Militarisierung
Militarisierung
Zeitgeist einer neuen Ära?
von Markus Bayer, Ruben Domke, Garance Klaaßen und Jari Bertolini
Nachrichten über neue Rekordausgaben für das Militär, über Rüstungsvorhaben, die Vergrößerung von Streitkräften und nicht zuletzt die Resilienz, die Verteidigungs und Kriegsfähigkeit bestimmen seit einiger Zeit die Medien und öffentliche Debatten – nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern Europas und der Welt. Immer häufiger taucht in diesem Kontext der Begriff der Militarisierung wieder auf, der lange Zeit fast vollständig in Vergessenheit geraten war. Was aber heißt Militarisierung? Wie kann man den Begriff definieren, wie messen? Letztlich: Wie stark militarisiert sich Deutschland, Europa, die Welt?
„Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“ (Baerbock 2022), konstatierte Außenministerin Baerbock nach dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine. Ähnlich sprach Bundeskanzler Scholz von einer Zeitenwende und kündigte ein Sondervermögen zur Ausrüstung der Bundeswehr an. Auch andere europäische Länder – allen voran Polen und die baltischen Staaten – reagierten mit Steigerungen ihrer Militärausgaben, neuen Beschaffungsvorhaben und der Vergrößerung ihrer Streitkräfte. Nicht nur Europa, sondern auch Asien (Croissant et al. 2024) und Subsahara Afrika (Bayer et al. 2023a) erleben gerade eine Wiederkehr des Militärs als wichtigem Machtfaktor – sowohl nach innen als auch nach außen. Es scheint daher, dass Militarisierung wieder zu einem bestimmenden Zeitgeist wird (Bayer et al. 2023b). In diesem Beitrag diskutieren wir, wie man Militarisierung verstehen und messen kann, bevor wir mithilfe des Globalen Militarisierungsindexes einen Blick auf die aktuellen Militarisierungstrends werfen. Zum Abschluss wagen wir einen Ausblick für die kommenden Jahre.
Militarisierung: Definition und Messbarkeit
Militarisierung kann als Prozess der Zunahme des militärischen Einflusses gegenüber der Zivilbevölkerung verstanden werden, der sich entlang von drei Dimensionen (materiell, politisch und sozial) erstreckt (Bowman 2002) und im Extrem, im Militarismus, gipfeln kann. Militarisierung wird oft ursächlich mit Krieg und Autoritarismus in Verbindung gebracht: Ersteres, da steigender politischer Einfluss des Militärs in der politischen Entscheidungsfindung (Sechser 2004) und die weite Akzeptanz von Krieg als Mittel der Politik in der Gesellschaft (Orford 2017) Krieg wahrscheinlicher macht. Zweiteres, da eine Machtverschiebung zwischen ziviler (und demokratisch gewählter) Regierung und dem militärischen Apparat die Kontrolle des Militärs einschränkt (Kuehn und Croissant 2023).
Obwohl die unterschiedlichen Dimensionen von Militarisierung eng miteinander verknüpft sind, fokussieren die meisten Versuche zur Erfassung dieser Prozesse auf lediglich eine Dimension. So blickt etwa der »Globale Militarisierungsindex« (GMI)1 auf die materielle Dimension, indem er den Militarisierungsgrad über die staatliche Ressourcenzuweisung (Ausgaben, Personal und schwere Waffen) an das Militär im Verhältnis zu anderen Gesellschaftsbereichen misst (von Boemcken et al. 2023). Ähnlich adressiert der »Political Roles of the Military«-Datensatz (Croissant et al. 2016) die politische Dimension, indem er Daten zur Besetzung politischer Ämter durch Militärs oder die von ihnen ausgeübte Veto-Macht bereitstellt. Ein Versuch alle Dimensionen zusammenzubringen existiert bisher leider erst in einem frühen Stadium und für die Grundlagenforschung, da derzeit keine kontinuierliche Aktualisierung der Daten gewährleistet werden kann (Multidimensional Measures of Militarization (m3) Dataset).2
Globale Militarisierung – Aktuelle Trends
Militarisierung lässt sich einerseits als Zustand, andererseits als Dynamik begreifen. Als Zustand berechnen wir am Bonn International Centre for Conflict Studies (bicc) sie über den Militarisierungswert des GMI jährlich, um ein globales Ranking zu erstellen. Um die aktuellen Dynamiken abzubilden, greifen wir dabei auf die Kennzahl ∆GMI zurück. Diese errechnet sich aus der Differenz des Durchschnitts der GMI-Werte der letzten zwei Jahre (2021/2022) und dem Durchschnitt der beiden Vorjahre (2020/2021).
