Militarisierung

Militarisierung

Zeitgeist einer neuen Ära?

von Markus Bayer, Ruben Domke, Garance Klaaßen und Jari Bertolini

Nachrichten über neue Rekordausgaben für das Militär, über Rüstungsvorhaben, die Vergrößerung von Streitkräften und nicht zuletzt die Resilienz, die Verteidigungs und Kriegsfähigkeit bestimmen seit einiger Zeit die Medien und öffentliche Debatten – nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern Europas und der Welt. Immer häufiger taucht in diesem Kontext der Begriff der Militarisierung wieder auf, der lange Zeit fast vollständig in Vergessenheit geraten war. Was aber heißt Militarisierung? Wie kann man den Begriff definieren, wie messen? Letztlich: Wie stark militarisiert sich Deutschland, Europa, die Welt?

Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“ (Baerbock 2022), konstatierte Außenministerin Baerbock nach dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine. Ähnlich sprach Bundeskanzler Scholz von einer Zeitenwende und kündigte ein Sondervermögen zur Ausrüstung der Bundeswehr an. Auch andere europäische Länder – allen voran Polen und die baltischen Staaten – reagierten mit Steigerungen ihrer Militärausgaben, neuen Beschaffungsvorhaben und der Vergrößerung ihrer Streitkräfte. Nicht nur Europa, sondern auch Asien (Croissant et al. 2024) und Subsahara Afrika (Bayer et al. 2023a) erleben gerade eine Wiederkehr des Militärs als wichtigem Machtfaktor – sowohl nach innen als auch nach außen. Es scheint daher, dass Militarisierung wieder zu einem bestimmenden Zeitgeist wird (Bayer et al. 2023b). In diesem Beitrag diskutieren wir, wie man Militarisierung verstehen und messen kann, bevor wir mithilfe des Globalen Militarisierungsindexes einen Blick auf die aktuellen Militarisierungstrends werfen. Zum Abschluss wagen wir einen Ausblick für die kommenden Jahre.

Militarisierung: Definition und Messbarkeit

Militarisierung kann als Prozess der Zunahme des militärischen Einflusses gegenüber der Zivilbevölkerung verstanden werden, der sich entlang von drei Dimensionen (materiell, politisch und sozial) erstreckt (Bowman 2002) und im Extrem, im Militarismus, gipfeln kann. Militarisierung wird oft ursächlich mit Krieg und Autoritarismus in Verbindung gebracht: Ersteres, da steigender politischer Einfluss des Militärs in der politischen Entscheidungsfindung (Sechser 2004) und die weite Akzeptanz von Krieg als Mittel der Politik in der Gesellschaft (Orford 2017) Krieg wahrscheinlicher macht. Zweiteres, da eine Machtverschiebung zwischen ziviler (und demokratisch gewählter) Regierung und dem militärischen Apparat die Kontrolle des Militärs einschränkt (Kuehn und Croissant 2023).

Obwohl die unterschiedlichen Dimensionen von Militarisierung eng miteinander verknüpft sind, fokussieren die meisten Versuche zur Erfassung dieser Prozesse auf lediglich eine Dimension. So blickt etwa der »Globale Militarisierungsindex« (GMI)1 auf die materielle Dimension, indem er den Militarisierungsgrad über die staatliche Ressourcenzuweisung (Ausgaben, Personal und schwere Waffen) an das Militär im Verhältnis zu anderen Gesellschaftsbereichen misst (von Boemcken et al. 2023). Ähnlich adressiert der »Political Roles of the Military«-Datensatz (Croissant et al. 2016) die politische Dimension, indem er Daten zur Besetzung politischer Ämter durch Militärs oder die von ihnen ausgeübte Veto-Macht bereitstellt. Ein Versuch alle Dimensionen zusammenzubringen existiert bisher leider erst in einem frühen Stadium und für die Grundlagenforschung, da derzeit keine kontinuierliche Aktualisierung der Daten gewährleistet werden kann (Multidimensional Measures of Militarization (m3) Dataset).2

Globale Militarisierung – Aktuelle Trends

Militarisierung lässt sich einerseits als Zustand, andererseits als Dynamik begreifen. Als Zustand berechnen wir am Bonn International Centre for Conflict Studies (bicc) sie über den Militarisierungswert des GMI jährlich, um ein globales Ranking zu erstellen. Um die aktuellen Dynamiken abzubilden, greifen wir dabei auf die Kennzahl ∆GMI zurück. Diese errechnet sich aus der Differenz des Durchschnitts der GMI-Werte der letzten zwei Jahre (2021/2022) und dem Durchschnitt der beiden Vorjahre (2020/2021).

Generell zeigt diese Trendanalyse, dass sich einzelne Regionen zunehmend militarisieren – ein weltweiter Trend ist hingegen nicht beobachtbar. Mit Blick auf die Karte fallen uns drei Regionen mit einer zunehmenden materiellen Militarisierung ins Auge: Europa, der Sahel, und Nordamerika. Weltweit militarisiert sich die Ukraine am stärksten, Deutschland und die baltischen Staaten leicht. Russland demilitarisierte sich 2022 aufgrund massiver Verluste in der Ukraine.

Der Sahel erlebte in den letzten Jahren eine flächendeckende Militarisierung. Die Ursachen sind zum einen diverse Militärputsche und zum anderen die Bedrohung durch jihadistische Gruppen (Akinola und Ramontja 2023). Im Jahr nach dem Militärputsch erhöhte bspw. Burkina Faso den Militäretat um 1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Auch Niger vergrößerte die Militärausgaben 2022 um 0,4 Prozent.3

Nicht nur Staaten in der Sahelzone, sondern auch westafrikanische Länder wie Togo erfuhren eine starke Militarisierung. Jihadistische Gruppen aus Burkina Faso dringen vermehrt in Togos Norden ein und tragen dort durch Angriffe auf Militärposten und abgelegene Dörfer zur Destabilisierung bei (Crisis Group 2023, Soulé 2024). Seit 2020 wurden nicht nur die Militärausgaben, gemessen am BIP, um 2 Prozent erhöht, sondern auch die Streitkräfte um 5.000 Soldat*innen vergrößert. Zur Verstärkung der Armee und Luftwaffe wurden von 2020 bis 2022 sowohl gepanzerte Kampffahrzeuge, Transport- und Kampfhubschrauber, als auch türkische Bayraktar-TB2-Drohnen angeschafft. Überdies befeuern die Spannungen zwischen den drei neu entstandenen Militärregimen in Mali, Burkina Faso und Niger mit den restlichen Staaten der »Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft« die Militarisierung der Region weiter (Akinola und Makombe 2024). So verzeichneten Nigeria, Benin und Guinea 2022 eine deutliche Militarisierung. Beide Dynamiken – sowohl die terroristische Bedrohung als auch Spannungen zwischen westafrikanischen Staaten – werden vermutlich auch weiterhin die Militarisierung in der Region vorantreiben.

Der Georgienkrieg 2008, die Annexion der Krim 2014 und der Angriffskrieg auf die Ukraine 2022 hinterließen in der osteuropäischen Sicherheitspolitik ihre Spuren und führten dort in vielen Ländern zu einer Militarisierung. Vor 20 Jahren traten, mit der NATO-Osterweiterung, Bulgarien, Estland, Litauen, Lettland, Rumänien, Slowakei und Slowenien der Allianz bei. Seit 2014 steigen die Militärausgaben in all diesen Staaten an.

Grafik Militarisierungstrends

Militarisierungstrends 2020-2022 (Layout: Jari Bertolini; bicc 2024 · Quelle: Globaler Militarisierungsindex bicc 2024)

Eine besondere Militarisierung verzeichnete Litauen: Hier stieg neben den Ausgaben auch nach Wiedereinführung der Wehrpflicht das Militärpersonal stark an (von 11.800 in 2014 auf 23.000 Soldat*innen in 2023). Die Regierung ermutigt aktiv Frauen und Männer, sich in freiwilligen Diensten zu engagieren (Bankauskaité und Šlekys 2023). Zusätzlich sind die litauischen Paramilitärs, wie bspw. »Rifleman’s Union« (derzeit 10.600 Soldat*innen) im November 2022 umstrukturiert worden. Als »Zivile Verteidigung« sollen sie mit einem neuen Budget von 17 Mio. € (erhöht von 2 Mio. €) in den kommenden 10 Jahren zu einer Streitkraft mit 50.000 Soldat*innen ausgebaut werden. Der Militäretat wuchs von 0,79 Prozent des BIP im Jahr 2014 auf 2,52 Prozent in 2022 (Bankauskaité und Šlekys 2023). Während 2014 für das Baltikum bereits einen sicherheitspolitischen Umbruch bedeutete, muss 2022 als eine Zäsur beschrieben werden, die insbesondere zu einer verstärkten Beschaffung von neuen Waffensystemen führte. Aufgrund der geopolitischen Lage ist auch in Zukunft eine zunehmende Militarisierung des Baltikums zu erwarten. So befürchten die baltischen Staaten etwa von Russland überrannt oder über die sogenannte »Suwalki-Lücke« von den restlichen ­NATO-Ländern abgeschnitten zu werden.

Was ist in ausgewählten Ländern zu erwarten?

Mit Blick auf Einzelstaaten jenseits regionaler Trends treten einige Staaten gesondert hervor. Für die Militarisierung Israels ist der aktuelle Krieg in Gaza und die regionale Sicherheitslage bestimmend. 2023 stiegen die Militärausgaben auf 5,3 Prozent des BIP (2022: 4,5 %; 2021: 4,9 %). Ein Teil davon wird durch ein 10-Jahres-Abkommen mit den USA gedeckt, welches Israel jährlich 3,8 Mrd. US$ an Militärhilfen zusichert. Die USA sind auch der wichtigste israelische Waffenlieferant (Deutschland Platz 2). Aufgrund der regionalen Spannungen ist eine Militarisierung Israels in den kommenden Jahren erwartbar. Diese wird jedoch wegen der bereits hohen Militarisierung verhältnismäßig gering ausfallen.

Absehbar wird auch Russland sich wieder militarisieren. Das Land erhöhte im Jahr 2023 seine Militärausgaben deutlich um 24 Prozent gegenüber dem Vorjahr auf 109 Mrd. US$. Dies entspricht 5,9 Prozent des BIP und 15 Prozent des Staatshaushaltes. Trotz erhöhter Ausgaben und enormer Anstrengungen das Militär zu vergrößern und materiell aufzurüsten, wird die Militarisierung – ob der hohen Verluste an Menschen und Material im Krieg gegen die Ukraine – zunächst gering ausfallen und erst in den kommenden Jahren voll zum Tragen kommen.

Mit einer geplanten Erhöhung der Militärausgaben auf 4 Prozent des BIP (2022: 2,6 %), verzeichnet Polen den größten Anstieg aller europäischen Staaten. Von 2022 auf 2023 wuchsen Polens Militärausgaben um 75 Prozent auf 31,6 Mrd. US$. Das Geld soll für die Verdoppelung der Landstreitkräfte auf 300.000 Soldat*innen, sowie zur Anschaffung von knapp 1.000 Panzern, hunderten Artilleriesystemen, Patriot-Luftabwehrsystemen, Fregatten, und F35-Kampfflugzeugen dienen. Hier ist eine deutliche Militarisierung zu erwarten.

Eine ähnliche Trendwende verzeichnet Japan, dessen Militarisierung sich vor allem als Reaktion auf die militärischen Ambitionen Chinas im Ostchinesischen Meer verstehen lässt. Im Jahr 2023 wurden dem Militär hierfür 50,2 Mrd. US$ zugewiesen, 11 Prozent mehr als noch 2022 (SIPRI 2024). Mit Investitionen in F35-Kampfflugzeuge, Hubschrauber, Kriegsschiffe und U-Boote entfernt sich Japan weiter von seiner pazifistischen Verfassung.

Im Sahel ist Burkina Faso 2023 mit 4 Prozent seines BIP mittlerweile das Land mit den höchsten Militärausgaben. Der Militärputsch 2022 ist hier ein entscheidender Faktor. In den letzten Jahren wurde die Beschaffung von gepanzerten Truppentransportern sowie türkischen Drohnen für die Landstreitkräfte vorangetrieben. Die enge Kooperation mit der russischen Regierung, die politische Regionallage sowie das Militärregime lassen perspektivisch auf einen längeren Militarisierungstrend schließen.

Zu guter Letzt: Bedeutet die »Zeitenwende« auch in Deutschland eine Militarisierung? Über das Sondervermögen hinaus sind Ausgabensteigerungen zu sehen und zu erwarten. Zudem plant die Bundesregierung eine Vergrößerung der Bundeswehr um 25.000 Soldat*innen auf knapp über 200.000. Absehbar wird die Militarisierung im Umfang der zur Verfügung stehenden Kriegsgeräte jedoch moderat ausfallen, da das Gros der Mittel in die Modernisierung oder den Ersatz von Systemen fließen wird.4 Eine gesellschaftliche Diskursverschiebung ist jedoch bereits jetzt zu beobachten.

Anmerkungen

1) Online zu finden unter: gmi.bicc.de

2) Online zu finden unter: m3-militarization.com.

3) Alle Daten zu Militärausgaben stammen aus der Military Expenditure Datebase (MILEX) des Stockholm International Peace Research Institute. Daten zur Bewaffnung der Streitkräfte entstammen der »Military Balance« des International Institute for Strategic Studies (IISS Military Balance).

4) Siehe Bayer und Rohleder 2022.

