Globale Konfliktdynamiken

Globale Konfliktdynamiken

Eine Zusammenfassung des Konfliktbarometers 2021

von Maximilian Brien und Jannik Mertens

Mit der 30. Ausgabe des Konfliktbarometers setzt das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK) seine jährlich erscheinende Studie zum weltweiten Konfliktgeschehen fort. Das Konfliktbarometer erfasst qualitativ und quantitativ die Dynamiken politischer Konflikte, sowohl gewaltsamer als auch gewaltloser Natur.

2021 beobachtete das HIIK insgesamt 355 Konflikte weltweit. Davon wurden 204 gewaltsam und 151 gewaltlos ausgetragen (vgl. Graphik 1 und Karte 1). Im Vergleich zum Vorjahr verringerte sich die Zahl der Kriege von 21 auf 20. Dies ist die zweithöchste Anzahl an Kriegen, die jemals vom HIIK erfasst wurde. Von den im Vorjahr dokumentierten 21 Kriegen deeskalierten sieben zu begrenzten Kriegen oder gewaltsamen Krisen, während sich 14 Kriege auf dem gleichen Niveau fortsetzen. Sechs Konflikte eskalierten zu Kriegen, fünf davon im subsaharischen Afrika.

Die Zahl der begrenzten Kriege stieg im Vergleich zum Vorjahr leicht von 19 auf 20. Wie im vorherigen Jahr machten innerstaatliche Konflikte den Großteil der erfassten Konflikte aus. Im Vergleich zum Vorjahr blieb die Anzahl an hochintensiven Konflikten gleich. Dabei ließ sich eine anhaltende Konzentration von hochintensiven Konflikten in Subsahara-Afrika beobachten.

Die Regionen im Detail

Westasien, Nordafrika, Afghanistan

  • In der Region Westasien, Nordafrika und Afghanistan stieg die Anzahl der beobachteten aktiven Konflikte um drei auf 59 (vgl. Graphik 2). 33 Konflikte wurden gewaltsam ausgetragen, ein Anstieg um einen im Vergleich zum Vorjahr. Die Anzahl an Kriegen verringerte sich von sieben auf drei. Je zwei Kriege deeskalierten zu begrenzten Kriegen beziehungsweise gewaltsamen Krisen. Als Krieg fortgeführt wurde der Konflikt zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung, unterstützt durch die von der NATO angeführte »Resolute Support Mission«, welcher nach dem Rückzug der NATO-Truppen und dem darauffolgenden Sturz der Regierung endete. Als Krieg fortgeführt wurde ebenso der Konflikt zwischen den al-Houthi und der jemenitischen Regierung sowie der Konflikt zwischen dem sogenannten »Islamischen Staat« auf der einen Seite und verschiedenen Regierungen und Milizen auf der anderen. Damit sah die Region die zweithöchste Anzahl an Kriegen weltweit.
  • Die Anzahl an begrenzten Kriegen stieg von einem auf drei an. Während der begrenzte Krieg zwischen militanten Gruppen und der ägyptischen Regierung auf der Sinai-Halbinsel zu einer gewaltsamen Krise deeskalierte, eskalierte eine gewaltsame Krise und zwei Kriege deeskalierten zu begrenzten Kriegen. Die gewaltsame Krise zwischen der Hamas und dem Islamischen Jihad in Palästina auf der einen Seite und der israelischen Regierung auf der anderen eskalierte in der Mitte des Jahres. In Syrien deeskalierte der Krieg zwischen der Opposition und der syrischen Regierung, nachdem Russland und die Türkei im März 2020 einen Waffenstillstand vermittelt hatten. Der Konflikt zwischen der PKK und der türkischen Regierung deeskalierte ebenfalls.

