mit unterschiedlichen SOGIESC in den Friedensprozess aktiv mit einbezogen wurden. LGBTIQ+-Organisationen nahmen gemeinsam mit Frauenorganisationen an den Verhandlungen teil. Darüber hinaus wurde nicht nur sexuelle Gewalt gegen cis- und heterosexuelle Frauen, sondern auch gegen Menschen mit verschiedenen SOGIESC anerkannt. Das Friedensabkommen nahm auch eine intersektionale Perspektive ein und erkannte die Besonderheiten der Beschwerden und Erfahrungen von Afrokolumbianer*innen, indigenen Gemeinschaften, Menschen mit verschiedenen SOGIESC, Frauen, politischen und religiösen Minderheiten und Menschen mit Behinderungen an (Daşlı, Alıcı und Poch Figueras 2018).

Dieses praktische Beispiel verdeutlicht die transformativen Folgen einer queeren Friedensförderung. Um einen nachhaltigen Frieden zu erreichen, der den Abbau von Gewalt, Ungleichheit und Ungerechtigkeit bedeutet, sollte das Peacebuilding daher seinen Horizont erweitern, indem Verletzungen aufgrund von SOGIESC berücksichtigt werden und der Beitrag von Menschen mit unterschiedlichen SOGIESC sowie der Beitrag des LGBTIQ+-Aktivismus zur Friedensförderung mit einbezogen wird.

Anmerkungen

1) Eine kurze Anmerkung zur Terminologie: Anstelle von LGBTIQ+ ziehe ich es vor, die Begriffe »sexuelle Orientierung, Genderidentität, Gender Expression und Geschlechtsmerkmal« zu verwenden. In diesem Punkt folge ich den Argumenten von Daigle und Myrittinen (2018). Erstens umfasst das Akronym LGBTIQ+ nicht alle Kategorien jenseits des heteronormativen Systems. Zweitens wird das Akronym LGBTIQ+ nicht universell verwendet, sondern hauptsächlich im Westen. Drittens haben zwar alle Menschen eine sexuelle Orientierung und Genderidentität, aber der Begriff LGBTIQ+ bezieht sich auf bestimmte Gruppen. Die Definition für SOGIESC stammt aus den Yogyakarta-Prinzipien: „Unter sexueller Orientierung versteht man die Fähigkeit eines jeden Menschen, sich zu Personen eines anderen oder desselben oder mehrerer Geschlechter emotional, emotional und sexuell hingezogen zu fühlen und mit ihnen intime und sexuelle Beziehungen zu unterhalten. Die Genderidentität bezieht sich auf das tief empfundene innere und individuelle Erleben des Genders jeder Person, das mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmen kann oder auch nicht, einschließlich des persönlichen Körpergefühls (das, wenn frei gewählt, eine Veränderung des Aussehens oder der Funktion des Körpers durch medizinische, chirurgische oder andere Mittel beinhalten kann) und anderer Ausdrucksformen des Geschlechts, einschließlich Kleidung, Sprache und Manierismen“ (Yogyakarta-Prinzipien 2006, S. 6, Fußnote 1 und 2). Der Ausdruck des Genders bezieht sich auf „die Darstellung des Genders jeder Person durch ihre körperliche Erscheinung, einschließlich Kleidung, Frisuren, Accessoires, Kosmetika – und Manierismen, Sprache, Verhaltensmuster, Namen und persönliche Bezüge“ und „kann mit der Genderidentität einer Person übereinstimmen oder nicht“ (Yogyakarta-Prinzipien plus 10 2017, S. 6). Geschlechtsmerkmale sind „die körperlichen Merkmale einer Person in Bezug auf das Geschlecht, einschließlich der Genitalien und anderer sexueller und reproduktiver Anatomie, Chromosomen, Hormone und sekundärer körperlicher Merkmale, die sich in der Pubertät entwickeln“ (ebd.).

2) Der Begriff wurde von der amerikanischen Rechtswissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw geprägt. Crenshaw vertrat die Auffassung, dass die Erfahrungen Schwarzer Frauen unsichtbar werden, wenn »race« und Geschlecht getrennt betrachtet werden bzw. Herrschaftsformen nur einseitig betrachtet werden. Dadurch werde die spezifische Diskriminierung, der Schwarze Frauen aufgrund der Überschneidung zweier verschiedener Formen von Herrschaft ausgesetzt sind, verborgen gehalten. Um dies zu erklären, verwendet sie die Metapher der Kreuzung im Straßenverkehr, die veranschaulicht, wie sich verschiedene Linien der Herrschaft kreuzen, überschneiden oder ineinander verschlingen (Crenshaw 1989).

Literatur

Akı, E. I. (im Erscheinen): Linking a Queer Legal Theoretical Perspective and Transitional Justice: Challenges and Possibilities. In: Schulz, P.; Hamber, B.; Touquet, H. (Hrsg.): Masculinities and Queer Perspectives in Transitional Justice. Cambridge: Intersentia.

Bueno-Hansen, P. (2018): The Emerging LGBTI Rights Challenge to Transitional Justice in Latin America. International Journal of Transitional Justice 12(1), S. 126-145.

Crenshaw, K. (1989). Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics. The University Of Chicago Legal Forum 1, S. 139-167.

Daigle, M.; Myrttinen, H. (2018): Bringing Diverse Sexual Orientation and Gender Identity (SOGI) into Peacebuilding Policy and Practice. Gender and Development 26(2), S. 103-120.

Daşlı, G.; Alıcı, N.; Poch Figueras, J. (2018): Peace and Gender: The Colombian Peace Process. Ankara: Demos.

Fobear, K. (2014): Queering Truth Commissions. Journal of Human Rights Practice 6(1), S. 51-68.

Fobear, K.; Baines, E. (2020): Pushing the Conversation Forward: The Intersections of Sexuality and Gender Identity in Transitional Justice. The International Journal of Human Rights 24(4), S. 307-312.

Hagen, J. J. (2016): Queering Women, Peace and Security. International Affairs 92(2), S. 313-332.

Hagen, J. J. (2020): LGBTQ Perspectives in Peacebuilding. In: Richmond, O.; Visoka, G. (Hrsg.): The Palgrave Encyclopedia of Peace and Conflict Studies. Cham: Palgrave MacMillan.

Jagose, A. (1996): Queer Theory. An Introduction. New York: New York University Press.

Maier, N. (2019): Queering Colombia’s Peace Process: A Case Study of LGBTI Inclusion. International Journal of Human Rights 24(4), S. 1-16.

Meinzolt, H. (2018): UN-Resolution 1325 in Deutschland. W&F 3/2018, S. 25-27.

Monro, S. (2020): Sexual and Gender Diversities: Implications for LGBTQ Studies. Journal of Homosexuality 67(3), S. 315-324.

Moore, M. W.; Barner, J.R. (2017): Sexual Minorities in Conflict Zones: A Review of the Literature. Aggression and Violent Behavior 35, S. 33–37.

Otto, M. (2010): UN-Resolution 1325 – Frauen, Frieden, Sicherheit Bilanz und Perspektiven. Wissenschaft und Frieden 4/2010, S. 24-28.

Ritholtz, S.; Serrano-Amaya, J.F.; Hagen, J.J.; Judge, M. (2023): Under Construction: Toward a Theory and Praxis of Queer Peacebuilding. Revista de Estudios Sociales 83(3), S. 3-22.

Schulz, P. (2019): Towards Inclusive Gender in Transitional Justice: Gaps, Blind-Spots and Opportunities. Journal of Intervention and Statebuilding 14(5), S. 691-710.

Schulz, P.; Hamber, B.; Touquet, H.; Messmer, G. (im Erscheinen): Introduction: Masculinities and Queer Perspectives in Transitional Justice.” In: Schulz, P.; Hamber, B.; Touquet, H. (Hrsg.): Masculinities and Queer Perspectives in Transitional Justice. Cambridge: Intersentia.

Schulz, P.; Touquet, H. (2020): Queering Explanatory Frameworks for Wartime Sexual Violence against Men. International Affairs 5(1), S. 1169-1187.

Serrano-Amaya, J.F. (2018): Homophobic Violence in Armed Conflict and Political Transition. Basingstoke: Palgrave MacMillan.

Sigsworth, R.; Valji, N. (2012): Continuities of Violence against Women and the Limitations of Transitional Justice: The Case of South Africa. In: Buckley-Zistel, S.; Stanley, R. (Hrsg.): Gender in Transitional Justice. Basingstoke: Palgrave Macmillan, S. 115-135.

Stavrevska, E. B.; Smith, S. (2020): Intersectionality and Peace. In: Richmond, O.; Visoka, G. (Hrsg.): The Palgrave Encyclopedia of Peace and Conflict Studies. Cham: Palgrave MacMillan.

The Yogyakarta Principles (2006): The Yogyakarta Principles on the Application of International Human Rights Law in Relation to Sexual Orientation and Gender Identity. Online unter: yogyakartaprinciples.org.

The Yogyakarta Principles plus 10 (2017): The Yogyakarta Principles plus 10 Additional Principles and State Obligations on the Application of International Human Rights Law in Relation to Sexual Orientation, Gender Identity, Gender Expression and Sex Characteristics to Complement the Yogyakarta P. Online unter: yogyakartaprinciples.org/principles-en/yp10.

UN Department of Political and Peacebuilding Affairs (UNDPPA) (o.J.): Women, Peace and Security. Homepage, dppa.un.org.

Zea, M.C. et al. (2013): Armed Conflict, Homonegativity and Forced Internal Displacement: Implications for HIV among Colombian Gay, Bisexual and Transgender Individuals. Cultural, Health&Sexuality 15(7), S. 788-803.

E. Irem Akı arbeitet derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Juristischen Fakultät der Universität Ankara, Abteilung für Rechtsphilosophie und -soziologie. Ihre Forschungsinteressen und Veröffentlichungen umfassen Übergangsjustiz, transformative Gerechtigkeit, Friedensförderung, feministische und Queer-Theorie sowie die Rechtsprechung von Lon L. Fuller.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing.

Wir brauchen Friedenspsychologie!

Wir brauchen Friedenspsychologie!

Aber wie soll die aussehen?

von Ulrich Wagner1

Die Friedenspsychologie hilft zu verstehen, wie psychologische Prozesse Konflikte beeinflussen können. Deshalb braucht die Friedens- und Konfliktforschung die Friedenspsychologie. Die Friedenspsychologie könnte allerdings noch besser werden. Dazu gehören die Replizierbarkeit ihrer Befunde, die Kontext- und Kultursensitivität ihrer Theorien, die angemessene Beteiligung von unterrepräsentierten Gruppen am Forschungsprozess, der Einbezug qualitativer Forschung, die intensive Diskussion ihrer normativen Grundlagen und die Kooperation mit Praktiker*innen der Konfliktbearbeitung – Selbstreflexionen, die vielleicht auch für andere Disziplinen anregend sind.

Die Friedenspsychologie befasst sich mit psychischen Phänomenen und Prozessen, die im Zusammenhang mit Friedensbildung von Bedeutung sind. Die Friedenspsychologie ist, wie der Name sagt, ein Teilgebiet der Psychologie, d.h. ihr Gegenstand ist das Erleben und Verhalten von Individuen im Themenbereich Frieden und Konflikttransformation. Gleichzeitig wird die Friedenspsychologie der Friedens- und Konfliktforschung zugeordnet, die einen wesentlich weiteren Gegenstandsbereich hat, wie beispielsweise die Analyse der Auswirkungen von volkswirtschaftlichen Entwicklungen auf Konflikt und Frieden.

Schematisch kann man sich die Einordnung der Friedenspsychologie in die Friedens- und Konfliktforschung als Mehrebenenmodell vorstellen (vgl. Abbildung 1): Die Friedenspsychologie analysiert,

(a) wie innerstaatliche und zwischenstaatliche Konflikte durch die Individuen wahrgenommen werden – wie wirkt Kriegspropaganda auf die Menschen? Behandelt werden solche Fragen beispielsweise in der psychologischen Stereotypen- und Vorurteilsforschung,

(b) welchen Einfluss die individuelle Wahrnehmung auf individuelles Verhalten hat, z.B. auf Wahlverhalten oder auf Diskriminierung und Gewalt gegen wahrgenommene Konfliktgegner*innen, und

(c) wie dieses Verhalten der Individuen wiederum zurückwirkt auf die Konflikt­eskalation oder -deeskalation auf der Makro-Ebene – wenn sich z.B. politische Entscheidungsträger*innen von Wähler*innen und deren Verhalten zu Entscheidungen gedrängt sehen.

Strenggläubige Verfechter*innen eines solchen Badewannenmodells würden sagen, dass alle Entwicklungen auf der Makro-Ebene durch psychologische Mikro-Prozesse mediiert werden. Einen solchen weiten Anspruch würde ich für die Friedenspsychologie nicht reklamieren: Es gibt auch direkte Einflüsse auf der Makro-Ebene (siehe d in Abbildung 1), für deren Verständnis individuelle psychologische Verarbeitungsprozesse von geringer Bedeutung sind, z.B. wenn Machtkonstellationen eine Veränderung der Entscheidungsstrukturen im UN-Sicherheitsrat unmöglich machen. Gleichzeitig beharre ich allerdings da­rauf, dass die Analyse von Friedens- und Konfliktentwicklungen ohne die Berücksichtigung psychologischer Prozesse unvollständig bleibt: Es sind nicht allein die Gegensätze zwischen den globalen Machtblöcken, die den Krieg in der Ukraine erklären.

