Foltern ohne Spuren

Foltern ohne Spuren

Psychologie im Dienste des »Kampfes gegen den Terrorismus«

von Rainer Mausfeld

Verschleppung und Folter an Terroraktionen Verdächtigter ist – der Empörung in westlichen Medien zum Trotz – fester Bestandteil des »Krieges gegen den Terror«. Wer Folter als etwas westlichen Demokratien Jenseitiges ansieht, übersieht leicht, dass es eine Kontinuität der Nutzung der Folter als Instrument politischer Machtausübung gibt. An ihr hat auch die Psychologie als wissenschaftliche Disziplin unrühmlichen Anteil.

Guantánamo ist, wie immer wieder bekundet wird, ein Schandfleck für den Westen in seinem »Kampf gegen den Terrorismus«. Eine derartige Formulierung drückt unsere natürliche Abscheu vor Folter aus und unser Erschrecken über die unmenschliche Behandlung, die den Insassen von Guantanamo widerfahren ist. Eine solche Reaktion, die auf unserer natürlichen Befähigung zur Empathie beruht, hat zur Voraussetzung, dass diese Vorgänge überhaupt in den Fokus unserer Aufmerksamkeit gelangen. Was uns nicht im Gedächtnis oder in der Aufmerksamkeit präsent ist, ist uns auch nicht moralisch präsent. Daher gilt auch für die Bewertung politischen Handelns: »aus den Augen, aus dem Sinn«. Dies eröffnet in medial gelenkten Demokratien die Möglichkeit, die Ziele moralischer Empörung nicht dem Zufall zu überlassen, sondern sie je nach politischen Interessen in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit zu bringen oder sie daraus auch wieder verschwinden zu lassen.

Die »Terroristen« wechseln, die Folter bleibt

Es lohnt sich daher ein zweiter Blick auf die Formulierung, dass Guantánamo ein Schandfleck im Kampf gegen den Terrorismus sei. Zur Natur eines Flecks gehört, dass er sich von etwas abhebt, das nicht befleckt ist, also von etwas, das erst befleckt wurde. Was hier befleckt wurde, sind – unserer Selbstwahrnehmung zufolge – die eigentlich hehren Ideale und edelmütigen Absichten, die uns moralisch verpflichten, für den Erhalt zivilisatorischer Werte und die Verbreitung von Demokratie zu kämpfen, also den Kampf gegen den Terrorismus aufzunehmen. In diesem guten und gerechten Krieg für humanitäre Werte ist es – im Großen durch eine Handvoll ideologisch verblendeter und fanatischer Politiker, wie Bush, Cheney, oder Rumsfeld, und im Kleinen durch eine Handvoll schwarzer Schafe, wie in Abu Ghraib Charles Graner oder Lynndie England – zu einigen schwerwiegenden Verletzungen unserer eigentlich untadeligen Absichten gekommen. Dies gilt es, getreu unseren Werten, entschlossen zu korrigieren und den »Kampf gegen den Terrorismus« wieder von seinen hässlichen Seiten zu befreien. In diesem Sinne symbolisiert ein Schandfleck einen historischen Ausrutscher und markiert zudem etwas, das wir als einen Extrempunkt des Versagens ansehen. Indem wir ihn bemerken und benennen, haben wir zugleich unsere moralische Empfindsamkeit bezeugt und damit einen ersten Schritt zur Bewältigung dieser – am nahezu undenkbaren Rand der Möglichkeiten liegenden – Verletzung unserer Ideale geleistet. Mit Guantánamo beginnt und mit Guantánamo endet zugleich eine Phase in der »wir«, also westliche Demokratien, in systematischer und geplanter Weise Folter zu einem Instrument der politischen Machtausübung gemacht haben.

Diese Selbstwahrnehmung steht jedoch ganz im Gegensatz zu den Fakten. Mehr noch: Die geschichtlichen Fakten widersprechen ihr in einem derart erdrückenden und erschütternden Ausmaß, dass wir mit der tiefer liegenden Frage konfrontiert sind, durch welche politischen und psychischen Mechanismen es zu einer derartig monströsen Fehleinschätzung kommen kann. Denn auch nach dem Zweiten Weltkrieg stellt die Folter ein Instrument der politischen Machtausübung dar, auf das auch demokratische Staaten immer noch ungern verzichten. Frankreich sah seine Massenfolterungen im Algerienkrieg als notwendige Maßnahmen im Kampf gegen den »Terrorismus« der algerischen FLN an. Großbritannien verwendete im Nordirlandkonflikt »neuartige Verhörmethoden«, die Vorläufer der in Guantánamo eingesetzten Techniken sind. Entsprechende Methoden werden auch von Israel bei der systematischen Folterung palästinensischer Gefangener eingesetzt.1 Amerikanische Regierungen haben in den 1970er und 1980er Jahren für die »Bekämpfung kommunistischer subversiver Kräfte« systematisch Foltertechniken für befreundete Regime bereitgestellt und insbesondere in Lateinamerika die 1975 gegründete Terrororganisation »Operation Condor« wesentlich unterstützt.2 Diese Kontinuität einer Nutzung der Folter als Instrument politischer Machtausübung durchzieht die US-Außenpolitik und erreichte in der Reagan-Regierung ihren Höhepunkt. Gegenüber dieser Tradition war die Neuerung der Bush-Regierung, dass sie sich offen zur systematischen Anwendung folterartiger Verhörtechniken im Bereich ihrer Hoheitsgewalt bekannt hat und versucht hat, der Folter eine juristische Legitimationsbasis zu verschaffen.

Mit der Einengung des Blicks auf den »Schandfleck Guantánamo« läuft man zwangsläufig Gefahr, die strukturelle Beschaffenheit des Hintergrundes, auf dem etwas als Schandfleck wahrgenommen wird, zu übersehen. Auch die jetzige amerikanische Regierung wird auf das Instrument der Folter nicht vollständig verzichten. Zwar hat Obama einige der von der Bush-Regierung praktizierten »innovativen Verhörmethoden« als Folter eingestuft – will jedoch ausdrücklich von juristischen Folgen für die Verantwortlichen absehen – und ihre Anwendung auf amerikanischem Boden und in der Militärbasis Guantanamo Bay untersagt. Zugleich setzt er das CIA-Programm zur Überstellung von Gefangenen an andere Staaten ohne juristische Grundlage fort, also ein »Outsourcing« der Folter in Staaten, in denen öffentliche Reaktionen kaum zu befürchten sind. Auch will er auf »Amerikas Folterkammer« Bagram nicht verzichten. Zudem erklärte er, die unbefristete Inhaftierung von Terrorverdächtigen auch ohne Gerichtsverhandlung beibehalten zu wollen.

Auch die politische Praxis der jetzigen Bundesregierung und ihrer Vorgängerin lässt hinter der Menschenrechtsrhetorik die üblichen Doppelstandards zur Folter erkennen, wie sich u.a. in der engen Zusammenarbeit von BND und Bundeswehr mit Folterregimen zeigt. Besonders eklatant ist dies im Fall Usbekistans, ein Land, in dem »Human Rights Watch« zufolge „Folter tief im Strafjustizsystem verwurzelt“ ist, zu dessen autokratischem Folterregime Deutschland jedoch freundschaftliche Beziehungen pflegt und in dem es einen Luftwaffenstützpunkt unterhält; der BND unterhält enge Beziehungen zu Usbekistan und hat, nach Angaben des ehemaligen englischen Botschafters Craig Murray, Informationen aus Foltergeständnissen genutzt. Auch das Bundeskriminalamt (BKA) arbeitet sehr »pragmatisch« mit Folterregimen zusammen.3

Trotz der Eindeutigkeit des absoluten Folterverbotes ist eine pragmatische und utilitaristische Haltung zur Folter weit verbreitet und bildet erst die Voraussetzung dafür, dass sich entsprechende zivilisatorische Regressionen immer wieder ereignen. Mit dem absoluten Folterverbot wird die Folter – ebenso wie die Sklaverei – einer abwägenden Bewertung von Pro und Contra entzogen. Gleichwohl finden sich unter dem Mäntelchen einer »rationalen« und »vernünftigen« Herangehensweise immer wieder Versuche, das absolute Folterverbot einer Abwägungshaltung zugänglich zu machen. Der ZEIT-Herausgeber Josef Joffe bringt im »Tagesspiegel« vom 27.04.2009 eine solche Haltung so zum Ausdruck: „Nützlicher wäre eine systematische Untersuchung, ob denn Erschöpfung, Erniedrigung und simuliertes Ertrinken überhaupt den gewünschten Effekt gehabt haben.“ Was wäre nun, wenn diese Foltermethoden den gewünschten Effekt hätten? Müssten wir dann zu einer »vernünftigen« Neubewertung der Folter kommen? Interessanterweise würde, bislang zumindest, niemand eine gleichermaßen »vernünftige« Haltung zum absoluten Verbot der Sklaverei vertreten und deren Bewertung von der Evaluation der »gewünschten Effekte«, etwa wirtschaftlicher Art, abhängig machen. Auch Psychologen sind dieser Art von affirmativer Scheinrationalität erlegen, wenn sie etwa untersuchen, ob Folter überhaupt zur Gewinnung brauchbarer Informationen taugt. So kommt eine kürzlich veröffentlichte Studie nach einer Auswertung neurophysiologischer Literatur insbesondere zu Gedächtnisfunktionen zu dem Schluss, dass auf der Basis der verfügbaren Befunde extremer Stress zu einer Beeinträchtigung der Gedächtnisfunktionen führt und daher mit dem Ziel einer Gewinnung brauchbarer Informationen nicht vereinbar ist.4 Was aber wäre, wenn dies nicht der Fall wäre und wenn Stress und Schmerzen vielleicht sogar die Bereitschaft erhöhten, freiwillig nicht geäußerte Gedächtnisinhalte preiszugeben? Müsste dann nicht Folter als die Methode der Wahl angesehen werden? Dies ist genau die Haltung, mit der man unter dem Vorwand eines »rationalen Diskurses« letztlich wieder die Folterlogik staatlicher Interessen übernimmt. Zudem verdeckt diese Art einer »nüchternen wissenschaftlichen Herangehensweise«, dass es sich bei dem Ziel einer vorgeblichen Informationsbeschaffung nur um eine Rechtfertigungsrhetorik handelt und dass Folter vorrangig auf die Disziplinierung, Demütigung und Erniedrigung bestimmter – zumeist ethnisch definierter – Gruppen zielt, deren soziale oder kulturelle Identität sie zu zerstören sucht. Die vorgebliche oder tatsächliche Aufklärungsintention derartiger psychologisch-wissenschaftlicher Studien trägt letztlich nur dazu bei, das absolute Folterverbot zu erodieren und einer Abwägungshaltung zugänglich zu machen.

Da das absolute Folterverbot aus den geschichtlichen Erfahrungen erwachsen ist, kann es uns nur in dem Maße vor einer Wiederholung dieser Erfahrungen schützen, wie diese im kollektiven Gedächtnis präsent bleiben. In dem Maße, in dem Regierungen Folter als unverzichtbares Instrument ihrer Machtpolitik ansehen, haben sie, besonders in Demokratien, ein Interesse daran, dass die öffentliche Bewertung entsprechender Vorgänge geschichtslos und damit jeder Fall ein Einzelfall bleibt. Auf diese Weise lassen sich unsere natürlichen moralischen Reaktionen im Einklang mit politischen Machtinteressen kanalisieren, und hinter der berechtigten Empörung über Guantanamo verschwindet die lange Kontinuität der Folter in der kollektiven geschichtlichen Amnesie. Auch die »innovativen Verhörmethoden« beginnen weder mit Guantánamo noch werden sie damit enden. Zur Entwicklung dieser Methoden hat die Psychologie seit den 1950er Jahren beigetragen.

Psychologie und weiße Folter: Das neue Gesicht der Folter

Wenn von »Psychologie und Folter« die Rede ist5, wird man zuerst an therapeutische Aufgaben denken. Psychologen spielen eine wichtige Rolle bei der Betreuung von Folteropfern. Der Versuch, sie zu lindern, erfordert profundes Wissen über die Auswirkungen, die solche »Verwüstungen der Seele« haben.

Die Psychologie trägt aber auch dazu bei, die Bedingungen besser zu verstehen, unter denen es zu Folter kommt; sie betreibt Ursachenforschung. So wäre Folter kaum denkbar ohne die Annahme, dass bestimmte Personen- und Kulturgruppen minderwertig seien und man ihnen jene Rechte absprechen könne, die wir ansonsten für selbstverständlich halten. Aus geschichtlichen Erfahrungen ebenso wie aus Untersuchungen der Sozialpsychologie wissen wir, dass der Mensch eine einzigartige Flexibilität darin hat, auf der Basis nahezu x-beliebiger Merkmale, sei es Hautfarbe, Religion, Herkunft, Geschlecht oder sexuelle Orientierung, andere aus der Kategorie »Meinesgleichen« auszugrenzen und ihnen das zu verwehren, was er als elementare Menschenwürde für die als »Seinesgleichen« Empfundenen beansprucht. Dies macht ihn unempfänglich für das Leid derjenigen, die er als »Nicht-Seinesgleichen» ansieht. Die Psychologie kann die Mechanismen solcher Kategorisierungen aufklären helfen. Die Voraussetzungen sowie die Auswirkungen von Folter gehören folglich in ihren Untersuchungsbereich. Wenn von »Psychologie und Folter« die Rede ist, denkt jedoch kaum jemand daran, dass Psychologen auch zur Entwicklung und Verfeinerung von Foltertechniken beigetragen haben. In den letzten Jahren kamen mehr und mehr Details darüber ans Licht, wie sehr Vertreter des Fachs an der Entwicklung und Durchführung von Methoden psychologischer Folter beteiligt waren.

Mit der Etablierung demokratischer Rechtsstaaten und ihrer weit gehenden Kontrolle durch die Öffentlichkeit veränderte sich auch das Gesicht der Folter. Um sie gleichsam unsichtbar zu machen, wurden neue Techniken entwickelt, die man als »Clean Torture«, »White Torture« oder »Psychological Torture« bezeichnet. Mit diesen Methoden lässt sich der Wille eines Gefangenen ebenso effizient brechen wie durch körperliche Misshandlungen. Jedoch hinterlassen sie keine sichtbaren Spuren, was diese neuen Techniken gerade für Regierungen demokratischer Staaten attraktiv macht. Diese neuen Foltertechniken breiten sich, Menschenrechtsorganisationen zufolge, epidemieartig aus.

An den »innovativen Verhörmethoden«, wie sie in Guantánamo, Bagram oder Abu Ghraib zum Einsatz kamen, haben Psychologen entscheidend mitgewirkt. In den Fokus der Weltöffentlichkeit geriet dies im Jahr 2007: Damals bekundete die größte psychologische Berufsvereinigung, die American Psychological Association (APA), dass Psychologen, die »innovative Verhörtechniken« entwickeln oder Verhörexperten darin ausbilden, »einen wertvollen Beitrag« leisten, um »Schaden von unserer Nation, anderen Nationen und unschuldigen Zivilisten abzuwenden«. Um die Tragweite eines solchen Legitimierungsversuchs der weißen Folter zu verstehen, muss man die Hintergründe näher betrachten.

Nach internationalen Rechtsnormen stellt Folter einen Angriff auf ein Rechtsgut dar, das absolut schützenswert ist. Das Folterverbot gestattet keine Ausnahmen – auch nicht im Fall eines politischen oder gesellschaftlichen Notstands. Es gegen andere Rechtsgüter abzuwägen, gilt grundsätzlich als nicht statthaft. Auf diese Weise soll dem Macht- und Sicherheitsanspruch des Staates eine absolute rechtsstaatliche Grenze gesetzt werden.

Eine Frage des »Ausgeliefertseins«

Ob etwas als Folter anzusehen ist oder nicht, lässt sich freilich nicht allein am Grad des verursachten körperlichen oder seelischen Schmerzes messen. Das bestimmende Merkmal ist vielmehr die besondere Art der interpersonalen Situation, in der sich der Gefolterte in seiner gesamten Existenz dem Willen des Folterers ausgeliefert fühlt. In einer solchen Situation stellen bestimmte Techniken, wenn man sie in geeigneter Kombination anwendet, ein äußerst effektives Mittel dar, den Willen eines Menschen zu brechen. Hierzu zählen vor allem: räumliche und zeitliche Desorientierung, soziale Isolation, Reiz und Schlafentzug, sensorischer Schmerz durch Lärm und grelles Licht, Erzwingen körperlicher Stresspositionen sowie sexuelle und kulturelle Erniedrigung.