Literatur

Akinola, A. O.; Ramontja, N. (2023): Violent conflict in the Sahel. Causes, dynamics, and actors. In: Akinola, A. O. (Hrsg.): Contemporary issues on governance, conflict and security in Africa. Cham: Palgrave Macmillan, S. 125-146.

Akinola, A. O.; Makombe, R. (2024): Rethinking the resurgence of military coups in Africa. Journal of Asian and African Studies, online first, DOI: 10.1177/00219096231224680.

Baerbock, A. (2022): Statement von Außenministerin Baerbock im Anschluss an die Sitzung des Krisenstabes der Bundesregierung im Auswärtigen Amt zum russischen Angriff auf die Ukraine. Auswärtiges Amt, 24.2.2022.

Bankauskaité, D.; Šlekys, D. (2023): Lithuania’s total defense review. Institute for National Strategic Security, National Defense University. PRISM, 2023, Vol. 10, No. 2.

Bayer, M.; Rohleder, P. (2022): Globaler Militarisierungsindex 2022. Bonn: bicc, Eigenpublikation.

Bayer, M.; Bethke, F. S.; Croissant, A.; Scheeder, N. (2023a): Back in business or never out? Military coups and political militarization in Sub-Sahara Africa. PRIF Spotlight 13/2023, online.

Bayer, M.; Croissant, A.; Izadi, R.; Scheeder, N. (2023b): Multidimensional measures of militarization (M3). A global dataset. Armed Forces & Society, online first, DOI: 10.1177/0095327X231215295.

Bowman, K. S. (2002): Militarization, democracy, and development. The perils of praetorianism in Latin America. University Park: Pennsylvania State University Press.

Crisis Group (2023): Keeping jihadists out of northern Côte d’Ivoire. Briefing / Africa, 11.8.2023.

Croissant, A.; Eschenauer, T.; Kamerling, J. (2016): Militaries’ roles in political regimes. Introducing the PRM dataset. European Political Science 16, S. 400-414.

Croissant, A.; Kuehn, D.; Bayer, M.; Scheeder, N. (2024): Remilitarisation in Asia. Trends and implications. GIGA Focus Asia, 2, Hamburg. DOI: 10.57671/gfas-24022.

Kuehn, D.; Croissant, A. (2023): Die politische Kontrolle des Militärs. In: Leonhard, N.; Werkner, I. J. (Hrsg.): Militärsoziologie – Eine Einführung. Wiesbaden: Springer VS, S. 63-83.

Orford, J. (2017): Turning psychology against militarism. Journal of Community & Applied Social Psychology 27(4), S. 287-297.

Sechser, T. S. (2004): Are soldiers less war-prone than statesmen? Journal of conflict resolution 48(5), S. 746-774.

Soulé, F. (2024): Responding to security threats from the Sahel. What role for external security partnerships in coastal West African States? Megatrends Africa, SWP Policy Brief 25, März 2024.

Stockholm International Peace Research Institute (2024): Global military spending surges amid war, rising tensions and insecurity. Pressemitteilung, 22.4.2024.

Von Boemcken, M. et al. (2023): Globaler Militarisierungsindex: Codebook Version 3.0, online unter: gmi.bicc.de/publications.

Dr. Markus Bayer, ist Senior Researcher am Bonn International Centre for Conflict Studies (bicc).
Ruben Domke, studiert Sicherheitswissenschaften am IFSH Hamburg.
Garance Klaaßen, studiert Political and Social Studies und Wirtschaftswissenschaften an der JMU Würzburg.
Jari Bertolini, studentische Hilfskraft, studiert Geografie an der Uni Bonn.

117 Mio. Hungernde durch Konflikte

117 Mio. Hungernde durch Konflikte

Grafik Krieg und Hunger am Beispiel Sudan

Zusammenhang von Krieg und Hunger am Beispiel Sudan; Quelle: IPC 2024

Worum geht es?

  • Nach Angaben des World Food Programme (WFP) litten 2022 über 117 Mio. Menschen in 19 konfliktbetroffenen Gebieten aufgrund der Gewalt vor Ort unter Hunger (IPC Phase 3).
  • Die SDGs der Vereinten Nationen sehen eine Abschaffung des Hungerleidens bis 2030 vor (Ziel 2). Die Vereinten Nationen betonen den engen Zusammenhang von kriegerischer Gewalt, Instabilität und mangelhafter Nahrungsversorgung. Eine enge Verbindung zu Ziel 16: Frieden, Gerechtigkeit und stabile Institutionen ist überdeutlich.
  • Der Tatbestand des Aushungerns ist seit dem Ersten Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen von 1977 völkerrechtlich als Kriegsverbrechen kodifiziert. Das deutsche Völkerstrafgesetzbuch sieht eine Strafverfolgung auch bei innerstaatlichen Konflikten vor.
  • In vielen Konflikten lässt sich nicht klar nachweisen, ob Hunger absichtsvoll oder unabsichtlich herbeigeführt wird. Auch die Komplexität der Verbindung von Faktoren, die zu Nahrungsmittelknappheit beitragen, erschwert diesen Nachweis.

Was sagen die Daten?

  • Insgesamt hungern nach Angaben des WFP 2024 über 309 Mio. Menschen weltweit. Diese Zahl umfasst nur diejenigen, die von krisenhafter Lebensmittelknappheit betroffen sind. Das WFP geht grundsätzlich von über 780 Mio. Menschen weltweit aus, die zu wenig zu Essen haben. Kritische Stimmen aus der Forschung hinterfragen die hierfür verwendeten Indikatoren und die Absichten hinter deren Auswahl, und gehen von ca. 1,5-2,5 Mrd. Menschen aus, die hungern (vgl. Hickel 2016).
  • Die Klassifikation von Hunger ist global nicht einheitlich, allerdings gibt es Versuche der Standardisierung. Zwei wesentliche Ansätze können unterschieden werden – einer mit Fokus auf Nahrungsmittelversorgung (Angebot und Nachfrage) und einer mit Fokus auf Unterernährung (medizinische Indikatoren). Die »Integrated Food Security Phase Classification« (IPC) kennt für akute Lebensmittelunsicherheit fünf Kategorien: Minimaler Mangel, Stress, Krise, Notfall, Katastrophe/Hungersnot.
  • Von den Hungerbetroffenen ist die größte Gruppe diejenige, die durch kriegerische oder anderweitig gewalttätige Konflikthandlungen von Hunger betroffen ist. Weitere maßgebliche Faktoren für Hunger sind: Effekte des Klimawandels auf die Landwirtschaft, Umweltkatastrophen, ökonomische Ungleichheit und Lebensmittelverluste (bzw. -verschwendung).
  • Fälle von besonderer Dramatik sind derzeit die Situationen in Gaza, in Sudan, Süd-Sudan, der Zentralafrikanischen Republik und Mali sowie in Jemen, Afghanistan und Myanmar. Für einige Staaten liegen nicht ausreichend Daten vor (u.a. Syrien, Ukraine).

Friedenspolitische Konsequenzen?

  • Jeder hungernde Mensch ist einer zu viel – die Abschaffung des Hungers muss daher auch eine dringliche friedenspolitische Zielsetzung sein. Die Nachhaltigkeitsziele 2 (Ende des Hungers) und 16 (Frieden, Gerechtigkeit und stabile Institutionen) müssen zusammengedacht werden.
  • Da sich in kriegerischen Auseinandersetzungen auch ohne eine (völkerrechtswidrige) Absicht konkrete Hungersnöte entwickeln können, ist ein strikter Schutz von Zivilist*innen in bewaffneten Konflikten eine hilflose Forderung. Vielmehr ist Gewalt- und Kriegsprävention auch Schutz vor Hunger.
  • Eine unmittelbare Strafbarkeit von Aushungern und die (straf- und zivilrechtliche) Verantwortung für Hunger und Nahrungsmittelknappheit (nicht nur in Gewaltkonflikten) müsste mit Nachdruck verfolgt werden.

Literatur

Hickel, J. (2016): The true extent of global poverty and hunger: questioning the good news narrative of the Millennium Development Goals. Third World Quarterly 37(5), S. 749-767.

Integrated Food Security Phase Classification« (IPC) (o.J.): IPC Mapping Tool. Interaktive Web-Kartierung der akuten Nahrungsmittelknappheit. URL: ipcinfo.org/ipc-country-analysis/ipc-mapping-tool.

World Food Programme (WFP) (o.J.): Conflict and Hunger. Themenseite. URL: wfp.org/conflict-and-hunger.

Jenseits von NAVCO

Jenseits von NAVCO

Neue Datensätze zu zivilem Widerstand

von Julia Nennstiel

In der quantitativen Forschung zu zivilem Widerstand ebenso wie in friedensbewegten Bezugnahmen auf diese Forschung nimmt die von Chenoweth und Stephan publizierte Studie »Why Civil Resistance Works: The Strategic Logic of Nonviolent Conflict« (2011) und der ihr zugrundeliegende »Nonviolent and Violent Campaigns and Out­comes«-Datensatz (NAVCO) eine prominente Rolle ein. Doch stehen mittlerweile zahlreiche weitere Datensätze zur Verfügung, die sich zur quantitativen Untersuchung zivilen Widerstands eignen. Dieser Beitrag gibt einen Überblick über diese Datensätze. Ein kritischer Vergleich mit NAVCO zeigt, dass die jüngeren Datensätze es ermöglichen, neue bewegungsrelevante Forschungsfragen zu zivilem Widerstand zu stellen und alte Fragen differenzierter zu bearbeiten.

Die Studie von Chenoweth und Stephan (2011) lässt sich wohl als ein »neuer Klassiker« der empirischen Forschung zu zivilem Widerstand bezeichnen. Sie beanspruchte, die Wirksamkeit gewaltfreien Widerstands quantitativ zu prüfen – mit dem wohlbekannten und häufig zitierten Befund, dass „gewaltfreie Widerstandskampagnen fast doppelt so häufig kompletten oder partiellen Erfolg erzielten, wie ihre gewaltsamen Alternativen“ (ebd., S. 7). Als Kernstück des Projekts diente der NAVCO-Datensatz, der weltweit zwischen 1900 und 2006 erfolgte gewaltsame und gewaltfreie Widerstandskampagnen auflistete und deren jeweilige Dauer, Größe, ihren Ausgang u.a. erfasste.

Die Studie erhielt seither beachtliche wissenschaftlich-politische Aufmerksamkeit. Zum einen schien ihre quantitative Analyse der Forschung zu zivilem Widerstand eine bis dato nicht gegebene »methodische Wissenschaftlichkeit« im Sinne der US-amerikanisch geprägten empirischen Politikwissenschaft zu verleihen. Damit stieß sie eine Vielzahl neuer Untersuchungen zu zivilem Widerstand an, vor allem auch in Forschungskreisen, die sich dieser empirisch-quantitativen Schule verschrieben haben. Zum anderen fand die Studie von Chenoweth und Stephan weitreichende Resonanz unter (friedens-)politisch aktiven Menschen. Neben Klassikern der Gewaltfreiheit wie etwa Mohandas Gandhi oder Gene Sharp zitiert, dient sie als der empirische Nachweis der Wirksamkeit gewaltfreien Widerstands. Als besonderer Vorzug erscheint dabei die durch den globalen Datensatz gewonnene Universalität und Generalität der Ergebnisse. Sowohl für empirische Forschung als auch für aktivistisch-politische Bezugnahmen dienen die NAVCO-Datensätze – welche mittlerweile aktualisiert (NAVCO 1.3 umfasst den Zeitraum 1900-2019) und um alternative Analyseeinheiten wie Widerstandskampagnen-Jahre (NAVCO 2.1, Chenoweth und Lewis 2013) sowie -Ereignisse (NAVCO 3.0, Chenoweth et al. 2018) erweitert worden sind – nach wie vor als Kernreferenz.

Diese Popularität verdeckt, dass mittlerweile eine ganze Bandbreite weiterer Datensätze vorhanden ist, die sich für empirische Untersuchungen über zivilen Widerstand nutzen lassen (vgl. Tabelle, S. 14). Viele dieser Datensätze sind im Vergleich zu NAVCO begrenzt hinsichtlich Zeitraum, Region oder Art der erfassten Widerstandsbewegungen – häufig ermöglichen sie aber differenziertere, vielseitigere oder methodisch sauberere Analysen als die NAVCO-Datensätze. Ohne die Notwendigkeit qualitativer Forschung zu zivilem Widerstand in Frage zu stellen, möchte ich mich im Folgenden auf diese neuen Datensätze fokussieren und ihre Bedeutung für bewegungsrelevante quantitative Forschung diskutieren.

Datensatz

Quelle

Kodierungseinheit

Geographie der Datenbank

Zeitlicher Umfang

Fallzahl

NAVCO 1.3

Chenoweth und Stephan 2011

Kampagnen

global

1900-2019

622

NAVCO 2.1

Chenoweth und Lewis 2013

Kampagnen-Jahre

global

1945-2013

(384 Kamp.)

NAVCO 3.0

Chenoweth et al. 2018

Ereignisse

26 Staaten (weltweit)

1990-2011

REVMOD

Acosta 2019

Organisations-Jahre

global

1940-2014

(536 Org.)

ARC

Butcher et al. 2022

Organisations-Jahre

Afrika

1990-2015

3,407 (1,426 Org.)

MMD

Clark und Regan 2013

Ereignisse

162 Staaten weltweit

1990-2020

SRDP

Cunningham et al. 2020

Organisations-Jahre

global

1960-2005

(1,124 Org.)

SMD

Griffiths 2015

Bewegungs-Jahre

global

1816-2011

1279 (315 Bew.)