Asien und Ozeanien

  • In Asien und Ozeanien reduzierte sich die Anzahl der beobachteten aktiven Konflikte um einen auf 100 (vgl. Graphik 2). 54 Konflikte wurden gewaltsam ausgetragen, ein Rückgang um vier im Vergleich zum Vorjahr.
  • Dieses Jahr dokumentierte das HIIK das erste Mal seit 2017 einen Krieg in der Region. Die gewaltsame Krise zwischen der oppositionellen Interimsregierung in Myanmar und der Armee eskalierte nach dem Staatsstreich durch das Militär im Februar des vergangenen Jahres. Als Folge dessen eskalierten in Myanmar zwei weitere gewaltsame Krisen zu begrenzten Kriegen. Dies betraf den Konflikt zwischen der Unabhängigen Armee Kachin und dem Militär sowie zwischen der Myanmar National Democratic Alliance Army und dem Militär.
  • Die Anzahl an begrenzten Kriegen in der gesamten Region erhöhte sich von vier auf sechs im Vergleich zum Vorjahr. Insgesamt sah die Region also eine Eskalation in der Anzahl an hochintensiven Konflikten. Drei dieser sechs begrenzten Kriege fanden auf den Philippinen statt. Die Regierung fand sich in anhaltenden Konflikten mit verschiedenen kommunistischen und islamistischen Gruppen wieder.
  • Der Grenzkonflikt zwischen tadschikischen, usbekischen und kirgisischen Gemeinschaften, unterstützt durch ihre jeweiligen Regierungen, eskalierte nach dem Ausbruch von gewaltsamen Auseinandersetzungen an der kirgisisch-tadschikischen Grenze. Hochintensive Maßnahmen konzentrierten sich auf Ende April.

Subsahara-Afrika

  • In Subsahara-Afrika stieg die Zahl der beobachteten aktiven Konflikte um einen auf 87 (vgl. Graphik 2). 59 Konflikte wurden gewaltsam ausgetragen, ein Rückgang um sieben im Vergleich zum Vorjahr. Wie auch im letzten Jahr war Subsahara-Afrika die Region mit den meisten Kriegen. Alle elf Kriege des Vorjahres setzen sich fort, während fünf begrenzte Kriege eskalierten. Dazu kamen sechs begrenzte Kriege.
  • Davon wurden allein in der Demokratischen Republik Kongo drei Kriege ausgetragen. Verschiedene aufständische und islamistische Gruppen lieferten sich vor allem im Osten des Landes heftige Auseinandersetzungen mit kongolesischen und ugandischen Regierungstruppen sowie der UN-Friedenstruppe MINUSCO. Ebenso war Äthiopien Schauplatz dreier Kriege: Der im letzten Jahr ausgebrochene Krieg zwischen der Volksbefreiungsfront von Tigray und äthiopischen und eritreischen Regierungstruppen hielt auch in 2021 an. Der begrenzte Krieg zwischen der Oromo-Befreiungsfront und der äthiopischen Regierung eskalierte zu einem Krieg. Die militärischen Fraktionen der beiden Gruppen verbündeten sich gegen die Regierung, nachdem sie von dieser zu Terrororganisationen erklärt worden waren. Im Schatten dieser Konflikte wurde der Konflikt zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen auf dem Niveau eines Krieges sowie der Konflikt zwischen verschiedenen oppositionellen Gruppen und der Regierung auf dem Niveau eines begrenzten Krieges ausgetragen.
  • Auf dem Kontinent wurden verschiedene Kriege unter Beteiligung islamistischer Gruppierungen fortgesetzt. Vor allem in der Sahel-Region und angrenzenden Ländern wurden diese Konflikte oftmals als transstaatliche Konflikte über Ländergrenzen hinweg unter Beteiligung mehrerer Staaten und internationaler Unterstützungstruppen ausgetragen. Kriege mit Beteiligung islamistischer Gruppierungen fanden auch in der Demokratischen Republik Kongo, Mosambik und Somalia statt. Weitere innerstaatliche Kriege beobachtete das HIIK in Kamerun, Nigeria, Sudan, Südsudan und der Zentralafrikanischen Republik.
  • In Südafrika eskalierte der Konflikt zwischen verschiedenen Oppositionsgruppen und der Regierung zu einem begrenzten Krieg. Nach der Verhaftung des ehemaligen Präsidenten Jacob Zuma kam es im Juli zu gewaltsamen Protesten und landesweiten Plünderungen von Geschäften, mit mindestens 337 Toten. Für den Rest des Jahres wurden keine gewaltsamen Maßnahmen beobachtet.
Graphik 1