An den ersten Untersuchungen zu den Folgen sensorischer Deprivation in den 1950er Jahren war einer der damals bedeutendsten Psychologen, der Kanadier Donald O. Hebb, entscheidend beteiligt. Hebb berichtete, dass sich „die Identität von Versuchspersonen aufzulösen begann“, nachdem diese zwei bis drei Tage lang schalldichte Kopfhörer, eine Augenbinde und besondere, das Tastempfinden reduzierende Kleidung trugen. Wie viele andere Forscher suchte Hebb nach Mitteln und Wegen, die psychische Widerstandskraft und den Willen einer Person zu schwächen.

1959 fasste Albert Biderman die damals bekannte Forschung über »Improved Interrogation Techniques« zusammen: Psychologische Folter sei „der ideale Weg, einen Gefangenen zu brechen“, da sich „Isolation auf die Hirnfunktion des Gefangenen ebenso auswirkt, wie wenn man ihn schlägt, hungern lässt oder ihm Schlaf entzieht“. Dafür genüge es, den Betreffenden aller sozialen Kontakte zu berauben, ihn zu desorientieren, seinen Schlaf-wach-Rhythmus zu stören und ihn massiv unter Stress zu setzen. Nach und nach komme es so zur Regression auf eine infantile Stufe.

Auch ein Verhörhandbuch der CIA, das berüchtigte »KUBARK«6 von 1963, beschreibt bereits ausführlich, wie sich die emotionale Verletzbarkeit des Einzelnen zu diesem Zweck ausnutzen lässt. Das Handbuch erklärt den Auszubildenden sogar, dass die betreffenden Techniken dank der psychologischen Forschung leicht erlernbar seien: „Es hört sich schwieriger an als es ist, den Willen einer Person durch psychologische Manipulation und ohne Anwendung von äußerlichen Methoden zu brechen.“ Das KUBARK-Handbuch empfiehlt etwa die ständige Manipulation der Zeit durch Vor- und Zurückdrehen der Uhr, was den Gefangenen „immer tiefer in sich selbst verstrickt“. Ist die zeitliche Orientierung einmal zerstört, sollten weitere Methoden hinzutreten. Letztlich komme es darauf an, die Erfahrungswelt des Betreffenden völlig unberechenbar und chaotisch zu gestalten – ein Vorgehen, das als »Alice-in-Wonderland-Technik« bezeichnet wird.

Nach dem 11. September 2001 wurde die psychologische Forschung auf diesem Gebiet wieder verstärkt. Eine Verhörtechnik galt als optimal, wenn sich durch sie der Wille selbst der stärksten Persönlichkeit brechen ließ und ihre Folgen zugleich für die Öffentlich unsichtbar blieben. Im Jargon der Guantánamo-Verhörprotokolle tragen die von Psychologen entwickelten Maßnahmen Namen wie »Pride and Ego down«, »Fear up Harsh« oder »Invasion of Space by a Female«. Hinter »Pride and Ego down« verbirgt sich beispielsweise, muslimische Gefangene nackt vor weiblichen Aufsehern zu verhören oder in Frauenunterwäsche posieren zu lassen. Auch erzwungenes Masturbieren oder das Vorführen von »Kunststücken« wie ein dressierter Hund gehören dazu. Verbunden mit mehrtägigem Schlafentzug, sensorischer Deprivation und Desorientierung sowie stundenlangem Verharren in starren Körperhaltungen destabilisiert dies die Gefangenen psychisch derart, dass es schließlich zu willfähriger Unterwerfung kommt.

Die in Guantánamo angewandten Verhörtechniken haben Psychologen entworfen – insbesondere die Firma »Mitchell, Jessen & Associates«, die sich auf die Ausbildung von Verhörexperten spezialisiert hatte. James Mitchell und Bruce Jessen nahmen im Mai 2002 an einem vom Pentagon und der CIA organisierten Symposium teil, bei dem anlässlich der Festnahme eines al-Qaida-Führungsmitglieds »innovative Verhörtechniken« vorgestellt und diskutiert wurden. Auf dieser Veranstaltung hielt der renommierte Psychologe Martin Seligman einen Vortrag, in dem er über das Konzept der erlernten Hilflosigkeit referierte. Die von Mitchell und Jessen entwickelte Methode zielt vornehmlich darauf ab, den Verhörten in einen solchen Zustand erlernter Hilflosigkeit zu versetzen. Auch die Verhöre in Guantánamo selbst fanden häufig unter Aufsicht von Psychologen statt.

Müssten diese Vorgänge unter Psychologen nicht für Empörung sorgen? Sollte man der American Psychological Association (APA) nicht ihre eigenen ethischen Richtlinien in Erinnerung rufen? Tatsächlich verlangten nur wenige der rund 150 000 APA-Mitglieder das wahre Ausmaß der Beteiligung von Psychologen an Menschenrechtsverletzungen aufzudecken. Nachdem bekannt wurde, wie sehr das Prinzip der »innovativen Verhörmethoden« auf der Expertise von Psychologen beruhte, geriet die APA dennoch zunehmend unter Druck. Zwar stellte der Verband in einer Stellungnahme fest, dass er jede Art von Folter ablehne. Bei den angewandten Methoden handle es sich jedoch zum einen gar nicht um Folter. Zum anderen gebe es nicht nur eine ethische Verpflichtung, das Individuum zu schützen, sondern auch die, Schaden von der Nation abzuwenden. Im Konfliktfall gelte es, beides gegeneinander abwägen – etwa um sicherheitsrelevante Informationen zu beschaffen. (Die Argumentation klingt erschreckend vertraut: Auch NS-Ärzte hatten seinerzeit einen Konflikt geltend gemacht zwischen der Verpflichtung, dem Wohl des Einzelnen zu dienen, sowie der, den »Volkskörper« gesund zu erhalten.)

Unter dem wachsenden öffentlichen Druck vollzog die APA im Oktober 2008 – rechtzeitig zum erwarteten politischen Machtwechsel in den USA – eine späte Kehrtwende. Sie kündigte eine »deutliche Änderung« ihrer Haltung an: Psychologen dürften sich ab sofort nicht mehr an Menschenrechtsverletzungen von Gefangenen beteiligen. Dennoch vermittelt die APA bis heute den Eindruck, dass sie die Diskussion um die Entwicklung und Durchführung von Techniken der weißen Folter nicht unmittelbar betreffe und dass es nur um Verfehlungen einzelner »schwarzer Schafe« gehe. Zugleich hat sie erkennen lassen, dass sie die verabschiedeten Resolutionen gegen eine Beteiligung von Psychologen an folterähnlichen Verhören nicht als verbindlichen Teil ihrer ethischen Richtlinien ansieht.

Wie sicher können wir vor dem Hintergrund solcher geschichtlichen Erfahrungen sein, dass der Schutz und die Menschenwürde des Einzelnen nicht bei nächster Gelegenheit wieder dem vermeintlich übergeordneten Interesse des Staates zum Opfer fallen?

Anmerkungen

1) Nach Schätzungen der israelischen Bürgerrechtsorganisation B'Tselem werden 85% aller palästinensischen Gefangenen gefoltert (vgl. B'Tselem (2007): Absolute Prohibition. The Torture and Ill-Treatment of Palestinian Detainees. Jerusalem). Nach Schätzungen des »Public Committee Against Torture« in Israel wurden allein zwischen 1987 und 1994 über 23.000 Palästinenser gefoltert (s.a. Public Committee against Torture in Israel (2008): 'Family Matters'. Using Family Members to Pressure Detainees Under GSS interrogation. Jerusalem).

2) Vgl. Dana Priest (1996): US instructed Latins on Executions, Torture; Manuals used 1982-1991, Pentagon Reveals, Washington Post, Sept. 21; Amnesty International (2001): Stopping the Torture Trade; Amnesty International (2002): Unmatched Power, Unmet Principles: The Human Rights Dimensions of US Training of Foreign Military and Police Forces; J.K. Harbury (2005): Truth, Torture, and the American Way: The History and Consequences of U.S. Involvement in Torture. Boston: Beacon Press; F.H. Gareau (2004): State Terrorism and the United States. From Counterinsurgency to the War on Terrorism. London: Zed Books; A. George (ed.) (2004): Western State Terrorism. Cambridge: Polity. Für eine Chronik siehe W. Blum (2004): Killing Hope. US Military and CIA Interventions since World War II. Monroe: Common Courage Press.

3) Schenk, D. (2008): BKA – Polizeihilfe für Folterregime. Bonn: Dietz.

4) S. O'Mara (2009): Torturing the brain: On the folk psychology and folk neurobiology motivating 'enhanced and coercive interrogation techniques', Trends in Cognitive Sciences, 13, 497-500.

5) Für weitere Details und Quellennachweise siehe R. Mausfeld (2009): Psychologie, »weiße Folter« und die Verantwortlichkeit von Wissenschaftlern. Psychologische Rundschau, 60, 229-240.

6) CIA (1963). KUBARK Counterintelligence lnterrogatioll. [http://www.gwu.edu/~nsarchiv/NSAEBB/NSAEBB122/index.htm#kubark] McCoy, A.W. (2005). Foltern und Foltern lassen. 50 Jahre Folterforschung und -Praxis von CIA und US-Mililär. Frankfurt: Zweitausendeins.

Rainer Mausfeld ist Professor für Allgemeine Psychologie an der Christian-Albrechts-Universität Kiel.

Paramilitärische Bestrafung in Nordirland

Paramilitärische Bestrafung in Nordirland

Eine situationsbezogene Methodologie zu ihrer Erforschung

von Dermot Feenan

Dieser Beitrag befasst sich mit einer Reihe von methodologischen Fragen, die bei der Erforschung von paramilitärischem Bestrafungshandeln in Nordirland auftreten. Diese Fragen betreffen – allgemein formuliert – den Zugang, die Sicherheit und rechtliche Dimensionen. Da diese Aspekte im weiteren Sinne im Feld der sogenannten »gefährlichen« oder »heiklen« Forschung verortet sind (Lee 1993, 1995), erfordert die Umsetzung methodologische Sensitivität hinsichtlich des zeitlichen, örtlichen und kulturellen Kontextes.1

Ziel des Forschungsprojekts war es, zum Verstehen paramilitärischen »Polizeiverhaltens« beizutragen, indem Art und Umfang von »bestrafenden« Angriffen und Einschüchterungen dokumentiert und Gründe für die allgemeine Ausbreitung dieser Aktivität identifiziert werden. Darüber hinaus ging es um die Erfassung der Sichtweisen der Mitglieder der Gemeinden, die Bewertung möglicher Strategien zur Prävention und Reduzierung dieses Verhaltens sowie um die Auswertung der Reaktionen von ehrenamtlichen und auf gesetzlicher Grundlage handelnden Akteuren gegenüber diesem Phänomen (Feenan 2002a). Die Forschung fand in einer Konstellation eines hoch aufgeladenen politischen, häufig auch gewaltförmig ausgetragenen Konflikts zwischen dem britischen Staat und – meist republikanischen – paramilitärischen Organisationen sowie zwischen republikanischen und loyalistischen Paramilitärs statt.

Paramilitärische Bestrafung

Paramilitärische Bestrafung hat die charakteristischen Besonderheiten rudimentärer Rechtssysteme, darunter: eine organisierte Struktur und Mitarbeiter, eindeutig definierte »Verbrechen«, Verbrechensprävention, Verfahrensregeln (incl. Ermittlung, Beschluss über Schuld oder Unschuld, Gerichtsurteil und Bestrafung), Strafrahmen sowie strafmildernde Umstände.

Trotz einiger Unterschiede hinsichtlich Ideologie, Motivationen und Praktiken haben die loyalistischen und die republikanischen Bestrafungen bemerkenswerte Ähnlichkeiten hervorgebracht. Die Bestrafungen reichen von Warnungen bis hin zu gewaltsamen physischen Angriffen oder Schießereien. Zu ihnen gehören aber auch: Ausgrenzungen, Hinrichtungen, die Beschädigung von Eigentum und Einschüchterung.

Problemfelder

Die Forschung hat zwischen Juli 1998 und dem Jahr 2000 in einer Zeit nachhaltigen politischen Übergangs stattgefunden. Das Belfast-Abkommen vom Frühjahr 1998 hat Republikaner und Loyalisten, jedoch insbesondere die Republikaner, unter erheblichen Druck seitens der britischen und der irischen Regierungen sowie der innerstaatlichen politischen Mitbewerber gesetzt, die paramilitärischen Bestrafungen einzustellen. Mit dem Versuch, Zugang zu denjenigen zu finden, die Bestrafung ausgesetzt waren, und denen, die eng genug mit den Paramilitärs verbunden waren, um mit einer gewissen Autorität über die Praktiken der Bestrafung Auskunft zu geben, waren verschiedene Problemfelder verbunden.

Persönliche Sicherheit

Es gibt eine Vielzahl von Gefahren bei der Erforschung paramilitärischer Gewalt. Diejenigen, die verdächtigt werden, Informationen an die »andere« Seite auf dem Schauplatz des gewaltsamen politischen Konflikts weiter zu geben, können Risiken ausgesetzt sein. Die Ermordung von »Tippgebern« bzw. »Informanten« ist ein bekanntes Phänomen in Nordirland. Dieses Risiko trifft auch Forscher (Guelke 1998).

Aus diesem Grund wurde bei der Feldforschung einem umsichtigen Sicherheitsprotokoll gefolgt. Die Einstellung der Militäroperationen der Provisorischen IRA und des Vereinigten Loyalistischen Militärkommandos im Jahr 1994 und der Rückgang konfessionsgebundener Morde bis und während der Forschungsperiode bedeutete, dass es wenig Risiko gab, in chaotische Unruhen verwickelt zu werden. Es bestanden aber weiterhin kleinere Risiken in einem Sinne, den Yancey und Rainwater (1970) als Risiken der »Präsentation« im Zuge der Befragung bezeichnen, und im gelegentlichen Auftreten von Aufruhr. Dies bedeutete, sich der Umgebung bewusst zu sein, in der die Interviews geführt wurden, und – zumindest anfänglich – die Durchführung eines Teils der Feldforschung als Paar bis Vertrautheit mit den Schauplätzen hergestellt war. Ebenso waren die Planung sicherer Zutritts- und Ausgangsrouten durch paramilitärische Enklaven und – wo möglich – die Auswahl sicherer Orte zur Durchführung der Befragungen, z.B. in den Büros der Bewährungshilfe, von Bedeutung. Besondere Vorsicht war in den Wochen vor und nach dem 12. Juli geboten – dem Tag, an dem in vielen Teilen Nordirlands die Aufmärsche des Oranje-Ordens stattfanden, der verbreitet von Gewalt begleitet war. Solche Vorsichtsmaßnahmen bestanden häufig darin, vor der Fahrt zur Arbeit und vor der Rückkehr die Verkehrsnachrichten im Radio zu verfolgen, um sichere Fahrtrouten jenseits bereits blockierter oder potenziell gesperrter Strecken einzuplanen. Gleichwohl erlebten wir bei der Rückkehr von einem Interview in einer republikanischen Hochburg typische Straßengewalt. Als wir mit dem Wagen die Stätte des Interviews verließen, hielt ein Polizeifahrzeug vor uns. Sofort und scheinbar aus dem Nichts begannen mehrere Jugendliche damit, Steine auf den Polizeiwagen zu werfen. Die Trümmer prallten vom Fahrzeug ab und zerstoben vor uns. Während Gefährdungen der physischen Sicherheit in Nordirland handhabbar sind, erwies sich der Zugang zu wichtigen Informanten im Kontext lang anhaltender politischer Gewalt als echte Herausforderung.

Herstellen der Vertrauensbasis

Sozialwissenschaftliche Forschung in den städtischen Arbeitervierteln Nordirlands betont die Notwendigkeit der Herstellung eines Vertrauensverhältnisses. Dies ist besonders wichtig bei der Frage der paramilitärischen Bestrafung, da die jeweiligen Gemeinschaften die sozialen Milieus sind, aus denen die Paramilitärs hervorgehen und durch die sie ihre Unterstützung erhalten. Paramilitärische »Bestrafung« häuft sich in städtischen Arbeitervierteln loyalistischer oder republikanischer Orientierung, den traditionellen Zentren der Paramilitärs. Es wäre sinnlos gewesen, den Versuch zu unternehmen, diese Praktiken zu verstehen, indem man jene Gemeinden betritt, die aufrichtige Abscheu gegenüber dieser Praxis geäußert haben. Zudem sind viele dieser Gemeinden eng verbunden und in Frontstellung gegenüber externen konfessionellen oder militärischen Bedrohungen. Einige der städtischen Viertel der Arbeiterklasse der Hauptstadt Belfast sind noch immer durch sogenannte »Friedensmauern« voneinander getrennt. Sie sind territoriale Räume, die durch visuelle und andere Zeichen ethno-nationalistischer Identität markiert sind. Dies bedeutet, dass Fremde auffällig sind und ihnen mit Argwohn begegnet wird. Der Fremde könnte aufgefordert werden, seine/ihre Anwesenheit zu begründen und den guten Willen unter Beweis zu stellen. Im Rahmen unserer Forschung war es notwendig, in den untersuchten Gemeinden eine Vertrauensbasis und Neutralität zu schaffen.