Generell zeigt diese Trendanalyse, dass sich einzelne Regionen zunehmend militarisieren – ein weltweiter Trend ist hingegen nicht beobachtbar. Mit Blick auf die Karte fallen uns drei Regionen mit einer zunehmenden materiellen Militarisierung ins Auge: Europa, der Sahel, und Nordamerika. Weltweit militarisiert sich die Ukraine am stärksten, Deutschland und die baltischen Staaten leicht. Russland demilitarisierte sich 2022 aufgrund massiver Verluste in der Ukraine.
Der Sahel erlebte in den letzten Jahren eine flächendeckende Militarisierung. Die Ursachen sind zum einen diverse Militärputsche und zum anderen die Bedrohung durch jihadistische Gruppen (Akinola und Ramontja 2023). Im Jahr nach dem Militärputsch erhöhte bspw. Burkina Faso den Militäretat um 1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Auch Niger vergrößerte die Militärausgaben 2022 um 0,4 Prozent.3
Nicht nur Staaten in der Sahelzone, sondern auch westafrikanische Länder wie Togo erfuhren eine starke Militarisierung. Jihadistische Gruppen aus Burkina Faso dringen vermehrt in Togos Norden ein und tragen dort durch Angriffe auf Militärposten und abgelegene Dörfer zur Destabilisierung bei (Crisis Group 2023, Soulé 2024). Seit 2020 wurden nicht nur die Militärausgaben, gemessen am BIP, um 2 Prozent erhöht, sondern auch die Streitkräfte um 5.000 Soldat*innen vergrößert. Zur Verstärkung der Armee und Luftwaffe wurden von 2020 bis 2022 sowohl gepanzerte Kampffahrzeuge, Transport- und Kampfhubschrauber, als auch türkische Bayraktar-TB2-Drohnen angeschafft. Überdies befeuern die Spannungen zwischen den drei neu entstandenen Militärregimen in Mali, Burkina Faso und Niger mit den restlichen Staaten der »Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft« die Militarisierung der Region weiter (Akinola und Makombe 2024). So verzeichneten Nigeria, Benin und Guinea 2022 eine deutliche Militarisierung. Beide Dynamiken – sowohl die terroristische Bedrohung als auch Spannungen zwischen westafrikanischen Staaten – werden vermutlich auch weiterhin die Militarisierung in der Region vorantreiben.
Der Georgienkrieg 2008, die Annexion der Krim 2014 und der Angriffskrieg auf die Ukraine 2022 hinterließen in der osteuropäischen Sicherheitspolitik ihre Spuren und führten dort in vielen Ländern zu einer Militarisierung. Vor 20 Jahren traten, mit der NATO-Osterweiterung, Bulgarien, Estland, Litauen, Lettland, Rumänien, Slowakei und Slowenien der Allianz bei. Seit 2014 steigen die Militärausgaben in all diesen Staaten an.
Militarisierungstrends 2020-2022 (Layout: Jari Bertolini; bicc 2024 · Quelle: Globaler Militarisierungsindex bicc 2024)
Eine besondere Militarisierung verzeichnete Litauen: Hier stieg neben den Ausgaben auch nach Wiedereinführung der Wehrpflicht das Militärpersonal stark an (von 11.800 in 2014 auf 23.000 Soldat*innen in 2023). Die Regierung ermutigt aktiv Frauen und Männer, sich in freiwilligen Diensten zu engagieren (Bankauskaité und Šlekys 2023). Zusätzlich sind die litauischen Paramilitärs, wie bspw. »Rifleman’s Union« (derzeit 10.600 Soldat*innen) im November 2022 umstrukturiert worden. Als »Zivile Verteidigung« sollen sie mit einem neuen Budget von 17 Mio. € (erhöht von 2 Mio. €) in den kommenden 10 Jahren zu einer Streitkraft mit 50.000 Soldat*innen ausgebaut werden. Der Militäretat wuchs von 0,79 Prozent des BIP im Jahr 2014 auf 2,52 Prozent in 2022 (Bankauskaité und Šlekys 2023). Während 2014 für das Baltikum bereits einen sicherheitspolitischen Umbruch bedeutete, muss 2022 als eine Zäsur beschrieben werden, die insbesondere zu einer verstärkten Beschaffung von neuen Waffensystemen führte. Aufgrund der geopolitischen Lage ist auch in Zukunft eine zunehmende Militarisierung des Baltikums zu erwarten. So befürchten die baltischen Staaten etwa von Russland überrannt oder über die sogenannte »Suwalki-Lücke« von den restlichen NATO-Ländern abgeschnitten zu werden.