Wir brauchen eine Friedenspsychologie. Die Frage ist jedoch: Kann die Friedenspsychologie ihre Aufgabe im Rahmen der Friedens- und Konfliktforschung tatsächlich erfüllen? Ich glaube ja. Allerdings sehe ich noch eine Reihe offener Fragen, deren kritische Diskussion den Wert der Friedenspsychologie für die Friedens- und Konfliktforschung noch weiter steigern könnte. Ich beziehe mich dabei auf einen kritisch-rationalistischen Ansatz, der den Mainstream psychologischer und auch friedenspsychologischer Forschung darstellt. Möglicherweise können aber auch Vertreter*innen anderer wissenschaftstheoretischer Selbstverortungen von einer selbstkritischen Übertragung der folgenden Überlegungen profitieren.

Wissensbestände in der Replikationskrise

Erstens, verfügt die Friedenspsychologie eigentlich überhaupt über ein hinreichend abgesichertes Wissen, mit dem sie zum Verständnis von Frieden und zu Interventionen zur Herstellung oder Verbesserung von Frieden beitragen kann? Die Psychologie, und so auch die Friedenspsychologie, ist eine empirisch orientierte Disziplin, d.h. sie stellt Hypothesen und Theorien auf und prüft diese in empirischen Untersuchungen. Theorien oder Modelle, die so ein gewisses Maß an empirischer Unterstützung erfahren haben, können dann eingesetzt werden für praktische Interventionen, z.B. zur Förderung von Frieden. Insbesondere die Sozialpsychologie, ein wichtiger Teil der Friedenspsychologie, hat in den letzten Jahren eine Krise durchlebt, weil manche ihrer grundlegenden empirischen Studien nicht repliziert werden konnten und damit auch die auf diesen Studien aufbauenden Theorien infrage gestellt wurden. Die Diskussion war und ist sehr aufgeheizt und nicht immer an der Sachfrage orientiert. Ich glaube allerdings nicht, dass die Friedenspsychologie sich aufgrund der Replikationskrise soweit zurücknehmen sollte, dass sie keinen ernsthaften Beitrag mehr zur Förderung von Frieden leisten kann: Die großen und relevanten Modelle der Disziplin – z.B. Theorien zum sozialen Lernen, zur sozialen Motiven, zur Bildung und Veränderung sozialer Einstellungen und zur Bedeutung von Gruppenzugehörigkeiten – haben Bestand, auch wenn manche ihre Detailmechanismen nicht in allen labor­experimentellen Umsetzungen repliziert werden können.

Kontext- und kultursensible Theorienbildung

Wohl aber verweist die Replikationskrise auf ein zweites Problem friedenspsychologischer Theorien- oder Modellbildung: den fehlenden Einbezug von Kontextbedingungen, unter denen psychologische Mechanismen so oder so wirken. Psychologische Hypothesen und Theorien werden oft in Laboruntersuchungen getestet, in denen eine als relevant angesehene Ursache (z.B. Frustration) manipuliert wird, um zu sehen, wie sich das auf die interessierenden Effekte (z.B. Aggression) auswirkt. Dabei wird oft wenig reflektiert, in welchen Kontexten und mit welchen Menschen solche Untersuchungen stattfinden und ob hypothesenstützende Ergebnisse auch unter anderen Umständen zu erwarten sind. Die mangelnde Berücksichtigung solcher Einflüsse auf psychologische Prozesse – wie die kulturspezifisch unterschiedliche Bedeutung von Gruppenzugehörigkeiten für die Identitätsfindung – wird aktuell deutlich, wenn europäische klinische Psycholog*innen Geflüchtete aus außereuropäischen Regionen behandeln: Über die Übertragbarkeit und Anwendbarkeit der nordamerikanisch-europäisch gewonnenen psychologischen Kenntnisse auf die Psyche ihrer Patient*innen wissen sie wenig. Trotzdem können sie oft helfen, was durchaus auf die Brauchbarkeit dieser Psychologie hinweist. Dennoch, was fehlt und dringend angegangen werden muss, ist die Analyse der Beeinflussung psychologischer Prozesse durch Kontexteinflüsse, insbesondere kulturelle Einflüsse, was gleichbedeutend ist mit der Forderung, die Friedenspsychologie eng mit anderen Disziplinen zu verknüpfen und kontextsensible psychologische Mehrebenenmodelle weiterzuentwickeln.

Wessen Forschung?

Die kulturelle Beeinflussung psychischer Prozesse verweist auf eine dritte offene Frage, der die Friedenspsychologie sich stellen muss: Die Forderung nach einer angemessenen Beteiligung von Minderheiten und traditionell unterrepräsentierten Gruppen am Forschungsprozess. Wenn man sich die Herkunft führender psychologischer Forscher*innen anschaut, die z.B. in den einschlägigen und einflussreichen wissenschaftlichen Journalen publizieren, stammen die zum ganz überwiegenden Teil aus Europa und Nord-Amerika und sind weiß. Die Forderung nach einer stärkeren Beteiligung von Personen aus Minderheiten und unterrepräsentierten Gruppen am Forschungsprozess ist also aus Gerechtigkeitsüberlegungen heraus sehr berechtigt. Aber auch mit Bezug auf die Qualität wissenschaftlicher Befunde ist eine stärkere Heterogenisierung der psychologischen Wissenschaftler*innengemeinde in vielen Fällen dringend erforderlich. Das gilt vor allem dann, wenn es um die Beschreibung friedenspsychologischer Phänomene geht, wie das Erleben von Diskriminierung und rassistischer Gewalt. Forscher*innen aus der Mehrheit haben dazu nur schwer validen Zugang.

Manchmal wird die Forderung der Beteiligung am Forschungsprozess allerdings auch problematisch zugespitzt: Kann ein weißes Forschungsteam, das keine persönliche Erfahrung mit rassistischer Diskriminierung hat und das selbst strukturell in eine Geschichte historischer Unterdrückungen und Privilegien eingebunden ist, Rassismus überhaupt angemessen behandeln, indem es die richtigen Fragen stellt und die richtigen Antworten findet? Sind stattdessen nicht die Erkenntnisse eines Teams von Betroffenen a-priori höher einzuschätzen? Wissenschaft braucht die Beteiligung von Personen, die mit dem untersuchten Problem vertraut sind, auch der Menschen, die betroffen sind, wie von Mitgliedern von Minderheiten, die unter Diskriminierung leiden. Aber, Betroffenheit kann Wissenschaft nicht ersetzen. Die Erkenntnisse von Betroffenen über die Ursachen das Übels, das ihnen zustößt, sind nicht zwingend die richtigen. Eine valide, d.h. auch prognose- und anwendungsfähige Friedenspsychologie setzt die Einhaltung von Qualitätsstandards voraus. Die müssen gemeinsam diskutiert werden und konsensual Anerkennung finden. Wenn aber wissenschaftliche Qualitätsstandards durch gruppenspezifische Standards ersetzt würden, besteht die große Gefahr, dass das die Qualität friedenspsychologischer Befunde und darauf aufbauender friedenspsychologischer Interventionen mindert. Wenn jede Gruppe glaubt, zu jeweils spezifischen Erkenntnissen gekommen zu sein, wird ein gemeinsames evidenzbasiertes Handeln gegen Missstände und Unrecht unmöglich. Wenn es nicht gelingt, einheitliche wissenschaftliche Qualitätsstandards zu sichern, wird die Entscheidung darüber, welcher Wissenschaft Anwender*innen am Ende folgen, eine Machtfrage.

Die Forderung nach einheitlichen wissenschaftlichen Standards bedeutet nicht, das Problem der unzureichenden Beteiligung von Minderheiten und Mitgliedern benachteiligter Gruppen an friedenspsychologischer Forschung und Anwendung auszublenden. Auch bedeutet es nicht, dass nicht verschiedene Forschungsgruppen zu unterschiedlichen wissenschaftlichen Ergebnissen kommen können. Die lassen sich in der Regel gegeneinander vergleichen und kritisch gegeneinander abtesten. Wichtig ist jedoch, dass alle Beteiligten für gemeinsame wissenschaftliche Qualitätsstandards eintreten, wobei diese Standards natürlich auch für kritische Diskussionen und Änderungen offen sein müssen. Und schließlich ist das Problem der Auswahl von friedenspsychologischen Forschungsfragen zu diskutieren, die sich sonst bevorzugt nach den Interessen privilegierter Gruppen richtet.

Wir brauchen auch qualitative Forschung

Kritisch-rationalistische friedenspsychologische Forschung beginnt mit der Erfindung einer Theorie und setzt sich fort in der nachfolgenden sauberen deduktiven Hypothesentestung. Das beschreibt allerdings nur einen Teil der real existierenden wissenschaftlichen Friedenspsychologie. Irgendjemand muss eine Theorie erfinden und sie oder er tut dies vor dem Hintergrund des Erlebens einer bestimmten Realität – z.B. auf Basis eigener Beobachtung oder auf der Basis von Erzählungen anderer. Ein viertes Problem der aktuellen psychologischen Forschungsorientierung ist, dass die Mainstream-Psychologie mit ihrer deduktiv-hypothesentestenden Orientierung die Phänomenologien dessen, was sie untersucht, oft zu stark vernachlässigt. Ich verwende bewusst den Plural, denn das Erleben von sozialen Situationen, insbesondere konfliktären, variiert, z.B. in Abhängigkeit von der eigenen Machtposition – wie oben geschildert: Diskriminierung sieht unterschiedlich aus für diejenigen, die diskriminieren, die diskriminiert werden und für die, die diese Situation, z.B. als Forscher*innen beobachten. Wir brauchen in stärkerem Maße als bislang offene qualitative friedenspsychologische Forschung, die hilft, die Bandbreite dessen zu verstehen, was und wie Menschen verschiedene Situationen erleben können. Wir müssen uns allerdings bewusst sein, dass die Erkenntnismöglichkeiten qualitativer wie quantitativer Forschung unterschiedlich sind: qualitative Forschung ist in der Regel in der Lage, etwas darüber zu sagen, was es alles gibt – z.B. welche Formen von Diskriminierung, nicht aber, wie oft es etwas gibt und womit es zusammenhängt. Das setzt Quantifizierung voraus.

Normativität

Fünftens, zu was genau kann die Friedenspsychologie eigentlich einen wissenschaftlichen Betrag leisten? Zur Auswahl von Wegen? Die Psychologie weiß beispielsweise viel darüber, wie sich Versöhnungsprozesse umsetzen lassen, wenn Versöhnung gewünscht ist. Und auch zur Festlegung von Zielen? Was beispielsweise soll im Ukraine-Kriege erreicht werden: Waffenstillstand oder Selbstbestimmung der Ukrainer*innen? Eine rein auf den empirischen Forschungsprozess konzentrierte Wissenschaft wie die Psychologie, die ihr Wahrheitskriterium aus empirischen Ergebnissen ableitet, hat zu einer solchen Frage der Zielsetzung wenig beizutragen. Die Angemessenheit von Zielen lässt sich in der Regel nicht empirisch ermitteln, sie folgen vielmehr aus ethisch-moralischen Überlegungen und demokratischen politischen Entscheidungen. Vielleicht liegt hier aber eine besondere Herausforderung und Chance für die Friedenspsychologie: Auch wenn ihr kritisch-rationalistisches Forschungsparadigma eine empirische Entscheidung über Zielfragen nicht möglich macht, doch immer wieder, in Kooperation mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen, das Ziel in den Vordergrund zu stellen: die Herstellung von Frieden. Dies wirft allerdings die nächste Frage auf: welcher Frieden eigentlich? Gerade die durchgängige kritische Auseinandersetzung mit dem Ziel Frieden begründet nach meiner Auffassung die Existenzberechtigung der Friedenspsychologie innerhalb der verschiedenen Psychologien. Die generelle Forderung, bei der Festlegung von Zielen als empirisch orientierte Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler zurückhaltend zu sein, bedeutet natürlich nicht, bei der kritischen Auseinandersetzung um Ziele völlig abstinent zu sein: Psycholog*innen sind auch Bürger*innen und sollten als solche durchaus ihre Stimme erheben – aber dann eben nicht in einer Rolle als Wissenschaftler*in.

Praktiker*innen einbeziehen

Eine weitere offene Frage ist schließlich die nach dem Verhältnis von Friedenspsychologie als einer Wissenschaft zu den Praktiker*innen, die, im günstigen Fall geleitet von friedenspsychologischen Modellen, vor Ort im Sinne der Schaffung von Frieden tätig sind. Friedenspsychologische Modelle und Theorien bestehen aus Aussagen auf der Basis von theoretischen Variablen – Frustration, die zu Aggression führt –, woraus man prognostizieren kann, dass mit dem Abbau von Frustration auch Aggression zurückgehen sollte. Diese theoretischen Variablen sind im Zuge einer Intervention in Praxis zu übersetzen: Was sind im konkreten Fall die frustrierenden Bedingungen und wie kann man sie ändern? Das setzt ein hohes Maß an praktischer Kompetenz voraus, etwas, worüber wissenschaftlich tätige Friedenspsycholog*innen nicht immer verfügen. Die unterschiedlichen Kompetenzen von Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen können zu Konflikten und zu erheblichen Verlusten in der Implementierungsgüte von eigentlich sinnvollen Maßnahmen führen, was vermieden werden sollte. Wissenschaftliche Friedenspsycholog*innen müssen sich ihrer Rolle im Verhältnis zu Praktiker*innen bewusst sein. Idealerweise gehört dazu, die hohe Kompetenz von Praktiker*innen anzuerkennen, Praktiker*innen als gleichberechtigte Partner*innen zu sehen, ihr oft implizites Wissen zur Optimierung von Interventionen zu nutzen und schließlich auch die eigenen Modelle nach den Interventionsergebnissen in einem Rückkopplungsprozess zu verbessern.