Der Argwohn, den die Gemeinden – einschließlich der Paramilitärs – gegenüber Außenstehenden haben, wirkt sich auch auf die staatlichen Sicherheitskräfte als Wachsamkeit gegenüber paramilitärischen Forschern aus, d.h. Spione mit keiner sichtbaren Verbindung zu paramilitärischen Organisationen.

Zudem achteten die Forscher darauf, angesichts der tief sitzenden Feindschaft zwischen republikanischen und loyalistischen Paramilitärs nicht einer Seite zugeneigter zu erscheinen. Einige der Befragten hatten sofort den Verdacht, dass es anderweitige Motive für die Forschung gebe. Dieser Verdacht führte im schlechtesten Fall dazu, den Zugang unmöglich zu machen oder wenigstens die Datensammlung erheblich einzuschränken. Zwei Taktiken erwiesen sich als wirkungsvoll im Umgang mit diesem Problem.

Erstens war es zentral, sich die »Anerkennung« von wichtigen Interessengruppen zu sichern. Die Durchführung der Befragung erforderte die stillschweigende Zustimmung seitens der Paramilitärs oder zumindest eine Information darüber, dass Feldforschung dieser Art durchgeführt wurde und welchem Zweck diese diente. Da es in Nordirland weithin akzeptiert ist, dass bestimme politische Parteien eine enge Verbindung zu den Paramilitärs haben (trotz offizieller Dementis oder der Verschleierung des Wesens der Beziehung), informierten wir die relevanten politischen Parteien über unser Interesse und den Bedarf an Kooperation. Es war nicht zu erwarten, dass sie unsere Forschung offiziell ablehnen würden, da sie offiziell die »Bestrafungs« aktionen ablehnten und ihre Reputation im Friedensprozess aufs Spiel gesetzt hätten, wenn der Vorwurf der Nichtzusammenarbeit mit Forschern im Feld erhoben worden wäre. Dennoch war es sicher der Entscheidung der politischen Parteien und ihren zahlreichen Basisaktivisten überlassen, ob sie die Feldforschung durch fehlende Bereitschaft sich zu treffen oder die Beeinflussung des Fortgangs des Forschungsvorhabens konterkarierten. Die Einbeziehung von Vertretern dieser Parteien bei einigen unserer Treffen unterstrich, dass guter Glauben und Vertrauen etabliert werden konnten. Ein Teil unserer Vertrauenswürdigkeit entstand durch die Anerkennung seitens wichtiger ehrenamtlicher Gemeindegruppen und einer Körperschaft (des Büros für Bewährungshilfe), die über Anerkennung in den Gemeinden verfügt.

Die zweite Taktik zur Herstellung einer Vertrauensbasis war die Betonung der Unabhängigkeit der Forschenden. Ein wichtiger Aspekt dabei war die Art der Finanzierung des Projektes. Da die Regierung von einigen der Interviewten als ein zentraler Akteur des Konflikts angesehen wird, wäre jede Finanzierung aus dieser Quelle als Parteinahme für den Feind gewertet und die Motive für das Projekt in Frage gestellt worden. Die Tatsache, dass das Projekt vom Economic and Social Research Council finanziert wurde und an einer Universität angesiedelt war, wies auf eine Unabhängigkeit hin, die anders schwer zu sichern gewesen wäre. Als ich von der RUC zur Teilnahme an informellen Mittagessen eingeladen wurde, lehnte ich deshalb auch ab, weil dies von den Informanten als eine zu enge Beziehung zur Polizei hätte angesehen werden können. Dies hätte zu einer Befangenheit geführt – oder noch schlimmer – zum Risiko, dass man unterstellt hätte, wir würden Geheimdienstinformationen über Paramilitärs beschaffen.

Offenheit und Transparenz

Angesichts des Argwohns und der möglichen Gefahr bedarf es besonderer Sorgfalt bei der Forschung in solchen Gemeinschaften. Um paramilitärisches »Polizeiverhalten« in Nordirland zu verstehen, bedarf es Fragen nach den Motiven, den Methoden, der Unterstützung für die Aktionen der Paramilitärs in den Gemeinden sowie der Erkundung alternativer Wege des Umgangs mit anti-sozialem Verhalten, welchem ebenfalls mit gewissem Argwohn begegnet wird. Burton (1978) berichtet, dass junge Leute, die ihn in der Frühphase seiner ethnographischen Forschung in Belfast besuchten und ihm einfach neugierig auf den englischen »Studenten« zu sein schienen, seine Aktivitäten und Ansichten an die IRA meldeten. Solche Ausforschung ist gerade dann wahrscheinlich, wenn der Forscher der »anderen« Gemeinschaft zugerechnet wird. Befragte Personen können sich an dem Prozess des »Erzählens« über die Identität eines Fremden beteiligen, indem sie dem Äußeren und dem Auftreten, dem Namen, dem Wohngebiet, der besuchten Schule und dem Akzent bzw. der Sprache soziale Bedeutung zuweisen (Burton 1978). Forscher sollten sich dem stellen, indem sie offen sind und ihre Identität und ihre Ziele transparent machen. Außerdem sollten sie die Unparteilichkeit des Projekts gegenüber den jeweils dominanten politischen Erwartungen verdeutlichen. Besondere Fürsorge wurde ergriffen, wenn der Argwohn zugespitzt war, etwa bei Anfragen zur Bandaufzeichnung eines Gesprächs zum Zwecke der Datenanalyse.

Es war ebenfalls unentbehrlich, dass wir die Namen von Informanten nicht mitteilten, besonders in Befragungssituationen – egal wie harmlos ihre Identität zu sein schien. Verschiedene erfahrene Feldforscher wiesen mich darauf hin, dass eine solche Bekanntgabe in manchen Vierteln sofort als Unfähigkeit betrachtet würde, Identitäten (und möglicherweise andere sensible Informationen) für sich zu behalten.

Ein Ansatz, der sich als nützlich für die Herstellung von Transparenz erwies, war ein Faltblatt mit Informationen über Projektdetails (Zielsetzung, Zweck, Methodologie, usw.), welches Teilnehmern an Interviews im Vorwege zugesandt wurde und deutlich machte, dass uns daran gelegen war, paramilitärische Gewalt zu verstehen, wir selbst aber Gewalt ablehnend gegenüberstanden.

Politisch sensitive Sprache

Ein wichtiger Aspekt bei der Forschung war die politische Sensitivität der Sprache durch die Forscher. Sprache in Nordirland wird dazu benutzt, kollektive Solidarität auszudrücken oder vorzuenthalten in einer Weise, die Außenstehenden undurchsichtig sein kann. Die Verwendung von politisch unsensitiver Sprache kann zu einem eingeschränkten Feldzugang führen oder den Eindruck der Voreingenommenheit hervorrufen. Am ehesten treten Probleme bei der Verwendung des Begriffs »Nordirland« auf. Nordirland ist die Bezeichnung für die förmliche politische Einheit, wie sie durch den Government of Ireland Act 1920 geschaffen wurde. Nationalisten verwenden den Begriff »Sechs Grafschaften« oder »der Norden Irlands«, während Unionisten die Bezeichnung »Ulster« oder »Nordirland« bevorzugen.

Der Anwendungsbereich politisch sensitiven Sprachgebrauchs erstreckt sich auch auf die Namen von Orten. Beispielsweise nennen Nationalisten die zweitgrößte Stadt in Nordirland Derry. Unionisten erwähnen es als Londonderry. In Interviews mit Nationalisten und besonders mit Republikanern haben wir darauf geachtet, vom »Norden« statt von »Nordirland« und von »Derry« statt von »Londonderry« zu sprechen.

Jenseits der Verwendung von allgemeinen politischen Labeln hat diese spezielle Forschung ihre eigenen Schwierigkeiten in der Forschungssprache hervorgebracht. Der Begriff »Bestrafung« wurde von einigen Kontaktpersonen als unzulänglich zur Beschreibung des Phänomens eingestuft. Andere waren überzeugt, dass er solche Gewalt als verdiente Aktivität legitimiert. Eine Organisation, die als gatekeeper agierte, aber in manchen republikanischen Gegenden auch geschmäht wurde, verwandte die Bezeichnung »Verstümmelungsangriff«. Die Forscher versuchten Begriffe zu vermeiden, die wertend erschienen (und damit die Arbeit im Feld nachteilig beeinflussen), indem sie von »sogenannter Bestrafung« sprachen.

Ich habe auch vermieden, in Verbindung mit Paramilitärs die Begriffe Terrorismus/Terroristen zu verwenden – im Bewusstsein, dass politische Gewalt in den republikanischen und loyalistischen Gemeinden, in denen ich Interviews durchführte, von den wichtigen Informanten als legitim betrachtet wird. Stattdessen habe ich neutrale Formulierungen wie »politische Gewalt/paramilitärische Aktivität« beziehungsweise »Kämpfer/Paramilitärs« verwendet – Begriffe, die in jener Zeit zunehmend von den Paramilitärs, ihren politischen Gefährten und von jenen benutzt wurden, die an einer vorurteilsfreien Analyse des politischen Konflikts interessiert waren. Zudem versuchte die Forschung zu vermeiden, sich auf die Zielgruppe als »Opfer« zu beziehen. Der Begriff war hochpolitisiert worden, insbesondere seit das Belfast Abkommen 1998 das Bedürfnis anerkannt hatte, die »Opfer« der Unruhen zu ehren.

Zugang zu den Bestraften

Angesichts des politischen Hintergrundes und der begleitenden Risiken, wenn man in Nordirland offen über politische Gewalt spricht, und trotz unserer strategischen Sensitivität war es in der Anfangsphase unserer Forschung aufgrund der Angst weiterer Angriffe, von Scham und zerstörten Lebensmustern extrem schwer, Zugang zu jenen zu bekommen, die von paramilitärischen »Bestrafungen« betroffen waren.

Diese Herausforderung des Interviewens derjenigen, die der »Bestrafung« ausgesetzt waren, ist mit einer Vielzahl weiterer psychologischer Faktoren verbunden. Ein von uns interviewter Berater machte deutlich, dass manche »Bestrafung« an Erfahrungen sexueller Misshandlung im Kindesalter erinnern könne. Die Wiederkehr eines solchen Ereignisses könne extrem belastend sein. Außerdem existiert ein Stigma im Zusammenhang mit der »Bestrafung«, das gegen eine Bekanntmachung spricht. Einer weit verbreiteten Ansicht zufolge hat die bestrafte Person die »Bestrafung« schon irgendwie verdient – auch wenn der Angriff brutal war.

Gesetzliche Probleme

Angesichts der Wahrscheinlichkeit, dass während der Erforschung paramilitärischer Gewalt Straftaten aufgedeckt werden, bestand ein Aspekt bei der Vorbereitung des Interviewgeschehens darin, wie mit dem Bekanntwerden von kriminellen Handlungen oder mit der Absicht solche auszuführen umzugehen sei (Feenan 2002b). Routinemäßige Befragungen von Verdächtigen durch die Polizei kann ergeben, dass die Interviewer Kenntnis von einem Delikt erhalten haben, das hätte mitgeteilt werden müssen. Die Gefahr der Festnahme und einer möglichen Beschlagnahme von Material hätte substanziell abträgliche Auswirkungen auf die Forscher, die gastgebende Institution, die Finanziers des Projekts und die Möglichkeit eines Zugangs zu weiteren Kontakten. Auf der anderen Seite kann die Nichtmitteilung von Informationen über ein aufhaltbares Vergehen zu schweren Delikten führen, die nicht ermittelt werden. So bestand bei der Durchführung der Interviews ein Spannungsverhältnis zwischen der Deklaration, dass ein Interesse an spezifischen Informationen über Delikte aus Respekt gegenüber dem Interviewten und um die eigene juristische Situation abzusichern nicht bestehe einerseits und der Hemmung bzw. Einschüchterung der Interviewten durch ein Verhalten, das als Vorlesen des Aussageverweigerungsrechtes hätte erscheinen können, andererseits.

Aus diesem Grunde verständigte man sich zu Beginn des Interviews darauf, dass ein Interesse an tatsächlichen Namen oder identifizierbaren Details nicht bestünde. Dennoch war es in zwei Fällen notwendig, die Interviewten daran zu erinnern, das solche Informationen nicht erforderlich waren.

Schlussfolgerung

Meine Forschungen zum paramilitärischen »Bestrafen« in Nordirland betonen eine Reihe von methodologischen Problemen, die Implikationen für ähnlich gelagerte Forschung andernorts haben können (vgl. Nordstrom & Robben 1996). Sicherlich haben sich Beschaffenheit und Ausmaß der politischen Gewalt – einschließlich der paramilitärischen Bestrafungen – im Rahmen der jüngsten politischen Entwicklung verändert bzw. vermindert. Dennoch erforderte die Forschung eine methodologische Sensitivität gegenüber den zeitlichen, örtlichen und kulturellen Besonderheiten einer spezifischen Situation, d.h. Nordirland in einer Zeit der unsteten Abkehr von der politischen Gewalt. Eine solche Sensitivität erfordert Aufmerksamkeit gegenüber vorhersagbaren Gefahren und Flexibilität bei der Annäherung an Probleme, die sich im Feld ergeben. Fortschritte in der Forschung hingen von der erfolgreichen Bearbeitung der Aspekte Enthüllung, sprachliche Sensitivität und perzipierte Identifikation mit allen Parteien ab. Die Herstellung eines Vertrauensverhältnisses mit den gatekeepern war Voraussetzung für den Zugang. Die Befragung der von paramilitärischem »Bestrafen« Betroffenen war schwierig, da diese Gruppe unsichtbar ist und verschiedene Befürchtungen hat.

Während das Risiko der physischen Verletzung gering war, konnte eine erfolgreiche Gesprächsführung im politischen Minenfeld durch Transparenz bezüglich der Unparteilichkeit, die finanzielle Unabhängigkeit der Forscher und eine strategische Sensitivität gegenüber den Gemeinschaften und politischen Hintergründen erreicht werden. Die allgemeinen Fragen dieser Forschung mögen nicht einzigartig sein. Sollte diese Forschung wiederholt werden, z.B. in 20 Jahren, würden die veränderten politischen Umstände auch eine veränderte Methode erfordern. Ich hoffe, dass ich zeigen konnte, dass die jeweiligen Methoden unter genauer Berücksichtigung von Zeit, Ort und Kultur des Forschungsfeldes gewählt werden müssen.

Literatur

Burton, F. (1978): The Politics of Legitimacy: Struggles in a Belfast Community. London: Routledge & Kegan Paul.

Feenan, D. (2002a): Researching Paramilitary Violence in Northern Ireland, in: International Journal of Social Research Methodology, 5(2): 147-163.

Feenan, D. (2002b): Legal Issues in Acquiring Information about Illegal Behaviour through Criminological Research, in: British Journal of Criminology, 42(4): 762-81.

Guelke, A. (1998): The Age of Terrorism and the International Political System. London: I.B. Tauris.

Lee, R. (1995): Dangerous Fieldwork. Thousand Oaks, CA: Sage.

Lee, R. (1993): Doing Research on Sensitive Topics. London: Sage.

Nordstrom, C. & Robben, A. C. G. M. (eds) (1996): Fieldwork Under Fire. Berkeley: University of California Press.

Yancey, W. & Rainwater, L. (1970): Problems in the ethnography of urban underclasses, in R. W. Habenstein (ed): Pathways to Data. Chicago: Aldine.

Anmerkungen

1) Dieser Beitrag fasst die Überlegungen des Autors zusammen, die er bei der Konferenz »Methoden der Friedensforschung« an der Universität von Tromsø (21.-23. März 2007) unter dem Titel »Situational Methods: Researching Paramilitary Punishment in Northern Ireland« vorgestellt hat.

Dermot Feenan lehrt an der School of Law der University of Ulster. Übersetzung: Fabian Virchow

Neues von der »Anti-Terror-Front«

Neues von der »Anti-Terror-Front«

von Jürgen Nieth

Der Oberste Gerichtshof der USA hat im Juni 2006 die
Behandlung der Häftlinge in Guantanamo als illegal bezeichnet. Zudem
entschieden die Richter, dass die Regierung mutmaßliche Terroristen gemäß der
Genfer Konvention zu behandeln hätten. Die Antwort der Bush-Regierung: Sie
legalisiert die Folter per Gesetz. Nach dem Repräsentantenhaus hat am
28.September auch der Senat der Schaffung von Militärtribunalen zur Aburteilung
von »Terror-Gefangenen« verabschiedet. Den Gefangen wird zukünftig das Recht
vorenthalten, vor einem Bundesgericht die Legalität ihrer Inhaftierung
anzufechten.