Graphik 1

Graphik 2

Graphik 2

Amerikas

  • In den Amerikas stieg die Anzahl der beobachteten aktiven Konflikte um einen auf 59 (vgl. Graphik 2). 40 Konflikte wurden gewaltsam ausgetragen, ein Anstieg um drei im Vergleich zum Vorjahr. In Brasilien deeskalierte der vor allem in den Favelas von Rio de Janeiro ausgetragene Krieg zwischen Drogenkartellen, Milizen und der Regierung zu einem begrenzten Krieg. In Mexiko setzten sich die beiden begrenzten Kriege zwischen Drogenkartellen, Milizen und der Regierung sowie unter den Kartellen fort. In Kolumbien setzte sich der begrenzte Krieg zwischen unterschiedlichen nichtstaatlichen Akteuren ebenso fort, während der begrenzte Krieg zwischen der Nationalen Befreiungsarmee (ELN) und der Regierung zu einer gewaltsamen Krise deeskalierte. In Venezuela eskalierte an der Grenze zu Kolumbien die gewaltsame Krise zwischen mindestens einer abtrünnigen Gruppe der FARC und der Regierung zu einem begrenzten Krieg.
  • Alle hochintensiven Konflikte in den Amerikas sahen die Beteiligung von Akteuren, die in die Herstellung beziehungsweise den Handel von Drogen involviert waren.

Europa

  • In Europa verringerte sich die Gesamtzahl der beobachteten Konflikte um drei auf 50 aktive Konflikte (vgl. Graphik 2). Die Zahl der gewaltsamen Krisen blieb konstant bei 18 verglichen zum Vorjahr. Erstmals seit 2008 verzeichnete das HIIK keinen hochintensiven Konflikt in der Region Europa.
  • Der Donbass-Konflikt in der Ukra­ine deeskalierte von einem begrenzten Krieg zu einer gewaltsamen Krise. Ebenso deeskalierten die eng verknüpften Konflikte zwischen Armenien und Aserbaidschan sowie zwischen der selbsterklärten Republik Arzach und Aserbaidschan um das umstrittene Territorium Bergkarabach beide vom Niveau eines Krieges auf das einer gewaltsamen Krise. Dieser erfreuliche Befund des Konfliktbarometers 2021 wurde mittlerweile von der Realität des Krieges in der Ukraine im Jahr 2022 überholt.
Karte 1

Karte 1

Das jährliche Heidelberger Konfliktbarometer kann auf der Homepage des HIIK kostenlos heruntergeladen werden. Der Bericht erscheint in englischer Sprache.

Maximilian Brien studiert Volkswirtschaftslehre im Master an der Paris School of Economics und war Co-Chefredaktor des Konfliktbarometers 2021.
Jannik Mertens studiert Politikwissenschaften im Master an der Philipps-Universität Marburg und war Co-Chefredakteur des Konfliktbarometers 2021.

Definitionen – Der Heidelberger Ansatz

Politischer Konflikt: Ein politischer Konflikt ist eine Positionsdifferenz hinsichtlich gesamtgesellschaftlich relevanter, immaterieller oder materieller Güter – den Konfliktgegenständen – zwischen mindestens zwei als durchsetzungsfähig wahrgenommenen direkt beteiligten Akteuren, die mittels beobachtbarer und aufeinander bezogener Konfliktmaßnahmen ausgetragen wird. Diese Maßnahmen gelten als konstitutiv für einen Konflikt, sofern sie außerhalb etablierter Regelungsverfahren liegen und eine staatliche Kernfunktion oder die internationale Ordnung bedrohen oder eine solche Bedrohung in Aussicht stellen.

Intensitätsstufen: Es werden insgesamt fünf Intensitätsstufen unterschieden: Disput, gewaltlose Krise, gewaltsame Krise, begrenzter Krieg und Krieg. Die gewaltsame Krise, der begrenzte Krieg und der Krieg bilden zusammen die Kategorie der Gewaltkonflikte, im Unterschied zu den gewaltfreien Konflikten.