Anmerkung

1) Ich danke Christopher Cohrs, Marburg, Mario Gollwitzer, München, und Jost Stellmacher, Marburg, für ihre Kommentare zu einer ersten Version dieses Beitrags.

Ulrich Wagner ist Professor i.R. für Sozialpsychologie an der Philipps-Universität Marburg. Er war bis 2022 im Vorstand von W&F aktiv und hat zuletzt zur Kontakttheorie (handbuch-friedenspsychologie.de/) und zu Gewaltprävention publiziert.

Zivilgesellschaft und die UNO

Zivilgesellschaft und die UNO

Kritik, Verankerung, Zukunftsperspektiven

von Susanne Schmelter

Seit über 75 Jahren bietet das UN-System ein Forum zur multilateralen Konfliktregelung und hat wichtige Erfolge erzielt: etwa bei Abkommen zur Rüstungsbeschränkung, Einsätzen zur Friedenssicherung und Nothilfe. Druck aus der Zivilgesellschaft, von NGOs und durch Proteste, spielte dabei des Öfteren eine entscheidende Rolle. Trotz Erfolgen ist die Frustration über die UN und ihre Versäumnisse, internationale Kooperation und gewaltfreie Konfliktaustragung zu ermöglichen, gewachsen. Welche Möglichkeiten und Hindernisse gibt es für zivilgesellschaftliches Engagement, die Foren des multilateralen Dialogs mit Leben zu füllen?

Zeitgleich zum 40-Jahres-Symposium von W&F am 6./7. Oktober 2023 in Bonn eskalierte die Gewalt in Israel-Palästina in einen neuen Krieg. Die Anschläge und das Massaker der Hamas und die darauf folgende kollektive Bestrafung der Zivilbevölkerung Gazas durch das israelische Militär sorgen seitdem täglich für Entsetzen. Die UNO befasste sich in ihrer Geschichte mit keinem Konflikt so häufig und intensiv wie mit dem israelisch-palästinensischen, doch gescheiterte Friedensverhandlungen, miss­achtete Resolutionen und permanente Völkerrechtsverstöße haben insbesondere unter der betroffenen Zivilbevölkerung zu massiven Enttäuschungen geführt. Heute wird in der öffentlichen Entrüstung und den zahlreichen Stellungnahmen kaum noch an die UNO appelliert. Dabei hätten die UN-Institutionen durchaus die Möglichkeit, Friedenspläne zu oktroyieren und Völkerrechtsbruch zu sanktionieren, doch bleiben sie oft weit hinter ihren Möglichkeiten und eigentlichen Zielen zurück. Es greift allerdings zu kurz, die UNO als solche für dieses Scheitern zu kritisieren, denn es sind die derzeit 193 Mitgliedsstaaten, die der UNO ihre Bedeutung und Durchsetzungskraft verleihen.

Zivilgesellschaft und ihre Vertretung in den UN-Institutionen

Im Bereich von internationaler Kooperation und Konfliktbearbeitung wird neben staatlichen Akteuren oft »die Zivilgesellschaft« adressiert. Allerdings ist oft nicht eindeutig, wer oder was damit gemeint ist. Andreas Zumach verwies (beim Panel »Zivilgesellschaft und die UN« auf dem W&F Symposium in Bonn) darauf, dass es den Begriff »Zivilgesellschaft« vor Ende des Kalten Krieges praktisch nicht gab. Bis dahin handelte es sich eher um „thematische Druckbewegungen wie etwa die Frauenbewegung, Umweltbewegung, Anti-Atomkraftbewegung, die Friedensbewegung oder die damals so genannte Dritte-Welt-Solidaritätsbewegung“. Videoausschnitte zur Erinnerung an die Gründungszeit von W&F (am Vorabend) veranschaulichten dies eindrucksvoll: Bei Demonstrationen gegen den NATO-Doppelbeschluss versammelten sich allein in Bonn rund 150.000 Menschen, bundesweit mehrere hunderttausend Friedensbewegte.

Ab Anfang der 1990er Jahre seien zunehmend neue Begrifflichkeiten wie etwa »Soziale Bewegungen« und schließlich »Zivilgesellschaft« in der Forschung verwendet worden, führte Zumach aus und erinnerte, dass damals mit Zivilgesellschaft vor allem Organisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch im Menschenrechtsbereich oder große Organisationen wie die Women’s International League for Peace and Freedom (WILPF) gemeint waren. Seit 2000 wurde es jedoch schwieriger mit der Begrifflichkeit: Nach drastischen Budgetkürzungen innerhalb der UNO, bei denen zehn Prozent der Stellen ohne Diskussion über Priorisierungen gekürzt wurden, erklärte der damalige Generalsekretär Kofi Annan in Davos, neue »stakeholder« in der Gesellschaft zu brauchen und appellierte damit auch an die Verantwortung multinationaler Konzerne. Der sogenannte »Global Compact« bezog nicht nur klassische Menschenrechtsorganisationen ein, sondern auch Wirtschaftskonzerne, die sich fortan mit neun sehr allgemein gehaltenen Verpflichtungen zu Menschenrechtsfragen als zivilgesellschaftliche Akteure und UN-Partner begreifen durften. Viele Nichtregierungsorganisationen (NGOs) kritisierten den Mangel an verbindlichen Standards des »Global Compact«, einige, darunter auch Amnesty International, schlossen sich dem Pakt jedoch auch an.

Institutionalisierte Teilhabe

Der Bereich im UN-System, in dem die Partizipation von NGOs zumindest formal am weitreichendsten geregelt ist, ist der Bereich Menschenrechte. In der Menschenrechtskommission, seit 2006 Menschenrechtsrat, haben NGOs ein formales Teilnahmerecht, Rederecht und auch das Recht, Anträge zu stellen. Abstimmen können sie nicht, das Stimmrecht liegt weiterhin bei den Staaten. Diese Teilhabemöglichkeiten auch in andere Gremien der UN auszuweiten, wäre eine wichtige Komponente, um den Schutz von Menschenrechten noch besser zu gewährleisten: NGOs könnten so verstärkt für die Rechte der zivilen Bevölkerung eintreten – gerade wenn die Staaten diese Pflichten nicht ausreichend wahrnehmen oder wenn multinationale Wirtschaftsunternehmen Menschenrechtsstandards untergraben. Allerdings versuchen immer mehr Staaten (z.B. China, Pakistan, Saudi-Arabien) in Reaktion auf die Erfolge und Berichte von Menschenrechtsorganisationen, die Partizipationsrechte und Einflussmöglichkeiten von NGOs bei multilateralen Verhandlungen innerhalb und außerhalb des UN-Systems einzuschränken.

Erfolge für die Zivilgesellschaft

Auch wenn es diskussionswürdig ist, welche Gruppen sich unter dem Label der »Zivilgesellschaft« bei UN-Foren präsentieren und akkreditieren, lässt sich festhalten, dass die wichtigsten internationalen Abkommen seit Ende des Kalten Krieges nur durch starkes Engagement globaler Koalitionen von NGOs innerhalb wie außerhalb der UNO zustande kamen.

Einige Erfolge zivilgesellschaftlichen Drucks aus den vergangenen Jahren:

  • Der völkerrechtlich verbindliche Vertrag über das Verbot von Atomwaffen von 2017, der 2021 ratifiziert wurde, darf als größter Erfolg der Friedensbewegung angesehen werden.
  • Eine breite internationale Koalition von über 1.000 NGOs setzte sich für den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) ein, der 1998 eingerichtet und 2003 ratifiziert wurde.
  • Das Kyoto-Rahmenabkommen (1997) und die Klimaverträge von Paris (2016).
  • Das bilaterale Abkommen zwischen der Sowjetunion und USA zur Abrüstung von Kurz- und Mittelstreckenraketen (INF-Vertrag), 1987 unterzeichnet, 1998 ratifiziert.
  • Die Abkommen zur Ächtung von Anti-Personenminen (1997) und von Streumunition (2008) kamen auf Druck einer internationalen Koalition von NGOs außerhalb der UNO zustande und haben seitdem 122 Unterzeichnerstaaten gewonnen.

Aktionsformen und -formate

Während der Unterhalt von Organisationen oft aufwendig sei (Zeit, Geld, Energie, Reisen), wirke der Druck »daheim«, also auf die Vertreter der eigenen Regierung, oft am effektivsten, fasste Zumach zusammen. Die Diplomaten und gewählten Vertreter würden so in ihrem Abstimmungsverhalten durch die Stimmung in der Bevölkerung beeinflusst.

Aktionen, die von großen NGOs direkt an den Orten multilateraler Verhandlungen an die UN-Gremien gerichtet werden, hätten da oft weniger Auswirkungen. Doch es gäbe auch beachtliche Beispiele für NGO-Engagement am Ort der Verhandlungen: Zumach führte hier die Verhandlungen zum Giftmüllabkommen an. Greenpeace habe damals kurz vor Verhandlungsbeginn in einer sehr medienwirksamen Aktion Behälter von Giftmüll direkt vor den Konferenzort gebracht (»Toxic Trade Campaign«). Das habe die Diplomaten derart beeindruckt, dass schließlich – und nach mehreren Sondersitzungen der europäischen Staaten – eine Mehrheit für das Verbot zum Export gewonnen wurde.

Andere Aktionen, wie etwa eine Mahnwache, die über 20 Jahre in Genf gegen ein geheimes Abkommen protestierte, wonach die WHO kein Recht hat, sich um Opfer radioaktiver Strahlung zu kümmern, haben allerdings nichts bewirkt – es fehlte der zivilgesellschaftliche Druck in den relevanten Mitgliedsländern. Auch im Falle Syriens mangelte es an nennenswertem zivilgesellschaftlichen Druck, um zum Ende des Krieges und zu einer Vereinbarung zu kommen.

Generell orientieren sich die diplomatischen Vertretungen – zumindest aus demokratischen Staaten – an der Stimmung ihrer Wählerschaft und sind damit durch Protest »zuhause« leichter zu beeinflussen. Um die Stimmung bzw. das Abstimmungsverhalten direkt am Ort der Verhandlungen zu beeinflussen, braucht es strategisch kluge und medienwirksame Aktionen.

Beispiel Syrien: Zivilgesellschaft zwischen Vernachlässigung und »local turn«

Im Falle Syriens zeigt sich das ambivalente Verhältnis von zivilgesellschaftlichen Akteuren und der UNO besonders deutlich: Als die Proteste 2011 in Syrien begannen, waren die wenigen existierenden zivilgesellschaftlichen Organisationen und Interessenvertretungen streng vom Regime reglementiert und freie Meinungsäußerung war kaum möglich. Als die Menschen mit den Rufen nach Freiheit und Würde auf die Straße gingen, brach sich ein oft kreativer Aktivismus Bahn. Syrische »Aktivisten« fanden fortan als Vertreter der syrischen Zivilgesellschaft auch international Gehör – doch wurde der Wunsch nach einer Öffnung des Landes und einer Geltendmachung internationaler Normen auch für Syriens Bevölkerung bitter enttäuscht.

Zu den sogenannten Genfer-Verhandlungsrunden (2012, 2014, 2016, 2017) wurden auch zahlreiche Aktivisten und Vertreter der Opposition eingeladen. Allerdings einigten sich die Konfliktparteien mitnichten auf eine politische Lösung; allenfalls Zugeständnisse des Regimes zur Errichtung humanitärer Korridore wurden als »Erfolge« verbucht – obwohl dessen Abriegelung von Wohngegenden (wie auch die Verwendung von Chemiewaffen und Fassbomben) Verstöße gegen das Völkerrecht darstellen. Den UN-Vermittlern gelang es angesichts der Blockaden im Sicherheitsrat nicht, einen Friedensplan durchzusetzen. Auch in weiteren Formaten außerhalb der UNO (Astana-Formate, u.a.) gelang kein Durchbruch, die Beteiligung der Zivilgesellschaft schwankte jeweils deutlich.

Aufbauend auf ihrer Forschung zur syrischen Diaspora, schilderte Maria Hartmann auf dem W&F-Symposium, wie syrische Menschenrechtler dennoch beharrlich an die UN-Institutionen appellierten. Zuletzt wirkten Menschenrechtsorganisationen immerhin erfolgreich auf eine unabhängige UN-Institution für die Verschwundenen (»UN Independent Institution on Missing Persons in the Syrian Arab Republic«) hin. Strafrechtlich relevante Erfolge wurden allerdings andernorts erwirkt: So gelang 2022 unter Berufung auf das Weltrechtsprinzip die Verurteilung zweier syrischer Kriegsverbrecher vor dem Oberverwaltungsgericht in Koblenz. Bei aller Bedeutung dieser Erfolge würden sie doch nicht ausreichen, um der eklatanten Straflosigkeit, mit der das Regime agiert, etwas entgegenzusetzen, so Hartmann. Dies habe verheerende Signalwirkungen auch für andere Machthaber und biete keine Rückkehrperspektive für die vielen Geflüchteten.

Bei meiner Forschung im Libanon zur Flucht aus Syrien (Schmelter 2021) konnte ich die um sich greifende Rechtlosigkeit der Zivilbevölkerung noch auf einer anderen Ebene beobachten: Obwohl der politische Aktivismus, der im Zuge der Proteste aufkeimte, im Exil neue Möglichkeiten zur Organisation fand, drängte die kriegsbedingte humanitäre Notlage die Aktivisten oft zu einer humanitären Ausrichtung ihres Engagements. Dies geht im Sinne der Finanzierungslogik gewöhnlich mit einem Bekenntnis zum humanitären Prinzip der »Neutralität« einher. Das Eintreten für Bürgerrechte oder einen rechtebasierten Status im Exil stand dann nicht mehr im Vordergrund. Dies führt in der Konsequenz zu einer Entpolitisierung der Möglichkeiten von Zivilgesellschaft, sich im Rahmen internationalisierter Strukturen und Zusammenhänge Gehör zu verschaffen.