SMD(b)

Griffiths und Wasser 2019

Bewegungen

global

1816-2011

315

STCNA

Griffiths 2021

Bewegungen

global

SCAD

Salehyan et al. 2012

Ereignisse

Afrika, Mittel- u. Südamerika

1990-2017

SDM

Sambanis et al. 2018

Bewegungen

global

1945-2012

464

MMAD

Weidmann und Rød 2019

Ereignisse

93 (nicht-demokratische) Staaten

2003-2019

MAROB

Wilkenfeld et al. 2011

Organisations-Jahre

West Asien und Nord Afrika

1980-2004

(118 Org.)

ACLED

Ereignisse

global

(abhängig je Staat, Beginn zwischen 1997 und 2020, bis Gegenwart)

Tabelle: Übersicht zur Verfügung stehender Bewegungsdatenbanken; Zusammenstellung: Julia Nennstiel

Erfolg/Misserfolg

Ein entscheidender Mangel der NAVCO-­Datensätze ist, dass sie den Ausgang einer Widerstandskampagne nur auf einer eindimensionalen Skala erfassen. Eine Kampagne hat entweder Erfolg, partiellen oder keinen Erfolg. Einige der neueren Datensätze bieten deutlich detailliertere Angaben über den Ausgang eines Widerstands.

Dies gilt etwa für das »Secessionist Movements Dataset« (Griffiths 2015) und das »Secessionist Methods Dataset« (Griffiths und Wasser 2019), sowie das »Self-Determination Movements Data­set« (Sambanis et al. 2018). Letzteres beispielsweise unterscheidet hinsichtlich Widerstandsbewegungen, die auf politische Selbstbestimmung abzielen, ob sie territoriale Gewinne, Zugang zu staatlicher Macht, kulturelle oder sonstige politische Zugeständnisse erzielt haben, oder aber Einschränkungen kultureller oder politischer Art erfahren. Die beiden erstgenannten Datensätze enthalten unter anderem Informationen darüber, ob die Forderungen einer Bewegung ignoriert, (verbal) abgelehnt oder gewaltsam unterdrückt wurden.

Mit solch einer nuancierten Unterscheidung verschiedener Arten des Ausgangs einer Widerstandsbewegung werden auch differenziertere Analysen der Wirksamkeit gewaltfreien (oder auch gewaltsamen) Widerstands möglich. Sie erlauben beispielsweise, genauer zu untersuchen, bei welchen Formen der Konflikt-»Lösung« die besondere Stärke gewaltfreien Widerstands liegt. Auch gestatten sie etwa (da die Datensätze für jede Bewegung ihren Ausgang bzw. Stand in Jahresabständen abzeichnen) zu analysieren, in welchen Sequenzen sich durch gewaltfreien Widerstand partielle Erfolge unterschiedlicher Art aufeinander aufbauen lassen. Dies erlaubt dabei auch Analysen der Gelingensbedingungen für die strategische Staffelung von Forderungen.

Organisation und Struktur

Weitere Datensätze rücken von dem Fokus der NAVCO-Datensätze auf gesamte Widerstandskampagnen (Chenoweth und Stephan 2011; Chenoweth und Lewis 2013) ab. Stattdessen werfen sie einen genaueren Blick auf an einem Widerstand beteiligte Gruppen und Organisationen. Damit ermöglichen sie eine differenziertere Einsicht in das Innenleben von Widerstandsbewegungen.

Zu den Datensätzen, die Organisationen, die an einer Widerstandsbewegung beteiligt sind, als Grundkodierungseinheit nehmen, zählen etwa das »Strategies of Resistance Data Project« (SRDP; Cunningham et al. 2020), das »Anatomy of Resistance Campaigns«-Dataset (ARC; Butcher et al. 2022), das von Acosta (2019) vorgestellte »Revolutionary and Militant Organizations Dataset« (REVMOD) sowie Wilkenfeld et al.’s (2011) »Minorities at Risk-Organizational Behavior«-Datenbank (MAROB). Das »Ethnic Groups in Contention Dataset« von Thurber (2018) hingegen gibt als hilfreiche Erweiterung für in NAVCO aufgelistete Widerstandskampagnen an, welche ethnische Gruppen jeweils beteiligt waren.

Eine Stärke dieser Datensätze liegt darin, dass sie es ermöglichen, die organisatorische Zusammensetzung eines Widerstands analytisch in den Blick zu bekommen. Beispielsweise lässt sich die Zahl der an einem zivilen Widerstand beteiligten organisatorischen Einheiten genau bestimmen. Darüber hinaus enthalten einige der genannten Datensätze Angaben zum Typ einer Organisation (Parteien, Gewerkschaften, religiöse Organisationen, Jugendorganisationen, Dachorganisationen, bewaffnete Gruppen bzw. Rebellgruppen etc.), zu ihrer sozialen Basis oder zu den in ihr vertretenen sozialen Gruppen (das gilt für ARC, REVMOD und MAROB) oder zu ihrer politischen bzw. ideologischen Position (gilt nur für MAROB).

Während die NAVCO-Datensätze verschiedene Formen der Diversität einer Kampagne, wenn überhaupt, lediglich binär (»ja«, »nein«) angeben (Chenoweth und Stephan 2011; Chenoweth und Lewis 2013), lässt sich dies anhand neuerer Datensätze systematischer und detaillierter erfassen. Damit kann etwa fundierter untersucht werden, in welcher Weise sich die ideologische oder soziale Diversität der beteiligten Organisationen auf die Erfolgschancen eines Widerstands, seine Widerstandsfähigkeit gegenüber Repression oder auf die Wahrscheinlichkeit von »gewalttätigen Flanken« auswirkt. Auch lässt sich der Frage nachgehen, wie die Zusammensetzung eines Widerstands potenziell bestimmte gewaltfreie Methoden oder Aktionen (siehe unten, Kapitel Strategien) erleichtern oder erschweren kann.

Über die allgemeine Zusammensetzung eines Widerstands hinaus erlauben es diese Datensätze teilweise sogar, inner-organisatorische Eigenschaften und Bedingungen zu erfassen und analytisch zu berücksichtigen. Dies ist eine Dimension, über die NAVCO tatsächlich keinerlei Informationen liefert. Dazu eignen sich beispielsweise Angaben über die Führungs- bzw. Entscheidungsstruktur der jeweiligen Organisation, ihren Grad der Zentralisierung, über Geschlecht und Amtsdauer ihrer Führung oder über ihre Offenheit (im ARC-Datensatz, REVMOD-Datensatz bzw. im MAROB-Datensatz). Werden diese Detailinformationen zu den beteiligten Organisationen dann für jede Widerstandskampagne bzw. -bewegung jeweils zusammengeführt, lassen sich Kenntnisse etwa darüber gewinnen, wie Organisationen welcher Art und Führungsstruktur als Fundament eines wirksamen oder resilienten zivilen Widerstands mehr oder weniger geeignet scheinen.

Darüber hinaus gestatten einige Datensätze auch systematischen Einblick in zwischen-organisatorische Verbindungen. Auch diese Dimension wird in den ­NAVCO-Datensätzen vollkommen ausgeklammert. Das gilt insbesondere für den ARC-Datensatz, der für jede kodierte Organisation auch diejenigen Organisationen angibt, mit denen formale Verbindungen bestehen und/oder gemeinsame Aktionen unternommen wurden, sowie ihre Beteiligung an institutionalisierten Netzwerken bzw. Dachorganisationen. Weniger detaillierte, aber dennoch unter Umständen hilfreiche Angaben bietet auch der REVMOD-Datensatz mit der Anzahl externer und interner »Verbündeter« einer Organisation. Der MAROB-Datensatz wiederum unterscheidet zahlreiche Varianten externer Unterstützung durch Diaspora-Gruppen, Drittstaaten, internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen. Mithilfe dieser Daten lässt sich etwa untersuchen, welche organisatorische Netzwerkstruktur den Widerstand gegen bestimmte Formen der Repression resilienter machen kann (vgl. Butcher et al. 2022). Dabei sei auch erwähnt, dass sich für eine solche Untersuchung erforderliche Daten zur Repression z.T. aus denselben Datensätzen gewinnen lassen (z.B. Daten zu gezielten Angriffen auf eine Organisationsführung aus dem REVMOD-Datensatz, zu juristischen und physischen Sanktionen gegen eine Organisation aus dem MAROB-Datensatz), oder alternativ aus eigenständigen Repressions-Ereignisdatensätzen (z.B. das »Ill-Treatment & Torture Data Collection Project« (Conrad et al. 2014) oder der »UCDP One-Sided Violence«-Datensatz (Eck und Hultman 2007; Davies et al. 2023)).

Schließlich bieten diese organisations-zentrierten Datensätze neben ihrem informativen Gehalt einen analytischen Vorteil gegenüber NAVCO dadurch, dass sie Widerstandsorganisationen (statt kampagnen) zur Grundkodierungseinheit nehmen: Sie ermöglichen es, auch solchen Widerstand einzubeziehen, der vor allem von einzelnen Organisationen getragen wird oder sich primär auf Widerstandsmethoden stützt, die weniger sichtbar sind als Proteste, und damit eventuell nicht den Umfang einer »großen« Widerstandskampagne erreicht, während sich NAVCO auf Letztere beschränkt (vgl. Cunningham et al. 2020). Gerade die Berücksichtigung der von NAVCO ignorierten Fälle aber kann wertvolle Hinweise geben, um den Weg eines kleinen (bzw. kleiner werdenden) Widerstands hin zu einer »großen« Kampagne in den Blick zu nehmen und zu untersuchen, unter welchen Umständen und durch welche Dynamiken (siehe unten) solch eine Entwicklung realistisch werden könnte.

Strategien

Eine weitere bedeutende Schwachstelle der NAVCO-Datensätze besteht darin, dass sie (neben dem Ausgang einer Widerstandskampagne, siehe oben) auch hinsichtlich der Gewaltfreiheit oder Gewaltsamkeit eines Widerstands lediglich eine binäre Unterscheidung bieten: die Kodierungen lauten »primär gewaltfrei« oder »primär gewaltsam« (Chenoweth und Stephan 2011; Chenoweth und Lewis 2013; für Kritik an diesem Vorgehen vgl. Anisin 2020). In Reaktion auf die Kritik führten folgende Kodierdurchgänge zur Einführung der – allerdings ebenfalls binären – Variable zu sogenannten »gewaltsamen Flanken«. Auch in dieser Hinsicht bieten einige neuere Datensätze einen deutlich differenzierteren Blick.

Zum einen ermöglichen diese eine präzisere Einordnung einer Widerstandskampagne auf einem Gewaltfreitheit/Gewaltsamkeits-Spektrum. Denn die oben genannten organisations-zentrierten Datensätze bieten Angaben zur Anwendung gewaltsamer und gewaltfreier Methoden seitens der einzelnen am Widerstand beteiligten Organisationen. Indem diese Angaben auf der Ebene der Widerstandskampagne zusammengeführt werden, lässt sich die genaue Kombination (oder der genaue »Mix«) gewaltsamer und gewaltfreier Ansätze innerhalb einer Kampagne deutlich nuancierter bestimmen. Dies eröffnet die Möglichkeit, zu untersuchen, wie sich z.B. die relative Anzahl und Größe an gewaltfrei- und gewaltsam operierenden Organisationen oder die Intensität der Vernetzung (s.o. Kapitel Organisation und Struktur) unterschiedliche Widerstandsstrategien verfolgender Organisationen auf eine Kampagne auswirken kann.

Darüber hinaus nehmen einige Datensätze gezielt eine feinere Unterteilung und nicht-binäre Kodierung verschiedener Widerstandsmethoden jenseits einer (eindimensionalen) Gewaltfreiheit/Gewaltsamkeits-Skala vor und eröffnen damit die Gelegenheit qualitativ differenzierterer Analysen. Beispielsweise unterscheidet der SRDP-Datensatz zwischen den fünf gewaltfreien Methodentypen von »Protest«, »politischer«, »wirtschaftlicher« oder »sozialer Nichtkooperation« und »gewaltfreier Intervention«, und gibt für jede am Widerstand beteiligte Organisation an, ob sie eine oder mehrere dieser Methoden in einem gegebenen Jahr anwandte. Einen etwas anderen Schwerpunkt setzend, erfasst das von Griffiths (2021) zusammenstellte »Secessionist Tactics of Compellence and Normative Appeal«-Dataset, welche diskursive Strategie eine Widerstandsbewegung anwandte und auf welche (internationalen) Normen bzw. Prinzipien sie sich zur Begründung und Untermauerung ihrer politischen Forderung berief. Mithilfe dieser Informationen lässt sich nicht nur die Wirksamkeit gewaltfreien Widerstands für verschiedene Methoden und Ansätze im Einzelnen beleuchten. Sie lassen auch die Frage zu, welche unterschiedlichen (gewaltfreien) Methoden sich in welchen Kontexten oder auch Stadien eines Widerstands miteinander kombinieren lassen, und wie sich dies auf den Erfolg des Widerstands im Ganzen auswirkt.

Aktionen und Dynamiken

Viertens schließlich ermöglichen einige der alternativen Datensätze die Analyse von Widerstandsdynamiken in ihrer zeitlichen Dimension. Während die NAVCO (1.x und 2.x) Datensätze ganze Kampag­nen(-Jahre) zur Grundeinheit nehmen und die zeitliche Dimension lediglich in der Kodierung einzelner Variablen (Kampagnen-Beginn und Ende, Kampagnenerfolg) berücksichtigen, fokussieren einige jüngere Datensätze auf die einzelnen Widerstandsereignisse bzw. –aktionen (die gemeinsam eine Kampagne konstituieren). Diese listen systematisch Protest- oder andere Widerstandsaktionen in einem bestimmten Zeitraum auf und erfassen für jede dieser Aktionen bestimmte (sich je nach Datensatz leicht unterscheidende) Attribute. Einen ähnlichen Versuch unternimmt auch NAVCO 3.0 (dies macht sichtbar, dass den Ersteller*innen von NAVCO die Begrenztheit von und die Kritik an ihren Datensätzen bekannt und bewusst sind), allerdings nur für eine willkürliche Auswahl von 26 Staaten, und anhand von einer einzigen Nachrichtenquelle (Chenoweth et al. 2018).