Indikatoren: Zur Ausdifferenzierung des Gewaltkonflikts werden als weitere Kriterien die zur Durchführung der gewaltsamen Konfliktmaßnahmen eingesetzten Mittel und die Folgen des Gewalteinsatzes herangezogen. Die Dimension der Mittel umfasst die Indikatoren Waffeneinsatz und Personaleinsatz, die Dimension der Folgen ferner die Indikatoren Todesopfer, Zerstörung und Geflüchtete (Flüchtlinge sowie Binnenvertriebene).

Eine ausführliche Darstellung der Methodik findet sich unter https://hiik.de/hiik/methodik auf der Website des HIIK.

»Die Ukraine wird gewinnen«

»Die Ukraine wird gewinnen«

Einschätzungen aus der Forschung zu Kriegsbeendigungen

von Wolfgang Schreiber

Nach mittlerweile fünf Monaten Krieg1 infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine und angesichts der bisherigen Verluste an Menschenleben stellt sich immer drängender die Frage: Wie kann dieser Krieg beendet werden? Dieser Beitrag versucht den Krieg in der Ukraine in die Erkenntnisse der Forschung zur Beendigung von Kriegen einzuordnen. Ein besonderes Augenmerk wird auf die bisher in diesem Krieg eingesetzten Mittel zur Beendigung (Sanktionen, Waffenlieferungen, diplomatischer Druck) gelegt.

In der deutschen Politik und Öffentlichkeit gibt man sich davon überzeugt, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen wird. Da ein direktes militärisches Eingreifen in den Krieg aufgrund der Gefahr einer Eskalation zu einem Dritten Weltkrieg ausgeschlossen ist, sind es vor allem zwei Mittel, die Russland zur Beendigung des Krieges bewegen sollen: Waffenlieferungen an die Ukraine einerseits und die Verhängung von Wirtschaftssanktionen gegen Russland andererseits. Dazu kommt noch ein gewisser diplomatischer Druck, der sich unter anderem in der Resolution der UN-Generalversammlung ausdrückt, in welcher der russische Angriff eindeutig verurteilt wird (UNGA 2022). Dieser Beitrag versucht im Folgenden den Krieg in der Ukraine in die Erkenntnisse der Forschung zur Beendigung von Kriegen einzuordnen.

Bisherige Forschung zu Kriegsbeendigungen

Die Forschung zur Beendigung von Kriegen ist vergleichsweise übersichtlich.2 Ein breiteres Interesse an der Frage zur Beendigung von Kriegen lässt sich erstmals Anfang der 1970er Jahre ausmachen (z.B. Carroll 1970, Iklé 1971). Die nächste Welle breiter Beschäftigung mit dem Thema kann man Mitte der 1990er Jahre beobachten (z.B. Licklider 1993, King 1997, Heraclides 1997).

Statistisch-empirische Untersuchungen zu Kriegsbeendigungen auf der breiten Grundlage einer allgemeinen Kriege- oder Konfliktdatenbank blieben aber eine Ausnahme:3 Bei der Hamburger Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) findet sich in der einschlägigen Publikation zur Datenbank nur ein kurzes Kapitel zu Kriegsbeendigungen (Gantzel und Schwinghammer 1995, S. 160-167). Im Rahmen des Uppsala Conflict Data Program (UCDP) wurde erst 2003 ein Projekt zur Erfassung und Auswertung von Daten zur Beendigung von bewaffneten Konflikten begonnen (Kreutz 2010).

Typen der Kriegsbeendigung

Klassisch wurde bei Forschungen zu Kriegsbeendigungen zwischen zwei Typen unterschieden: Sieg beziehungsweise Niederlage einer Seite oder eine Verhandlungslösung, die formal in einem Friedensvertrag oder Waffenstillstand besiegelt wird. Von den 242 Kriegen, die laut AKUF-Datenbank seit dem Zweiten Weltkrieg beendet wurden, entfallen auf militärische Siege knapp 54 und auf Vereinbarungen etwa 43 Prozent der Kriegsbeendigungen.