Im Libanon hörte ich zudem oft Kritik von Personen, die selbst aus Syrien kamen und sich nun vor Ort für die Versorgung von anderen Geflüchteten engagierten. Während diese Aktivisten bzw. zivilgesellschaftlichen Akteure meist einräumten, dass internationales Engagement an sich wichtig sei, beklagten sie auch, dass ihr Wissen von den Verhältnissen vor Ort nicht ausreichend mit einbezogen werde, dass UN-Engagement abgehoben und überteuert sei. Während sie als lokale Akteure zwar hinsichtlich ihrer Kenntnisse (etwa für sogenannte »needs assessments«) angefragt würden, hätten sie nur wenig Entscheidungsbefugnisse über die Verteilung der Mittel. Verfahrensstandards, Sprache und professionelle Verwaltung wirkten zudem manchmal gar als Ausschlusskriterium für lokale Initiativen, die Interesse an der Kooperation mit internationalen Organisationen gehabt hätten.

In Anbetracht solcher und ähnlicher Kritik hat die Bedeutung lokal verankerter Ansätze auch international zunehmend Beachtung gefunden. Im humanitären Bereich zielt der 2016 von Geberländern und internationalen Organisationen beschlossene »Grand Bargain« u.a. darauf ab, die Vertretung und den Einfluss lokaler Akteure zu stärken – blieb allerdings gerade bei dieser Zielsetzung bis 2023 weit hinter den Erwartungen zurück. Unter dem Stichwort »Localisation« wird auch im Bereich von Entwicklung und Friedenssicherung versucht, möglichst viel Handlungsmacht bei den lokalen Akteuren zu lassen. Begriffe wie »local ownership« und »capacity building« sind dabei prominent geworden. Eine Kritik am Ansatz ist jedoch, dass oft ungeklärt bleibt, was mit lokal genau gemeint ist und wer das Lokale repräsentieren soll. Der zivile Friedensdienst aus Deutschland leistet einige Pionierarbeit in dem Versuch, internationale Kooperation, insbesondere im Bereich der Friedensförderung, partnerschaftlich zu gestalten. Dennoch bleiben Spannungen: Machtungleichgewichte zwischen lokal und international agierenden zivilgesellschaftlichen Organisationen manifestieren sich bspw. in Projektlaufzeiten und Finanzierungsmöglichkeiten – und die Zivilgesellschaft in den Länderprogrammen tritt v.a. als Projektpartner in Erscheinung (Ruppel 2023).

Heterogenes Engagement und eine gemeinsame Vision

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass »die Zivilgesellschaft« sehr heterogen ist, sowohl in ihrer politischen Ausrichtung als auch in ihrem Organisationsgrad. Wohl jedoch scheint beim Sprechen von Zivilgesellschaft – insbesondere im Vergleich zu Bewegungen – eine Konnotation von Organisiertheit mitzuschwingen, die mit einem Trend zur Professionalisierung des Engagements einhergeht. In vielen Fällen ist eine Kenntnis der Abläufe im UN-System bzw. das Verständnis einer bestimmten Programmlogik ausschlaggebend für das Gelingen zivilgesellschaftlichen Engagements im internationalen Rahmen.

Wichtiger als die Professionalität der Organisationsstruktur scheint jedoch das Erfassen der politischen Thematik bzw. das Konfliktverständnis, um auf relevante Prozesse und Entscheidungen bei der UNO bzw. die Entscheidungsträger der staatlichen Vertretungen Einfluss zu nehmen. Eine geschickte Auswahl der politischen Kräfte und der Orte für solche Interventionen sowie eine medienwirksame Inszenierung scheint dafür unerlässlich.

Auch wenn bei der UNO vieles reformbedürftig ist, so bieten ihre multilateralen Foren doch einen Verhandlungsrahmen für globale Themen wie gewaltfreie Konfliktbearbeitung, gerechte Handelsabkommen, Wahrung der Menschenrechte sowie den Schutz natürlicher Lebensgrundlagen und Ressourcen. Sie erlauben außerdem die Vernetzung und Bündelung zivilgesellschaftlicher Kräfte und ermöglichen damit, auch lokales Engagement in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Das Festhalten am Völkerrecht und der Vision eines friedlichen Zusammenlebens gewinnt gerade in Kriegszeiten eine besondere Bedeutung.

Literatur

Ruppel, S. (2023): Lokal verankerte Zivile Konfliktbearbeitung zwischen Partnerschaft und Machtungleichgewicht. Studien des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. Wiesbaden: Springer.

Schmelter, S. (2021): Humanitäres Regieren und die Flucht aus Syrien. Ethnographische Untersuchungen zum Migrations- und Grenzregime im Libanon. Doktorarbeit, Georg-August-Universität Göttingen. DOI: doi.org/10.53846/goediss-8238.

Dr. Susanne Schmelter, Friedens- und Konfliktforscherin und Anthropologin. Nach Studium in Marburg und längeren Forschungsaufenthalten im Nahen Osten, lebt sie nun in Genf, wo sie 2022 »Manara Association for Multilateral Dialogue« gegründet hat; zudem arbeitet sie freiberuflich als Beraterin für Friedensorganisationen.

Kritik des gläsernen Gefechtsfeldes

Kritik des gläsernen Gefechtsfeldes

Was Sprachmodelle und Massendaten im Krieg bedeuten

von Christian Heck

Für die »Kriegsführung 4.0« ist das »gläserne Gefechtsfeld« ausschlaggebend. Doch das »Internet of Military Things« (IoMT) und »Battle Management Systeme« sind nicht nur militärisch, sondern auch aufgrund ihrer Operationslogik hochgradig kritikwürdige Instru­mente. Der Trend zu immer mehr Komponenten des Maschinellen Lernens, die in diese Systeme implementiert werden, scheint derzeit unaufhaltbar. Es gilt, die grundsätzlichen Prämissen dieser Systeme adäquat zu kritisieren. Insbesondere die Bedeutung, die ihnen mittlerweile für kriegerisches Handeln zugemessen wird, muss umso mehr Anlass für Kritik sein, die in diesem Beitrag ausgeführt wird.

Die letzte sogenannte »Revolution in Military Affairs«, die vernetzte Kriegsführung (»Network Centric Warfare« (NCW)) der späten 1990er Jahre, in der technologische Innovationen gezielt zur Vernetzung vieler Informations- und Aufklärungssysteme miteinander gestaltet wurden, wurde im 2. Golfkrieg erstmals durch die US-Streitkräfte als Testfeld unter Beweis gestellt. Es entwickelte sich in der Folge eine systemische Denkweise von Militärtheoretiker*innen, dass durch ein integratives Verständnis von Einzelkomponenten exponentielle Leistungssteigerungen des Gesamtsystems in seiner militärischen Wirksamkeit erreicht werden können. Dieses frühe »Internet der Dinge« (IoT) verwob sich zunehmend mit dem Internet, das wir heute kennen: mit Sozialen Netzwerken, IT-Monopolen und Clouds, die riesige Rechenzentren weltweit zu Big Data durch Deep Learning1 und weitere neue technische kognitive Systeme verrechnen. Ein Auftakt ins neue Jahrtausend.

Ein Jahrtausend hybrider Konflikte und »gläserner Gefechtsfelder« mit Kampfhandlungen in unseren Städten, im Netz, sowie auch im Weltraum. Das »Internet of Military Things« (IoMT) und die »Kriegsführung 4.0« (vgl. W&F 4/2019) entwickelten sich aus zahlreichen Spin-in und Spin-off Effekten, d.h. Innovationen aus Industrie, Wirtschaft und Gesellschaft, die vom Militär übernommen wurden und umgekehrt. Militärtechniken fanden auf diese Weise Eingang in unsere zivilen Räume. In öffentliche und private Räume, in denen wir uns bewegen und miteinander sprechen, bzw. chatten.

Eine technisch erzeugte Wirklichkeit

Um »Multi Domain Operationen« (MDO) auszuführen, das heißt sich innerhalb dieser neu ausgeschriebenen Gefechtsfelder zurechtzufinden, Objekte und Situationen zu erkennen, sie adäquat einzuschätzen, um daraufhin besten Gewissens Entscheidungen zu treffen, benötigen Soldatinnen und Soldaten in Operationszentralen technische kognitive Systeme, sogenannte »Battle Management Systeme« (BMS), zu deutsch: digitale Führungssysteme. Diese Systeme dienen in erster Linie der Entscheidungsunterstützung, da die notwendigen Erkenntnisse innerhalb dieser Art der High-Tech-Kriegsführung nur durch die Unterstützung durch Technologien erlangt werden können. Diese digitalen Führungssysteme versprechen Einsatzschnelligkeit – und in der Vision von MDOs soll dies heißen, nicht nur möglichst schnell, d.h. in Echtzeit, sondern gar seiner Zeit voraus zu handeln. Diese innerhalb dieser Gefechtsfelder durch und durch technische Zeiteinheit jedoch ist nicht für den Menschen gemacht, sondern zur möglichst fehlerfreien Funktionstüchtigkeit der technischen Systeme selbst. So auch die Interpretation anfallender Datenströme, die im gläsernen Gefechtsfeld in Echtzeit in militärisch-technische Handlungen überführt werden müssen. Auch diese sind nicht für den Menschen gemacht und er wird die undenkbare Masse an Daten nicht alleinig bewältigen können, sei er noch so gut ausgebildet. Auch hierfür braucht es technische kognitive Systeme auf aktuellem Stand und ein ausgefeiltes »Man Machine Teaming« (MMT).

Dies bedeutet jedoch auch, dass im gläsernen Gefechtsfeld kognitive Technologien das meiste, das man wahrnehmen und erkennen kann, auch erst herstellen, dass das gläserne Gefechtsfeld also eine technisch erzeugte Wirklichkeit ist. Unter anderem deshalb ist es in MDOs zwingend notwendig, zur eigenen technischen Handlung während der militärischen Operationen Distanz einzunehmen, bzw. einnehmen zu können. Dies erfordert, Trennlinien zu setzen zwischen technischer und menschlicher kognitiver Leistung.

Da es bei militärischen Operationen fast immer um Leben und Tod geht, muss ethisch die letzte Entscheidung beim Menschen liegen. Zugleich müssen Führungskräfte, Beamt*innen und politische Entscheidungsträger*innen aber auch anerkennen, dass diese Entscheidungsfindung ohne technische kognitive Systeme nicht realisierbar ist. Sie müssen hierfür also mehr eine innere als eine analytische oder formale Grenze setzen. Eine Grenze zwischen dem Gewissen und der Entscheidung, basierend auf technischer Kognition.

Denn die spezielle Art dieser technischen Systeme räumt menschlichen Akteuren und nicht-menschlichen Artefakten eine gänzlich neue aktive politische Handlungskraft ein. Auch jenen, die in früheren Operationspraxen eine unwichtige, bisweilen gar keine Rolle, zumindest aber eine andere spielten: Dazu zählen unter anderem Betreiber*innen von Cloud­plattformen, Rechenzentren und Satellitenanlagen, kriegspropagandistische Influencer*innen oder eben BMS.

Die Integration von großen Sprachmodellen

Erste Komponenten für MDOs wurden bereits in den frühen 1980er Jahren in den Militärapparat implementiert. Hans-Jörg Kreowski erinnerte in seinem Artikel »Die militärische Seite der Digitalisierung« (Kreowski 2023) bspw. an die »Strategic Computing Initiative (SCI)« aus dem Jahr 1983, die das US-Verteidigungsministerium bereits Jahrzehnte vor der Notwendigkeit von Multi Domain Operationen in gläsernen Gefechtsfeldern startete. Mit SCI sollten KI-Projekte entwickelt werden, bei denen neben dem Design autonomer Landfahrzeuge auch die Konzeption eines frühen BMS und eines Sprachassistenten für die Pilot*innen der Luftwaffe zur Aufgabe standen.

Die jüngste Generation von Software-Produkten, die aus diesem Ansatz heraus entwickelt wurden, ist im April diesen Jahres auf dem Markt erschienen. Im September 2023 unterzeichnete das erste Rüstungsunternehmen einen Vertrag mit dem Hersteller, dem US-amerikanischen Datenanalyse-Unternehmen »Palantir« (vgl. Palantir Technologies 2023a). Mit ihrer digitalen Plattform »AIP for Defense« (Palantir Technologies 2023b) werden große vortrainierte Sprachmodelle mit künstlichen neuronalen Einbettungen (LLMs) für militärische Operationen nutzbar gemacht.

Das Unternehmen selbst wurde 2004 gegründet und nahm in diesem Jahrtausend u.a. im »Krieg gegen den Terror« eine nicht zu unterschätzende Rolle ein. Es spezialisierte sich ziemlich schnell auf die Überwachung von Individuen und die Zusammenführung eigentlich getrennter Datenbestände und wurde somit ein wichtiger Akteur in hybriden und asymmetrischen Kriegsführungsstrategien.