Folter legalisiert

Erstmals wird in diesem Gesetz der „Begriff des
»ungesetzlichen feindlichen Kämpfers« (definiert). Als solcher gilt künftig
jeder, der gewaltsame Akte gegen die USA »gezielt und erheblich unterstützt«…
Gefangene feindliche Kämpfer, die keinen US-Pass besitzen, sollen vor neu
geschaffene Militärtribunale gestellt werden können… Die Regierung behält damit
die Möglichkeit, Häftlinge zunächst weiter auf unbestimmte Zeit ohne Anklage
und Verfahren festzuhalten. Auch die umstrittenen Geheimgefängnisse der CIA
können weitergeführt werden.“
(FR 30.09.06)

Folter light…

Nach Aussage des Senators Mc Cain – der zu den Kritikern des
ursprünglichen Gesetzentwurfs zählte – sind zukünftig einige besonders harte
Foltermethoden nicht mehr erlaubt, wie „extremer Schlafentzug, Unterkühlung
und das berüchtige Waterboarding, bei dem bei Gefangenen das Gefühl des
Ertrinkens erzeugt wird.“
(Neue Zürcher Zeitung, 30.09.06).

…oder große Grauzone

Die FAZ (30.09.2006) zitiert dazu den republikanischen
Mehrheitsführer im Senat, Bill Frist, der die Nennung der Foltertechniken
kritisiert, „weil es den Terroristen helfe, wenn man ihnen sage, »dies sind
die zehn Techniken, die wir anwenden, und diese zehn wenden wir nicht an«.
Die
FAZ zieht die Schlussfolgerung: „Was unter allen Umständen verboten ist und
was der Präsident in Ausnahmefällen zulassen kann, bleibt mithin in einer
Grauzone.“

Ähnlich sieht das auch Martin Lederman, Verfassungsrechtler
an der Georgtown University. Er ist sich sicher, „dass das Gesetz dem
Geheimdienst CIA weiterhin ermöglicht Gefangene zu foltern »Sie haben scheinbar
eine gesetzliche Definition von grausamer Behandlung festgelegt, die aber nicht
für die CIA gilt. Vielmehr verhindert das neue Gesetz die Klärung durch
Gerichte, ob eine Befragungstechnik der Genfer Konvention entspricht oder
nicht«.“
(taz 30.09.06)

Unrecht wird zu Recht

„Der Kongress gab den Segen für ein unerträgliches
Gesetzespaket,“
schreibt Reymer Klüver in der Süddeutschen Zeitung
(30.09.06). Und weiter: „ Zu Beginn des 21. Jahrhunderts lugt die grinsende
Fratze des Mittelalters durch den Türspalt, und das ausgerechnet in Amerika.
Folter, zumindest Folter light, ist im Krieg gegen den Terror nun wieder eine
legitime Verhörmethode. Wenn es ihm beliebt, kann der Präsident kurzen Prozess
mit Gefangen machen. Wenn nicht, ist es ebenso legal, dass er die Delinquenten
in ihren Zellen verrotten lässt.“

Irak fördert Terror

Praktisch parallel zur Verabschiedung der »Folterregeln« hat
das US-Repräsentantenhaus mit großer Mehrheit auch die Mittel für den Irak- und
Afghanistan­krieg um 70 Milliarden Dollar aufgestockt. „Die Kosten für den
Irakkrieg belaufen sich derzeit auf rund acht Milliarden Dollar pro Monat.“

(TAZ 28.09.06).

Da ist es natürlich peinlich für Bush, dass ausgerechnet zum
selben Zeitpunkt eine geheime Lagebewertung aller 16 US-Geheimdienste bekannt
wird, nach der der Irakkrieg „zum Erstarken einer globalen terroristischen
Dschihad-Bewegung“
beigetragen hat. (FR 28.09.06) Zu den Terror fördernden
Faktoren rechnet die Analyse (nach FR) „neben hausgemachten Problemen in der
islamischen Welt Korruption, Ungerechtigkeit, Reform­stau einen tief sitzenden
Antiamerikanismus sowie den Irakkonflikt. Der sei zu einer »berühmten Sache« für
Heilige Krieger geworden, vertiefe die Abneigung zu den USA und treibe der
globalen Dschihad-Bewegung neue Unterstützer zu.“

»Deutsche Kraft«

Das die deutschen Geheimdienste in den so genannten
Anti-Terrorkampf der USA aktiv einbezogen werden, ist seit dem Irakkrieg
bekannt. Das es immer noch etwas mehr ist, als die Regierung zu gibt, zeigt der
Fall Murnat Kurnaz. Die Bundesregierung hat eingeräumt, dass er 2002 von zwei
BND und einem Verfassungsschutz-Mitarbeiter in Guantanomo verhört wurde. Im
Stern-Interview (5.10.06) wird jetzt deutlich, dass die amerikanischen Folterer
über viele Detailkenntnisse zur Person Kurnaz verfügten, die sie von deutschen
Stellen bekommen haben mussten.

Hinzu kommt, dass Kurnaz nach seinen Aussagen nicht nur 2002
sondern auch 2004 durch Deutsche verhört wurde und das deutsche Geheimdienste
ihn für den Fall seiner Entlastung anwerben wollten.

Kurnaz gibt auch an, in Afghanistan von deutschen Soldaten
misshandelt worden zu sein. Soldaten, die sich mit den Worten vorstellten: „Wir
sind die deutsche Kraft.“

Es ist noch nur eine Behauptung – kein Beweis. Zu befürchten
ist aber, dass es mit der Bundeswehr genauso ist, wie mit den Geheimdiensten:
Sie ist immer etwas mehr verwickelt, als offiziell zugegeben.

Bundeswehr in Afghanistans Süden

Das wird auch an einem anderen Beispiel deutlich. Während
der Bundestag das Nord-Afghanistanmandat für die Bundeswehr um ein Jahr
verlängert und das für die 36 Militärbeobachter im Süden nur für zwei Wochen,
wird bekannt, dass tatsächlich bereits seit langem die Bundeswehr „insgeheim
auch im umkämpften Süden engagiert“
ist. (Spiegel Nr. 40/2006) „Deutsche
Hubschrauber und Transall-Transporter (flogen) bereits zahlreiche
Unterstützungsmissionen für die Alliierten… Dabei wurden Nachschub und Truppen
transportiert sowie Verwundete ausgeflogen. Allein die Transall-Maschinen
haben… in diesem Jahr bereits an die 60 Flüge absolviert.“

„Die Regierung hat uns glatt angelogen“, kommentierte
der außenpolitische Sprecher der Linksfraktion, Norman Paech, diese Tatsache in
der TAZ (2.10.06)

Folterknechte

Folterknechte

von Jürgen Nieth

Nachdem von den Kriegsbegründungen der USA gegen den Irak
nichts mehr übriggeblieben war, spielte die Beseitigung des Diktators und
Folterknechts Saddam in der US-Propaganda eine Hauptrolle. Doch dann die Bilder
aus Abu Ghraib: Folternde US-Soldaten und -Söldner. Einzeltäter oder System?

Versprechen und Wirklichkeit

„Die Vereinigten Staaten fühlen sich dem Ziel
verpflichtet, die Folter weltweit abzuschaffen, und wir gehen in diesem Kampf
mit gutem Beispiel voran. Ich rufe alle Regierungen auf, gemeinsam mit den
Vereinigten Staaten und allen dem Recht verpflichteten Staaten sämtliche
Folterhandlungen zu verbieten, zu ermitteln und zu verfolgen und alles zu tun,
um andere grausame und anormale Bestrafungsmethoden zu unterbinden.“
(George W. Bush, The Washington
Post, 27. Juni 2003)

Zu diesem Zeitpunkt wurden über 600 Häftlinge in Guantánamo
unter menschenunwürdigen Bedingungen von den USA gefangen gehalten.

Die Glacéhandschuhe abgelegt

In Guantánamo wurden die Techniken getestet, die im
besetzten Irak angewandt wurden, schreibt Le Monde diplomatic (11.06.04). Die
Zeitschrift zitiert u. a. einen Wachoffizier aus Guantánamo mit den
Worten:“Wenn du nicht ab und zu die Menschenrechte verletzt, machst du deinen
Job nicht richtig,“ und den Leiter des CIA-Zentrums für Terrorbekämpfung, Cofer
Black: „Es gibt ein Vor und ein Nach-dem-11.-September. Nach dem 11.
September haben wir (bei der Behandlung der Gefangenen) die Glacéhandschuhe
abgelegt.“

Chronologie des Folterskandals in Abu Ghraib

Die Folterungen in Abu Ghraib waren den Regierenden längst
bekannt und sie waren kein »Zufall«. Das unterstreicht die in der Frankfurter
Rundschau (12.05.04) veröffentlichte Chronologie:

„04.Aug. 2003: Die ersten Iraker kommen in das renovierte
Gefängnis Abu Ghraib, das zuvor Saddam Hussein als Folterzentrum diente …
31. Aug.: Generalmajor Geoffrey D. Miller, Leiter des Gefängnisses Guantánamo,
kommt nach Irak, um zu prüfen, auf welchem Wege schneller verwertbare Resultate
bei Verhören erlangt werden können. Miller fordert ein spezielles Training für
eine »Bewachungstruppe«, die die »Bedingungen für erfolgreiche Befragungen der
Häftlinge/Internierten« schaffen soll …
Zwischen September und Oktober, sagen der Folter beschuldigte
Militärpolizisten, hätten sie mündliche Anweisungen vom Militärischen
Geheimdienst erhalten, Gefangene so »vorzubereiten«, dass sie in den folgenden
Verhören reden.
17. Okt.: Das erste der bisher bekannten Folterbilder wird gemacht …
19. Nov.: Der Militärische Geheimdienst übernimmt die Leitung des Gefängnisses.
13. Jan. 2004: Ein Militärpolizist berichtet dem kriminalpolizeilichen Dienst
der Armee anonym von den Misshandlungen. Dieser beginnt am nächsten Tag seine
Ermittlungen. Am selben Tag soll Verteidigungsminister Donald Rumsfeld nach
Medienberichten erstmals informiert worden sein, der Ende des Monats oder
Anfang Februar auch den Präsidenten unterrichtet.
16. Jan.: Das US-Zentralkommando kündigt die Untersuchung der Vorwürfe an …
3. März: (Generalmajor) Taguba übergibt seinen geheimen Bericht über Fälle von
Folter und ungesetzliche Verhörmethoden …
28. April: CBS sendet erstmals Bilder von den Misshandlungen. Der Beitrag war
auf Bitten der US-Militärs zwei Wochen verschoben worden …
30.: Die Streitkräfte teilen mit, dass Guantánamo-Kommandant Miller die
Gefängnisse im Irak leitet.“

Nach Veröffentlichung der
Folter-Fotos wurde versucht die Schuld Einzelnen zuzuweisen. Eine These, die
von Anfang an wenig glaubwürdig war. Jetzt belegen Dokumente, dass Folter angeordnet wurde.

US-Oberbefehlshaber billigte »extreme« Verhöre

Die US-Zeitung Washington Post berichtete am 13. Juni, der
Oberbefehlshaber der US-Besatzungstruppen im Irak, Ricardo Sanchez, habe
persönlich Verhörmethoden gebilligt, wie die Bedrohung der Häftlinge mit
Hunden, Schlafentzug und Langzeitisolation. Die Zeitung beruft sich auf ihr
vorliegende Dokumente. Danach habe Sanchez im September 2003 insgesamt 32
Methoden ausgewählt, die zuvor in Guantánamo angewendet worden seien. Einige
davon seien im Oktober – nachdem sie von Offizieren im US-Zentralkommando
abgelehnt worden seien – gestrichen worden. Erlaubt blieben der Zeitung
zufolge, Isolationshaft bis zu 30 Tagen, nur Wasser und Brot zur Ernährung,
Hunde zur Einschüchterung, Gefangene extremen Temperaturen auszusetzen,
Gefangene bis zu 45 Minuten in äußerst unbequeme Positionen zu zwingen. Sanchez
habe diese Methoden erst untersagt, als die Folterbilder um die Welt gingen
(zitiert nach Frankfurter Rundschau 14.06.04).

Folter-Aufarbeitung

Die schlichteste Idee präsentierte der US-Präsident selbst,
als der Skandal nicht mehr zu vertuschen war. Nach dem Moto, wenn es den Tatort
nicht mehr gibt, erinnert auch nichts mehr an die Taten, wollte er das
Gefängnis Abu Ghraib abreißen lassen. Doch das geht selbst dem mit den
Folterprozessen befassten US-Militärrichter, Oberst James Pohl, zu weit. Er „erklärte
die Haftanstalt Abu Ghraib zu einem Tatort und untersagte damit den Abriss.“

(FR 22.06.04)

Etwas geschickter ist da schon der Versuch, die Rechtslage
zu beugen. Die FAZ (09.06.04) schreibt dazu: „In einem internen
Rechtsgutachten für das Weiße Haus und das Pentagon vom März 2003 wird die
Ansicht vertreten, Präsident George W. Bush werde im Krieg gegen den
Terrorismus weder durch internationale Verträge noch durch amerikanische
Gesetze davon abgehalten, bei Verhören von mutmaßlichen Terroristen die
Anwendung von Folter zu erlauben … Die Verfassungsrechte des Präsidenten im
Krieg gegen den Terrorismus seien im Vergleich zum Folterverbot das höhere
Rechtsgut.“

Folgt nach der Blockade zahlreicher internationaler
Verträge, der Nichtakzeptanz des Internationalen Strafgerichtshofs usw. jetzt
die offene Missachtung der Menschenrechte?

Folterverbot ist zwingend

Die Antifolter-Konvention der UN von 1984 ist eindeutig: „Außergewöhnliche
Umstände gleich welcher Art, sei es Krieg … oder ein sonstiger öffentlicher
Notstand dürfen nicht als Rechtfertigung für Folter geltend gemacht werden.“

Das absolute Folterverbot

Das absolute Folterverbot

Grundlage für Sicherheit und Freiheit

von Susanne Baumann

„Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen werden“, lautet Artikel 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Und es gibt eine Reihe weiterer internationaler Übereinkommen, die vor Folter und Misshandlung schützen1. Das Folterverbot gilt dabei als eines der wenigen Rechte absolut und ohne Vorbehalt. Selbst in Kriegs- und Krisensituationen gibt es davon keine Ausnahme. Wie aber ist es tatsächlich um Folter und Misshandlung in der Welt bestellt? Zeigt die Vielzahl der rechtlichen Schutzinstrumente Wirkung? Haben sich die Fälle, in denen Menschen Opfer von Folter werden, verringert? Die Antwort fällt bedauerlicherweise negativ aus.

Geht man den aktuellen Jahresbericht von amnesty international von 2006 durch, stellt man fest, dass nach wie vor mindestens in 104 Staaten gefoltert oder misshandelt wird – auch in Staaten, die sich als Garanten der Menschenrechte verstehen.

Insbesondere der Kampf gegen den Terrorismus hat dazu geführt, dass die rechtlichen Standards, die dem Schutz vor Folter und Misshandlung dienen, aufgeweicht werden. Viele Länder haben in oft übereilten Verfahren Gesetze erlassen, die die Rechte der Menschen auf Versammlungsfreiheit, auf Meinungsfreiheit, auf faire Gerichtsverfahren und den Schutz vor willkürlichen Verhaftungen massiv einschränken. Fast jede Regierung hat ihre Machtbefugnisse ausgebaut, um unterhalb internationaler Standards zu ermitteln, Menschen zu verhaften und festzusetzen. Derartige Maßnahmen leisten Folter und Misshandlungen Vorschub. Einige Regierungen nutzen den so genannten Krieg gegen den Terror, um Menschenrechtsverletzungen zu rechtfertigen, die sie schon seit vielen Jahren begehen. Zudem ist die öffentliche Kritik an Menschenrechtsverletzungen, die durch andere Staaten begangen werden, seltener geworden.

In besonders drastischer Weise verletzt und schwächt die US-Regierung das Verbot von Folter und erniedrigender Behandlung im Namen der Sicherheit.

Bei der Verfolgung der Täter der schrecklichen Anschläge vom 11. September 2001 in New York und Washington verweigerte die US-Regierung Anfang 2002 den „Individuen der al-Qaida und der Taliban“ den Status als Kriegsgefangene und versagte ihnen damit elementare Schutzrechte. Noch im selben Jahr erarbeitete die US-Regierung eine neue Definition des Begriffs der Folter: Folter im strafrechtlichen Sinn sei nur bei einer Schmerzintensität gegeben, wie sie bei „Organversagen und Einschränkung körperlicher Funktionen bis hin zum Tod“ auftrete. In einem Memorandum von Anfang 2005 wird diese sehr weite Definition etwas eingeschränkt und auch das Zufügen von „schwerem körperlichen Leiden“ gilt als Folter, wenn dies von entsprechender Intensität und Dauer ist. Wegen Folter könne aber nur schuldig gesprochen werden, wer vorsätzlich starke Schmerzen verursacht habe. Nach beiden Definitionen sind Verhörmethoden erlaubt, die nach international vereinbarten Kriterien klar als Folter gelten.