Als Ergebnis der Erweiterung der UCDP-Datenbank um Kriegsbeendigungen wurde insbesondere die These aufgestellt, dass zwischen den beiden Grundtypen eine Verschiebung durch das Ende des Ost-West-Konflikts stattgefunden habe: Weniger militärische Entscheidungen und mehr Verhandlungslösungen.

Die Mitte der 2000er Jahre sowohl vom UCDP als auch der AKUF zusammengestellten Daten belegten diese These mit gewissen Einschränkungen auch zunächst. Für die AKUF-Daten bis 2006 ergab sich bei den militärischen Entscheidungen eine Veränderung von gut 54 Prozent während zu etwa 46 Prozent nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes (Schreiber 2011, S. 238). Wie aber den bis 2021 aktualisierten AKUF-Daten aus Tabelle 1 zu entnehmen ist, haben die letzten 15 Jahre dazu geführt, dass es fast keine Unterschiede mehr zwischen den prozentualen Anteilen vor und nach Ende des Ost-West-Konflikts gibt.

gesamt

1945-1988

1989-2021

Summe Militärische Siege

53,7 %

54,2 %

53,3 %

Sieg (Rebellen)

9,9 %

9,2 %

10,7 %

Sieg (Staat)

39,3 %

40,0 %

41,0 %

Sieg (zwischenstaatlich)

4,1 %

5,0 %

3,3 %

Sieg (sonstiges)

0,4 %

0,0 %

0,8 %

Summe Vereinbarungen

43,4 %

42,5 %

44,3 %

Vereinbarung (mit Vermittlung)

32,6 %

30,0 %

35,2 %

Vereinbarung (ohne Vermittlung)

10,7 %

12,5 %

9,0 %

Abbruch

3,3 %

3,3 %

2,5 %

Tabelle 1: Typen der Kriegsbeendigung

Faktoren bei der Beendigung von Kriegen

Wie leicht ersichtlich, haben Auswertungen zu Typen der Kriegsbeendigung ihre Grenzen. Sie sagen wenig darüber aus, unter welchen Bedingungen Kriege beendet werden. Die Benennung von möglichen Faktoren, die zur Kriegsbeendigung beigetragen haben, ist zwar nicht ausschließlich Neuland, wurde bislang nur im Rahmen eines Projektes innerhalb der AKUF an einer der allgemeinen Datenbanken vorgenommen.4 Die in der AKUF herausgearbeiteten Faktoren5 (vgl. Tabelle 2) unterscheiden sich dabei nicht grundlegend von den in der Literatur genannten.

1945-2006

Militärische Situation

74,9 %

Militärische Überlegenheit

60,2 %

Pattsituation

12,8 %

Militärische Erfolge/Niederlagen

1,9 %

Direkte militärische Intervention

8,1 %

Indirekte Interventionen militärischer Art

17,1 %

Externer Druck

26,1 %

Politisch/wirtschaftliche Situation

18,5 %

Regierungswechsel

10,0 %

Heterogenität/Spaltung der Rebellen

14,2 %

Gefangennahme/Tod von Rebellenführern

3,8 %

Sonstiges

14,2 %

alle Nennungen

186,7 %

Tabelle 2: Faktoren bei Kriegsbeendigung

Dass die militärische Situation bei knapp drei Viertel aller Kriegsbeendigungen als Faktor eine Rolle spielt, sollte angesichts der Tatsache, dass wir uns mit Kriegen beschäftigen, kaum verwundern. Direkte militärische Interventionen spielen vor allem auch in der öffentlichen Wahrnehmung eine bedeutende Rolle. Ein weiterer militärischer Faktor sind indirekte Interventionen. Hierunter fallen vor allem Waffenlieferungen, Ausbildungshilfe oder auch aktiv geduldete Rückzugsgebiete für Rebellen. Für Kriegsbeendigungen spielte dabei vor allem aber der Entzug dieser Formen von Unterstützung eine Rolle.