Ihre Datenbankvisualisierungs- und Analyse-Software »Gotham« wurde unter anderem zuerst von der »Joint Improvised-Threat Defeat Organization« (JIDO) getestet, einer Einheit des US-Verteidigungsministeriums (DoD), die eingerichtet wurde, um einem neuen Phänomen in dieser Art des Krieges entgegenzuwirken: dem von Anschlägen mit improvisierten Sprengsätzen (»Improvised Explosive Devices« (IED)), mit Autobomben, Paketbomben, Selbstmordattentaten, etc. Die CIA, die NSA und das FBI wurden ziemlich schnell zu Kunden von Palantir. Auch die Europäische Polizeibehörde Europol nutzt inzwischen Produkte von Palantir für die Datenauswertung. In der Bundesrepublik wird Palantirs »Gotham« u.a. in Bayern als »Verfahrensübergreifende Recherche- und Analyseplattform« (Vera) eingesetzt. Auch die Polizei in NRW hat Software von Palantir in Betrieb, mit der »Datenbankübergreifende Analyse und Recherche Software« (DAR). In Hessen wurde Gotham in dem System »HessenData« seit 2017 eingesetzt. Die Landesregierung in Hessen hatte die Anschaffung der Software freigegeben gehabt, doch der Einsatz wurde im Februar 2023 vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe als verfassungswidrig eingestuft. Soweit bekannt, führt das System Daten aus sozialen Medien mit Einträgen in verschiedenen polizeilichen Datenbanken sowie Verbindungsdaten aus der Telefonüberwachung zusammen, um mögliche Straftäter*innen zu ermitteln. Zudem spielte Palantir eine nicht unerhebliche Rolle im Skandal um »Cambridge Analytica«. Das Unternehmen soll Facebook bei der Auswertung der illegal weitergegebenen Daten mitgeholfen haben.

Palantirs neuestes Softwarepaket »AIP for Defense« nun wird in naher Zukunft Einsätze unterstützen, indem es u. a. feindliche Stellungen erkennt und durch eine Chatfunktion (ähnlich dem Interface der international viel diskutierten KI »ChatGPT«) Gegenmaßnahmen vorschlägt und gegebenenfalls autonom ausführt – wie z.B. das Starten einer Aufklärungsdrohne ins Zielgebiet. Doch nicht nur das Interface mit integrierter Chatfunktion erinnert an ChatGPT, auch das maschinelle Lernverfahren in AIP ist ein ähnliches wie bei OpenAI’s Künstlicher Intelligenz hinter ChatGPT: Das generative Sprachmodell GPT (Generative Pretrained Transformer).

GPT ist ein LLM, dessen 175 Milliarden Parameter auf Clouds trainiert werden, die über viele Rechenzentren verteilt sind und dessen Entwicklung derzeit an physische und auch ökologisch tragbare Grenzen stößt. Der Stromverbrauch für das Training entspricht dem von 3.000 europäischen Durchschnittshaushalten, eine Frage an ChatGPT benötigt 1.000 Mal mehr Strom als eine Suchanfrage bei Google und für jede Antwort, die man von dem Bot erhält, könnte man ein Smartphone bis zu 60 Mal aufladen. Vermutlich ist AIP for Defense eines der ersten Battle Management Systeme, die LLMs implementiert haben.

Wie maschinelles Wissen gemacht wird

Bisher hatten LLMs wie eben GPT-3, bzw. -4, LaMDA und PaLM von Google oder LlaMA von Meta in digitalen Führungssystemen eine eher kleine, bis gar keine Rolle gespielt. Etablierteren Ansätzen, wenn auch nicht zwingend minder experimentellen, bei der komputativen Verarbeitung natürlicher Sprache (NLP2), kann auf der anderen Seite schon seit Jahren eine Art Schlüsselrolle zugeschrieben werden.

Der Sozialpsychologe und Sozialwissenschaftler James W. Pennebaker fasste eines der Hauptargumente hierfür wie folgt zusammen: „Die Worte, die wir im täglichen Leben verwenden, spiegeln wider, worauf wir achten, woran wir denken, was wir zu vermeiden versuchen, wie wir uns fühlen und wie wir unsere Welt organisieren und analysieren.“ (Tausczik und Pennebaker 2010, S. 25)

Die Entwicklung von »Word embeddings«3, zu deutsch: Worteinbettungen, eröffnete hierfür einen gänzlich neuen Handlungsspielraum in der komputativen Sprach- und Netzwerkanalyse.

Zur Extraktion inhaltlicher Strukturen, Features, Organisationseinheiten etc., werden aus einer Vielzahl von generierten semantischen Beziehungen zwischen Wörtern und Sätzen symbolische Repräsentationen in Sprachmodellen mit künstlichen neuronalen Einbettungen errechnet. Die Wörter und Sätze, die es zu berechnen gilt, kommen u.a. aus »Open Source Intelligence«-Datensätzen (Medienberichten, Social Media, wissenschaftlichen Arbeiten, öffentlich zugänglichen Statistiken etc.), aus Berichten von Geheimdiensten und des militärischen Nachrichtenwesens, Analysen von Sicherheitsbehörden, Erkenntnissen aus der signalerfassenden Aufklärung, der Bild- und Satellitenaufklärung, von Bots, Drohnen und anderen technischen kognitiven Systemen bzw. unbemenschten Fahrzeugen. Die »Lern«-Kriterien, nach denen maschinell Bedeutungen generiert werden, liegen in diesen Sprachmodellen verankert. Nach ihnen werden die Millionen von Gewichtungen, die an den einzelnen künstlichen Neuronen liegen, eingestellt. Eine undenkbare Masse an Informationen aus den unterschiedlichsten Quellen wird für diesen Prozess gesammelt. Sie wird übersetzt, selektiert, kategorisiert und mit strukturierten Daten angereichert, sprich sie wird enkodiert. Sie wird maschinenlesbar gemacht (»machine readable«), um sie dann nach ihrer Verarbeitung wieder für den Menschen lesbar zu machen (»human readable«). Es findet auf diese Weise eine maschinelle Vorinterpretation statt. Eine Menschenlesbarmachung von maschinell erlernten symbolischen Repräsentationen, nach vorgegebenen Regeln, die im Code verankert sind.

Als im Jahr 2013 das vortrainierte Sprachmodell »Word2vec« von einem Google-Forscherteam veröffentlicht wurde, galt dies als ein Durchbruch in den NLP-Forschungsgemeinden. Es wurde recht zügig in Technologien der inneren und äußeren Sicherheit implementiert und ist bis heute noch eines der gebräuchlichsten Modelle zur Generierung von Worteinbettungen mittels Deep Learning. Die von Word2vec erzeugten Worteinbettungen können einfach und bequem zur Weiterverarbeitung verwendet werden, und zugleich konnte das KI-Modell Ergebnisse auf dem neuesten Stand der Technik (ca. 2013-15) liefern.

Die inneren Funktionsweisen vortrainierter Sprachmodelle mit künstlich neuronalen Einbettungen, egal ob LLMs oder Word2vec, beruhen auf der Idee, dass im Gegensatz zur formalen Linguistik und zur Chomsky’schen Tradition allein die Kontextinformation eine brauchbare Darstellung sprachlicher Elemente darstellt. Je nach Modell werden hier einzelne Wörter eines Korpus (Textes) als symbolische Repräsentationen in einem semantischen Vektorenraum (Wortraum) mit etwa 300 Dimensionen dargestellt. Zum Vergleich: in heutigen Transformer Architekturen à la GPT-3 werden 1.536 Dimensionen pro Wort errechnet. Worteinbettungen repräsentieren also den innertextlichen Kontext eines Datensatzes, in dem das jeweilige Wort vorkommt.

Niemanden interessiert, wie es funktioniert, solange es funktioniert

Das Studium aktueller NLP-Forschungsarbeiten zeigt, dass trotz der weit verbreiteten Anwendung von künstlich neuronalen Worteinbettungen noch immer erstaunlich wenig über die Struktur und die Eigenschaften – und folglich auch die Konsequenzen – dieser Einbettungsräume bekannt ist. Dennoch werden zunehmende Teile von Welt durch sie in formale, computerlinguistisch verarbeitbare Informationen und Beschreibungsebenen (Morphologie, Syntax, Semantik, Aspekte der Pragmatik etc.), das heißt in symbolische Repräsentationen umgewandelt.

Auf diese Weise fließen aber auch immer wieder auftauchende, bisweilen diskriminierende Tendenzen, bis hin zu Rassismen in digitale Führungssysteme mit ein. Sogenannte »Verzerrungen«, die diesen textanalytischen Machine-Learning-Verfahren zwar nicht explizit, auch nicht vorsätzlich eingeschrieben werden, die aber dennoch im realweltlichen Gebrauch in Erscheinung treten. Denn trotz dieser bekannten und in den letzten 3-4 Jahren auch in der Öffentlichkeit verhandelten Defizite von KI-Sprachmodellen implementieren Firmen diese weiterhin in ihre Produkte und verkaufen sie an Sicherheitsbehörden und an das Militär.

Der Trend hin zu immer größer werdenden Modellen und immer mehr (unüberprüften) Trainingsdaten in den letzten Jahren führt auch zu einer immer schlechter werdenden Kontrollierbarkeit der inneren Funktionsweisen von technischen kognitiven Systemen. Funktionsweisen, durch die Minderheiten diskriminiert und gesellschaftliche Gruppen marginalisiert werden, und das auf eine Weise, die meist den Entwickler*innen selbst nicht bekannt, bzw. bewusst, schlimmstenfalls egal ist (vgl. Bender et al. 2021).

Auch aus diesem Grund ist es für Soldatinnen und Soldaten in Operationszentralen oder in Ämtern und Firmen, die die analytische Ausarbeitung für Führungskräfte unterstützen, unabdingbar, sich ein grundlegendes Verständnis des inneren Aufbaus dieser technischen kognitiven Systeme anzueignen. Denn die Bedeutung der jeweiligen militärisch-technischen Handlung muss aus diesen Systemen heraus, also in deren inhärenter Pragmatik erschlossen werden. Aus technischen kognitiven Systemen, die neben ihrer natürlichen Begrenztheit zugleich auch eine scheinbare Grenzenlosigkeit zu Tage fördern.

Eine Grenzenlosigkeit, die in ihrem Lern-Vermögen liegt, die uns derzeit auch bis zur Entgrenzung unseres menschlichen Denkens führt. Denn diese technischen Systeme können „sowohl lernen, dass die Erde flach ist, als auch rund“ (Chomsky et al. 2023), so Noam Chomsky (linker Intellektueller, Anarchist und emeritierter Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology, MIT) im März 2023 in der »New York Times«. Sie können auch lernen, dass seit weit über einem Jahr ein von Russland geführter Angriffskrieg gegen die ukrainische Bevölkerung wütet. Im nächsten Moment können sie dies jedoch auch wieder verlernen, egal ob es der Wirklichkeit entspricht oder nicht. Was diese technischen kognitiven Systeme eben nicht können, ist ihre innere Grenzenlosigkeit durch ethische Prinzipien einzuschränken. Eine Eigenschaft, die wir als »moralisches Denken« bezeichnen. Die technischen kognitiven Systeme sind, während sie prozessieren, getrennt von der Außenwelt. In ihren inneren Entscheidungsfunktionen liegen keine Modellierungen von dem, was Worte, was Dinge, was Taten und Ereignisse für uns in der Welt bedeuten. Dennoch werden sie über Leben und Tod von Soldatinnen und Soldaten, von Jugendlichen, von Großeltern, von Eltern und unseren Kindern algorithmisch mit entscheiden.

Anmerkungen

1) Die Technologie des »Deep Learning« begann sich um die Jahrtausendwende zu entfalten. Es begann bald darauf die Zeit von Big Data (dem Anstieg der Datenmengen durch die Verbreitung der Internettechnologien) und es wurden erhebliche Fortschritte in den Computertechnologien (in der Rechenkapazität, GPUs und preiswerten Speichertechnologien) erzielt. Erst durch diese technische Infrastruktur wurde die Weiterentwicklung der Künstlichen Neuronalen Netze (KNN) hin zum Deep Learning im Forschungs- und vermehrt auch im Anwendungsbereich möglich. Von dieser Technologie sprechen wir heute in erster Linie, wenn von Künstlicher Intelligenz zu hören ist: der subsymbolischen Künstlichen Intelligenz.

2) Das Kürzel NLP steht für Natural Language Processing. Eine Mischwissenschaft, die anteilig aus der Computerlinguistik, den Computerwissenschaften und der Künstliche Intelligenz Forschung besteht. Sie ist eine Wissenschaft der algorithmischen Verarbeitung von Sprache, der Verarbeitung von Daten und des künstlich intelligenten Verhaltens zugleich.

3) Der Sammelbegriff »Word embeddings« steht für eine Reihe von Sprachmodellierungs- und Feature-Learning-Techniken in NLP, bei denen Wörter oder Phrasen aus dem Vokabular auf Vektoren mit reellen Zahlen abgebildet werden: z.B. eine globale Korpusstatistik (GloVe: Globale Vektoren für Wortdarstellung) oder eine Wortkontextdarstellung (Word2vec), siehe Mikolov et al (2013).

Literatur

Bender, E. M.; Gebru, T.; McMillan-Major, A.;; Shmitchell, Sh. (2021): On the Dangers of Stochastic Parrots: Can Language Models Be Too Big? FAccT ‚21: Proceedings of the 2021 ACM Conference on Fairness, Accountability, and Transparency, S. 610-623.

Chomsky, N.; Roberts, I.; Watumull, J. (2023): The False Promise of ChatGPT. New York Times, 8.3.2023.

Kreowski, H.-J. (2023): Die militärische Seite der Digitalisierung. IMI-Ausdruck 113, S. 25-27.