Eine vom US-Verteidigungsminister eingesetzte Arbeitsgruppe stellte einen umfassenden Katalog von »widerstandsbrechenden« Verhörmethoden zusammen. Zum Teil verbergen sich hinter diesen »innovativen« Verhörmethoden alt bekannte Foltermaßnahmen: So steht die „Manipulation des Befragungsumfeldes“ für nichts anderes als einen Gefangenen extremer Hitze oder Kälte, permanentem gleißenden Licht oder Dunkelheit oder extremem Lärm auszusetzen und die „Anpassung der Schlafgewohnheiten“ ist eine beschönigende Bezeichnung für wiederholtes Wecken eines Gefangenen. Gezielt wurden solche Foltermethoden weiterentwickelt, die keine sichtbaren Spuren hinterlassen. Ein Beispiel ist hier die »Individualisierung« der Folter. Die US-Behörden auf Guantánamo suchten gezielt nach Methoden, die besonders grausam auf die muslimischen Gefangenen wirken. Die aus Abu Ghraib bekannten Bilder zeigen, was sie dabei herausfanden: sexuelle Demütigungen und der Einsatz von Hunden verletzen Muslime in besonders schlimmer Weise.

Neben den für ihre massiven Menschenrechtsverletzungen bekannten und öffentlich kritisierten Haftlagern Guantánamo Bay auf Kuba, Bagram/Afghanistan und Abu Ghraib/Irak unterhielt der US-Geheimdienst CIA eine Reihe von geheimen Haftzentren, die sogenannten »black sites«. Berichten zufolge existierten bzw. existieren solche Gefangenenlager in Afghanistan, Irak, Jordanien, Pakistan, Thailand, Usbekistan und an weiteren nicht bekannten Orten, auch in Europa. Erschreckend ist auch das von der CIA entwickelte, aufwändige System, um »Terrorismusverdächtige« an diese unbekannten Haftorte zu entführen. Diese Verschleppungen wurden teilweise über Strohfirmen und private Unternehmen abgewickelt. Das Verschleppen und Inhaftieren von Personen an geheimen Orten erfüllt den Tatbestand des Verschwindenlassens und öffnet Folter und Misshandlung Tür und Tor, da eine unabhängige Kontrolle nicht möglich ist.

Zwar gab es einige hoffnungsvolle Entwicklungen, diese wurden jedoch immer wieder gedämpft: So hat die US-Regierung unter erheblichem Druck im Dezember 2005 verkündet, dass die UN-Antifolterkonvention „auch für US-Personal, wo immer es sich aufhält, in den USA oder im Ausland“ gelte. Diese Regelung, das sogenannte McCain Amendment, versah Bush allerdings mit einem »signing statement«. Dessen Interpretation legt nahe, dass Bush sich trotz dieser eindeutigen Regelung die Möglichkeit offen halten wollte, als Oberbefehlshaber ggf. Misshandlungstechniken anordnen zu können.

Am 17. Oktober 2006 setzte Präsident Bush mit seiner Unterschrift den »Military Commissions Act« in Kraft. Das Gesetz bildet die Grundlage für die Errichtung von Militärkommissionen. Dies sind Strafgerichte des US-Militärs zur Aburteilung von »illegalen feindlichen Kombattanten«, die sich in US-Gewahrsam befinden und nicht US-Bürger sind. Es nimmt diesen das Recht, ihre Haft von US-Gerichten überprüfen zu lassen. Darüber hinaus verhindert es, dass die Verantwortlichen für Misshandlungen an den Gefangenen wirksam verfolgt werden können und bildet damit die Grundlage für weitgehende Straflosigkeit.

Aber nicht nur in den USA wird das Folterverbot in Frage gestellt. Auch in Europa ist die Erosion dieses grundlegenden Verbots zu beobachten.

Insbesondere Großbritannien trägt durch seine Anti-Terror-Maßnahmen in erheblicher Weise zur Schwächung des Folterverbotes bei. So intervenierte die britische Regierung im Oktober 2005 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Fall »Ramzy gegen die Niederlande«. Während die niederländische Regierung die Auffassung vertritt, Ramzy könne nach Algerien abgeschoben werden, weil ihm dort nach ihrer Einschätzung tatsächlich keine Folter droht, möchte Großbritannien erreichen, dass der EGMR sich zu einer Rechtsprechung durchringt, die eine Abwägung zwischen Folterverbot und staatlichen Sicherheitsinteressen vornimmt. Auch auf nationaler Ebene hatte die britische Regierung den Rechtsweg beschritten, um die Zulässigkeit von »Foltergeständnissen« in Gerichtsverfahren durchzusetzen. Erst die obersten Richter (Law Lords) Großbritanniens entschieden im Dezember 2005, dass »Foltergeständnisse« in Gerichtsverfahren nicht zulässig sind und geboten so dem offenen Völkerrechtsbruch Einhalt.

Eine Reihe von europäischen Staaten verstößt gegen das non-refoulment-Gebot, das besagt, dass Flüchtlinge nicht in Staaten abgeschoben werden dürfen, in denen ihnen Folter droht. Die Staaten versuchen dies zu umgehen, indem sie so genannte diplomatischen Zusicherungen mit den Aufnahmestaaten abschließen. In diesen Vereinbarungen verpflichten sich die Zielstaaten, in Einzelfällen, in denen eine Abschiebung erfolgt, keine Folter und Misshandlungen an der Person vorzunehmen. Geschlossen wurden solche Vereinbarungen etwa von Großbritannien mit Jordanien, Libyen und Libanon; alles Staaten, in denen Folter und Misshandlung an der Tagesordnung sind. Allein die mündliche oder schriftliche Versicherung eines Staates kann jedoch Folter und Misshandlung nicht wirksam vorbeugen. Dies zeigt auch der Fall eines Ägypters, der Ende 2001 aufgrund einer Zusicherung von Schweden nach Ägypten abgeschoben und dort misshandelt wurde.

Auch in Deutschland ist das absolute Folterverbot nicht mehr über jeden Zweifel erhaben. Zwar bekennen sich Regierung und Parlament öffentlich dazu, und Deutschland engagiert sich international stets vorbildlich gegen Folter und Misshandlung. Doch gibt es Situationen und Konstellationen, in denen auch deutsche Regierungsmitglieder, Parlamentarier und Bürger die Anwendung von Folter in Ausnahmesituationen in Erwägung ziehen.

Anlass für die öffentliche Debatte in Deutschland war das Vorgehen des ehemaligen Polizeivizepräsidenten von Frankfurt/M., Wolfgang Daschner. Dieser ließ einem Kindesentführer Folter androhen, um das Leben des Kindes zu retten. Der Fall kam vor das Frankfurter Landgericht. In seinem Urteil vom Dezember 2004 stellte das Gericht unmissverständlich fest, dass es für den Staat keine Rechtfertigung geben kann, Menschen in seinem Gewahrsam zu foltern oder zu misshandeln.

Die Diskussion, ob Ausnahmen vom Folterverbot zulässig sein müssen, fand damit aber kein Ende. Insbesondere vor dem Hintergrund der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus mehren sich vor allem in der juristischen Fachliteratur, aber auch in der Politik die relativierenden Stimmen. Im extremen Einzelfall soll es möglich sein, Folter und Misshandlung anzuwenden, um Leben zu retten. Und von hochrangiger politischer Ebene wird wiederholt darauf hingewiesen, dass Informationen, die möglicherweise oder erwiesenermaßen unter Folter zustande gekommen sind, verwendbar sein sollen – zwar nicht im Strafverfahren, wohl aber als Grundlage weiterer Ermittlungen oder im Rahmen der Gefahrenabwehr.

Nicht mit dem Folterverbot vereinbar sind auch Vernehmungen von Personen, die im Ausland Folter und Misshandlung ausgesetzt sind und in dieser Situation von deutschen Beamten zwar nicht selbst gefoltert werden, aber unter dem Eindruck der Folterumstände von diesen vernommen werden. Bekannt sind hier die derzeit im Untersuchungsausschuss des Bundestages behandelten Fälle des Deutsch-Syrers Mohammed Haydar Zammar, der von deutschen Beamten in dem bekannten Foltergefängnis Far Falastin in Syrien vernommen wurde, sowie von Murat Kurnaz, den Beamte des Bundesnachrichtendienstes im September 2002 in Guantánamo vernahmen, obwohl die deutschen Behörden davon ausgingen, dass die Inhaftierung von Gefangenen auf Guantánamo völkerrechtswidrig ist. Die deutschen Beamten haben in den genannten Fällen zwar selbst keine Gefangenen gefoltert, aber von der Folter durch ausländische Behörden möglicherweise profitiert und so Menschenrechte verletzt. Zudem obliegt dem Staat eine Schutzpflicht für Personen, die in anderen Staaten der Folter ausgesetzt werden könnten.

Dieser Überblick zeigt: Der im Völkerrecht verbriefte Schutz vor Folter und Misshandlung allein reicht nicht aus. Entscheidend ist vielmehr der politische Wille der internationalen Gemeinschaft. Diese muss ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen ernst nehmen und sich in ihrem Handeln zu diesen Werten bekennen. Menschenrechtsstandards stellen das absolut notwendige Minimum dar, um die Sicherheit und die Integrität von Individuen vor Machtmissbrauch zu schützen. Dies gilt in besonderer Weise für das absolute Folterverbot, das die Menschenwürde und damit den Kern des Menschen schützt. Vieler schrecklicher Ereignisse und schmerzlicher Erfahrungen hat es bedurft, bis sich die Erkenntnis, dass Folter und Misshandlung dem Menschsein widersprechen, durchgesetzt und ihren Niederschlag im Völkerrecht gefunden hat. Diese historische Lehre gilt es zu bewahren. Die Verstöße gegen das Folterverbot und dessen Aufweichung im Kampf gegen den Terrorismus haben zu nichts geführt außer zu mehr Hass und Gewalt. Dies zeigt einmal mehr, nur eine Politik auf der Grundlage der Menschenrechte und der völkerrechtlichen Grundsätze kann gewährleisten, dass Menschen in Freiheit und Sicherheit zusammenleben. Wahre Sicherheit entsteht erst, wenn Menschenrechte respektiert und geachtet werden. Dies gilt auch und gerade für den Kampf gegen den Terrorismus.

Anmerkungen

1) U.a.: Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte; Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten; Amerikanische Menschenrechtskonvention; Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker; UN-Erklärung über den Schutz aller Personen vor Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe; UN-Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe und Zusatzprotokoll; Inter-Amerikanische Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Folter; Grundsatzkatalog für den Schutz aller irgendeiner Form von Haft oder Strafgefangenschaft unterworfenen Personen; UN-Mindestgrundsätze für die Behandlung von Gefangenen.

Susanne Baumann ist Fachreferentin für Internationales im Generalsekretariat von amnesty international in Berlin.

Kriegsvergewaltigung

Kriegsvergewaltigung

Eine Typologie

von Elvan Isikozlu

Kriegsvergewaltigung, so wird angenommen, ist so alt wie der Krieg selbst. Die systematischen1 und weit verbreiteten2 Vergewaltigungen in den Kriegen in Bosnien und Herzegowina (BiH) sowie in Ruanda haben dazu geführt, dass sie als »Kriegswaffe« eingestuft und aus diesem Grund international geächtet werden. Die UN-Resolution 1820 vom Juni 2008 fordert einen sofortigen Stopp jeglicher sexueller Gewalt als Methode der Kriegsführung. Das BICC (Internationales Konversionszentrum Bonn) hat dieses Thema wissenschaftlich aufgegriffen. Die Forschung im Bereich »Kriegsvergewaltigung durch bewaffnete Gruppen« hat gezeigt, dass es viele Arten, Gründe und Täter gibt. Verschiedene Kriegsparteien verfolgen damit unterschiedliche Ziele. Die verheerenden Konsequenzen von Kriegsvergewaltigung – sei es für die Überlebenden oder die betroffene Gesellschaft – werden eben davon beeinflusst. Das BICC hat die vielfältigen Ausprägungen dieser Gewalt im Krieg untersucht und will damit dazu beitragen, ihren negativen Folgen effektiv begegnen oder Vergewaltigung im Krieg sogar völlig verhindern zu können. Dieses Dossier fasst den Forschungsstand einer diesem Thema gewidmeten BICC-Typologie3 zusammen. Sie berücksichtigt viele verschiedene Aspekte, die die Ausübung sexueller Gewalt in Kriegen prägen.

Die Forschung des BICC gründet auf der Hypothese, dass die Folgen von Kriegsvergewaltigung stark variieren können und vom jeweiligen Vergewaltigungstyp4 abhängen. Nach Ende eines Konflikts gilt es um so mehr, adäquate Hilfs-, Rehabilitations- und Vorsorgemaßnahmen zu finden.

Die vorläufigen Forschungsergebnisse5 zeigen, dass ein Zusammenhang zwischen den Typen und den Folgen von Kriegsvergewaltigung besteht und dass je nach Vergewaltigungstyp manche Folgen wahrscheinlicher sind als andere. Mit ihrer Hilfe soll es sowohl Mittelgebern als auch Praktikern erleichtert werden, die notwendigen Informationen zu erhalten, um sachkundig und gezielt Interventionen zu entwickeln. Sie können aber auch dazu dienen, Hilfeleistungen daraufhin zu untersuchen, ob sie tatsächlich den Bedürfnissen von Individuen, Familien und Gemeinschaften, die unter dieser Form von Gewalt zu leiden haben, gerecht werden.

Hervorzuheben ist, dass diese veröffentlichten Forschungsergebnisse nur Vergewaltigungstypen betreffen, die von einer bewaffneten Gruppe an der Zivilbevölkerung begangen wurden. Ausdrücklich ausgenommen sind andere Arten der Vergewaltigung, bei denen die vergewaltigte Person kein Zivilist oder bei denen der Vergewaltiger nicht Teil einer bewaffneten Gruppe ist.6

Was ist Kriegsvergewaltigung?

Die BICC-Forschung definiert Vergewaltigung als einen Akt, der

ein Eindringen in den Mund, die Scheide oder den Anus durch ein Objekt oder einen Körperteil beinhaltet,

erzwungen oder uneinvernehmlich geschieht.7

Kriegsvergewaltigung beinhaltet zwei Komponenten:

die physische Vergewaltigung an sich (d.h. erzwungenes Eindringen) wie oben definiert, die von einem Mitglied einer bewaffneten Gruppe während eines Krieges begangen wird,

unzählige Kriegsdynamiken, in denen die Vergewaltigung geschieht und die sie beeinflussen.

Mit anderen Worten, Kriegsvergewaltigung ist mehr als der Akt des erzwungenen Eindringens. Es hängt maßgeblich von den verschiedenen Kriegsdynamiken ab, wer wen vergewaltigt, aus welchem Grund, auf welche Art, wo und wann. Diese Umstände bestimmen nicht nur den Kontext der Vergewaltigung, sondern wahrscheinlich auch ihre Folgen. Kriegsvergewaltigung nur als erzwungenen, uneinvernehmlichen sexuellen Akt zu verstehen, würde diese Unterscheidungen übersehen und zu dem Schluss führen, dass alle Vergewaltigungen im Krieg gleich sind. Ein solch eingeschränktes Verständnis scheint in der Literatur bisher vorzuherrschen. Auf diese Diskrepanz will die BICC-Forschung eingehen.

Gründe für eine Typologie von Kriegsvergewaltigung

Die Idee zur Entwicklung einer Typologie von Kriegsvergewaltigung entstand, als frühere Forschungen des BICC ergaben, dass bei Kriegsvergewaltigungen weder die individuelle Erfahrung noch ihre Gründe oder Folgen Verallgemeinerungen zulassen. Ganz im Gegenteil: Es gibt eine große Vielfalt an Umständen und Gründen für Vergewaltigung im Krieg und für die Folgen. Dennoch konnten Muster oder Trends identifiziert werden, die länderübergreifend gültig waren. Dies veranlasste die Autorinnen, dieses Phänomen systematischer zu analysieren. Auf Grundlage dieser Untersuchung entwickelten sie eine Typologie, die auf der Verschiedenheit (insbesondere auf Arten) des Verbrechens beruht und gleichzeitig sichtbare Muster, wie diese Verbrechen weltweit begangen wurden (d.h. Schlüsselcharakteristika), berücksichtigt.