Der wichtigste der nichtmilitärischen Faktoren ist Druck, der von Dritten auf eine oder alle Kriegsparteien in Form von intensiven diplomatischen Bemühungen oder Sanktionen ausgeübt wird. Insbesondere länger andauernde Kriege können die politische oder wirtschaftliche Situation eines Landes oder einer Region so stark beeinflussen, dass dies zu einer Kriegsbeendigung beiträgt. Interessen- und Meinungsunterschiede innerhalb der Kriegsparteien sind ein weiterer Faktor, wenn sie zu Spaltungen oder Wechseln an der Spitze führen. Prominent – aber weniger häufig als Faktor anzutreffen – sind Gefangennahmen oder der Tod von Anführern, die eine Rebellengruppe entweder entscheidend schwächen oder zu einem Kurswechsel bewegen können. Es muss an dieser Stelle deutlich gemahnt werden, dass auch schon King (1997) in seiner Studie für jeden der von ihm herausgearbeiteten Faktoren betonte, dass sie auch in die gegenteilige Richtung, also konflikteskalierend und kriegsverstetigend wirken können.

Der Krieg in der Ukraine und die Forschung zu Kriegsbeendigungen

Welche Rückschlüsse lassen die bisherigen Ergebnisse der Forschung zu Kriegsbeendigungen für den Krieg in der Ukraine zu? Die erste einschränkende Antwort dazu lautet, dass statistische Verteilungen genau dies sind. Es ist daher schlicht nicht vorhersagbar, ob der aktuelle Krieg sich so verhält wie die Mehrheit oder ob er eine Ausnahme darstellt.

Schon die Frage der militärischen Situation lässt sich schwer beantworten: Wann liegt eine militärische Überlegenheit vor? Ist das nur der Unterschied in Material und Truppenstärken? Und – wenn der Krieg weiter andauert – wie sieht die Lage in ein paar Wochen aus? Die Einschätzung der militärischen Situation in einem andauernden Krieg hängt auch von Erwartungen an den zukünftigen Verlauf ab: Wird Russland weitere Gebiete erobern oder wird die Ukraine eine erfolgreiche Gegenoffensive starten können? Oder bleibt der Frontverlauf im Wesentlichen so, wie er sich derzeit darstellt?

Die politische und/oder wirtschaftliche Situation ist ebenfalls ein häufiger Faktor bei der Beendigung von Kriegen. In aller Regel kommt dieser aber erst mit einer gewissen Kriegsdauer zum Tragen. Eine Ausnahme besteht allenfalls dann, wenn der Krieg von vorneherein unpopulär ist. Beides trifft zurzeit weder auf Russland noch die Ukraine zu.

Kommen wir also zu den Faktoren, die NATO- und EU-Staaten derzeit als Mittel einsetzen. Da sind zunächst die indirekten militärischen Interventionen durch Waffenlieferungen für die Ukraine. Wie bereits oben bei der Erläuterung der Faktoren erwähnt, spielt dies für Kriegsbeendigungen vor allem dann eine positive Rolle, wenn diese Form der Unterstützung eingestellt wird. Waffenlieferungen führen im Gegenteil eher zu einer Verlängerung von Kriegen. Z.B. wurden Mitte der 1970er bis Ende der 1980er Jahre auffallend wenige Kriege beendet. In dieser Zeit wurden Kriegsparteien im Rahmen des Ost-West-Konflikts sehr freigiebig aus Moskau oder Washington unterstützt und mit dem Wegfall dieser Unterstützung – meistens in Kombination mit diplomatischen Initiativen – wurden viele dieser Kriege dann Anfang der 1990er Jahre beendet.6 Waffenlieferungen an die Ukraine können also zunächst einmal nur dazu beitragen, dass die Ukraine den Krieg nicht in absehbarer Zeit verliert.