Zu solchen umfangreicheren Ereignisdatensätzen zählen das »Mass Mobilization Protest«-Dataset (MMD) von Clark und Regan (2016) und die von Weidmann und Rød (2019) publizierte »Mass Mobilization in Autocracies Database« (MMAD). Sie beide erfassen unter anderem das Datum und den genaueren Ort einer Aktion, die mit ihr verbundene politische Forderung, die Teilnehmer*innenzahl, gegebenenfalls Gewaltanwendung seitens der Widerstandsakteure sowie die unmittelbare staatliche Reaktion auf die jeweilige Aktion (Repression bzw. Zugeständnisse). Nennenswert ist auch die »Social Conflict Analysis Database« (SCAD) von Salehyan et al. (2012), die im Gegensatz zu den vorangegangenen Datensätzen zwischen organisierten und spontanen Protestaktionen unterscheidet und vor allem jenseits von Protestaktionen auch General- und begrenzte Streiks mit einbezieht. Etwas weniger Variablen, dafür aber eine größere Zahl an Fällen, bietet hingegen das »Armed Conflict Location & Event Data«-Project (ACLED), das entgegen seiner Bezeichnung auch gewaltfreie Aktionen erfasst. Je nach der zu untersuchenden Forschungsfrage lassen sich diese Ereignisdatensätze zu Widerstandsaktionen sinnvoll kombinieren mit nach Tag spezifizierten Ereignisdaten zu Repressionsgeschehen, etwa aus dem SCAD oder ACLED, die neben Widerstandsereignissen auch Repressionsereignisse erfassen, oder auch aus anderen Datensätzen wie dem »MMAD Repressive Actors«-Dataset (Rød et al. 2023) oder der »Global Terrorism Database« (START 2022).

Diese Datensätze lassen somit eine Vielzahl neuer Fragen zu. Es könnte beantwortet werden, welche Aktionssequenzen tendenziell zu einer Vergrößerung des Widerstandes führen oder aber mit einer Verschärfung der Repression einherzugehen geneigt sind. Des Weiteren lässt sich auch genauer untersuchen, wie verschiedene Arten der gewaltfreien Eskalation – etwa in Form einer wachsenden Anzahl von Aktionen pro Tag, von Teilnehmenden pro Aktion oder auch eine geographische Ausweitung der Aktionen in weitere oder kleinere Städte – sich kurz- und mittelfristig auf eine zivile Widerstandsbewegung auswirken können. Hierzu gab es bislang maximal qualitative Einzelfallstudien – oftmals auch anthropologische Untersuchungen –, die so quantitativ ergänzt werden könnten.

Erwähnt sei an dieser Stelle auch, dass sich durch den ARC-Datensatz die Möglichkeit ergibt, die Analyse zeitlicher Widerstandsdynamiken mit der Analyse der organisatorischen Struktur eines Widerstands zu verknüpfen. Dieser Datensatz zeigt, an welchen Widerstandsaktionen bzw. -ereignissen aus dem MMD, SCAD oder dem ACLED-Datensatz eine gegebene Organisation erkennbar beteiligt war. Damit lässt sich etwa fragen, welche Rolle Organisationen verschiedener Art bei bestimmten Aktionen oder in einzelnen Phasen des Widerstandes spielen und zu welchen Konsequenzen dies im weiteren Verlauf führte.

Noch kein Fazit: Fehlende Anwendung

Neuere Datensätze zu gewaltfreiem und gewaltsamen Widerstand liefern vielerlei Informationen, die weit über die der vielzitierten NAVCO-Datensätze hinausreichen. Noch kann kein abschließendes Fazit gezogen werden, fehlt doch bislang die breitere empirische Anwendung dieser Datensätze auf hier angerissene Fragestellungen. Für künftige quantitative Studien bietet es sich an, vermehrt diese alternativen Datensätze zu nutzen, um alte (bislang nur anhand von NAVCO untersuchte) Fragen zu zivilem Widerstand differenzierter zu bearbeiten und neue – in Bezug auf die NAVCO-Datensätze (noch) nicht formulierbare – bewegungsrelevante Fragen zu stellen und anzugehen.

Literatur

Acosta, B. (2019): Reconceptualizing resistance organizations and outcomes: Introducing the Revolutionary and Militant Organizations dataset (REVMOD). Journal of Peace Research 56(5), S. 724-734.

Anisin, A. (2020): Debunking the myths behind nonviolent civil resistance. Critical Sociology 46(7-8), S. 1121-1139.

Butcher, C.; Braithwaite, J.; Pinckney, J.; Haugseth, E.; Bakken, I.; Wishman, M. (2022): Introducing the Anatomy of Resistance Campaigns (ARC) dataset. Journal of Peace Research 59(3), S. 449-460.

Chenoweth, E.; Stephan, M. (2011): Why civil resistance works: The strategic logic of nonviolent conflict. New York: Columbia Univ. Press.

Chenoweth, E.; Lewis, O. (2013): Unpacking nonviolent campaigns: Introducing the NAVCO 2.0 dataset. Journal of Peace Research 50(3), S. 415-423.

Chenoweth, E.; Pinckney, J.; Lewis, O. (2018): Days of rage: Introducing the NAVCO 3.0 dataset. Journal of Peace Research 55(4), S. 524-534.

Clark, D.; Regan, P. (2016): Mass Mobilization Protest Data, Harvard Dataverse. DOI: doi.org/10.7910/DVN/HTTWYL.

Conrad, C.; Haglund, J.; Moore, W. (2014): Torture allegations as events data: Introducing the Ill-Treatment and Torture (ITT) specific allegation data. Journal of Peace Research 51(3), S. 429-438.

Cunningham, K.; Dahl, M.; Frugé, A. (2020): Introducing the Strategies of Resistance Data Project. Journal of Peace Research 57(3), S. 482-491.

Davies, S.; Pettersson, T.; Öberg, M. (2023): Organized violence 1989-2022, and the return of conflict between states. Journal of Peace Research 60(4), S. 691-708.

Eck, K.; Hultman, L. (2007): One-sided violence against civilians in war: Insights from new fatality data. Journal of Peace Research 44(2), S. 233-246.

Griffiths, R. (2015): Between dissolution and blood: How administrative lines and categories shape secessionist outcomes. International Organization 69(3), S. 731-751.

Griffiths, R.; Wasser, L. (2019): Does violent secessionism work? Journal of Conflict Resolution 63(5), S. 1310-1336.

Griffiths, R. (2021): Secessionist strategy and tactical variation in the pursuit of independence. Journal of Global Security Studies 6(1), ogz082.

National Consortium for the Study of Terrorism and Responses to Terrorism (START) (2022): Global Terrorism Database 1970-2020. URL: start.umd.edu/gtd.

Rød, E.; Rustemeyer, J.; Otto, S. (2023): Introducing the MMAD Repressive Actors Dataset. Research & Politics 10(2). DOI: doi.org/10.1177/20531680231163384.

Salehyan, I.; Hendrix, C.; Hamner, J.; Case, C.; Linebarger, C.; Stull, E.; Williams, J. (2012): Social conflict in Africa: A new database. International Interactions 38(4), S. 503-511.

Sambanis, N.; Germann, M.; Schädel, A. (2018): SDM: A new dataset on self-determination movements with an application to the reputational theory of conflict. Journal of Conflict Resolution 62(3), S. 656-686.

Thurber, C. (2018): Ethnic barriers to civil resistance. Journal of Global Security Studies 3(3), S. 255-270.

Weidmann, N.; Rød, E. (2019): The internet and political protest in autocracies. Oxford: Oxford University Press.

Wilkenfeld, J.; Asal, V.; Pate, A. (2011): Minorities at Risk Organizational Behavior (MAROB) Middle East 1980-2004, Harvard Dataverse. DOI: doi.org/10.7910/DVN/STGELW.

Julia Nennstiel studierte an der Universität Manchester Internationale Beziehungen (M.A.) mit Schwerpunkt Kritische Sicherheits- und Militärstudien. Aktuell promoviert sie zur Rolle und dem Verhalten von Streit- und Sicherheitskräften in Kontexten ziviler Widerstandsbewegungen.

Mehr als 27.000 Tote in Gaza


Mehr als 27.000 Tote in Gaza

Grafik getötete Palästinenser*innen 25.10.23 bis 07.02.24

Worum geht es?

  • Zivile Tote in Kriegen und gewaltsamen Konflikten sind völkerrechtlich zu vermeiden, gezielte Angriffe auf die Zivilbevölkerung sind Kriegsverbrechen. Im Zuge des Angriffs der Hamas auf Israel sind über 1.000 zivile Israelis ermordet worden, ein klares Kriegsverbrechen.
  • Die Zahl der infolge des Kriegs Israels gegen die Hamas im Gazastreifen getöteten Palästinenser*innen ist immer wieder umstritten – da die Daten vom Hamas-kontrollierten Gesundheitsministerium stammen.
  • Die Zahlen des Gesundheitsministeriums unterscheiden nicht zwischen Zivilist*innen und Kombattant*innen – es ist die Gesamtzahl der Getöteten. Es kursieren unterschiedliche, oft nach geschlechterspezifischen Kriterien ausdifferenzierte, Einschätzungen zum Verhältnis von Kämpfern (meist ausschließlich junge »kampffähige« Männer) und zivilen Opfern (meist Kinder (alle), Frauen und ältere Menschen).
  • Die Frage nach den »richtigen« Zahlen ist in mehrerer Hinsicht relevant: für entsprechende Fragen nach der Verhältnismäßigkeit eines Angriffs und der Einhaltung völkerrechtlicher Verpflichtungen eines im Krieg befindlichen Staates; für konkrete Entschädigungsforderungen bzw. juristische Ansprüche von Familien; der emotionale Eindruck der Zahlen darf nicht unterschätzt werden.

Was sagen die Daten?

  • Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza sind bis 8. Februar 2024 mehr als 27.000 Personen den israelischen Angriffen zum Opfer gefallen (vgl. Abb).
  • In einem Kurzbeitrag im englischen Medizinjournal »The Lancet« im Dezember 2023 berichteten Forscher*innen von einem statistischen Abgleich der Daten des Gesundheitsministeriums und den Meldungen der UN Relief and Works Agency (UNRWA) zu getöteten Mitarbeiter*innen. Die Zahlen des Gesundheitsministeriums lagen dabei zumindest bis zum 10. November unter den UN-Zahlen. Hier schlossen die Forscher*innen darauf, dass keine künstlich aufgeblasenen Zahlen vorlagen (Huynh et al. 2023).
  • In Abgleichen der Berichte des Gesundheitsministeriums mit Zahlen der UN und auch israelischer Behörden über die Opferzahlen in Kriegen der vergangenen zwanzig Jahre ist die weitgehende Verlässlichkeit der Daten der Gesundheitsbehörden in Gaza immer wieder bestätigt worden.

Friedenspolitische Konsequenzen?

  • Debatten über einen Krieg sollten sich nicht alleine an Opferstatistiken orientieren. Diese sind ein unvollständiges, inhärent fehleranfälliges Maß für das Ausmaß der durch einen Krieg verursachten Zerstörung. Sie sind schwer genau zu erstellen, unterliegen Verzerrungen und werden ständig politisiert (Lynch und Parkinson 2023).
  • Zu problematisieren sind alle pauschalen Annahmen, wonach alle männlichen Todesopfer im Gazastreifen Kämpfer und alle erwachsenen Frauen, Kinder und älteren Menschen Zivilist*innen sind. Sie tragen zu einem Narrativ bei, das palästinensischen Männern allein aufgrund ihrer demografischen Merkmale Schuld zuweist, ihre Verwundbarkeit verstärkt und wahllose Gewalt begünstigt. Diese geschlechtsspezifischen Annahmen im Krieg sind zu kritisieren.
  • Opferzahlen können schnell zu einem politischen Instrument werden, das Distanz zu den Schrecken und Tragödien von Kriegen schafft. Advocacy-Projekte in Palästina, Israel und im Libanon gibt es, weil Mortalitätsstatistiken wie Opferzahlen fast zwangsläufig die Nuancen in den Leben der Menschen ausblenden (vgl. Lynch und Parkinson 2023).

Literatur

Huynh, B.Q.; Chin, E.T.; Spiegel, P.B. (2023): No evidence of inflated mortality reporting from the Gaza Ministry of Health. The Lancet 403(10421), S. 23-24.

UNOCHA (o.J.): October 2023 escalation. Daily flash updates und reports on hostilities in the Gaza Strip and Israel. Homepage, ochaopt.org/crisis.

Lynch, M.; Parkinson, S. (2023): A closer look at the Gaza casualty data. Casualty counts can be a political tool – and how we report the data has real consequences. Good Authority, 14.12.2023.