Mikolov, T.; Sutskever, I.; Chen, K.; Corrado, G.; Dean, J. (2013): Distributed Representations of Words and Phrases and their Compositionality. NIPS‘13: Proceedings of the 26th International Conference on Neural Information Processing Systems – Volume 2, S. 3111–3119.

Palantir Technologies (2023a): Palantir Technologies Signs Partnership With Titan Defence Firm, Babcock. Pressemitteilung, 13.9.2023.

Palantir Technologies (2023b): AIP for Defense. Homepage, URL: palantir.com/aip/defense/.

Tausczik; Y. R.; Pennebaker, J. W. (2010): The Psychological Meaning of Words: LIWC and Computerized Text Analysis Methods. Journal of Language and Social Psychology 29 (1), S. 24-54.

Christian Heck ist künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter für Ästhetik & neue Technologien / Experimentelle Informatik und Doktorand an der Kunsthochschule für Medien Köln. Seine Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte liegen auf Friedensforschung, Ästhetische Praxis und Ethik der Künstlichen Intelligenz mit Fokus auf Generative Systeme, ADM, IT-Sicherheitstechnologien, Kampfdrohnen und autonome Waffensysteme. Er ist Mitglied im Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF) e.V. und der Gesellschaft für Informatik (GI).

Frieden durch Dekarbonisierung?

Frieden durch Dekarbonisierung?

Kolumbiens Energiewende und ihre Schattenseiten

von Benno Fladvad

Erneuerbare Energien schaffen Frieden. Dieses Argument ist vor allem seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine immer öfter zu hören. Auch wenn es nicht grundsätzlich falsch ist, greift es doch zu kurz: Anhand konzeptioneller Überlegungen zu den sicherheitspolitischen Dimensionen der Energiewende und am Beispiel Kolumbiens verdeutlicht dieser Beitrag, dass eine globale Dekarbonisierung keineswegs automatisch zu einer friedlicheren Welt führt, sondern auch neue Konflikte und koloniale Ausbeutungsformen hervorbringen kann.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Vorstellungen von Krieg und Frieden und damit verbundene sicherheitspolitische Prioritäten in Europa in vielerlei Hinsicht verändert. Ging man zuvor davon aus, dass Kriege relativ ferne Phänomene sind, die uns in unserem Alltag nicht direkt betreffen, so herrscht spätestens seit der »Zeitenwende-Rede« von Olaf Scholz die weit verbreitete Vorstellung, dass die friedenspolitische Architektur in Europa brüchig geworden ist. Vor diesem Hintergrund sind auch die geopolitischen Dimensionen der Energiewende und die Rolle von Energieinfrastrukturen in kriegerischen Auseinandersetzungen in den Fokus gerückt. So argumentierte beispielsweise die Energieökonomin und Mitglied des Sachverständigenrates für Umweltfragen, Claudia Kemfert, in einem Interview vom März 2022: „Nur eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien schafft dauerhaft Frieden, stärkt Demokratie und Freiheit. Zudem sichert sie Wohlstand und Frieden auf der Welt. Die Energiewende ist das beste Friedensprojekt, welches wir weltweit haben.“ (Kemfert 2022) Ähnlich äußerte sich der UN Generalsekretär António Guterres, der im Rahmen einer Pressekonferenz im Mai 2022 betonte, dass bei gemeinsamem und entschlossenem Handeln „die Energiewende das Friedensprojekt des 21. Jahrhunderts werden kann“ (Guterres 2022).

Angesichts der zentralen Rolle fossiler Rohstoffe in Kriegen, die häufig als strategisches Instrument in kriegerischen Auseinandersetzungen und als Finanzierungsquelle militärischer Gewalt dienen, sind diese Aussagen nur verständlich und auch nicht grundsätzlich falsch. Jedoch sind sie zugleich vereinfachend und durchaus problematisch, da sie Frieden als einen Zustand verstehen, der durch die bloße Abwesenheit von durch fossile Ressourcen ermöglichten Kriegen charakterisiert ist. Johann Galtung, einer der wichtigsten Theoretiker der Friedens- und Konfliktforschung, würde hier wohl von einem »negativen Frieden« sprechen (Galtung 1997). Ein »positiver Frieden« hingegen zeichnet sich nach Galtung nicht nur durch die Abwesenheit von militärischer Gewalt aus, sondern vor allem durch die Abwesenheit von »struktureller Gewalt«, d.h. diffuseren aber gleichwohl wirkmächtigen Ungerechtigkeiten, die in soziale, ökonomische und politische Strukturen eingeschrieben sind (ebd.). Es sind genau diese aus westlicher bzw. eurozentrischer Sicht oftmals verdeckten Gewaltformen und die daraus resultierenden sicherheitspolitischen Risiken, die Guterres und Kemfert in ihren Plädoyers für erneuerbare Energien als Friedensinstrumente ausblenden.

Auch in der friedenspolitischen Literatur wurden sie lange kaum beachtet – u.a. in Veröffentlichungen von W&F. So galt insbesondere in der Frühphase der Energiewende das kaum widersprochene Argument, dass erneuerbare Energien die „friedliche Antwort Europas auf die Falle von Konkurrenz, Gewalt und Kriegen um die zur Neige gehenden Vorräte an Öl und Gas“ seien (Bimboes und Spangenberg 2004, S. 36) oder aber, dass ihr Konfliktpotenzial aus „vergleichsweise harmlos anmuten[den] gesellschaftliche[n] Akzeptanzkonflikte[n]“ (Krämer 2006, S. 50) bestünde.

Die sicherheitspolitischen Dimensionen der Energiewende

Die aktuelle Literatur zu den sicherheitspolitischen Dimensionen erneuerbarer Energien zeichnet hingegen ein etwas differenzierteres Bild. Im Prinzip gibt es zwei Lager – eines, das davon ausgeht, dass der Übergang zu erneuerbaren Energien geopolitische Spannungen und Abhängigkeiten, die durch fossile Energieträger hervorgerufen werden, reduzieren kann; und ein anderes, demzufolge erneuerbare Energien und ihre politischen Ökonomien nicht weniger Konflikte und Kriege hervorrufen als fossile Energien (vgl. dazu Vakulchuk et al. 2020, S. 3ff.).

Ein Kernargument des ersten Lagers, innerhalb dessen sich auch die Aussagen Guterres‘ und Kemferts verorten lassen, ist, dass die dezentrale Verteilung von erneuerbaren Energiequellen mit einer Dezentralisierung politischer Macht einhergeht und somit demokratischere, gerechtere und langfristig friedlichere Energiesysteme ermöglicht. Zudem wird häufig argumentiert, dass erneuerbare Energien im Vergleich zu fossilen Energieressourcen, die nur in vergleichsweise wenigen Ländern vorkommen, eine höhere Energieunabhängigkeit (z.B. für Staaten) ermöglichen und aufgrund ihrer dispersen geographischen Verteilung deutlich schwerer zu kontrollieren und zu manipulieren seien. Damit würden Konfliktpotenziale und Anreize für Kriege reduziert und die Voraussetzungen für einen negativen Frieden wären geschaffen. Eine grundsätzliche Schwäche dieser These besteht jedoch darin, dass ihre Vertreter*innen implizit davon ausgehen, dass ein solcher politischer Wandel tatsächlich eintritt und die Energiewende sozusagen von sich aus Machtverhältnisse verändern und geopolitische Spannungen abbauen wird. Dies ist mit Ausnahme kleinskaliger, alternativer Energieprojekte, die oft unter dem Begriff Energiedemokratie zusammengefasst werden (Becker und Neumann 2017), aktuell jedoch nicht zu beobachten und es deutet vieles darauf hin, dass der Ausbau erneuerbarer Energien in seiner jetzigen Form bestehende Machtstrukturen eher noch stärken wird.

Das zweite Lager vertritt daher die These, dass auch erneuerbare Energien geopolitische Spannungen und Kriege erzeugen, da sich ihre politische Ökonomie nicht grundsätzlich von der fossiler Energieträger unterscheide. Gerade zentralisierte Energiemegaprojekte, die als dominante Form der globalen Energiewende zunehmend in peripheren Regionen des Globalen Südens errichtet werden und den Energiebedarf industrialisierter Zentren des Globalen Nordens decken sollen, folgen im Kern einer extraktivistischen Logik und basieren auf einem hohen Kapitaleinsatz und Ressourcenbedarf. Zudem gehen sie häufig mit gewaltsamen Konflikten um den Zugang zu Land und Wasser sowie mit einer Konzentration politischer Macht einher (Burke und Stephens 2018). Im Fokus stehen dabei vor allem diverse kritische Rohstoffe, wie Lithium, Kupfer, Kobalt, Bauxit, Nickel und sog. seltene Erden, die für eine Vielzahl an »grünen« Technologien (z.B. erneuerbare Energien, Übertragungsleitungen, Elektrolyseure, Elektroautos) benötigt werden. Der Abbau dieser Mineralien ist häufig mit der Finanzierung und Stärkung paramilitärischer Gruppen, sozialökologischen Konflikten und Menschenrechtsverletzungen verbunden (Church und Crawford 2018). Zudem führt die Extraktion dieser Rohstoffe zu neuen geo-ökonomischen Abhängigkeiten, die einen Nährboden für zwischenstaatliche Spannungen und Kriege bilden können. Ein positiver Frieden im Sinne eines sozial gerechten Friedens, so lassen es diese Tendenzen vermuten, ist durch den Übergang zu erneuerbaren Energien in seiner jetzigen Form nicht gegeben.

Diese Konfliktpotenziale, und die systematische Verlagerung von Umweltlasten in periphere Regionen des Globalen Südens, sind bereits jetzt an vielen Beispielen dokumentiert, u.a. im sogenannten Lithium-Dreieck, im Grenzgebiet von Argentinien, Bolivien und Chile. In den riesigen Salzseen dieser Region lagern enorme Mengen des begehrten Leichtmetalls, das einen der wichtigsten Bestandteile leistungsstarker Akkus darstellt und somit für die Elektroindustrie von großer Bedeutung ist. Der Abbau von Lithiumkarbonat ist jedoch sehr wasserintensiv und führt zu einer Absenkung des Grundwasserspiegels, was die oftmals ohnehin prekäre Wasserversorgung in diesen Gebieten weiter verschärft und einer Enteignung bäuerlicher und indigener Gemeinden durch international agierende Konzerne gleichkommt. Problematisch sind aber nicht nur die daraus resultierenden sozialökologischen Konflikte und die Folgen für die lokale Bevölkerung, sondern auch, dass dieser »grüne Extraktivismus« im Gegensatz zu früheren Formen der Ressourcenausbeutung über eine enorm wirkungsmächtige Legitimation verfügt – nämlich, dass er trotz seiner negativen Folgen zur Bewältigung der Klimakrise unumgänglich sei (Voskoboynik und Andreucci 2021).

Die Kolumbianische Energiewende und die Politik des »absoluten Friedens«

Noch deutlicher werden diese Schattenseiten der Energiewende, wenn man einen Blick auf Regionen wirft, die seit Jahrzehnten von Kriegen zerrüttet sind und gleichzeitig als Hotspot-Regionen der Energiewende gelten. Eines dieser Länder ist Kolumbien, das derzeit vor einer doppelten Herausforderung steht. Zum einen gilt es, den langjährigen bewaffneten Konflikt zwischen dem kolumbianischen Staat und der Guerillaorganisation FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia), dem allein zwischen 1985 und 2018 fast eine halbe Million Menschen zum Opfer fielen, endgültig zu beenden; und zum anderen die hohe wirtschaftliche Abhängigkeit von fossilen Ressourcen zu reduzieren, erneuerbare Energien auszubauen und Klimaneutralität zu erreichen. Während die rechtskonservative Vorgängerregierung unter Iván Duque nur das letztgenannte Ziel verfolgte und das 2016 geschlossene Friedensabkommen nicht unterstützte, behandelt die Regierung des neuen linksgerichteten Präsidenten Gustavo Petro beiden Themen mit hoher Priorität. So verfolgt seine Regierung zum einen eine Politik eines »absoluten Friedens«, die auf konsequente Verhandlungen mit und Demobilisierung von paramilitärischen Gruppen abzielt und gleichzeitig abgelegene und benachteiligte Regionen und Gruppen stärken will, um die grassierende soziale Ungleichheit im Land zu bekämpfen. Zum anderen stellt auch die Energiewende eines der wichtigsten politischen Projekte der neuen Regierung dar, was Petro gleich zu Beginn seiner Amtszeit verdeutlichte, indem er die enormen Potenziale Kolumbiens für Wind- und Solarenergie hervorhob und seine Regierung im Juni 2023 zusammen mit der deutschen Bundesregierung eine Absichtserklärung für eine »Partnerschaft für Klima und eine gerechte Energiewende« unterzeichnete, in der es u.a. um den Export von grünem Wasserstoff nach Deutschland gehen soll.