Als zweites bedeutendes Druckmittel setzen EU und NATO Wirtschaftssanktionen gegen Russland ein. Externer Druck ist zwar nach der militärischen Situation der zweithäufigste Faktor, der bei gut einem Viertel aller Kriegsbeendigungen eine Rolle spielt. Allerdings wird in der Datenbank nicht zwischen politisch/diplomatischem und wirtschaftlichem Druck unterschieden. Ein genauerer Blick in die Daten (Probst 2011, S. 280-375) zeigt aber, dass hier vor allem diplomatischer Druck eine große Rolle spielt.7 Dass Wirtschaftssanktionen so selten als mitentscheidender Faktor für Kriegsbeendigungen eine Rolle spielen, hängt auch mit der Natur dieses Mittels ab: Sanktionen können nur dann wirken, wenn es einen substanziellen wirtschaftlichen Austausch zwischen den Sanktionierenden und dem Sanktionierten gibt (vgl. Basedau et al. 2010, S. 3). Das ist zwar zwischen Russland und insbesondere der EU der Fall soweit es um Energierohstoffe wie Gas, Öl und Kohle geht. Diese gegenseitige Abhängigkeit schränkt aber auch die Sanktionsmöglichkeiten ein, da auch für diejenigen, welche Sanktionen verhängen, damit Kosten verbunden sind (Ebd., S. 6): Bestimmte Sanktionen gegen Russland werden daher erst vorgenommen oder angekündigt, wenn die eigene Energieversorgung gesichert scheint. Weitere Faktoren sind, dass es andere Abnehmer für russische Rohstoffe gibt – und nicht unbedingt aus dem Grund, weil diese Russland unterstützen.

Das dritte derzeit gewählte Druckmittel der intervenierenden Staaten ist diplomatischer Druck. Zwar wurde die Resolution der UN-Generalversammlung zur Verurteilung des russischen Angriffskrieges mit einer großen Mehrheit von 141 Ja- zu 5 Nein-Stimmen bei 35 Enthaltungen angenommen. Allerdings ist Russland auch für die Staaten, die der Resolution zugestimmt haben, nicht etwa als Handels- oder auch nur Gesprächspartner diskreditiert. Eine Zeitenwende oder einen Epochenbruch hat für weite Teile der Welt am 24. Februar nicht stattgefunden (Plagemann 2022), wobei die Gründe für einzelne Staaten durchaus unterschiedlich sein können: Traditionelle Verbindungen zu Russland, der Wunsch in den Außenbeziehungen auch in Zukunft mehrere Optionen zu haben, das Verhalten westlicher Staaten in der Vergangenheit ebenso wie die geringe Rücksichtnahme des Westens bei den Sanktionen hinsichtlich der Auswirkungen auf Dritte (vgl. Zumach 2022).

Die Besonderheit des Ukrainekriegs

Es sieht also nicht so aus, als würden im Krieg in der Ukraine in absehbarer Zeit Faktoren zum Tragen kommen, die in der Vergangenheit zu Kriegsbeendigungen beigetragen haben. Auch wenn man sich die Frage stellt, welche ähnlichen Kriege es in der Vergangenheit gegeben hat, sind die Aussichten für ein baldiges Ende des Krieges eher schlecht. Am ehesten lässt sich der Krieg Russlands gegen die Ukraine mit anderen Kriegen vergleichen, wo eine Großmacht einem vermeintlich militärisch unterlegenen Gegner gegenüberstand. Wenn es keine schnellen Siege gab, wie beim Ungarn-Aufstand, oder den Kriegen der USA gegen Grenada oder Panama, so dauerten diese Kriege vergleichsweise lang. Insbesondere für die Erkenntnis, dass ein Krieg nicht zu gewinnen ist, brauchten Großmächte in der Regel lange: Dies galt für Vietnam ebenso wie für die Kriege sowohl der Sowjetunion als auch der USA in Afghanistan.

Inzwischen warnte auch NATO-Generalsekretär Stoltenberg davor, dass der Krieg in der Ukraine Jahre dauern könnte (Tagesschau 2022). Angesichts der bisherigen Opferzahlen würde das Zehntausende von weiteren Toten bedeuten. Was könnte also eine Alternative sein? Zwar erst als Punkt 14, aber dennoch markant platziert fordert die UN-Generalversammlung in ihrer Resolution zur Verurteilung des Angriffs Russlands „nachdrücklich die sofortige friedliche Beilegung des Konflikts zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine durch politischen Dialog, Verhandlungen, Vermittlung und andere friedliche Mittel“ (UNGA 2022).

Anmerkungen

1) Durch die Aussage „fünf Monate“ darf nicht übersehen werden, dass in der Ostukraine bereits seit 2014 ein Krieg mit russischer Beteiligung stattfindet.