Hohes Maß an Gewalt

Hohes Maß an Gewalt

Eine Zusammenfassung des Konfliktbarometers 2022

von Hagen Berning und Tatiana Valyaeva

Gewalt, Kriege und Krisen sind in Konflikten weltweit zu beobachten – doch schnell verlieren Menschen den Überblick. Gerade in Zeiten akuter Kriege und Krisen in Europa kann der Fokus auf die globale Perspektive schnell zurückstehen. Das Konfliktbarometer bietet auch in diesem Jahr wieder einen qualitativen und quantitativen Überblick über die Dynamiken politischer Konflikte, sowohl gewaltsamer als auch gewaltloser Natur. Mit der 31. Ausgabe über den Beobachtungszeitraum des Jahres 2022 setzt das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK) seine jährlich erscheinende Studie zum weltweiten Konfliktgeschehen fort.

Das Jahr 2022 war durch einen Anstieg der Zahl der Konflikte gekennzeichnet. Das HIIK beobachtete 363 Konflikte weltweit, im Vorjahr waren es noch 355. Sowohl die Anzahl der Kriege als auch die der begrenzten Kriege stieg jeweils von 20 auf 21 an. Auch die Zahl der gewaltsamen Krisen stieg von 164 auf 174, von denen knapp ein Drittel in Asien und Ozeanien beobachtet wurde. Gewaltsame innerstaatliche Konflikte waren mit 136 oder rund 30 Prozent aller beobachteten Konflikte weiterhin die häufigste Konfliktart (vgl. Graphik 1, Karte 2). Im Vergleich zum Jahr 2017 beobachtete das HIIK 2022 sechs gewaltsame Konflikte weniger, 216 statt 222. Die Anzahl hochgewaltsamer Kriege ist hingegen von 36 auf 42 gestiegen.

Graphik 1: Globale Konfliktintensitäten 2022

Karte 1: Regionalbetrachtung Ukraine

Krieg in der Ukraine

In Europa ist der Krieg zwischen Russland und der Ukraine aus einer gewaltlosen Krise in den ukrainischen Regionen Donezk (DNR) und Luhansk (LNR) des vergangenen Jahres eskaliert (vgl. Karte 1). Wie an dieser Karte erkenntlich, brachen zu Beginn der Invasion intensive Kämpfe besonders in den Grenzregionen zu Russland und Belarus aus. In der zweiten Jahreshälfte ab August konzentrierten sich hochintensive Auseinandersetzungen vor allem auf den Süden und Osten des Landes.

Am 24. Februar drang Russland in das ukrainische Hoheitsgebiet ein, vermeintlich mit dem Ziel, die Unabhängigkeit der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine zu unterstützen. Im ersten Kriegsjahr forderten die Auseinandersetzungen viele zivile und nicht-zivile Opfer. Im Jahr 2022 wurden nach Angaben der Vereinten Nationen mindestens 6.913 Zivilist*innen getötet und mindestens 11.044 verletzt. Außerdem wurden mindestens 18.000 Angehörige der ukrainischen Streitkräfte getötet und 54.000 verletzt, wobei die tatsächliche Zahl der Todesopfer auf etwa 46.500 geschätzt wird. Gleichzeitig wurden mindestens 30.000 Angehörige der russischen Streitkräfte, Kämpfer aus der DNR und der LNR sowie Söldner (wie die Wagner-Gruppe) getötet und 75.000 verletzt, wobei die tatsächliche Zahl der Todesopfer allein bei den russischen Truppen auf etwa 60.000 geschätzt wird. Der Krieg löste außerdem die größte Flüchtlingswelle in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg aus. Geschätzt 7,9 Millionen Menschen mussten aus dem Land fliehen und etwa 5,9 Millionen Ukrainer*innen wurden binnenvertrieben.

Besonders erbittert wurde um die Stadt Mariupol, DNR, von März bis Mai gekämpft. Bei den Kämpfen wurde ein Großteil der Stadt zerstört und mindestens 1.348 Zivilist*innen getötet, obwohl laut UN OHCHR die tatsächliche Zahl der Todesopfer um Tausende höher liegt. Russische Streitkräfte führten mehrere Luftangriffe gegen zivile Infrastruktur durch. So forderte beispielsweise ein russischer Angriff auf ein Entbindungskrankenhaus am 9. März mindestens drei Tote und mindestens 17 Verletzte. Bis zum 30. April erlangten die russischen Streitkräfte die vollständige Kontrolle über die Stadt, mit Ausnahme des Stahlwerks »Azovstal«, das sie am 20. Mai nach einer zweiwöchigen Belagerung einnahmen.

Nachdem die russische Offensive im Juli und August größtenteils ins Stocken geraten war, starteten die ukrainischen Streitkräfte am 6. September eine unerwartete Gegenoffensive in der Oblast Charkiw und gewannen die Kontrolle über 500 Siedlungen zurück. Im Oktober rückten die ukrainischen Streitkräfte nach Süden vor und eroberten mehrere Siedlungen im Norden der Oblast Cherson zurück. Diese Vorstöße wurden von Angriffen auf Brücken über den Fluss Dnipro begleitet, wodurch die russischen Streitkräfte letztlich daran gehindert wurden, ihre Truppen neu zu versorgen. Am 11. November gewann die Ukraine die Kontrolle über die Oblast Mykolaiv und Teile der Oblast Cherson, einschließlich der Stadt Cherson, zurück.

Seit Ausbruch des Krieges haben die russischen Streitkräfte und ihre Hilfstruppen zahlreiche bestätigte Kriegsverbrechen begangen. Der massive Einsatz von Artillerie, Raketen, Bomben und Streumunition gegen dicht besiedelte Gebiete ist für einen Großteil der zivilen Todesopfer verantwortlich. Der intensive Beschuss führte zu 400 gemeldeten Angriffen auf medizinische und schulische Einrichtungen. Die russischen Streitkräfte griffen wiederholt Zivilist*innen an. So wurden beispielsweise nach ihrem Rückzug aus der Oblast Kiew im April in der Stadt Bucha 458 Zivilist*innen tot aufgefunden, die Anzeichen von Folter aufwiesen. Ähnliche Fälle wurden aus Hostomel und Motyschin in der Oblast Kiew sowie aus Andriiwka in der Oblast Charkiw gemeldet, wobei in diesen drei Orten 900 Tote zu beklagen waren. Nachdem die ukrainischen Streitkräfte die vollständige Kontrolle über die Oblast Charkiw wiedererlangt hatten, wurden 414 Zivilist*innen tot aufgefunden, die meisten von ihnen mit gefesselten Händen, gebrochenen Gliedmaßen und mit gemeldeten Fällen von Genitalamputationen. Russische Beamte erklärten, dass sich über eine Million Ukrainer*innen freiwillig in Russland niedergelassen hätten, während ukrainische Beamte behaupten, dass es sich um Deportationen handelte, die gegen das Völkerrecht verstießen. Zu Jahresende kamen die ukrainischen Herbstoffensiven zu einem Stillstand und auch russische Gegeninitiativen brachten keinen Durchbruch. Stattdessen war das Kampfgeschehen weitgehend festgefahren, während sich russische Angriffe auf ukrainische Infrastruktur weiter häuften.

Regionale Konfliktübersicht

Europa

Im Jahr 2022 wurden 49 aktive Konflikte in Europa beobachtet, davon ein Krieg und ein begrenzter Krieg. Zusätzlich zum Krieg in der Ukraine eskalierte der gewaltsame Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um umstrittene Grenzgebiete, insbesondere die Region Bergkarabach, im vergangenen Jahr zu einem begrenzten Krieg. Die selbsterklärte »Republik Arzach« in Bergkarabach wird von Armenien und Russland unterstützt, ist aber international als Territorium von Aserbaidschan anerkannt. Im September kam es zu den schwersten Kämpfen seit dem Krieg von 2020. Nach monatelangen gegenseitigen Beschuldigungen der Verletzung des Waffenstillstands entlang der Grenze, eskalierten die Kämpfe Mitte September, als Aserbaidschan mit Artillerie, Mörsern und Drohnen mehrere Orte entlang der Grenze angriff und strategische Grenzgebiete eroberte. Die aserbaidschanische Regierung konnte die geschwächte Position Armeniens ausnutzen, da deren stärkster Verbündeter Russland seine Ressourcen auf den Krieg in der Ukraine konzentrierte.

Subsahara-Afrika

Das HIIK beobachtete im Jahr 2022 90 aktive Konflikte in Subsahara-Afrika. Wie im Vorjahr gab es in dieser Region die häufigsten Konflikte auf Kriegsniveau – 16 Kriege und fünf begrenzte Kriege, jedoch ein leichter Rückgang um einen begrenzten Krieg im Vorjahresvergleich.

Die Sicherheitslage in Nigeria war weiterhin unbeständig, und die Zahl der beobachteten Kriege blieb bei drei. Im Nordosten Nigerias dauerte der Krieg zwischen den mit »Boko Haram« verbundenen Gruppierungen und der von ihr abgespaltenen »Westafrikanischen Provinz des Islamischen Staates« (ISWAP) gegen die Regierungen von Nigeria, Kamerun, Tschad und Niger bereits das siebte Jahr in Folge an. In diesem Jahr kam es zu noch nie dagewesenen Angriffen der ISWAP außerhalb des Nordostens, die auf die Bundesstaaten Taraba, Kogi, Edo, Ondo, Niger und das Bundeshauptstadtgebiet Abuja abzielten, was auf eine Zunahme der logistischen und operativen Fähigkeiten der Gruppierungen hindeutete.

In der Demokratischen Republik Kongo beobachtete das HIIK ebenfalls drei Kriege. Insbesondere der Disput um die »M23«-Fraktionen (aus mehrheitlich ethnischen Tutsi bestehenden Rebellengruppen im Osten des Landes) eskalierte 2022 zu einem Krieg. Die M23, die angeblich von Ruanda unterstützt werden, wurden seit 2013 erstmals Ende 2021 wieder aktiv und wandten sich 2022 erneut gegen die Regierung, die zugleich von der UN-Mission MONUSCO und von 17 lokalen Milizen unterstützt wird. In diesem Jahr forderte der Konflikt mindestens 409 Tote und zwang ca. 390.000 Grenz- und Binnenvertriebene zur Flucht.

Ebenso war Äthiopien wieder Schauplatz dreier Kriege. Der Krieg zwischen der »Volksbefreiungsfront von Tigray« (TPLF) mit ihrem bewaffneten Flügel, den Verteidigungskräften Tigrays, auf der einen Seite und den äthiopischen sowie der eritreischen Regierungen auf der anderen Seite wurde fortgeführt. Verschiedene ethnische »Amhara-Milizen« und regionale Spezialkräfte unterstützten jeweils eine der beiden Regierungen. Vor allem in der Region Afar vertrieben die Angriffe der TPLF zu Beginn des Jahres über 300.000 Menschen. Im Krieg um die Vorherrschaft in den Regionen Oromia und Amhara zwischen der »Oromo-Befreiungsarmee« und der äthiopischen Regierung wurden vermehrt Zivilist*innen angegriffen. Darüber hinaus kam es im Krieg zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen um die Vorherrschaft auf subnationaler Ebene und um Agrarland insbesondere in Oromia und der Region Somali zu gewaltsamen Zusammenstößen. Am 2. November einigten sich die äthiopische Regierung und die TPLF auf eine dauerhafte Waffenruhe sowie Schritte hin zu einer Entwaffnung der TPLF und Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung in der Region Tigray. Eine für die Entwaffnung der TPLF vorgesehene Frist wurde jedoch am 3. Dezember nicht eingehalten, da die TPLF aufgrund der anhaltenden militärischen Präsenz äthiopischer und eritreischer staatlicher Truppen in Tigray Sicherheitsbedenken anmeldete. Am 29. Dezember begann die Beobachtungs-, Verifizierungs- und Einhaltungsmission der Afrikanischen Union in Mekelle, Tigray.

Amerikas

In den Amerikas beobachtete das HIIK 44 gewaltsam ausgetragene Konflikte. Das ist ein Anstieg um vier im Vergleich zu 2021. Dazu zählen ein Krieg und drei begrenzte Kriege.

In Haiti eskalierte die gewaltsame Krise um subnationale Vorherrschaft und Ressourcen zwischen ca. 200 rivalisierenden Banden zu einem Krieg. Zwar existierten Banden in Haiti schon seit Anfang der 2000er Jahre, doch nach der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse am 07.07.21 nutzten sie das Machtvakuum, um ihre eigene Macht auszubauen. Die vermehrten Zusammenstöße zwischen den Banden »G9« und »G-Pèp« führten zum Tod von mindestens 1.576 Menschen und zur Vertreibung von mindestens 150.000 Zivilist*innen. Entführungen und Gewalt waren im Beobachtungszeitraum auch weit verbreitet: Bis November wurden insgesamt 1.200 Entführungen gemeldet, fast doppelt so viele wie beim vormaligen Rekordhoch im Vorjahr. Eine Treibstoffknappheit brachte zugleich jegliche wirtschaftliche Aktivität zum Erliegen und löste, gefolgt von einem Ausbruch der Cholera, eine humanitäre Krise aus.

In Mexiko setzte sich der begrenzte Krieg zwischen den Drogenkartellen fort. Die meiste Gewalt gab es in den Bundesstaaten Guanajuato und Zacatecas. Laut Schätzungen der Regierung sind die meisten der 30.968 Tötungsdelikte auf Rivalitäten zwischen den Kartellen zurückzuführen. Auch in Kolumbien setzte sich der begrenzte Krieg zwischen mehreren neo-paramilitärischen Gruppen, Drogenkartellen sowie der »Nationalen Befreiungsarmee«, Dissident*innen der »Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens« (FARC) und der »Volksbefreiungsarmee« fort. Das ganze Jahr über stießen bewaffnete Gruppen aufeinander, da sie versuchten, profitable Regionen für illegale Aktivitäten wie Drogenhandel, Ressourcenausbeutung und Erpressung zu kontrollieren sowie ihre Macht über Gebiete zu stärken, die sie zuvor eingenommen hatten.