Was ist in ausgewählten Ländern zu erwarten?
Mit Blick auf Einzelstaaten jenseits regionaler Trends treten einige Staaten gesondert hervor. Für die Militarisierung Israels ist der aktuelle Krieg in Gaza und die regionale Sicherheitslage bestimmend. 2023 stiegen die Militärausgaben auf 5,3 Prozent des BIP (2022: 4,5 %; 2021: 4,9 %). Ein Teil davon wird durch ein 10-Jahres-Abkommen mit den USA gedeckt, welches Israel jährlich 3,8 Mrd. US$ an Militärhilfen zusichert. Die USA sind auch der wichtigste israelische Waffenlieferant (Deutschland Platz 2). Aufgrund der regionalen Spannungen ist eine Militarisierung Israels in den kommenden Jahren erwartbar. Diese wird jedoch wegen der bereits hohen Militarisierung verhältnismäßig gering ausfallen.
Absehbar wird auch Russland sich wieder militarisieren. Das Land erhöhte im Jahr 2023 seine Militärausgaben deutlich um 24 Prozent gegenüber dem Vorjahr auf 109 Mrd. US$. Dies entspricht 5,9 Prozent des BIP und 15 Prozent des Staatshaushaltes. Trotz erhöhter Ausgaben und enormer Anstrengungen das Militär zu vergrößern und materiell aufzurüsten, wird die Militarisierung – ob der hohen Verluste an Menschen und Material im Krieg gegen die Ukraine – zunächst gering ausfallen und erst in den kommenden Jahren voll zum Tragen kommen.
Mit einer geplanten Erhöhung der Militärausgaben auf 4 Prozent des BIP (2022: 2,6 %), verzeichnet Polen den größten Anstieg aller europäischen Staaten. Von 2022 auf 2023 wuchsen Polens Militärausgaben um 75 Prozent auf 31,6 Mrd. US$. Das Geld soll für die Verdoppelung der Landstreitkräfte auf 300.000 Soldat*innen, sowie zur Anschaffung von knapp 1.000 Panzern, hunderten Artilleriesystemen, Patriot-Luftabwehrsystemen, Fregatten, und F35-Kampfflugzeugen dienen. Hier ist eine deutliche Militarisierung zu erwarten.
Eine ähnliche Trendwende verzeichnet Japan, dessen Militarisierung sich vor allem als Reaktion auf die militärischen Ambitionen Chinas im Ostchinesischen Meer verstehen lässt. Im Jahr 2023 wurden dem Militär hierfür 50,2 Mrd. US$ zugewiesen, 11 Prozent mehr als noch 2022 (SIPRI 2024). Mit Investitionen in F35-Kampfflugzeuge, Hubschrauber, Kriegsschiffe und U-Boote entfernt sich Japan weiter von seiner pazifistischen Verfassung.
Im Sahel ist Burkina Faso 2023 mit 4 Prozent seines BIP mittlerweile das Land mit den höchsten Militärausgaben. Der Militärputsch 2022 ist hier ein entscheidender Faktor. In den letzten Jahren wurde die Beschaffung von gepanzerten Truppentransportern sowie türkischen Drohnen für die Landstreitkräfte vorangetrieben. Die enge Kooperation mit der russischen Regierung, die politische Regionallage sowie das Militärregime lassen perspektivisch auf einen längeren Militarisierungstrend schließen.
Zu guter Letzt: Bedeutet die »Zeitenwende« auch in Deutschland eine Militarisierung? Über das Sondervermögen hinaus sind Ausgabensteigerungen zu sehen und zu erwarten. Zudem plant die Bundesregierung eine Vergrößerung der Bundeswehr um 25.000 Soldat*innen auf knapp über 200.000. Absehbar wird die Militarisierung im Umfang der zur Verfügung stehenden Kriegsgeräte jedoch moderat ausfallen, da das Gros der Mittel in die Modernisierung oder den Ersatz von Systemen fließen wird.4 Eine gesellschaftliche Diskursverschiebung ist jedoch bereits jetzt zu beobachten.