2) Ein Überblick zum Forschungsstand findet sich bei Probst 2011, S. 21-85.

3) Die knappen statistischen Analysen der aktuellsten Publikation des Projektes »Correlates of War« gehen auf Fragen der Kriegsbeendigung nicht ein (Sarkees und Wayman 2010, S. 562-569).

4) Licklider 1993, Heraclides 1997 und King 1997 haben jeweils eigene Datensätze mit begrenzten Zeiträumen oder Konfliktgegenständen erstellt.

5) Die Daten der Tabelle 2 beziehen sich nur auf den Zeitraum 1945-2006. Eine Aktualisierung dieser Daten war – anders als für Tabelle 1 – für diesen Beitrag aufgrund der höheren Komplexität nicht möglich. Die Faktoren summieren sich auf über 100 Prozent da mehrere Faktoren zusammen zu einer Kriegsbeendigung beigetragen haben können.

6) Das lässt sich auch dem im Rahmen des UCDP erstellten Datensatz zur externen Unterstützung in bewaffneten Konflikten entnehmen (Högbladh et al. 2011; der zugehörige Datensatz unter ucdp.uu.se/downloads/).

7) Das gilt noch mehr für zwischenstaatliche Kriege, wo dieser Faktor bei über einem Drittel der Kriegsbeendigungen als relevant eingestuft wurde (Probst 2011, S. 110).

Literatur

Basedau, M.; Portella, C.; von Soest, Ch. (2010): Peitsche statt Zuckerbrot: Sind Sanktionen wirkungslos? (GIGA Focus Global 11/2010), Hamburg.

Carroll, B. A. (1970): War termination and conflict theory: Value premises, theories and policies. In: Annals of the American Academy of Political and Social Science 392(1), S. 14-29.

Gantzel, K. J.; Schwinghammer, T. (1995): Die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 bis 1992. Daten und Tendenzen. Münster: LIT Verlag.

Heraclides, A. (1997): The ending of unending conflicts: Separatist wars. In: Millennium: Journal of International Studies 26(3), S. 679-707.

Högbladh, S.; Pettersson, Th.; Themnér, L. (2011): External support in armed conflicts 1975-2009 – presenting new data. Unveröffentlichtes Manuskript, International Studies Association Convention in Montreal 2011.

Iklé, F. Ch. (1971): Every war must end. New York: Columbia University Press.

King, Ch. (1997): Ending civil wars – Adelphi Paper 308. Oxford/New York: Oxford University Press.

Kreutz, J. (2010): How and when armed conflicts end. Introducing the UCDP conflict termination dataset. In: Journal of Peace Research 47(2), S. 243-250.

Licklider, R. (1993): How civil wars end: Questions and methods. In: Ders. (Hrsg.): Stopping the killing. How civil wars end. New York: New York University Press, S. 3-19.

Plagemann, J. (2022): Die Ukraine-Krise im globalen Süden: kein “Epochenbruch” (GIGA Focus Global 2/2022), Hamburg.

Probst, M. (2011): Kriegsbeendigungen. Eine empirische Analyse der Faktoren und Prozesse der Deeskalation von Kriegen. Frankfurt a.M.: Peter Lang Verlag.

Sarkees, M. R.; Wayman, F. W. (2010): Resort to war 1816-2007. Washington: Sage.

Schreiber, W. (2011): Wie Kriege enden. In: Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (Hrsg.): Krieg im Abseits. „Vergessene Kriege“ zwischen Schatten und Licht oder das Duell im Morgengrauen um Ökonomie, Medien und Politik. Wien/Berlin: LIT Verlag, S. 233-249.

Tagesschau (2022): Stoltenberg zur Ukraine NATO rechnet mit langem Krieg. 19.06.2022.

UNGA (2022): Resolution der Generalversammlung A/RES/ES/11/1. 18.3.2022.

Zumach, A. (2022): Selektivität und doppelte Standards. Die UNO vor dem Rückfall in die Blockaden des Kalten Krieges. In: W&F 2/2022, S. 21-23.

Wolfgang Schreiber, Dipl.-Math., ist Lehrbeauftragter und Leiter der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) an der Universität Hamburg.