Hat man die verschiedenen Typen von Kriegsvergewaltigung verstanden, kann auch ein besseres Verständnis ihrer Varianten, Folgen und Gründe entwickelt werden. Dies wiederum ermöglicht es, den Herausforderungen, die oft in der Zeit nach Ende des Krieges durch diese Art von Gewalt entstehen, zu begegnen und Möglichkeiten zu finden, wie dieses Verbrechen verhindert werden kann.8 Die während der Forschung untersuchte Literatur9 argumentiert folgendermaßen:

Kriegsvergewaltigungen werden aus vielen Gründen und zu vielen Zwecken begangen.

Es gibt mannigfaltige Varianten der Kriegsvergewaltigung, die u.a. von der Art der bewaffneten Gruppe, den Dynamiken innerhalb dieser Gruppe, dem einzelnen Täter und/oder der Art des Konflikts abhängen.

Individuen, die im Krieg vergewaltigt wurden, reagieren auf dieses Verbrechen sehr unterschiedlich und verarbeiten es verschieden. Abgesehen von idiosynkratischen und soziokulturellen Faktoren, so wird argumentiert, spielen möglicherweise auch eine Rolle, wie die Vergewaltigung begangen wird.

Es muss betont werden, dass die Autorinnen nicht beabsichtigen, bei der Entwicklung einer Typisierung von Kriegsvergewaltigung dieses Phänomen zu vereinfachen. Vielmehr ging es darum, die Komplexität dieses Verbrechens in leichter fassbaren Einzelaspekten darzustellen. Diese Typologisierung ermöglicht ein besseres Verständnis der Ereignisse. Kurz: Die eindimensionale Perspektive wird verlassen. Sie wirft auch neue Fragestellungen auf und verweist auf fehlende Informationen und Wissenslücken zur Untersuchung dieser Art von Kriegsgewalt. Letztliches Ziel einer solchen Typisierung ist es, ein größeres Verständnis für das Phänomen »Kriegsvergewaltigung« zu entwickeln, das dazu beitragen kann, vor Ort kohärentere Maßnahmen zu ergreifen. So kann sie ein erster Schritt zur Entwicklung eines gezielten Programms werden, das Maßnahmen für Einzelne, die im Krieg vergewaltigt wurden, ihre Familien und ihre Gemeinschaften umfasst.

Die Grundlage der Typologie

Die Typologie von Kriegsvergewaltigung beruht auf der oben beschriebenen Definition und entstand durch die Notwendigkeit, die sozioökonomischen Folgen der Kriegsvergewaltigung auf der Ebene des Individuums, seiner Familie und der Gemeinschaft zu identifizieren. Der Schwerpunkt liegt dabei überwiegend auf sozioökonomischen Folgen, da diese bis dato nur selten in Forschung und Literatur Eingang gefunden haben. Sie sind allerdings oft stark mit physischen und psychischen Folgen der Vergewaltigung im Krieg verknüpft. So kann z.B. eine Schwangerschaft oder HIV-Infektion eine physische Konsequenz sein, die jedoch nicht nur viele psychologische, sondern auch soziale und wirtschaftliche Auswirkungen auf die Betroffenen hat. Bei der Wahl des sozioökonomischen Fokus waren sich die Autorinnen durchaus bewusst, dass diese Verknüpfungen existieren. Dass alle Folgen von Kriegsvergewaltigung identifiziert und berücksichtigt werden müssen, um einen Genesungsprozess in Gang zu setzen, ist unbestritten, hätte aber den Rahmen dieses Forschungsprojektes gesprengt. Gleichwohl wäre es in Zukunft sicherlich hilfreich und sinnvoll, zu untersuchen, ob verschiedene physische und psychologische Folgen mit den in der Typologie identifizierten Arten von Kriegsvergewaltigung in Verbindung gebracht werden können.

Die Vergewaltigungstypen, die die BICC-Forschung identifiziert hat, beanspruchen keine Vollständigkeit, sondern basieren zunächst auf zwei Länderstudien zu Bosnien und Herzegowina sowie El Salvador, die in einer ersten Phase (November 2008 bis Mai 2009) sowohl durch Feldforschung wie auch Sekundärquellenanalyse (desk study) durchgeführt wurden. In der zweiten Forschungsphase (September 2009 bis Mai 2010) wurden sie durch eine Literaturauswertung über Kriegsvergewaltigung in zehn zusätzlichen Ländern (Demokratische Republik Kongo, Liberia, Ruanda, Sierra Leone, Kambodscha, Nepal, Kolumbien, Peru, Papua Neuguinea/Bougainville, Timor Leste) ergänzt.

Zunächst wurden die Kriegsdynamiken, die Täter und Folgen von Vergewaltigungen im Krieg beeinflussen, identifiziert und in Kategorien eingeteilt (siehe Tab. 1).

Tab. 1: Kriegsdynamiken, die Täter und Folgen von Vergewaltigungen im Krieg beeinflussen

Art des Konflikts Konflikte in Bosnien und Herzegowina und in El Salvador wurden intern ausgetragen. Somit entsprechen alle hier beschriebenen Arten internen Konfliktdynamiken. 10 (Kriegsvergewaltigung fand und findet auch in internationalen Konflikten statt. In welchem Ausmaß die Art des Konflikts die Folgen der Vergewaltigung bestimmt, ist ohne weiterführende Analyse nicht zu ermessen.)
Merkmale bewaffneter Gruppen, die Vergewaltigungen begehen Mit Hilfe dieser Kategorie sollen die Merkmale bewaffneter Gruppen identifiziert werden, die einen Vergewaltigungstyp wahrscheinlicher bzw. unwahrscheinlicher erscheinen lassen.Die Autorinnen untersuchten u.a. die Struktur der bewaffneten Gruppe (gibt es einen klare Hierarchie, Berichterstattungsstruktur und eine funktionierende Befehlskette?), die Gruppendynamik (sind die Soldaten diszipliniert?), Alkohol bzw. Drogenmissbrauch innerhalb der Gruppe und Vergewaltigungsdynamiken innerhalb der Gruppe (gibt es feste Regeln innerhalb der Gruppe, die Vergewaltigung betreffen, und wenn dies so ist, werden sie auch durchgesetzt?).
Motive für Kriegsvergewaltigung Was sind die Gründe dafür, dass sowohl auf individueller als auch auf Gruppenebene vergewaltigt wird? Vergewaltigen Einzelne durch Gruppenzwang, als Zeichen der Solidarität mit der Gruppe, aus persönlichen Gründen, so z.B. sexuellem oder Verlangen nach Machtausübung, oder weil ihnen dies befohlen wurde? Auf der Ebene der bewaffneten Gruppe werden auch die Gründe für Kriegsvergewaltigung und die Ziele des Krieges, in dem die Vergewaltigung geschieht, mit berücksichtigt.
Merkmale des Vergewaltigers11 In dieser Kategorie werden Informationen über den Vergewaltiger gesammelt. So wird z.B. der Hintergrund beleuchtet, der einen Menschen möglicherweise dazu veranlasst, im Krieg zu vergewaltigen. Hier wird nicht auf psychologische Faktoren eingegangen, sondern eher auf die Begleitumstände und Gründe, wegen derer eine Person einer bestimmten bewaffneten Gruppe beitritt, auf den Bildungsgrad, religiöse und/oder politische Überzeugungen, Familienstand sowie Drogen- oder Alkoholmissbrauch vor der Vergewaltigung.(Das Thema »Täter« war ursprünglich Teil der Forschung, ist jedoch aufgrund fehlender Daten bei der Typologie nicht berücksichtigt worden. Diese Kategorie wird hier angeführt, um die Wichtigkeit und Notwendigkeit eines besseren Verständnisses der Täter zu betonen, da letztendlich auch dies dazu beitragen kann, Kriegsvergewaltigung zu vermeiden bzw. zu beenden.)
Merkmale der vergewaltigten Person In dieser Kategorie werden Hintergrundinformationen über vergewaltigte Personen wie Geschlecht, Alter, Volkszugehörigkeit, religiöse Überzeugungen, Beruf, Bildungsgrad und die Merkmale ihrer Vergewaltigung (d.h. durch wen, wo, wie oft, auf welche Weise, Zeuge anderer Vergewaltigungen etc.) sowie die physischen Folgen der Vergewaltigung (körperliche Verletzungen, Schwangerschaft etc.) untersucht. Durch diese Variablen wird versucht, die Erfahrungen weiblicher wie auch männlicher Opfer von Vergewaltigungen einzubeziehen. Auf diese Weise sollen auch mögliche Faktoren herauskristallisiert werden, die mit der Fähigkeit des Einzelnen zusammenhängen, langfristig dieses Erlebnis zu verarbeiten.
Merkmale der Vergewaltigung In dieser Kategorie wird die Art und Weise, auf die eine Vergewaltigung begangen wird, und die Brutalität der Vergewaltigung abgebildet. Variablen wie Ort (öffentliche Plätze, Privatwohnungen/-häuser, bestimmte Räumlichkeiten etc.), Zeitpunkt der Vergewaltigung (vor, während oder nach einem militärischen Einsatz), Vergewaltigung durch Waffen oder Objekte, die Anzahl der Angreifer Häufigkeit und die Rolle anderer Arten von Gewalt während der Vergewaltigung werden berücksichtigt.

Typen der Kriegsvergewaltigung

Die Typologisierung ist auf drei allgemeinen Kategorien in der Beziehung von Vergewaltiger zu vergewaltigter Person aufgebaut, innerhalb derer viele Arten von Kriegsvergewaltigung vorkommen:

Kategorie A – Vergewaltigung eines Mitglieds einer bewaffneten Gruppe oder Armee durch Mitglieder der gleichen bewaffneten Gruppe oder Armee: Kategorie A ist zwar möglicherweise die am wenigsten bekannte, aber bei weitem nicht die am wenigsten verbreitete Kategorie von Kriegsvergewaltigung. Hauptmerkmal ist, dass sowohl der Vergewaltiger wie auch die vergewaltigte Person zur gleichen bewaffneten Gruppe oder Armee gehört. Im Allgemeinen scheint es Bestimmungen zu geben, die sexuelle Gewalt innerhalb einer bewaffneten Gruppe oder Armee regeln, aber in vielen Fällen helfen sie wenig, wenn es um Prävention oder Verurteilung eines solchen Geschehens geht.

Kategorie B – Vergewaltigung eines Mitglieds der Zivilbevölkerung durch eine bewaffnete Gruppe oder die Armee: Diese Kategorie ist die bekannteste und anerkannteste Kategorie von Kriegsvergewaltigung. Es existiert eine Reihe von Vergewaltigungsarten mit verschiedenen Vorgehensweisen.

Kategorie C – Vergewaltigung von Mitgliedern einer bewaffneten Gruppe durch Mitglieder einer anderen bewaffneten Gruppe: Im Gegensatz zu Kategorie A wird nicht ein Mitglied der gleichen bewaffneten Gruppe vergewaltigt, sondern ein Mitglied einer anderen oder gegnerischen bewaffneten Gruppe.

Auch wenn es überaus wichtig ist, alle drei Kategorien zu untersuchen, liegt der Schwerpunkt der Veröffentlichung der BICC-Forschungsergebnisse allein auf den Arten und Folgen der Kriegsvergewaltigung der Kategorie B. Insgesamt wurden hier acht verschiedene Typen der Kriegsvergewaltigung identifiziert (siehe Tab. 2).

Tab. 2: Vergewaltigungstyp und dafür dokumentierte Länder

Vergewaltigungstyp Untersuchte Länder,
in denen diese Art dokumentiert ist
Vergewaltigung durch einen Verbündeten El Salvador
Sexuelle Sklaverei BiH, Kolumbien, DR Kongo, Liberia, Peru, Papua Neuguinea/Bougainville, Ruanda, Sierra Leone, Timor Leste
Vergewaltigung als Militärstrategie BiH, Kolumbien, DR Kongo, El Salvador, Liberia, Peru, Papua Neuguinea/Bougainville, Ruanda, Sierra Leone
Vergewaltigung durch einen Nachbarn BiH, Ruanda
Vergewaltigungslager BiH, Ruanda, Timor Leste
Vergewaltigung in Gefangenschaft BiH, Kambodscha
Opportunistische Vergewaltigung Kolumbien, DR Kongo, Nepal, Peru, Papua Neuguinea/Bougainville, Sierra Leone
Gezielte Vergewaltigung Kolumbien, Nepal, Peru, Timor Leste

Der soziale Kontext:
ein wichtiger Faktor

Die Typologisierung von Kriegsvergewaltigungen erfolgte unabhängig von einem bestimmten sozialen bzw. regionalen Zusammenhang. Stattdessen wurde versucht, Faktoren und Konsequenzen zu identifizieren, die in vielen unterschiedlichen sozialen Kontexten anzutreffen sind. Der soziale Kontext umfasst u.a. rechtliche und kulturelle Normen, Handlungsweisen, Haltungen und Überzeugungen in Bezug auf Vergewaltigung, Sexualität, Maskulinität und Geschlechterrollen, die möglicherweise zu länder- und gemeinschaftspezifischen aber auch individuellen Folgen von Kriegsvergewaltigungen führen können. Um Kriegsvergewaltigung und ihre Folgen im Einzelfall verstehen zu können, kann die Typologie allerdings nicht allein verwendet werden. Hierfür müssen Kontextfaktoren einbezogen werden, um effektive Maßnahmen gegen diese Art der Gewalt zu entwickeln und zu ergreifen.

Typologie der Vergewaltigung von Zivilpersonen im Krieg

Vergewaltigung durch einen Verbündeten

Vergewaltigung durch Mitglieder einer bewaffneten Gruppe an der Zivilbevölkerung, die sie repräsentieren

Gründe

Es gibt Hinweise, die darauf schließen lassen, dass sich die Vergewaltigung einer Zivilperson durch eine bewaffnete Gruppe, die sie eigentlich verteidigen oder beschützen soll, von der Vergewaltigung einer »feindlichen« Zivilperson unterscheidet. So erfolgt sie meist aus individuellen Gründen und hat nichts mit der Erfüllung einer militärischen oder kriegsbedingten Aufgabe zu tun. Die Autorinnen gehen davon aus, dass sich auch die Folgen dieses Vergewaltigungstyps von anderen unterscheidet, in denen Zivilpersonen als »Feinde« vergewaltigt werden. Da die Bevölkerung dieser bewaffneten Gruppe besonders vertraut, sie unterstützt und ihr gegenüber loyal ist, weil sie ihre Ideale und Ziele teilt, erwartet sie nicht, dass sie von ihren Mitgliedern vergewaltigt wird.

Hauptmerkmale

Vergewaltigung scheint den Einzelinteressen der Täter zu dienen, obwohl sie den Interessen der bewaffneten Gruppe widerspricht.

Vergewaltigung wird nicht von anderen Arten körperlicher Gewalt begleitet und es werden keine Objekte zur Vergewaltigung verwendet.

Frauen werden zufällig ausgesucht; häufig sind sie jung.

Diese Vergewaltigung ist nicht weit verbreitet.

Länder, für die dieser Typ dokumentiert ist

El Salvador

Sozioökonomische Folgen

Die Hauptkonsequenz dieses Vergewaltigungstyps ist der Verlust der Unterstützung der bewaffneten Gruppe durch die Zivilbevölkerung. Er hat also direkte negative Folgen für die bewaffnete Gruppe selbst. Das Vertrauen der Gemeinschaft wie auch von Einzelpersonen in die salvadorianische Guerillaorganisation FMLN wurde durch Vergewaltigungen der ländlichen Bevölkerung gefährdet. Dies bedrohte die Existenz der Befreiungsfront, die auf Unterstützung und Versorgung durch die Bevölkerung angewiesen war. Da dieser Preis zu hoch war, wurde Vergewaltigung mit dem Tod bestraft und konsequent innerhalb aller Ebenen in der FMLN verfolgt. Dieser strenge Kurs war effektiv; er schreckte ab und führte dazu, dass diese Art der Vergewaltigung in den späteren Jahren des Konfliktes Berichten zufolge völlig aufhörte. Es ist möglich, dass diese Folge nur dann eintritt, wenn die Existenz einer bewaffneten Gruppe, wie die der FMLN, von einer verbündeten Zivilbevölkerung abhängt.