Asien und Ozeanien

Mit 105 aktiven Konflikten, die das HIIK im Jahr 2022 beobachtete, war Asien und Ozeanien weiterhin die Region mit der höchsten Anzahl von Konflikten. Im Beobachtungsjahr wurden 62 Konflikte gewaltsam ausgetragen, sechs mehr als im Jahr 2021. Das HIIK beobachtete einen Krieg und acht begrenzte Kriege in der Region, wobei fünf der begrenzten Kriege aus gewaltsamen Krisen eskalierten.

Der Krieg in Myanmar zwischen der Opposition, bestehend aus der Nationalen Liga für Demokratie, den Volksverteidigungskräften und der Regierung der Nationalen Einheit, und der Armee von Myanmar nach ihrem Militärputsch im Februar 2021 forderte mindestens 1.300 zivile Opfer. In Myanmar beobachtete das HIIK auch drei weitere begrenzte Kriege. Im Bundesstaat Rakhine setzte die »Arakan Army« ihren Kampf um Autonomie gegen die myanmarische Armee fort. Der Konflikt führte im Laufe des Jahres zu mindestens zehntausenden Binnenvertriebenen. Im Kachin-Staat herrschte weiterhin ein begrenzter Krieg zwischen der »Kachin Independence Organisation« und der myanmarischen Armee. Schließlich eskalierte auch der gewaltsame Autonomiekonflikt in den Karen- und Kayah-Staaten zwischen der »Karen National Union«, ihrem bewaffneten Flügel, der »Karen National Liberation Army«, der »Democratic Karen Buddhist Army« (DKBA) sowie einer DKBA-Splittergruppe auf der einen Seite und der myanmarischen Armee auf der anderen Seite zu einem begrenzten Krieg.

In Zentralasien forderte der begrenzte Krieg um Territorium und internationale Macht in der Grenzregion des Fergana-Tals zwischen kirgisischen, tadschikischen und usbekischen Grenzgemeinden, die von ihren jeweiligen Regierungen unterstützt wurden, mindestens 117 Tote und 21.500 Vertriebene. In Kasachstan eskalierte die gewaltlose Krise um die nationale Macht und die Ausrichtung des politischen Systems zwischen verschiedenen Oppositionsgruppen und einzelnen Aktivist*innen gegen die Regierung zu einem begrenzten Krieg. Zunächst brachen am 2. Januar in der ölproduzierenden Stadt Zhanaozen Proteste aufgrund eines drastischen Anstiegs der Treibstoffpreise aus. Diese weiteten sich in den folgenden Tagen schnell auf andere Städte aus, insbesondere auf die größte Stadt Almaty, in der sie gewaltsam eskalierten, angefacht von wachsender Unzufriedenheit mit der Regierung und sozioökonomischen Problemen wie Korruption, Arbeitslosigkeit und niedrigen Löhnen. Als die Proteste in Gewalt umschlugen, kündigte Präsident Qassym-Schomart Tokajew am 5. Januar den landesweiten Ausnahmezustand an und forderte Truppen des von Russland angeführten Militärbündnisses »Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit« (OVKS) zur Unterstützung an, um die Unruhen zu beenden. Am 7. Januar, nach anhaltenden Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Demonstrant*innen, übernahmen die Regierungs- und über 3.000 OVKS-Soldaten wieder die Kontrolle über die meisten Städte. Diese Entscheidung hatte weitreichende Folgen für Kasachstans Beziehungen zu Russland, denn Moskau dürfte sich nunmehr in seiner Rolle als Bündnispartner Kasachstans und Garant für dessen Sicherheit gestärkt sehen.

Westasien, Nordafrika und Afghanistan

In der Region beobachtete das HIIK im Jahr 2022 insgesamt 58 aktive Konflikte, darunter zwei Kriege und vier begrenzte Kriege.

Der »Islamische Staat« blieb eine große Sicherheitsbedrohung für Syrien, Irak und andere Länder in der Region. In diesem Jahr forderte der Krieg um die Ausrichtung des internationalen Systems und die Kontrolle von Ressourcen wie Öl mindestens 1.871 Tote. Auch der Ableger »Islamischer Staat in der Provinz Khorasan« setzte seine Angriffe in Afghanistan fort, die sich vor allem gegen schiitische und andere religiöse Minderheiten sowie gegen die Sicherheitskräfte des »Islamischen Emirats« richteten. Darüber hinaus brach in Afghanistan ein Krieg um die Ausrichtung des politischen Systems zwischen verschiedenen bewaffneten Oppositionsgruppen und der von der Taliban geführten Regierung aus, nachdem die Taliban im August 2021 die Macht in Afghanistan übernommen hatten.

Im Iran erregte der begrenzte Krieg um die Ausrichtung des politischen Systems zwischen Oppositionsgruppen und großen Volksbewegungen auf der einen und der Regierung auf der anderen Seite große internationale Aufmerksamkeit. In der ersten Jahreshälfte kam es zu groß angelegten friedlichen Protesten gegen die anhaltende Wirtschaftskrise, die Sanktionen der USA und die wirtschaftlichen Folgen der Covid-19-Pandemie. Die Proteste verschärften sich am 16. September nach dem Tod von Mahsa Amini, die im Krankenhaus verstarb, nachdem sie von der Sittenpolizei in der Hauptstadt Teheran festgenommen worden war. Mit dem Vorwurf der Brutalität und Willkür der Sittenpolizei kam es für den Rest des Jahres zu landesweiten Protesten gegen gewaltsame Repressionen und die Kleidervorschriften, vor allem für Frauen. Bis zum 31. Dezember starben mindestens 491 Zivilist*innen während der Auseinandersetzungen, und etwa 18.000 Zivilist*innen wurden verhaftet.

Karte 2: Konflikte im Jahr 2022 global

Insgesamt muss das diesjährige Konfliktbarometer festhalten, dass auch außerhalb einer medialen Ukraine-Fokussierung ein Anstieg in der Intensität gewaltsamer Konflikte zu beobachten war. Nicht nur stieg im Vergleich zum Vorjahr die Anzahl gewaltsamer Konflikte insgesamt, auch die Zahl hochgewaltsamer Konflikte – sowohl der Kriege als auch begrenzter Kriege – stieg um zwei an. Dem gegenüber stehen jedoch zwölf hochgewaltsame Konflikte, die 2022 in ihrer Intensität deeskalierten. Gleichzeitig blieben rund drei Viertel (72,73 %) aller Konflikte in ihrer Intensität unverändert, was eine leichte Verbesserung im Vorjahresvergleich darstellt.

Das jährliche Heidelberger Konfliktbarometer kann auf der Homepage des HIIK kostenlos heruntergeladen werden. Der Bericht erscheint in englischer Sprache.

Hagen Berning studiert Internationale Beziehungen im Master an der Technischen Universität Dresden und war Ko-Chefredakteur des Konfliktbarometers 2022.
Tatiana Valyaeva ist Beraterin für politische Risiken bei der Strategieberatung »Control Risks« und war Ko-Chefredakteurin des Konfliktbarometers 2022. Sie studierte Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen an Universitäten in Schottland, Deutschland, Südkorea, Russland und Italien.

Definitionen – Der Heidelberger Ansatz

Politischer Konflikt: Ein politischer Konflikt ist eine Positionsdifferenz hinsichtlich gesamtgesellschaftlich relevanter, immaterieller oder materieller Güter – den Konfliktgegenständen – zwischen mindestens zwei als durchsetzungsfähig wahrgenommenen direkt beteiligten Akteuren, die mittels beobachtbarer und aufeinander bezogener Konfliktmaßnahmen ausgetragen wird.

Intensitätsstufen: Es werden insgesamt fünf Intensitätsstufen unterschieden: Disput, gewaltlose Krise, gewaltsame Krise, begrenzter Krieg und Krieg. Die gewaltsame Krise, der begrenzte Krieg und der Krieg bilden zusammen die Kategorie der Gewaltkonflikte, im Unterschied zu den gewaltfreien Konflikten.

Indikatoren: Zur Ausdifferenzierung des Gewaltkonflikts werden als weitere Kriterien die eingesetzten Mittel (Waffen- und Personaleinsatz) und die Folgen des Gewalteinsatzes (Indikatoren Todesopfer, Zerstörung und Geflüchtete) herangezogen.

Eine ausführliche Darstellung der Methodik findet sich unter https://hiik.de/hiik/methodik auf der Website des HIIK.

Globale Konfliktdynamiken

Globale Konfliktdynamiken

Eine Zusammenfassung des Konfliktbarometers 2021

von Maximilian Brien und Jannik Mertens

Mit der 30. Ausgabe des Konfliktbarometers setzt das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK) seine jährlich erscheinende Studie zum weltweiten Konfliktgeschehen fort. Das Konfliktbarometer erfasst qualitativ und quantitativ die Dynamiken politischer Konflikte, sowohl gewaltsamer als auch gewaltloser Natur.

2021 beobachtete das HIIK insgesamt 355 Konflikte weltweit. Davon wurden 204 gewaltsam und 151 gewaltlos ausgetragen (vgl. Graphik 1 und Karte 1). Im Vergleich zum Vorjahr verringerte sich die Zahl der Kriege von 21 auf 20. Dies ist die zweithöchste Anzahl an Kriegen, die jemals vom HIIK erfasst wurde. Von den im Vorjahr dokumentierten 21 Kriegen deeskalierten sieben zu begrenzten Kriegen oder gewaltsamen Krisen, während sich 14 Kriege auf dem gleichen Niveau fortsetzen. Sechs Konflikte eskalierten zu Kriegen, fünf davon im subsaharischen Afrika.

Die Zahl der begrenzten Kriege stieg im Vergleich zum Vorjahr leicht von 19 auf 20. Wie im vorherigen Jahr machten innerstaatliche Konflikte den Großteil der erfassten Konflikte aus. Im Vergleich zum Vorjahr blieb die Anzahl an hochintensiven Konflikten gleich. Dabei ließ sich eine anhaltende Konzentration von hochintensiven Konflikten in Subsahara-Afrika beobachten.

Die Regionen im Detail

Westasien, Nordafrika, Afghanistan

  • In der Region Westasien, Nordafrika und Afghanistan stieg die Anzahl der beobachteten aktiven Konflikte um drei auf 59 (vgl. Graphik 2). 33 Konflikte wurden gewaltsam ausgetragen, ein Anstieg um einen im Vergleich zum Vorjahr. Die Anzahl an Kriegen verringerte sich von sieben auf drei. Je zwei Kriege deeskalierten zu begrenzten Kriegen beziehungsweise gewaltsamen Krisen. Als Krieg fortgeführt wurde der Konflikt zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung, unterstützt durch die von der NATO angeführte »Resolute Support Mission«, welcher nach dem Rückzug der NATO-Truppen und dem darauffolgenden Sturz der Regierung endete. Als Krieg fortgeführt wurde ebenso der Konflikt zwischen den al-Houthi und der jemenitischen Regierung sowie der Konflikt zwischen dem sogenannten »Islamischen Staat« auf der einen Seite und verschiedenen Regierungen und Milizen auf der anderen. Damit sah die Region die zweithöchste Anzahl an Kriegen weltweit.
  • Die Anzahl an begrenzten Kriegen stieg von einem auf drei an. Während der begrenzte Krieg zwischen militanten Gruppen und der ägyptischen Regierung auf der Sinai-Halbinsel zu einer gewaltsamen Krise deeskalierte, eskalierte eine gewaltsame Krise und zwei Kriege deeskalierten zu begrenzten Kriegen. Die gewaltsame Krise zwischen der Hamas und dem Islamischen Jihad in Palästina auf der einen Seite und der israelischen Regierung auf der anderen eskalierte in der Mitte des Jahres. In Syrien deeskalierte der Krieg zwischen der Opposition und der syrischen Regierung, nachdem Russland und die Türkei im März 2020 einen Waffenstillstand vermittelt hatten. Der Konflikt zwischen der PKK und der türkischen Regierung deeskalierte ebenfalls.

Asien und Ozeanien

  • In Asien und Ozeanien reduzierte sich die Anzahl der beobachteten aktiven Konflikte um einen auf 100 (vgl. Graphik 2). 54 Konflikte wurden gewaltsam ausgetragen, ein Rückgang um vier im Vergleich zum Vorjahr.
  • Dieses Jahr dokumentierte das HIIK das erste Mal seit 2017 einen Krieg in der Region. Die gewaltsame Krise zwischen der oppositionellen Interimsregierung in Myanmar und der Armee eskalierte nach dem Staatsstreich durch das Militär im Februar des vergangenen Jahres. Als Folge dessen eskalierten in Myanmar zwei weitere gewaltsame Krisen zu begrenzten Kriegen. Dies betraf den Konflikt zwischen der Unabhängigen Armee Kachin und dem Militär sowie zwischen der Myanmar National Democratic Alliance Army und dem Militär.
  • Die Anzahl an begrenzten Kriegen in der gesamten Region erhöhte sich von vier auf sechs im Vergleich zum Vorjahr. Insgesamt sah die Region also eine Eskalation in der Anzahl an hochintensiven Konflikten. Drei dieser sechs begrenzten Kriege fanden auf den Philippinen statt. Die Regierung fand sich in anhaltenden Konflikten mit verschiedenen kommunistischen und islamistischen Gruppen wieder.
  • Der Grenzkonflikt zwischen tadschikischen, usbekischen und kirgisischen Gemeinschaften, unterstützt durch ihre jeweiligen Regierungen, eskalierte nach dem Ausbruch von gewaltsamen Auseinandersetzungen an der kirgisisch-tadschikischen Grenze. Hochintensive Maßnahmen konzentrierten sich auf Ende April.