Die wichtigste Region ist dabei das Departamento La Guajira – eine aride und dünn besiedelte Region im Norden des Landes, die der ehemalige Energieminister Kolumbiens zum »Epizentrum der Energiewende« erklärte und die zuletzt insbesondere für die Produktion grünen Wasserstoffs in den Fokus gerückt ist. Allein bis 2034 sollen für diesen Zweck rund 40 Windparks mit einer Gesamtleistung von etwa 8.000 MW entstehen – die meisten davon auf dem kollektiven Land der indigenen Bevölkerung La Guajiras, den Wayuu, die unter Energiearmut, Wassermangel, Unterernährung und hoher Kindersterblichkeit leiden. Entgegen dem in der nationalen Wasserstoff-Roadmap festgehaltenen Versprechen, die Bedürfnisse lokaler Gemeinschaften von Beginn an zu einem Kernanliegen dieses Transformationsprozesses zu machen (Ministerio de Minas y Energía 2021, S. 24), geht der von internationalen Unternehmen vorangetriebene Ausbau der Windenergie derzeit mit der Missachtung indigener Rechte und einer Reihe an sozialökologischen Konflikten einher. Zugleich sind die gesetzlich vorgeschriebenen Konsultationsprozesse unzureichend, v.a. aufgrund des eingeschränkten Zugangs zu Informationen für die betroffenen Gemeinden und eines generellen Mangels an Transparenz. Zudem werden oftmals nur Teile der betroffenen Gemeinden in die Verfahren einbezogen (Vega Araújo et al. 2023). Es kommt zu Vertreibungen und gewaltsamen Auseinandersetzungen – auch innerhalb der Wayuu Gemeinden – und damit im Kern zu einer Fortsetzung der gewaltsamen und kolonialen Ausbeutungsgeschichte in La Guajira, die durch den Kohletagebau El Cerrejón weltweit Bekanntheit erlangt hat (Bachmann 2022). In den letzten Jahren wuchs daher der Widerstand gegen den Ausbau der Windenergie, der darin gipfelte, dass das kolumbianische Militär zu Beginn des Jahres 2022 Truppen an den Windparks stationierte und dies mit der „Gewährung der Sicherheit der lokalen Bevölkerung und dem Schutz der strategischen Güter des Landes“ (Ejército Nacional de Colombia 2022) rechtfertigte.

Damit wird deutlich, dass die Energiewende in La Guajira derzeit weder friedlich noch gerecht verläuft und in den letzten Jahren von einer Militarisierung begleitet wurde. Dies zeigt sich nicht nur in der Stationierung von Militär, sondern auch darin, dass die Provinz im Jahr 2019 zu einer »Strategischen Interventionszone« erklärt wurde (Ramirez et al. 2022, S. 8) – also zu einem »Raum der Ausnahme«, in dem das Recht zugunsten außergewöhnlicher Interventionsmöglichkeiten partiell außer Kraft gesetzt werden kann. Angesichts der anhaltenden Gewalt in La Guajira und des wachsenden Einflusses paramilitärischer und in den internationalen Drogenhandel verstrickter Gruppen, ist diese Strategie der »Versicherheitlichung« wenig überraschend, steht aber in krassem Widerspruch zum Anspruch – im Sinne eines positiven Friedens – eine gerechte Energiewende herbeizuführen und die vielfältigen Gewaltformen in dieser umkämpften Region zu beenden.

Umso bedeutender ist daher der im Juni 2023 durch Gustavo Petro verkündete und von über 200 Wayuu-Vertreter*innen, 12 internationalen Energieunternehmen und verschiedenen Regierungsvertreter*innen unterzeichnete »Pakt für eine gerechte Energiewende in La Guajira« (Ministerio de Minas y Energía 2023). Dahinter verbirgt sich im Wesentlichen ein neues energiepolitisches Modell, das vorsieht, Energieprojekte in La Guajira nicht wie bisher nach einem oberflächlichen Konsultationsprozess zu genehmigen, sondern die Wayuu Gemeinden als gleichberechtigte Partnerinnen dauerhaft an den laufenden Gewinnen zu beteiligen. Zwar ist dieser Pakt derzeit noch als eine reine Absichtserklärung zu verstehen, doch die Tatsache, dass er von einer hohen Zahl von Wayuu Vertreter*innen unterstützt wird und er im Kern darauf abzielt, die Lebensbedingungen in La Guajira zu verbessern (u.a. durch Projekte in den Bereichen Wasserversorgung, Bildung, Infrastrukturentwicklung), lässt hoffen, dass die Energiewende in dieser Region tatsächlich mit der Politik des »absoluten Friedens« in Einklang gebracht werden kann.

Erneuerbare als Friedensprojekt?

Am Beispiel der Entwicklungen in La Guajira wird deutlich, dass eine Wende hin zu erneuerbaren Energien keineswegs automatisch zu einer friedlicheren Welt führt. Vielmehr geht der massive Ausbau erneuerbarer Energie vielerorts und insbesondere in peripheren Regionen des Globalen Südens mit neuen Konflikten und Ausbeutungsformen einher und droht damit die koloniale und gewaltsame Logik des fossilen Extraktivismus fortzusetzen – wenn auch auf eine weniger klimaschädliche Weise. Entscheidend ist dabei, dass es sich nicht allein um lokale Konflikte handelt, sondern um Ausdrucksformen globaler Abhängigkeiten, Ungleichheiten und Machtverhältnisse, die in der Zukunft auch zu neuen zwischenstaatlichen Konflikten führen können. Zugleich aber – und auch dafür eignet sich das kolumbianische Beispiel sehr gut – hat die Energiewende durchaus das Potenzial, zu einem Friedensprojekt zu werden. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die durch die Energiewende erzeugten Formen struktureller Gewalt sichtbar gemacht und problematisiert werden. Gleichzeitig ist es unerlässlich, dass Gerechtigkeitsprinzipien im Sinne eines positiven Friedens von vornherein in Entscheidungsprozesse, Planungsverfahren und langfristige politische Strategien integriert werden, d.h. dass sie zu einer Grundmaxime der Energiewende werden. Initiativen wie der »Pakt für eine gerechte Energiewende in La Guajira« zeigen, dass dies durchaus möglich ist. Es bleibt jedoch abzuwarten, inwieweit sich aus dieser Absichtserklärung tatsächliche spürbare Veränderungen in Richtung einer friedlichen und gerechten Energiewende ergeben.

Literatur

Bachmann, T. (2022): Der Preis der Energiewende. Koloniale Machtgefüge und die Kohlemine »El Cerrejón« in Kolumbien. W&F 2/2022, S. 32-34.

Becker, S.; Neumann, M. (2017): Energy democracy: Mapping the debate on energy alternatives. Geography Compass 11(8), Art. e12321.

Bimboes, D.; Spangenberg, J. H. (2004): Klimapolitik ist Friedenspolitik. Wird weniger Öl und Gas verbraucht profitieren Frieden und Umwelt. W&F 3/2004, S. 35-38.

Burke, M. J.; Stephens, J. C. (2018): Political power and renewable energy futures: A critical review. Energy Research & Social Science 35, S. 78-93.

Church, C.; Crawford, A. (2018): Green conflict minerals. The fuels of conflict in the transition to a low-carbon economy. International Institute for Sustainable Development (IISD). Winnipeg.

Ejército Nacional de Colombia (2022). Twitter Post vom 06.01.2022. URL: https://twitter.com/COL_EJERCITO/status/1479139196778389506, zuletzt geprüft am 12.10.2023.

Galtung, J. (1997): Frieden mit friedlichen Mitteln. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Guterres, A. (2022): Remarks at Press Conference on WMO State of the Global Climate 2021 Report. Pressekonferenz am 18.05.2022. United Nations.

Kemfert, C. (2022): Nur Erneuerbare Energien schaffen Frieden. Interview vom 04.03.2022. In: Energiezukunft. Das Portal für Erneuerbare Energien und die bürgernahe Energiewende.

Krämer, (2006): Erneuerbare Energien: Sichere und konfliktarme Energieversorgung? W&F 3/2006, S. 50-52.

Ministerio de Minas y Energía (2021): Colombia´s Hydrogen roadmap. Ministerio de Minas y Energía de Colombia. Bogotá.

Ministerio de Minas y Energía (2023): Comunidades Wayuu, empresas del sector energético y el Gobierno del Cambio firman pacto por la Transición Energética Justa en La Guajira. Pressemitteilung, 28.06.2023.

Ramirez, J.; Angelino Velázquez, D.; Vélez-Zapata, C. (2022): The potential role of peace, justice, and strong institutions in Colombia’s areas of limited statehood for energy diversification towards governance in energy democracy. Energy Policy 168 (1), Art. 113135.

Vakulchuk, R.; Overland, I.; Scholten, D. (2020): Renewable energy and geopolitics: A review. Renewable and Sustainable Energy Reviews 122 (1), Art. 109547.

Vega Araújo, J. A.; Muñoz Cabré, M.; Ramirez, Y.; Lerma, R. (2023): Energía eólica y comunidades Wayuu: Retos en La Guajira. Hrsg. v. Stockholm Environment Institute.

Voskoboynik, D. M.; Andreucci, D. (2021): Greening extractivism: Environmental discourses and resource governance in the ‘Lithium Triangle’. Environment and Planning E: Nature and Space 5 (2), S. 787-809.

Benno Fladvad ist Juniorprofessor für Naturwissenschaftliche Friedensforschung mit Schwerpunkt Klima und Sicherheit an der Universität Hamburg. In seiner Forschung beschäftigt er sich u.a. mit Fragen der Umwelt- und Klimagerechtigkeit, zuletzt vorrangig mit Bezug zur Energiewende und infrastrukturellen Transformationsprozessen.

»Gaza-Krieg – bis zum nächsten Mal«

»Gaza-Krieg – bis zum nächsten Mal«

Rückblicke auf 25 Jahre Israel-Palästina-Beiträge

von Christiane Lammers

Die jüngsten Anschläge der Hamas auf Israel und die darauf folgenden Vergeltungsschläge Israels im Gazastreifen sind die neueste Wiederholung einer schrecklichen Gewaltdynamik. Es ist nicht so, dass diese Dynamik unvorhergesehen oder undenkbar war – wie ein Blick auf Beiträge in W&F zum israelisch-palästinensischen Konflikt aus 25 Jahren zeigt. Der Beitrag schlägt einen Bogen von diesen analytischen Erkenntnissen zu friedenspolitischen Erfordernissen.

Während ich einen Artikel zur »Zivilen Konfliktbearbeitung« in der W&F-Historie schreibe, explodiert der israelisch-palästinensische Dauerkonflikt. Ich gebe mein ursprüngliches Thema auf; mir erscheint es wichtiger, dazu schon Gedachtes aus unserem Archiv ins Gedächtnis zu rufen, um einen rationalen Zugang zu dieser schrecklichen Situation zu finden.

Israel bombardiert Gaza. Der von Norden nach Süden nur 40 km lange und max. 14 km breite Landstreifen, Wohngebiet von fast 2 Mio. Menschen und abgetrennt von allem Lebensnotwendigen, war nun auch noch zum Geiselgefängnis geworden. Israel reagiert mit seinen Angriffen auf die brutalen Überfälle von Hamas-Kämpfern am 7.10.2023 auf israelische Dörfer, auf ein Musikfestival, auf den Raketenbeschuss von Tel Aviv und anderen Städten, auf die Verschleppung von mehr 150 Israelis nach Gaza. Eine Aufrechnung dieser Ungeheuerlichkeiten ist moralisch wie rechtlich unmöglich. Umso mehr ist es notwendig Gründe zu erkennen und diese nicht im Affekt beiseite zu schieben. Nur rational, gleichwohl emphatisch mit allen Betroffenen, lassen sich Handlungsmöglichkeiten zur Deeskalation finden.

Erschreckend in diesem Zusammenhang waren die Äußerungen des EU-Partnerschafts-Kommissars Varhelyi zwei Tage nach den Hamas-Überfällen, dass alle Hilfszahlungen der EU an palästinensische Institutionen, Organisationen und Partnerprojekte sofort ausgesetzt würden. Zuerst Belgien, dann Irland, Spanien und Luxemburg kritisierten diesen Vorstoß, der kurze Zeit später zurückgenommen wurde. Einen ähnlichen Verlauf nahm die Debatte um die bilateralen Hilfsgelder aus Deutschland. Vergleichbar kann erschrecken, dass deutsche Medien einhellig die letzten Absätze der Presseunterrichtung des UN-Generalsekretärs Guterres am 09.10.2023 ignorierten: Selbst in den schlimmsten Zeiten sei es besonders wichtig, auf den langfristigen Horizont zu blicken. „Diese jüngste Gewalt kommt nicht aus einem Vakuum. Die Realität ist, dass sie aus einem langjährigen Konflikt mit einer 56-jährigen Besatzung und ohne einem politischen Ende in Sicht erwächst.(…) Israel muss seine legitimen Sicherheitsbedürfnisse verwirklicht sehen – und die Palästinenser müssen eine klare Perspektive für die Realisierung der Errichtung ihres eigenen Staates sehen.“ (UNSG 2023)1

Einblicke in den Konflikt durch das W&F Archiv

Seit der Umstrukturierung von W&F um die Jahrtausendwende sind mehr als 40 Artikel über Israel/Palästina im Heft erschienen. Keinem Land haben wir uns häufiger zugewendet. Mit dem folgenden kurzen Überblick sollen Sie als Leser*innen angeregt werden, sich diesen über das W&F-Archiv frei zugänglichen Beiträgen (nochmals) zu widmen, denn die Analyse von kaum einem davon hat sich bei diesem Konflikt erübrigt, vieles ist leider nur schlimmer geworden.

»Israel – kein Friede in Sicht« haben wir den Themenschwerpunkt in W&F 4/2002 genannt. Darin enthalten sind Beiträge zur Siedlungspolitik, zur eingeschränkten Rechtsstaatlichkeit, zur sozialen Spaltung aber auch zur Geschichte der sozialen Bewegung und zu Positionen und Aktionen von Friedensbewegten in Israel. Bei manchem Artikel kann man den Eindruck gewinnen, er wäre erst vorgestern geschrieben worden – so bspw. »Kommt der Rechtsstaat unter die Räder?« von Margret Johannsen. Bei anderen Artikeln wünscht man sich, dass die israelische Zivilgesellschaft weiterhin auch die Kraft haben möge, sich nicht in Hass dem Konflikt zu ergeben, sondern dagegen Widerstand zu leisten und nicht die Vision eines Israels als demokratisches und (menschen-)rechtlich gebundenes Land aufzugeben (siehe z.B. Angelika Timm, »Die Zivilgesellschaft in der Bewährung«).