Sexuelle Sklaverei

Vergewaltigung von Mitgliedern der Zivilbevölkerung, die als »Feind« wahrgenommen und zum Zweck sexueller Dienste gefangen gehalten werden, durch Mitglieder einer bewaffneten Formation

Gründe

Zivilpersonen werden von einer bewaffneten Gruppe oder einzelnen Mitgliedern dieser Gruppe festgehalten, um sie für sexuelle und andere Dienste zu missbrauchen. Hierzu gehören etwa auch Kochen, Saubermachen und Munition und/oder Waffen tragen. Vergewaltigung ist daher ein wichtiger, aber nicht der einzige Zweck der Gefangenschaft. Erkenntnisse aus den Länderstudien zeigen, dass das Festhalten von Zivilpersonen als Sexsklavinnen besondere Merkmale aufweisen, die sich darauf auswirken, wie Personen mit ihrer Vergewaltigung umgehen und wie sich ihre Umgebung, ihre Familien und/oder Gemeinschaften ihnen gegenüber verhalten. Anders als bei anderen Arten der Kriegsvergewaltigung schämen sich Familie und Gemeinschaft oft für ehemalige Sexsklavinnen und unterstellen ihnen, dass sie sexuellen Handlungen zugestimmt haben.

Das »Römische Statut« definiert als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« u.a. folgende Handlungen, die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs begangen werden: „Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei, Nötigung zur Prostitution, erzwungene Schwangerschaft, Zwangssterilisation oder jede andere Form sexueller Gewalt von vergleichbarer Schwere […]“.12

Laut Bericht des »Special Rapporteur on Systematic Rape» über sexuelle Sklaverei und Sklaverei ähnliche Praktiken während eines bewaffneten Konflikts umfasst sexuelle Sklaverei auch solche Fälle, in denen Frauen und Mädchen zu Hausknechtschaft, »Heirat« oder Zwangsarbeit genötigt werden, die „letztlich erzwungene sexuelle Aktivitäten wie auch die Vergewaltigung durch ihre Kidnapper mit einschließen“.13 Der BICC-Forschungsbericht definiert sexuelle Sklaverei als eine Gefangennahme von Frauen zum Zweck erzwungener sexueller Beziehungen, die aber auch Zwangsarbeit und Haushaltsdienste beinhaltet.

Hauptmerkmale

Bewaffnete Gruppen, die diese Art der Vergewaltigung begehen, verfügen im allgemeinen über eine funktionierende Befehlskette. Vergewaltigung ist weder verboten noch wird sie bestraft.

Frauen sind das Ziel der sexuellen Sklaverei, wobei insbesondere Mädchen und junge Frauen, die noch Jungfrauen sind, besonders gefährdet sind.

Sklavinnen werden oft unter Androhung von Gewalt oder Tod sowohl gegen sie wie auch ihre Angehörigen festgehalten.

In den Ländern, in denen sexuelle Sklaverei verbreitet praktiziert wurde, wusste die militärische Obrigkeit im Allgemeinen davon, duldete sie oder bestärkte die Täter dabei.

Länder, für die dieser Typ dokumentiert ist

Bosnien und Herzegowina

Kolumbien

Demokratische Republik Kongo

Liberia

Peru

Papua Neuguia/Bougainville

Ruanda

Sierra Leone

Timor Leste

Unterarten

Während der ersten Forschungsphase wurde dieser Kriegsvergewaltigungstyp auf der Grundlage der sehr einheitlichen Berichte einiger Frauen aus Bosnien und Herzegowina identifiziert. Aus der Sekundärquellenanalyse ging hervor, dass auch in anderen Ländern sexuelle Sklaverei mannigfaltige Formen aufweisen kann. Es ist möglich, dass die Motivationen jeder einzelner Form leicht voneinander abweichen und dass die Folgen je nach Umständen der Gefangenschaft der Einzelnen unterschiedlich sind. Dies bleibt jedoch im Dunkeln, da sexuelle Sklaverei in der Literatur generell als ein homogenes Verbrechen behandelt wird. Die Autorinnen haben deshalb sexuelle Sklaverei in folgende vier Untergruppen aufgeteilt, um ihre Formen zu unterscheiden und die Untersuchung der möglichen Folgen jedes Untertyps in Zukunft zu fördern:

Sexuelle Sklaverei an einem zentralen Ort: Frauen und Mädchen werden häufig zusammen an einem Ort, wie einer Militärbasis, ob statisch oder mobil, festgehalten und mehrfach durch verschiedene Täter vergewaltigt. Fälle gab es in:
– Bosnien und Herzegowina
– Demokratische Republik Kongo
– Liberia
– Papua Neuguia/Bougainville
– Ruanda
– Sierra Leone
– Timor Leste

Sexuelle Sklaverei in einem zentralen Ort, wobei Einzelpersonen einem Kämpfer »zugeordnet« werden: Manche festgehaltene Frauen und Mädchen werden gezwungen, zu »heiraten« und als »Ehefrau« einem bestimmten Kämpfer zur Verfügung zu stehen. Sie werden mehrfach von ihrem »Ehemann« vergewaltigt, jedoch weniger häufig, wenn überhaupt, von anderen Kämpfern. Fälle gab es in:

Demokratische Republik Kongo

Sierra Leone

Sexuelle Sklaverei »auf Bestellung«: Frauen und Mädchen werden nicht an einem zentralen Ort festgehalten, sondern auf Bestellung der Kämpfer, die die Gegend besetzen, mit Gewalt herangeschafft, um ihnen sexuell gefügig zu sein. Den Frauen und Mädchen wird danach erlaubt, wieder nach Hause zu gehen. Fälle gab es in:
– Kolumbien
– Peru
– Sierra Leone
– Timor Leste

Sexuelle Sklaverei in einem häuslichen Umfeld, in dem die Frauen als »Eigentum« eines Kämpfers betrachtet werden: Frauen und Mädchen werden nicht an einem zentralen Ort festgehalten, sondern werden dazu gezwungen, sich wie die »Ehefrau« eines bestimmten Kämpfers zu verhalten und in ihrem eigenen Haus sexuelle und häusliche Tätigkeiten für ihn zu verrichten. Der Kämpfer besucht dieses Haus, wann er will, und erwartet, dass ihm die Frau oder das Mädchen zu Diensten ist. Fälle gab es in:
– Bosnien und Herzegowina
– Liberia
– Ruanda
– Timor Leste

Sozioökonomische Folgen

Viele Frauen, die als sexuelle Sklavinnen gehalten wurden, gerieten in eine finanzielle und gesellschaftliche Abhängigkeit. Dies betraf insbesondere diejenigen, die als »Ehefrauen« galten und nicht fliehen konnten. Diese Frauen fügen sich oft in ihre Misshandlungen und Vergewaltigungen, die sie sich mit der wirtschaftlichen und/oder psychologische Lage während des Krieges erklären. Auch noch lange nach dem Krieg kann dies zu einer gewissen »Normalisierung« dieser Art der Gewalt führen. So merkt z.B. die Truth and Reconciliation Commission in Sierra Leone an, dass die meisten Opfer sexueller Sklaverei unter einer Art des Stockholm-Syndroms leiden – sie behaupteten, dass sie von ihren Geiselnehmern gut behandelt wurden, obwohl die Kommission viele ihrer Erlebnisse als Missbrauch einschätzte.14

Obwohl es üblich war, dass Kämpfer »ihre Frauen« anderen Kämpfern zu sexuellen Zwecken überließen, wurden hierfür keine Beispiele genannt.15 Es ist möglich, dass Vergewaltigung und andere Formen sexueller und körperlicher Gewalt von Frauen in intimen Partnerbeziehungen nach den Übergriffen »normalisiert« werden. Ebenso ist es wahrscheinlich, dass diese Gewalt für die vergewaltigenden Männer »normal« wird. Manche Täter in Sierra Leone, die selbst vergewaltigt haben oder Zeuge von Vergewaltigungen wurden, waren so jung, dass sie Vergewaltigung als typisches Sexualverhalten ansehen.16

Viele Frauen können aus verschiedenen Gründen nicht mehr nach Hause zurück kehren oder in ihren Gemeinden bleiben, nachdem sie als sexuelle Sklavinnen missbraucht worden sind. Soziale Ausgrenzung und Stigmatisierung ist einer der Gründe hierfür. Ohne Geld und Zukunftsperspektiven bleibt vielen Frauen, insbesondere jungen Mädchen, nur der Ausweg in die Prostitution und sexuelle Ausbeutung im Austausch für Waren und Dienstleistungen. Manchmal werden Frauen oder Mädchen wieder von ihrer Familie aufgenommen, aber ihr Stigma in der Gemeinde ist so groß, dass die gesamte Familie wegziehen muss – als Konsequenz gerät die gesamte Familie in wirtschaftliche Not.17

Schwangerschaft und die Geburt von Kindern, bei die bei einer Vergewaltigung gezeugt wurden, sind weit verbreitete Folgen sexueller Sklaverei. Frauen, die mit in der Gefangenschaft geborenen Kindern wieder nach Hause kommen, können die Vergewaltigung oft weder verstecken noch verleugnen und werden daher von ihrer eigenen Familie und Gemeinschaft stark stigmatisiert.

Dies trifft nicht nur auf sexuelle Sklaverei, sondern möglicherweise auch auf andere Vergewaltigungstypen zu, bei denen Frauen oder Mädchen festgehalten und mehrfach vergewaltigt werden. In einer Untersuchung von über 4.000 Aufzeichnungen sexueller Gewalt im Panzi-Hospital in Bukavu (Demokratische Republik Kongo) zwischen 2004 und 2008 fand Bartels heraus, dass viele Frauen, insbesondere sexuelle Sklavinnen, durch Vergewaltigung schwanger wurden.18 Sie stellte ebenfalls fest, dass Frauen, die schwanger wurden, sich anscheinend mehr schämten als diejenigen, die nicht schwanger wurden. Die Wahrscheinlichkeit, dass schwangere, verheiratete Frauen von ihren Männern verstoßen wurden, war hoch.19

Frauen, die als sexuelle Sklavinnen vergewaltigt wurden, sind oft Opfer sozialer Stigmatisierung, da sie das, was ihnen angetan wurde, weder verleugnen noch verstecken können – selbst wenn sie nicht durch die Vergewaltigung schwanger wurden. Eigene Reaktionen und die der Gesellschaft auf diese Art der Vergewaltigung beruhen oft auf einem völligen Fehlverständnis davon, ob die Frauen eine Wahl hatten, sexuelle Sklavin oder »Ehefrau« eines bestimmten Kommandanten zu werden. So unterschied die Gemeinschaft in Timor Leste nicht, ob Frauen, die als sexuelle Sklavinnen missbraucht wurden, dazu gezwungen wurden, außereheliche sexuelle Beziehungen einzugehen, oder nicht. Alle hatten den Ruf »billig« und »Huren« zu sein.20 Dieses Stigma brachte Schande über die ganze Familie der Frauen, einschließlich ihrer Kinder.

Soziale Stigmatisierung ist daher eine weitere Last, mit der vergewaltigte Frauen umgehen müssen, insbesondere wenn sie dazu führt, dass sie auch von ihren Familien verstoßen werden und ihre wirtschaftliche Basis verlieren.

Vergewaltigung als Militärstrategie

Vergewaltigung, die von Mitgliedern einer Armee an der von ihr als »Feind« wahrgenommenen Zivilbevölkerung begangen wird

Gründe

Vieles deutet darauf hin, dass eine Vergewaltigung von Zivilpersonen, die als »Feinde« identifiziert wurden, im Krieg aus unterschiedlichen Gründen geschieht und anders durchgeführt wird, als die übrigen Vergewaltigungstypen. Sie geht einher mit willkürlichen, systematischen und weit verbreiteten Angriffen auf die Zivilbevölkerung und wird oft angewendet, um bestimmte Kriegsziele zu erreichen. Die von den Autorinnen gesammelten Informationen deuten auch darauf hin, dass durch die Art und Weise, wie Zivilpersonen ausgewählt und als »Feinde« bekämpft werden, auch die Folgen dieser Art von Vergewaltigung anders sein können als bei anderen Typen.

Hauptmerkmale

Dieser Vergewaltigungstyp wird oft von einer gut organisierten bewaffneten Gruppe begangen, die den Befehl hat, Zivilistinnen und Zivilisten anzugreifen. Ob die Täter den Befehl haben zu vergewaltigen, ist in keinem der Fälle klar belegbar; nichtsdestotrotz wird während der Angriffe systematisch und weit verbreitet vergewaltigt.

Vergewaltigungen finden während eines militärischen Angriffs auf ländliche oder Stadtgebiete statt. Oft werden Menschen in ihren Häusern oder ihrem Dorf vergewaltigt. Manchmal wird dieser Typ Vergewaltigung als Kriegstaktik eingesetzt. Hauptziel dabei ist es, Zivilpersonen zu terrorisieren, damit sie sich unterwerfen, oder sie aus kriegstaktischen Gründen in die Flucht zu schlagen. Vergewaltigung ist auch eine Art der »Kommunikation mit dem Feind«, durch die ihm deutlich gemacht wird, dass er besiegt wurde und/oder nicht in der Lage war, seine Bevölkerung zu schützen.

Ziel dieser Art der Vergewaltigung sind überwiegend Frauen, wobei Frauen im Fertilitätsalter (zwischen 15 und 24 Jahren) besonders gefährdet sind.

Gruppenvergewaltigung ist besonders häufig.

Diese Art der Vergewaltigung wird häufig im Zusammenhang mit der Ermordung von Zivilpersonen, der Plünderung und dem Anzünden von Dörfern begangen, um die Zivilbevölkerung weiter zu terrorisieren und ihren Lebensunterhalt zu zerstören.

Diese Art der Vergewaltigung ist oft sehr brutal. Frauen werden häufig mit Objekten vergewaltigt, die sie verletzen sollen, wobei ihr Tod in Kauf genommen wird. Manchmal wurden vergewaltigte Frauen auch verstümmelt oder ihnen wurden Gliedmaßen amputiert.

Dieser Vergewaltigungstyp findet absichtlich vor Zeugen statt, insbesondere vor Familienmitgliedern. Häufig wird vor oder nach der Vergewaltigung anderen Familienmitgliedern Gewalt angetan. Oft geschieht es auf öffentlichen Plätzen, wo die Wahrscheinlichkeit von Zeugen hoch ist.

Länder, für die dieser Typ dokumentiert ist

Bosnien und Herzegowina

Kolumbien

Demokratische Republik Kongo

El Salvador

Liberia

Peru

Papua Neuguia/Bougainville

Ruanda

Sierra Leone

Unterarten

Im Rahmen der Vergewaltigung als Militärstrategie fand in drei Konflikten (?osnien und Herzegowina, Demokratische Republik Kongo, Sierra Leone) auch erzwungener Inzest statt. Täter zwingen Zivilisten, die sie als »Feind« identifiziert haben, unter Androhung des Todes, inzestuöse Vergewaltigungen zu begehen. Dies wurde als Unterart der Vergewaltigung als Militärstrategie identifiziert, da es scheint, dass die Motivationen der bewaffneten Gruppen, die feindliche Zivilisten zum Inzest zwingen, sich von den Gründen bewaffneter Gruppen, die selbst Zivilisten vergewaltigen, unterscheiden. Es ist auch möglich, dass die Folgen hiervon sich von denen anderer Vergewaltigungen unterscheiden, da erzwungener Inzest direkt die Familieneinheit betrifft. Im folgenden werden jedoch nur die Folgen von Vergewaltigungen, die von Mitgliedern einer Armee an der »feindlichen« Zivilbevölkerung begangen werden, untersucht.

Länder, für die dieser Typ dokumentiert ist

Bosnien und Herzegowina

Demokratische Republik Kongo

Sierra Leone

Sozioökonomische Folgen

Viele Jungen und Männer wurden gezwungen, die Vergewaltigung ihrer Schwestern, Frauen, Mütter und Töchter mit anzusehen. Ihre Scham- und Schuldgefühle darüber, dass sie nicht in der Lage waren, sie zu beschützen, und somit ihrer Rolle als starker, dominanter Beschützer nicht nachgekommen sind, führte dazu, dass die Familienstruktur und der soziale Zusammenhalt zusammenbrachen. Manchmal zogen sich Männer sogar vor ihrer Familie zurück oder verließen sie ganz. In anderen Fällen, etwa in Liberia, übten viele Männer sexuelle und physische Gewalt gegenüber Frauen aus, um ihre Dominanz und Macht wiederherzustellen.21 Viele Frauen in der Demokratische Republik Kongo, die vor Familienmitgliedern vergewaltigt wurden, erwähnten besonders die zusätzliche Schande, dass diese ihre Vergewaltigung mit ansehen mussten.22 Gleiches ist für Peru zu berichten, wo manche Vergewaltigungen vor den Augen des gesamten Dorfs stattfanden.23

Diese Art der Vergewaltigung geht oft einher mit der Zerstörung von Hab und Gut. Dadurch müssen die Bewohner, die sich dazu entscheiden, im Dorf zu bleiben, genauso wie die Flüchtlinge eine neue Existenz aufbauen. Wirtschaftlich gesehen sind beide Gruppen gefährdet.