Subsahara-Afrika

  • In Subsahara-Afrika stieg die Zahl der beobachteten aktiven Konflikte um einen auf 87 (vgl. Graphik 2). 59 Konflikte wurden gewaltsam ausgetragen, ein Rückgang um sieben im Vergleich zum Vorjahr. Wie auch im letzten Jahr war Subsahara-Afrika die Region mit den meisten Kriegen. Alle elf Kriege des Vorjahres setzen sich fort, während fünf begrenzte Kriege eskalierten. Dazu kamen sechs begrenzte Kriege.
  • Davon wurden allein in der Demokratischen Republik Kongo drei Kriege ausgetragen. Verschiedene aufständische und islamistische Gruppen lieferten sich vor allem im Osten des Landes heftige Auseinandersetzungen mit kongolesischen und ugandischen Regierungstruppen sowie der UN-Friedenstruppe MINUSCO. Ebenso war Äthiopien Schauplatz dreier Kriege: Der im letzten Jahr ausgebrochene Krieg zwischen der Volksbefreiungsfront von Tigray und äthiopischen und eritreischen Regierungstruppen hielt auch in 2021 an. Der begrenzte Krieg zwischen der Oromo-Befreiungsfront und der äthiopischen Regierung eskalierte zu einem Krieg. Die militärischen Fraktionen der beiden Gruppen verbündeten sich gegen die Regierung, nachdem sie von dieser zu Terrororganisationen erklärt worden waren. Im Schatten dieser Konflikte wurde der Konflikt zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen auf dem Niveau eines Krieges sowie der Konflikt zwischen verschiedenen oppositionellen Gruppen und der Regierung auf dem Niveau eines begrenzten Krieges ausgetragen.
  • Auf dem Kontinent wurden verschiedene Kriege unter Beteiligung islamistischer Gruppierungen fortgesetzt. Vor allem in der Sahel-Region und angrenzenden Ländern wurden diese Konflikte oftmals als transstaatliche Konflikte über Ländergrenzen hinweg unter Beteiligung mehrerer Staaten und internationaler Unterstützungstruppen ausgetragen. Kriege mit Beteiligung islamistischer Gruppierungen fanden auch in der Demokratischen Republik Kongo, Mosambik und Somalia statt. Weitere innerstaatliche Kriege beobachtete das HIIK in Kamerun, Nigeria, Sudan, Südsudan und der Zentralafrikanischen Republik.
  • In Südafrika eskalierte der Konflikt zwischen verschiedenen Oppositionsgruppen und der Regierung zu einem begrenzten Krieg. Nach der Verhaftung des ehemaligen Präsidenten Jacob Zuma kam es im Juli zu gewaltsamen Protesten und landesweiten Plünderungen von Geschäften, mit mindestens 337 Toten. Für den Rest des Jahres wurden keine gewaltsamen Maßnahmen beobachtet.
Graphik 1

Graphik 1

Graphik 2

Graphik 2

Amerikas

  • In den Amerikas stieg die Anzahl der beobachteten aktiven Konflikte um einen auf 59 (vgl. Graphik 2). 40 Konflikte wurden gewaltsam ausgetragen, ein Anstieg um drei im Vergleich zum Vorjahr. In Brasilien deeskalierte der vor allem in den Favelas von Rio de Janeiro ausgetragene Krieg zwischen Drogenkartellen, Milizen und der Regierung zu einem begrenzten Krieg. In Mexiko setzten sich die beiden begrenzten Kriege zwischen Drogenkartellen, Milizen und der Regierung sowie unter den Kartellen fort. In Kolumbien setzte sich der begrenzte Krieg zwischen unterschiedlichen nichtstaatlichen Akteuren ebenso fort, während der begrenzte Krieg zwischen der Nationalen Befreiungsarmee (ELN) und der Regierung zu einer gewaltsamen Krise deeskalierte. In Venezuela eskalierte an der Grenze zu Kolumbien die gewaltsame Krise zwischen mindestens einer abtrünnigen Gruppe der FARC und der Regierung zu einem begrenzten Krieg.
  • Alle hochintensiven Konflikte in den Amerikas sahen die Beteiligung von Akteuren, die in die Herstellung beziehungsweise den Handel von Drogen involviert waren.

Europa

  • In Europa verringerte sich die Gesamtzahl der beobachteten Konflikte um drei auf 50 aktive Konflikte (vgl. Graphik 2). Die Zahl der gewaltsamen Krisen blieb konstant bei 18 verglichen zum Vorjahr. Erstmals seit 2008 verzeichnete das HIIK keinen hochintensiven Konflikt in der Region Europa.
  • Der Donbass-Konflikt in der Ukra­ine deeskalierte von einem begrenzten Krieg zu einer gewaltsamen Krise. Ebenso deeskalierten die eng verknüpften Konflikte zwischen Armenien und Aserbaidschan sowie zwischen der selbsterklärten Republik Arzach und Aserbaidschan um das umstrittene Territorium Bergkarabach beide vom Niveau eines Krieges auf das einer gewaltsamen Krise. Dieser erfreuliche Befund des Konfliktbarometers 2021 wurde mittlerweile von der Realität des Krieges in der Ukraine im Jahr 2022 überholt.
Karte 1

Karte 1

Das jährliche Heidelberger Konfliktbarometer kann auf der Homepage des HIIK kostenlos heruntergeladen werden. Der Bericht erscheint in englischer Sprache.

Maximilian Brien studiert Volkswirtschaftslehre im Master an der Paris School of Economics und war Co-Chefredaktor des Konfliktbarometers 2021.
Jannik Mertens studiert Politikwissenschaften im Master an der Philipps-Universität Marburg und war Co-Chefredakteur des Konfliktbarometers 2021.

Definitionen – Der Heidelberger Ansatz

Politischer Konflikt: Ein politischer Konflikt ist eine Positionsdifferenz hinsichtlich gesamtgesellschaftlich relevanter, immaterieller oder materieller Güter – den Konfliktgegenständen – zwischen mindestens zwei als durchsetzungsfähig wahrgenommenen direkt beteiligten Akteuren, die mittels beobachtbarer und aufeinander bezogener Konfliktmaßnahmen ausgetragen wird. Diese Maßnahmen gelten als konstitutiv für einen Konflikt, sofern sie außerhalb etablierter Regelungsverfahren liegen und eine staatliche Kernfunktion oder die internationale Ordnung bedrohen oder eine solche Bedrohung in Aussicht stellen.

Intensitätsstufen: Es werden insgesamt fünf Intensitätsstufen unterschieden: Disput, gewaltlose Krise, gewaltsame Krise, begrenzter Krieg und Krieg. Die gewaltsame Krise, der begrenzte Krieg und der Krieg bilden zusammen die Kategorie der Gewaltkonflikte, im Unterschied zu den gewaltfreien Konflikten.

Indikatoren: Zur Ausdifferenzierung des Gewaltkonflikts werden als weitere Kriterien die zur Durchführung der gewaltsamen Konfliktmaßnahmen eingesetzten Mittel und die Folgen des Gewalteinsatzes herangezogen. Die Dimension der Mittel umfasst die Indikatoren Waffeneinsatz und Personaleinsatz, die Dimension der Folgen ferner die Indikatoren Todesopfer, Zerstörung und Geflüchtete (Flüchtlinge sowie Binnenvertriebene).

Eine ausführliche Darstellung der Methodik findet sich unter https://hiik.de/hiik/methodik auf der Website des HIIK.

»Die Ukraine wird gewinnen«

»Die Ukraine wird gewinnen«

Einschätzungen aus der Forschung zu Kriegsbeendigungen

von Wolfgang Schreiber

Nach mittlerweile fünf Monaten Krieg1 infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine und angesichts der bisherigen Verluste an Menschenleben stellt sich immer drängender die Frage: Wie kann dieser Krieg beendet werden? Dieser Beitrag versucht den Krieg in der Ukraine in die Erkenntnisse der Forschung zur Beendigung von Kriegen einzuordnen. Ein besonderes Augenmerk wird auf die bisher in diesem Krieg eingesetzten Mittel zur Beendigung (Sanktionen, Waffenlieferungen, diplomatischer Druck) gelegt.

In der deutschen Politik und Öffentlichkeit gibt man sich davon überzeugt, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen wird. Da ein direktes militärisches Eingreifen in den Krieg aufgrund der Gefahr einer Eskalation zu einem Dritten Weltkrieg ausgeschlossen ist, sind es vor allem zwei Mittel, die Russland zur Beendigung des Krieges bewegen sollen: Waffenlieferungen an die Ukraine einerseits und die Verhängung von Wirtschaftssanktionen gegen Russland andererseits. Dazu kommt noch ein gewisser diplomatischer Druck, der sich unter anderem in der Resolution der UN-Generalversammlung ausdrückt, in welcher der russische Angriff eindeutig verurteilt wird (UNGA 2022). Dieser Beitrag versucht im Folgenden den Krieg in der Ukraine in die Erkenntnisse der Forschung zur Beendigung von Kriegen einzuordnen.

Bisherige Forschung zu Kriegsbeendigungen

Die Forschung zur Beendigung von Kriegen ist vergleichsweise übersichtlich.2 Ein breiteres Interesse an der Frage zur Beendigung von Kriegen lässt sich erstmals Anfang der 1970er Jahre ausmachen (z.B. Carroll 1970, Iklé 1971). Die nächste Welle breiter Beschäftigung mit dem Thema kann man Mitte der 1990er Jahre beobachten (z.B. Licklider 1993, King 1997, Heraclides 1997).

Statistisch-empirische Untersuchungen zu Kriegsbeendigungen auf der breiten Grundlage einer allgemeinen Kriege- oder Konfliktdatenbank blieben aber eine Ausnahme:3 Bei der Hamburger Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) findet sich in der einschlägigen Publikation zur Datenbank nur ein kurzes Kapitel zu Kriegsbeendigungen (Gantzel und Schwinghammer 1995, S. 160-167). Im Rahmen des Uppsala Conflict Data Program (UCDP) wurde erst 2003 ein Projekt zur Erfassung und Auswertung von Daten zur Beendigung von bewaffneten Konflikten begonnen (Kreutz 2010).

Typen der Kriegsbeendigung

Klassisch wurde bei Forschungen zu Kriegsbeendigungen zwischen zwei Typen unterschieden: Sieg beziehungsweise Niederlage einer Seite oder eine Verhandlungslösung, die formal in einem Friedensvertrag oder Waffenstillstand besiegelt wird. Von den 242 Kriegen, die laut AKUF-Datenbank seit dem Zweiten Weltkrieg beendet wurden, entfallen auf militärische Siege knapp 54 und auf Vereinbarungen etwa 43 Prozent der Kriegsbeendigungen.

Als Ergebnis der Erweiterung der UCDP-Datenbank um Kriegsbeendigungen wurde insbesondere die These aufgestellt, dass zwischen den beiden Grundtypen eine Verschiebung durch das Ende des Ost-West-Konflikts stattgefunden habe: Weniger militärische Entscheidungen und mehr Verhandlungslösungen.

Die Mitte der 2000er Jahre sowohl vom UCDP als auch der AKUF zusammengestellten Daten belegten diese These mit gewissen Einschränkungen auch zunächst. Für die AKUF-Daten bis 2006 ergab sich bei den militärischen Entscheidungen eine Veränderung von gut 54 Prozent während zu etwa 46 Prozent nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes (Schreiber 2011, S. 238). Wie aber den bis 2021 aktualisierten AKUF-Daten aus Tabelle 1 zu entnehmen ist, haben die letzten 15 Jahre dazu geführt, dass es fast keine Unterschiede mehr zwischen den prozentualen Anteilen vor und nach Ende des Ost-West-Konflikts gibt.

gesamt

1945-1988

1989-2021

Summe Militärische Siege

53,7 %

54,2 %

53,3 %

Sieg (Rebellen)

9,9 %

9,2 %

10,7 %

Sieg (Staat)

39,3 %

40,0 %

41,0 %

Sieg (zwischenstaatlich)

4,1 %

5,0 %

3,3 %

Sieg (sonstiges)

0,4 %

0,0 %

0,8 %

Summe Vereinbarungen

43,4 %

42,5 %

44,3 %

Vereinbarung (mit Vermittlung)

32,6 %

30,0 %

35,2 %

Vereinbarung (ohne Vermittlung)

10,7 %

12,5 %

9,0 %

Abbruch

3,3 %

3,3 %

2,5 %

Tabelle 1: Typen der Kriegsbeendigung

Faktoren bei der Beendigung von Kriegen

Wie leicht ersichtlich, haben Auswertungen zu Typen der Kriegsbeendigung ihre Grenzen. Sie sagen wenig darüber aus, unter welchen Bedingungen Kriege beendet werden. Die Benennung von möglichen Faktoren, die zur Kriegsbeendigung beigetragen haben, ist zwar nicht ausschließlich Neuland, wurde bislang nur im Rahmen eines Projektes innerhalb der AKUF an einer der allgemeinen Datenbanken vorgenommen.4 Die in der AKUF herausgearbeiteten Faktoren5 (vgl. Tabelle 2) unterscheiden sich dabei nicht grundlegend von den in der Literatur genannten.