Drei Jahre zuvor vorher war das Dossier 33 »Verraten, vergessen, verlassen. Palästinensische Flüchtlinge im Libanon« als Beilage zu W&F 3/1999 erschienen, in dem eindringlich die Situation der im Kontext der Staatsgründung und der vielen darauf folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen in den Norden vertriebenen Palästinenser*innen dargelegt wird. Die heutigen Übergriffe der Hisbollah sind nicht nur auf die vielbeschworene Erzfeindschaft des Irans zurückzuführen, sondern werden auch genährt durch das Elend und die Perspektivlosigkeit der nach wie vor staatenlosen und in Flüchtlingscamps lebenden Palästinenser*innen im Libanon.

20 Jahre später erschien als Beilage zu W&F 1/2021 das Dossier 91 »Palästina unter der Besatzung. Alltag, Hintergründe, Auswirkungen«. Anlass für dieses Dossier war die sich immer mehr zuspitzende Situation im Westjordanland und die Hoffnung durch Fakten, Zahlen, Rechtserläuterungen über die völkerrechtswidrige Politik Israels und ihre Konsequenzen aufzurütteln und damit ebenso auch dem Vorwurf zu begegnen, die Fürsprache für die Palästinenser*innen sei antisemitisch und nicht humanitär begründet.

Neben diesen drei kompakteren Informationsmöglichkeiten erschienen viele einzelne Beiträge in W&F, auf einige wenige möchte ich ausführlicher eingehen:

  • Im Heft 2000/1 erschien im Schwerpunkt »Der schwierige Weg zum Frieden« als überhaupt erster Artikel in W&F zu Israel. Es ist ein Interview mit der Preisträgerin des Alternativen Nobelpreises, der deutsch-israelischen Rechtsanwältin Felicia Langer. 2009 wurde Felicia Langer das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen. Dagegen gab es massive Proteste, Ralph Giordano und andere drohten damit, ihre Verdienstkreuze zurückzugeben. Begründet wurde die Kritik mit dem Vorwurf des »Self hatings«, einer Form des Antisemitismus durch Jüdinnen oder Juden, der sich darin ausdrücke, dass sie u.a. der israelischen Staatsführung Apartheidspolitik gegenüber den Palästinenser*innen unterstellt. Die Einordnung Israels als »Apartheidsstaat« war vor 20 Jahren in Deutschland kaum diskutabel, obwohl, zumindest so Ausführungen in einem SWP-Aktuell, schon David Ben Gurion (1967), Jitzhak Rabin (1976), Ehud Barak (1999) und Ehud Olmert (2007) vor einer solchen Entwicklung gewarnt hatten (Asseburg 2022). 2018 legte die palästinensische Autonomiebehörde gemäß Artikel 11 des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung eine entsprechende Staatenbeschwerde ein, die 2021 nach Prüfung der Zuständigkeit und Zulässigkeit die Einrichtung einer Ad-hoc-Vergleichskommission nach sich zog. Im Jahr darauf veröffentlichte Amnesty International unter dem Titel »Israel’s Apartheid against Palestinians« (Amnesty International 2022) einen umfassenden Bericht, der den Apartheidsvorwurf eingehend belegt. Käme die Adhoc-Vergleichskommission zum gleichen Schluss bzw. würde der Internationale Strafgerichtshof angerufen werden und käme zum ähnlichen Urteil, dann könnten Deutschland, andere Staaten oder auch die EU sich gezwungen sehen, gegen die israelische Regierung tätig werden zu müssen (vgl. Wissenschaftliche Dienste 2023).

Im Mittelpunkt des Interviews steht jedoch die Frage, inwiefern die verschiedenen Verhandlungsergebnisse zwischen Palästina und Israel tragfähige Lösungen des Konflikts ermöglichen. Frau Langer zeigte sich sehr skeptisch, wies auf die andauernde Siedlungsausweitung im Westjordanland hin, thematisierte auch die Menschenrechtsverletzungen der palästinensischen Autonomiebehörde. Allein für die Sicherheitszone im Südlibanon hielt sie einen Truppenabzug Israels für möglich. Als Grundbedingung für eine friedliche Lösung sah sie eine stärkere internationale Solidarität mit den Palästinenser*innen in Verbindung mit Teilen der israelischen Bevölkerung, die kriegsmüde geworden waren und einen Frieden mit Gerechtigkeit wollten.

  • Auch im Gastkommentar »Friedensperspektiven für den Nahen Osten« in W&F 4/2006 wird von Heidemarie Wieczorek-Zeul die Lösung des Kernkonflikts angesprochen und damit verbunden gerechte Entwicklungschancen für Palästina wie auch den Libanon gesehen. Dass sich hier nichts verbessert hat, zeigt ein Blick in den Human Development Index. Heute steht der Libanon auf Platz 112 und Palästina auf Platz 106 von 189 erfassten Staaten. 2006 standen die beiden Länder im HDI auf Platz 78 (Libanon) und auf Platz 100 (Occupied Palestinian Territories) von 177 Staaten.
  • »Gaza-Krieg – bis zum nächsten Mal« so der Titel des Gastkommentars von Udo Steinbach, der in Heft 4/2014 unmittelbar nach der damaligen Gaza-Geberkonferenz erschien. Diese hatte mit der Ankündigung von mehr als 4 Mrd. € Hilfsmittel für Gaza überraschend positiv geendet. Gleichwohl fiel das Urteil des Nahostexperten einhellig aus: „Wo keine Chance ist, gibt es nur zwei »Lösungen«: die Suche nach einem besseren Platz auf der Welt und die Fortführung des Kampfes mit immer radikaleren Mitteln. Demgemäß ist der Anteil der Flüchtlinge aus Gaza, die in Europa Asyl suchen, sprunghaft gewachsen. Und der Gaza-Krieg 2014 war länger, grausamer und verlustreicher als der Gaza-Krieg 2008/9“. Der jetzige wird vermutlich noch mehr Tod und Zerstörung bringen. Wieder ist zu wenig geschehen, man hätte es ahnen, wenn nicht gar wissen können.
  • Auch auf den folgenden Bericht möchte ich noch aufmerksam machen, da er auf die Vielfalt der Internationalen Organisationen verweist, denen das Schicksal der Palästinenser*innen nicht egal ist: Eva Senghaas-Knobloch, »Offene ›Briefe an die Welt‹. Die ILO-Berichte zu den besetzten palästinensischen Gebieten« in W&F 1/2017.
  • Dass durchaus auch auf Teile der israelischen Zivilgesellschaft zu hoffen ist, haben wir in mehreren Beiträgen über die Jahre versucht zu vermitteln, so z.B. im Beitrag von Uri Weltmann (W&F 4/2011) »Zwischen al-Tahrir und Puerta de Sol. Entwicklung und Herausforderungen der sozialen Protestbewegung in Israel«. Auch über zivilen Widerstand beispielsweise gegen den Mauerbau haben wir berichtet (siehe W&F 3/2004 Aviv Lavie, »Separation Fence Intifada. Gewaltfrei gegen die Besatzung«), haben Israelis zu Wort kommen lassen, die sich kritisch – ethisch wie auch politisch begründet – gegen die Palästina-Politik ihres Landes äußerten (siehe z.B. in W&F 1/2007 »Der zweite Libanon-Krieg, das Friedenslager und Israel. Nachgedanken eines Friedensfreundes« von Daniel Bar-Tal).

Kein Frieden ohne Rechte

Aus friedenswissenschaftlicher Perspektive findet sich in keinem der Texte ein Hinweis darauf, dass es einen anderen Weg zum Frieden gibt, als dass Israel endlich die Rechte der Palästinenser*innen anerkennt, die Isolation des Gaza-Streifens beendet, die Siedlungserweiterung (und damit einhergehende Ausdehnung der Besatzung2) im Westjordanland unterbindet. Selbst in der eher konservativen Konrad-Adenauer-Stiftung kam noch zu Jahresbeginn 2023 der Leiter des Auslandsbüros in Ramallah, Steven Höfner, in einem sehr lesenswerten Länderbericht zu diesem Urteil (Höfner und Naujoks 2023). Er sah die Eskalation, wenn auch mit einem anderen Szenario, voraus.

Die bisherige Strategie der Schwächung der palästinensischen Position durch ein gegenseitiges Ausspielen von Hamas und Fatah hat zu nichts geführt. Ebenso werden die mühsam erarbeiteten Annäherungen zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn nichts mehr wert sein, wenn gleichzeitig der Konflikt mit den Palästinenser*innen auf hohem Eskalationsniveau verbleibt – vermutlich ein kalkuliertes Anliegen der Hamas mit ihren Angriffen. Israel wird darüber hinaus aber auch alle Legitimation verlieren, wenn es weite Teile des Gazastreifens bombardiert und die Lebensgrundlagen von Millionen Menschen vernichtet. Diese kritischen Einwände in der jetzigen Situation zu akzeptieren, ist sowieso für die jetzige israelische Regierung, aber vermutlich derzeit auch für die israelische Zivilbevölkerung unmöglich. Hier steht die übrige Staatenwelt in der Verantwortung, die sich in den letzten Jahren zwar immer wieder verbal auch auf die Seite der Palästinenser*innen gestellt hat, aber immer noch keine Strategie hat, zu einer Umsetzung ihrer eigenen Einsichten zu gelangen. Die sich überschlagenden Nachrichten, beispielsweise über die Bereitschaft Deutschlands, Israel mit Waffenlieferungen zu unterstützen und Hilfslieferungen in Millionenhöhe für den Gazastreifen zur Verfügung zu stellen (17.10.23), zeigen, wie weit auch die Bundesregierung noch von einem Beitrag zu einer nachhaltig friedlichen Lösung des Konflikts entfernt ist.

Was heißt das alles für uns? Hier möchte ich noch aus einem Beitrag zitieren, der meinen ursprünglich geplanten Beitrag begleiten sollte und an dieser Stelle nun einen anderen Sinn ergibt: „Jedenfalls tut der Pazifismus gut daran, sich nicht eine Selbstrechtfertigung durch eine Affekt-Ethik aufnötigen zu lassen, die mit selektiven militärischen Läuterungs-Ritualen davon ablenkt, daß nicht er, sondern die Nichtbefolgung seiner Hauptforderungen immer noch kriegerische Massaker in verschiedenen Teilen der Welt begünstigt. (…) Bei Veranstaltungen verspüre ich große Hoffnungen, aber vorwiegend solche passiver Art, also Erwartungen, die an andere delegiert werden, oder auch Enttäuschung darüber, daß so wenig erreicht wird. Ich selbst halte mich jedenfalls (…) an eine Empfehlung(…) des verstorbenen Soziologen Max Horkheimer(…): Jeder hat die Chance, seinem etwaigen theoretischen Pessimismus mit einer persönlichen optimistischen Praxis zu widersprechen. Das ist, wie ich gefunden habe, nicht nur ein psychohygienisches Rezept. Man kann damit auch etwas bewirken“ (Horst-Eberhard Richter »Ist der Pazifismus am Ende?«, W&F 1/1996).

Anmerkungen

1) Nur bei Al Jazeera fand ich diesen Teil der Rede dokumentiert.

2) Auch hierzu gibt es unterschiedliche Rechtsauffassungen der israelischen Regierung und der UN. Während die UN davon ausgeht, dass Israel u.a. die Siedlungsgebiete im Westjordanland, Ostjerusalem und den Golan besetzt hält und gegen diverse UN-Resolutionen (1979 ff.) verstößt, spricht Israel entweder von Israel zugehörigen oder umstrittenen Gebieten. Am 30.12.2022 hat die UN-Vollversammlung nun den Internationalen Gerichtshof angerufen, um von diesem klären zu lassen, ob es sich nicht längst schon um eine Annexion der Gebiete handelt, die eindeutig völkerrechtswidrig wäre. Deutschland stimmte wie u.a. Großbritannien, die USA und Österreich gegen diese Resolution. Die Entscheidungen des IGH sind bindend, es gibt jedoch keine Mechanismen, um die Urteile durchzusetzen. 2004 hatte der IGH schon einmal gegen Israel geurteilt und den Mauerbau im Westjordanland als völkerrechtswidrig eingestuft. Das Urteil blieb folgenlos.

Literatur

Amnesty International (2022): Israel’s Apartheid against Palestinians. Cruel system of domination and crime against humanity. MDE 15/5141/2022, 1.2.2022.

Asseburg, M. (2022): Amnesty International und der Apartheid-Vorwurf gegen Israel. SWP Aktuell 2022/A 13, 22.02.2022.

Höfner, S.; Naujoks, P. (2023): Die neue israelische Regierung und ihre Agenda im Westjordanland. KAS Länderbericht, 31.1.2023.

UNSG (2023): Secretary-General‘s remarks to the press on the situation in the Middle East. Statements, UN, 9.10.2023

Wissenschaftliche Dienste des Bundestages (2023): Dokumentation „Zum Vorwurf der Apartheid-Politik Israels in den palästinensischen Gebieten“. WD 2-3000-031/23, 17.4.2023.

Christiane Lammers ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der FernUniversiät in Hagen, Mitglied der W&F-Redaktion und u.a. in der AG Friedenslogik der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung aktiv.