Anmerkungen
1) Online zu finden unter: gmi.bicc.de
2) Online zu finden unter: m3-militarization.com.
3) Alle Daten zu Militärausgaben stammen aus der Military Expenditure Datebase (MILEX) des Stockholm International Peace Research Institute. Daten zur Bewaffnung der Streitkräfte entstammen der »Military Balance« des International Institute for Strategic Studies (IISS Military Balance).
4) Siehe Bayer und Rohleder 2022.
Literatur
Akinola, A. O.; Ramontja, N. (2023): Violent conflict in the Sahel. Causes, dynamics, and actors. In: Akinola, A. O. (Hrsg.): Contemporary issues on governance, conflict and security in Africa. Cham: Palgrave Macmillan, S. 125-146.
Akinola, A. O.; Makombe, R. (2024): Rethinking the resurgence of military coups in Africa. Journal of Asian and African Studies, online first, DOI: 10.1177/00219096231224680.
Baerbock, A. (2022): Statement von Außenministerin Baerbock im Anschluss an die Sitzung des Krisenstabes der Bundesregierung im Auswärtigen Amt zum russischen Angriff auf die Ukraine. Auswärtiges Amt, 24.2.2022.
Bankauskaité, D.; Šlekys, D. (2023): Lithuania’s total defense review. Institute for National Strategic Security, National Defense University. PRISM, 2023, Vol. 10, No. 2.
Bayer, M.; Rohleder, P. (2022): Globaler Militarisierungsindex 2022. Bonn: bicc, Eigenpublikation.
Bayer, M.; Bethke, F. S.; Croissant, A.; Scheeder, N. (2023a): Back in business or never out? Military coups and political militarization in Sub-Sahara Africa. PRIF Spotlight 13/2023, online.
Bayer, M.; Croissant, A.; Izadi, R.; Scheeder, N. (2023b): Multidimensional measures of militarization (M3). A global dataset. Armed Forces & Society, online first, DOI: 10.1177/0095327X231215295.
Bowman, K. S. (2002): Militarization, democracy, and development. The perils of praetorianism in Latin America. University Park: Pennsylvania State University Press.
Crisis Group (2023): Keeping jihadists out of northern Côte d’Ivoire. Briefing / Africa, 11.8.2023.
Croissant, A.; Eschenauer, T.; Kamerling, J. (2016): Militaries’ roles in political regimes. Introducing the PRM dataset. European Political Science 16, S. 400-414.
Croissant, A.; Kuehn, D.; Bayer, M.; Scheeder, N. (2024): Remilitarisation in Asia. Trends and implications. GIGA Focus Asia, 2, Hamburg. DOI: 10.57671/gfas-24022.
Kuehn, D.; Croissant, A. (2023): Die politische Kontrolle des Militärs. In: Leonhard, N.; Werkner, I. J. (Hrsg.): Militärsoziologie – Eine Einführung. Wiesbaden: Springer VS, S. 63-83.
Orford, J. (2017): Turning psychology against militarism. Journal of Community & Applied Social Psychology 27(4), S. 287-297.
Sechser, T. S. (2004): Are soldiers less war-prone than statesmen? Journal of conflict resolution 48(5), S. 746-774.
Soulé, F. (2024): Responding to security threats from the Sahel. What role for external security partnerships in coastal West African States? Megatrends Africa, SWP Policy Brief 25, März 2024.
Stockholm International Peace Research Institute (2024): Global military spending surges amid war, rising tensions and insecurity. Pressemitteilung, 22.4.2024.
Von Boemcken, M. et al. (2023): Globaler Militarisierungsindex: Codebook Version 3.0, online unter: gmi.bicc.de/publications.
Dr. Markus Bayer, ist Senior Researcher am Bonn International Centre for Conflict Studies (bicc).
Ruben Domke, studiert Sicherheitswissenschaften am IFSH Hamburg.
Garance Klaaßen, studiert Political and Social Studies und Wirtschaftswissenschaften an der JMU Würzburg.
Jari Bertolini, studentische Hilfskraft, studiert Geografie an der Uni Bonn.