1945-2006

Militärische Situation

74,9 %

Militärische Überlegenheit

60,2 %

Pattsituation

12,8 %

Militärische Erfolge/Niederlagen

1,9 %

Direkte militärische Intervention

8,1 %

Indirekte Interventionen militärischer Art

17,1 %

Externer Druck

26,1 %

Politisch/wirtschaftliche Situation

18,5 %

Regierungswechsel

10,0 %

Heterogenität/Spaltung der Rebellen

14,2 %

Gefangennahme/Tod von Rebellenführern

3,8 %

Sonstiges

14,2 %

alle Nennungen

186,7 %

Tabelle 2: Faktoren bei Kriegsbeendigung

Dass die militärische Situation bei knapp drei Viertel aller Kriegsbeendigungen als Faktor eine Rolle spielt, sollte angesichts der Tatsache, dass wir uns mit Kriegen beschäftigen, kaum verwundern. Direkte militärische Interventionen spielen vor allem auch in der öffentlichen Wahrnehmung eine bedeutende Rolle. Ein weiterer militärischer Faktor sind indirekte Interventionen. Hierunter fallen vor allem Waffenlieferungen, Ausbildungshilfe oder auch aktiv geduldete Rückzugsgebiete für Rebellen. Für Kriegsbeendigungen spielte dabei vor allem aber der Entzug dieser Formen von Unterstützung eine Rolle.

Der wichtigste der nichtmilitärischen Faktoren ist Druck, der von Dritten auf eine oder alle Kriegsparteien in Form von intensiven diplomatischen Bemühungen oder Sanktionen ausgeübt wird. Insbesondere länger andauernde Kriege können die politische oder wirtschaftliche Situation eines Landes oder einer Region so stark beeinflussen, dass dies zu einer Kriegsbeendigung beiträgt. Interessen- und Meinungsunterschiede innerhalb der Kriegsparteien sind ein weiterer Faktor, wenn sie zu Spaltungen oder Wechseln an der Spitze führen. Prominent – aber weniger häufig als Faktor anzutreffen – sind Gefangennahmen oder der Tod von Anführern, die eine Rebellengruppe entweder entscheidend schwächen oder zu einem Kurswechsel bewegen können. Es muss an dieser Stelle deutlich gemahnt werden, dass auch schon King (1997) in seiner Studie für jeden der von ihm herausgearbeiteten Faktoren betonte, dass sie auch in die gegenteilige Richtung, also konflikteskalierend und kriegsverstetigend wirken können.

Der Krieg in der Ukraine und die Forschung zu Kriegsbeendigungen

Welche Rückschlüsse lassen die bisherigen Ergebnisse der Forschung zu Kriegsbeendigungen für den Krieg in der Ukraine zu? Die erste einschränkende Antwort dazu lautet, dass statistische Verteilungen genau dies sind. Es ist daher schlicht nicht vorhersagbar, ob der aktuelle Krieg sich so verhält wie die Mehrheit oder ob er eine Ausnahme darstellt.

Schon die Frage der militärischen Situation lässt sich schwer beantworten: Wann liegt eine militärische Überlegenheit vor? Ist das nur der Unterschied in Material und Truppenstärken? Und – wenn der Krieg weiter andauert – wie sieht die Lage in ein paar Wochen aus? Die Einschätzung der militärischen Situation in einem andauernden Krieg hängt auch von Erwartungen an den zukünftigen Verlauf ab: Wird Russland weitere Gebiete erobern oder wird die Ukraine eine erfolgreiche Gegenoffensive starten können? Oder bleibt der Frontverlauf im Wesentlichen so, wie er sich derzeit darstellt?

Die politische und/oder wirtschaftliche Situation ist ebenfalls ein häufiger Faktor bei der Beendigung von Kriegen. In aller Regel kommt dieser aber erst mit einer gewissen Kriegsdauer zum Tragen. Eine Ausnahme besteht allenfalls dann, wenn der Krieg von vorneherein unpopulär ist. Beides trifft zurzeit weder auf Russland noch die Ukraine zu.

Kommen wir also zu den Faktoren, die NATO- und EU-Staaten derzeit als Mittel einsetzen. Da sind zunächst die indirekten militärischen Interventionen durch Waffenlieferungen für die Ukraine. Wie bereits oben bei der Erläuterung der Faktoren erwähnt, spielt dies für Kriegsbeendigungen vor allem dann eine positive Rolle, wenn diese Form der Unterstützung eingestellt wird. Waffenlieferungen führen im Gegenteil eher zu einer Verlängerung von Kriegen. Z.B. wurden Mitte der 1970er bis Ende der 1980er Jahre auffallend wenige Kriege beendet. In dieser Zeit wurden Kriegsparteien im Rahmen des Ost-West-Konflikts sehr freigiebig aus Moskau oder Washington unterstützt und mit dem Wegfall dieser Unterstützung – meistens in Kombination mit diplomatischen Initiativen – wurden viele dieser Kriege dann Anfang der 1990er Jahre beendet.6 Waffenlieferungen an die Ukraine können also zunächst einmal nur dazu beitragen, dass die Ukraine den Krieg nicht in absehbarer Zeit verliert.

Als zweites bedeutendes Druckmittel setzen EU und NATO Wirtschaftssanktionen gegen Russland ein. Externer Druck ist zwar nach der militärischen Situation der zweithäufigste Faktor, der bei gut einem Viertel aller Kriegsbeendigungen eine Rolle spielt. Allerdings wird in der Datenbank nicht zwischen politisch/diplomatischem und wirtschaftlichem Druck unterschieden. Ein genauerer Blick in die Daten (Probst 2011, S. 280-375) zeigt aber, dass hier vor allem diplomatischer Druck eine große Rolle spielt.7 Dass Wirtschaftssanktionen so selten als mitentscheidender Faktor für Kriegsbeendigungen eine Rolle spielen, hängt auch mit der Natur dieses Mittels ab: Sanktionen können nur dann wirken, wenn es einen substanziellen wirtschaftlichen Austausch zwischen den Sanktionierenden und dem Sanktionierten gibt (vgl. Basedau et al. 2010, S. 3). Das ist zwar zwischen Russland und insbesondere der EU der Fall soweit es um Energierohstoffe wie Gas, Öl und Kohle geht. Diese gegenseitige Abhängigkeit schränkt aber auch die Sanktionsmöglichkeiten ein, da auch für diejenigen, welche Sanktionen verhängen, damit Kosten verbunden sind (Ebd., S. 6): Bestimmte Sanktionen gegen Russland werden daher erst vorgenommen oder angekündigt, wenn die eigene Energieversorgung gesichert scheint. Weitere Faktoren sind, dass es andere Abnehmer für russische Rohstoffe gibt – und nicht unbedingt aus dem Grund, weil diese Russland unterstützen.

Das dritte derzeit gewählte Druckmittel der intervenierenden Staaten ist diplomatischer Druck. Zwar wurde die Resolution der UN-Generalversammlung zur Verurteilung des russischen Angriffskrieges mit einer großen Mehrheit von 141 Ja- zu 5 Nein-Stimmen bei 35 Enthaltungen angenommen. Allerdings ist Russland auch für die Staaten, die der Resolution zugestimmt haben, nicht etwa als Handels- oder auch nur Gesprächspartner diskreditiert. Eine Zeitenwende oder einen Epochenbruch hat für weite Teile der Welt am 24. Februar nicht stattgefunden (Plagemann 2022), wobei die Gründe für einzelne Staaten durchaus unterschiedlich sein können: Traditionelle Verbindungen zu Russland, der Wunsch in den Außenbeziehungen auch in Zukunft mehrere Optionen zu haben, das Verhalten westlicher Staaten in der Vergangenheit ebenso wie die geringe Rücksichtnahme des Westens bei den Sanktionen hinsichtlich der Auswirkungen auf Dritte (vgl. Zumach 2022).

Die Besonderheit des Ukrainekriegs

Es sieht also nicht so aus, als würden im Krieg in der Ukraine in absehbarer Zeit Faktoren zum Tragen kommen, die in der Vergangenheit zu Kriegsbeendigungen beigetragen haben. Auch wenn man sich die Frage stellt, welche ähnlichen Kriege es in der Vergangenheit gegeben hat, sind die Aussichten für ein baldiges Ende des Krieges eher schlecht. Am ehesten lässt sich der Krieg Russlands gegen die Ukraine mit anderen Kriegen vergleichen, wo eine Großmacht einem vermeintlich militärisch unterlegenen Gegner gegenüberstand. Wenn es keine schnellen Siege gab, wie beim Ungarn-Aufstand, oder den Kriegen der USA gegen Grenada oder Panama, so dauerten diese Kriege vergleichsweise lang. Insbesondere für die Erkenntnis, dass ein Krieg nicht zu gewinnen ist, brauchten Großmächte in der Regel lange: Dies galt für Vietnam ebenso wie für die Kriege sowohl der Sowjetunion als auch der USA in Afghanistan.

Inzwischen warnte auch NATO-Generalsekretär Stoltenberg davor, dass der Krieg in der Ukraine Jahre dauern könnte (Tagesschau 2022). Angesichts der bisherigen Opferzahlen würde das Zehntausende von weiteren Toten bedeuten. Was könnte also eine Alternative sein? Zwar erst als Punkt 14, aber dennoch markant platziert fordert die UN-Generalversammlung in ihrer Resolution zur Verurteilung des Angriffs Russlands „nachdrücklich die sofortige friedliche Beilegung des Konflikts zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine durch politischen Dialog, Verhandlungen, Vermittlung und andere friedliche Mittel“ (UNGA 2022).

Anmerkungen

1) Durch die Aussage „fünf Monate“ darf nicht übersehen werden, dass in der Ostukraine bereits seit 2014 ein Krieg mit russischer Beteiligung stattfindet.

2) Ein Überblick zum Forschungsstand findet sich bei Probst 2011, S. 21-85.

3) Die knappen statistischen Analysen der aktuellsten Publikation des Projektes »Correlates of War« gehen auf Fragen der Kriegsbeendigung nicht ein (Sarkees und Wayman 2010, S. 562-569).

4) Licklider 1993, Heraclides 1997 und King 1997 haben jeweils eigene Datensätze mit begrenzten Zeiträumen oder Konfliktgegenständen erstellt.

5) Die Daten der Tabelle 2 beziehen sich nur auf den Zeitraum 1945-2006. Eine Aktualisierung dieser Daten war – anders als für Tabelle 1 – für diesen Beitrag aufgrund der höheren Komplexität nicht möglich. Die Faktoren summieren sich auf über 100 Prozent da mehrere Faktoren zusammen zu einer Kriegsbeendigung beigetragen haben können.

6) Das lässt sich auch dem im Rahmen des UCDP erstellten Datensatz zur externen Unterstützung in bewaffneten Konflikten entnehmen (Högbladh et al. 2011; der zugehörige Datensatz unter ucdp.uu.se/downloads/).

7) Das gilt noch mehr für zwischenstaatliche Kriege, wo dieser Faktor bei über einem Drittel der Kriegsbeendigungen als relevant eingestuft wurde (Probst 2011, S. 110).

Literatur

Basedau, M.; Portella, C.; von Soest, Ch. (2010): Peitsche statt Zuckerbrot: Sind Sanktionen wirkungslos? (GIGA Focus Global 11/2010), Hamburg.

Carroll, B. A. (1970): War termination and conflict theory: Value premises, theories and policies. In: Annals of the American Academy of Political and Social Science 392(1), S. 14-29.

Gantzel, K. J.; Schwinghammer, T. (1995): Die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 bis 1992. Daten und Tendenzen. Münster: LIT Verlag.

Heraclides, A. (1997): The ending of unending conflicts: Separatist wars. In: Millennium: Journal of International Studies 26(3), S. 679-707.

Högbladh, S.; Pettersson, Th.; Themnér, L. (2011): External support in armed conflicts 1975-2009 – presenting new data. Unveröffentlichtes Manuskript, International Studies Association Convention in Montreal 2011.

Iklé, F. Ch. (1971): Every war must end. New York: Columbia University Press.

King, Ch. (1997): Ending civil wars – Adelphi Paper 308. Oxford/New York: Oxford University Press.

Kreutz, J. (2010): How and when armed conflicts end. Introducing the UCDP conflict termination dataset. In: Journal of Peace Research 47(2), S. 243-250.

Licklider, R. (1993): How civil wars end: Questions and methods. In: Ders. (Hrsg.): Stopping the killing. How civil wars end. New York: New York University Press, S. 3-19.

Plagemann, J. (2022): Die Ukraine-Krise im globalen Süden: kein “Epochenbruch” (GIGA Focus Global 2/2022), Hamburg.

Probst, M. (2011): Kriegsbeendigungen. Eine empirische Analyse der Faktoren und Prozesse der Deeskalation von Kriegen. Frankfurt a.M.: Peter Lang Verlag.

Sarkees, M. R.; Wayman, F. W. (2010): Resort to war 1816-2007. Washington: Sage.

Schreiber, W. (2011): Wie Kriege enden. In: Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (Hrsg.): Krieg im Abseits. „Vergessene Kriege“ zwischen Schatten und Licht oder das Duell im Morgengrauen um Ökonomie, Medien und Politik. Wien/Berlin: LIT Verlag, S. 233-249.

Tagesschau (2022): Stoltenberg zur Ukraine NATO rechnet mit langem Krieg. 19.06.2022.

UNGA (2022): Resolution der Generalversammlung A/RES/ES/11/1. 18.3.2022.

Zumach, A. (2022): Selektivität und doppelte Standards. Die UNO vor dem Rückfall in die Blockaden des Kalten Krieges. In: W&F 2/2022, S. 21-23.

Wolfgang Schreiber, Dipl.-Math., ist Lehrbeauftragter und Leiter der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) an der Universität Hamburg.