Vergewaltigung durch einen Nachbarn

Vergewaltigung der Zivilbevölkerung, die als »Feind« definiert ist, durch Mitglieder einer bewaffneten Gruppe, wobei Vergewaltiger und die vergewaltigte Person oft aus dem gleichen Dorf stammen

Gründe

Die gesammelten Daten zeigen auf, dass die Folgen der Vergewaltigung, wenn die vergewaltigte Person und ihr Vergewaltiger aus der gleichen Gemeinschaft stammen, sich vor Beginn der Feindseligkeiten gekannt haben und nun auf verschiedenen Seiten stehen, überwiegend durch diese Bekanntschaft beeinflusst sind.

Hauptmerkmale

Dieser Vergewaltigungstyp taucht dann auf, wenn Feindseligkeiten zwischen Mitgliedern der gleichen Gemeinschaft ausbrechen, wodurch sich die vergewaltigte Person und ihr Vergewaltiger fast unvermeidlich kennen.

Manchmal wird sogar eine feindliche Person absichtlich ausgewählt, weil der Vergewaltiger sie kennt. In diesem Fall ist die Vergewaltigung sehr persönlich. Ihr Zweck ist es u.a., sich zu rächen, die Person zu bestrafen oder Genugtuung zu erhalten für ein Unrecht, das die Person in der Vergangenheit angeblich begangen hat. Diese Motivation des Täters kann tatsächlich zu einer brutaleren Vergewaltigung führen; d.h., es wird mehr körperliche Gewalt angewendet als wenn die Vergewaltigung nicht aus dem Gefühl der persönlichen Rache begangen wird.

Diese Art der Vergewaltigung kann sowohl im Rahmen der Kriegstaktik einer bewaffneten Gruppe wie auch aus opportunistischen Gründen begangen werden.

Länder, für die dieser Typ dokumentiert ist

Bosnien und Herzegowina

Ruanda

Sozioökonomische Folgen

Dieser Vergewaltigungstyp kann zu einem Zusammenbruch der sozialen Zusammenhänge führen. Vergewaltigte Personen kehren nach dem Krieg wieder in die gleichen Dörfer zurück wie ihre Vergewaltiger, so z.B. in Bosnien und Herzegowina. Aber die sozialen Interaktionen dieser Gemeinschaften können nicht wie früher fortgesetzt werden. Sie sind nun gespalten oder, wie es eine befragte Person formuliert, „durch Zäune getrennt“.24 Die Verhaltensmuster und das Vertrauen zwischen Mitgliedern dieser Gemeinschaften haben sich verändert, was dazu führt, dass die Gemeinschaft weitaus fragmentierter ist als vor dem Krieg und der Kriegsvergewaltigung.

Aus mangelnder Rechtssicherheit können sich Personen, die es nicht riskieren wollen, auf ihre Vergewaltiger zu treffen, nur eingeschränkt innerhalb der Gemeinschaft bewegen. So entgehen ihnen Gelegenheiten zur sozialen Interaktion und zur wirtschaftlichen Entwicklung. Ihr wirtschaftliches Vorankommen ist gefährdet. Manche Personen verlassen ihre Gemeinden, um sich mit der Vergewaltigung auseinandersetzen zu können und zu vermeiden, Tür an Tür mit ihrem Vergewaltiger leben müssen. Sie ziehen in ein anderes ländliches oder städtisches Zentrum oder in ein ganz anderes Land. Wahrscheinlich werden sie nicht in der Lage sein, ihren Lebensunterhalt wie noch vor dem Krieg und vor der Vergewaltigung zu verdienen, und müssen sich an eine neue wirtschaftliche Landschaft anpassen, die ihnen möglicherweise andere Kenntnisse oder Fertigkeiten abverlangt. All diese Faktoren wirken sich auf die wirtschaftliche Sicherheit der betroffenen Person und ihrer Familie aus.

Vergewaltigungslager

Vergewaltigung einer feindlichen Zivilbevölkerung durch Mitglieder einer bewaffneten Gruppe, wobei die vergewaltigte Person oft an einem Platz festgehalten wird, der für die Vergewaltigung vorgesehen ist

Gründe

Forschungsergebnisse der Autorinnen weisen darauf hin, dass das Festhalten nur zum Zweck der Vergewaltigung durch verschiedene Faktoren beeinflusst wird und zu anderen Folgen führt als andere Arten der Vergewaltigung im Krieg. So fanden die Autorinnen Hinweise darauf, dass Personen, die in Lagern gefangen gehalten werden, häufiger vergewaltigt werden und dadurch mehr körperliche Verletzungen und andere Komplikationen davontragen als die, die anderen Arten der Kriegsvergewaltigung ausgesetzt waren.

Das Festhalten von Personen in Vergewaltigungslagern wird in der internationalen Gesetzgebung als eine Form sexueller Sklaverei angesehen, da es die Versklavung von Einzelnen für sexuelle Zwecke vorsieht. Die Autorinnen hingegen unterscheiden das Festhalten von Personen in Vergewaltigungslagern zum alleinigen Zweck erzwungener sexueller Beziehungen von sexueller Sklaverei, bei der Personen auch gewisse Hausarbeiten erledigen müssen. Ihrer Auffassung nach kann diese Unterscheidung bedeutend dafür sein, wie Einzelne, Familien und ganze Gemeinschaften diese Erfahrung interpretieren und ihr begegnen.

Hauptmerkmale

Frauen sind die Hauptziele dieser Vergewaltigungsart. Sie sind im Allgemeinen jung und im Fertilitätsalter. Frauen werden ausschließlich zum Zweck der Vergewaltigung eingesperrt und werden anders im Fall der sexuellen Sklaverei zu keinen anderen Tätigkeiten gezwungen.

In diesen Lagern werden die Frauen mehr als einmal vergewaltigt, manche täglich, und von mehr als einem Täter.

Die Gründe, warum Frauen in Vergewaltigungslagern festgehalten werden, sind von Fall zu Fall unterschiedlich.

Länder, für die dieser Typ dokumentiert ist

Bosnien und Herzegowina

Ruanda

Timor Leste

Sozioökonomische Folgen

Es liegen kaum Daten vor, die die Folgen belegen. Die einzige Folge, die direkt mit diesem Vergewaltigungstyp in Verbindung gebracht werden kann, sind Kinder, die nach der Vergewaltigung in dafür bestimmten Lagern geboren wurden. Viele Frauen in Vergewaltigungslagern in Bosnien und Herzegowina wurden aufgrund der Kriegsvergewaltigung schwanger. Unbekannt ist jedoch, ob Schwangerschaft auch in Ruanda oder Timor Leste häufig Ergebnis solch einer Vergewaltigung war. In der Literatur heißt es, dass Frauen, die durch die Vergewaltigung schwanger werden, es schwerer haben, die Vergewaltigung zu verarbeiten. So fand Folnegovic-Smalc heraus, dass bosnische Frauen, die infolge ihrer Kriegsvergewaltigung schwanger wurden, häufiger Selbstmordgedanken hatten als andere.25 Die Länge der Gefangenschaft in Vergewaltigungslagern machte es Frauen fast unmöglich, die Ursache ihrer Schwangerschaft gegenüber ihrer Familie und Freunden zu verheimlichen. Dies kann zu ihrer Ausgrenzung oder Ablehnung und/oder der Ablehnung ihres aus der Vergewaltigung geborenen Kindes führen.

Aufschlussreich ist eine Studie von Loncar et al. über bosnische Flüchtlingsfrauen, die im Krieg vergewaltigt wurden. Sie sagt, dass Frauen, die einmal vergewaltigt wurden, im Gegensatz zu Frauen, die mehrfach vergewaltigt wurden, ein siebenmal höheres Risiko hatten, schwanger zu werden.26 Dies impliziert, dass Frauen, die auf andere Art im Krieg vergewaltigt werden, ein genauso hohes, wenn nicht höheres, Schwangerschaftsrisiko haben wie Frauen, die zum Zweck der Vergewaltigung eingesperrt sind (ob in Vergewaltigungslagern oder als sexuelle Sklaven). Aus diesem Wissen heraus kann man tatsächlich die falsche Vorstellung widerlegen, dass eine Schwangerschaft nur Folge einer langfristiger Gefangenschaft ist, in der, wie allgemein angenommen, Frauen sexuellen Beziehungen mit einem bewaffneten Kämpfer zugestimmt haben (s. o.).

Vergewaltigung während der Gefangenschaft

Vergewaltigung von »feindlichen« Zivilpersonen durch Mitglieder einer bewaffneten Gruppe, bei der die vergewaltigten Personen an einer zentralen Stelle gefangen gehalten werden, die zwar nicht vorsätzlich für Vergewaltigungen vorgesehen war, in der aber Vergewaltigung stattgefunden hat

Gründe

Vergewaltigung während einer Gefangenschaft, ob im Gefängnis oder in Konzentrationslagern, unterliegt anderen Dynamiken als die Gefangenschaft zum Zweck der Vergewaltigung (wie sexuelle Sklaverei und Vergewaltigungslager). Die Autorinnen fanden Beweise, die die Vermutung unterstützen, dass in Gefängnissen vergewaltigte Personen vielfältigen traumatischen Ereignissen ausgesetzt sind, die neben dem sexuellen Missbrauch auch Hunger und/oder den Tod von Familienmitgliedern einschließen können. Diese Belastung kann sich auf mannigfaltige Weise äußern, darunter auch durch Verschweigen der Vergewaltigung. Die Autorinnen fanden ferner heraus, dass die Vergewaltigung in Lagern, in denen nicht alle Frauen vergewaltigt wurden, den betroffenen Frauen die Möglichkeit gab, die Vergewaltigung zu verschweigen oder, wenn gefragt, zu verneinen. Die Folgen einer Vergewaltigung in Gefangenschaft mögen deshalb andere sein als bei Vergewaltigungslagern, in denen alle Gefangenen vergewaltigt wurden und wo es unmöglich war, diese Erfahrung zu verbergen oder abzustreiten.

Hauptmerkmale

Vergewaltigung ist nicht notwendigerweise weit verbreitet, geschieht aber systematisch.

Die Vergewaltigung von männlichen und weiblichen Zivilpersonen in Gefangenschaft scheint aus unterschiedlichen Motiven zu erfolgen, obwohl es unklar ist, was abgesehen von Folter die Motivationen für die Vergewaltigung von Männern sind.

Die Gelegenheit und individuelle Gründe wie sexuelles Verlangen oder das Verlangen nach Macht bzw. Dominanz über andere scheinen die Hauptmotive für die Vergewaltigung von Frauen in Gefangenschaft zu sein.

Viele Gefangene, die vergewaltigt wurden, haben die Haft nicht überlebt oder wurden noch im Gefängnis hingerichtet.

Länder, für die dieser Typ dokumentiert ist

Bosnien und Herzegowina

Kambodscha

Sozioökonomische Folgen

Es liegen keine Daten vor.

Opportunistische Vergewaltigung

Vergewaltigung, die von Mitgliedern einer bewaffneten Gruppe an der Zivilbevölkerung begangen wird, die keiner Krieg führenden Partei zugeordnet werden kann

Gründe

Dieser Vergewaltigungstyp wurde aufgrund von Informationen identifiziert, dass Zivilpersonen oft aus opportunistischen und individuellen Gründen wie sexuelles Verlangen oder das Verlangen nach Macht und Dominanz, die wenig mit dem Kriegsziel gemein haben, vergewaltigt werden. Die Autorinnen fanden ebenfalls Hinweise darauf, dass diese Motivation Auswirkungen auf die Art und Weise der Vergewaltigung und ihre Folgen hat.

Hauptmerkmale

Bewaffnete Gruppen, die diese Art Vergewaltigung begehen, haben meist eine schwache oder schlecht funktionierende Kommandostruktur, in der Vergewaltigung durch die Gruppe weder verboten noch bestraft wird.

Frauen verschiedenen Alters sind Ziele dieses Vergewaltigungstyps.

Gruppenvergewaltigung ist üblich.

Sexuelles Verlangen des Täters scheint die Hauptmotivation zu sein.

Länder, für die dieser Typ dokumentiert ist

Kolumbien

Demokratische Republik Kongo

Nepal

Peru

Papua Neuguia/Bougainville

Sierra Leone

Sozioökonomische Folgen

Es liegen keine Daten vor.

Gezielte Vergewaltigung

Vergewaltigung von Zivilpersonen, die gezielt ausgewählt wurden, weil sie angeblich mit dem Feind in Verbindung stehen oder in Aktivitäten involviert sind, die als umstritten oder gefährlich für die bewaffnete Gruppe gelten, durch Mitglieder einer bewaffneten Gruppe

Gründe

Vergewaltigungen werden oft begangen, wenn Mitglieder einer bewaffneten Gruppe glauben, dass Zivilpersonen (z.B. Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtler) mit feindlichen Truppen kollaborieren oder bei Aktionen mitmachen, die sie für umstritten oder bedrohlich halten. Eine solch gezielte Vergewaltigung hat laut Forschungsergebnis besondere Eigenschaften, die sowohl die Folgen beeinflussen wie auch dazu beitragen können, diese Vergewaltigung zu vermeiden.

Hauptmerkmale

Dieser Vergewaltigungstyp ist eine eindeutige Kriegstaktik, die dazu verwendet wird, aktive Einzelpersonen zu bestrafen und abzuschrecken. Getroffen werden sollen die feindlichen Truppen auch dadurch, dass ihre Angehörigen (Frauen, Schwestern, Mütter, Verwandte etc.) vergewaltigt werden.

Dieser Vergewaltigungstyp wird im allgemeinen von Regierungstruppen oder von durch die Regierung unterstützte Milizen begangen.

Männliche und weibliche Zivilpersonen sind Ziele dieses Vergewaltigungstyps. Manchmal werden sie in ihren Häusern vergewaltigt, manchmal aber auch zunächst gefangen genommen und dann als eine Art der Folter vergewaltigt.

Länder, für die dieser Typ dokumentiert ist

Kolumbien

Nepal

Peru

Timor Leste

Sozioökonomische Folgen

Es liegen keine Daten vor.

Zusammenfassung

Tab. 3: Zusammenfassung der Typen und sozioökonomischen Folgen von Kriegsvergewaltigungen

Typ Sozioökonomische Folgen
Vergewaltigung durch einen Verbündeten Verlust der Unterstützung einer bewaffneten Gruppe durch die Zivilbevölkerung während des Kriegs.
Sexuelle Sklaverei »Normalisierung« von Vergewaltigung und sexueller Gewalt in intimen Partnerbeziehungen während des Krieges und nach seinem Ende.Wirtschaftliche Vulnerabilität der Vergewaltigten und ihrer Familien.Kinder, die nach einer Vergewaltigung geboren ­werden.Soziale Stigmatisierung.
Vergewaltigung als Militärstrategie Zusammenbruch der Familie und des sozialen Zusammen­halts.Wirtschaftliche Vulnerabilität ganzer Familien.
Vergewaltigung durch einen Nachbarn Zusammenbruch des sozialen Zusammenhalts.Wirtschaftliche Vulnerabilität ganzer Familien.
Vergewaltigungslager Kinder, die nach einer Vergewaltigung geboren ­werden.
Vergewaltigung im Gefangenschaft Unbekannt.
Opportunistische Vergewaltigung Unbekannt.
Gezielte Vergewaltigung Unbekannt.

Dieses Dossier fasst die Ergebnisse des BICC-Forschungsprojekts zur Entwicklung einer Typologie von Kriegsvergewaltigungen zusammen. Diese Forschung zeigt, dass es acht unterschiedliche Formen gibt, die wiederum jeweils verschiedene Folgen in der Nachkriegszeit nach sich ziehen. Dies hat Auswirkungen auf die Effizienz von Interventionen und muss daher bei der Auswahl von Interventionen in Betracht gezogen werden.27 Die Autorinnen hinterfragen etabliertes Wissen und geben zu bedenken, dass die Durchführung und die Folgen dieses Gewaltakts nicht allein durch die Handlung des erzwungenen Eindringens definiert werden sollte. Vielmehr werden sie durch zahlreiche Kriegsdynamiken beeinflusst, die durch verschiedene »Themen« in der Typologie erfasst werden.

Bei der Entwicklung der Typologie wurde ersichtlich, dass die Folgen der Kriegsvergewaltigung nicht immer durch die gleichen Themen, z.B. durch die Motivation für die Vergewaltigung, beeinflusst werden. Im Gegenteil können sich verschiedene Themen auf die Folgen auswirken, einschließlich der individuellen Beziehung zwischen Vergewaltigern und Vergewaltigten sowie die Art und Weise der Vergewaltigung (im Gefängnis, durch sexuelle Sklaverei, im Vergewaltigungslager etc.). Obwohl es einige Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Typen und ihren Folgen gibt, sollten Informationen, auf denen Interventionen beruhen, so detailgenau wie möglich sein, damit nichts, was möglicherweise für ihren Erfolg bedeutsam sein kann, übersehen wird. Dies schließt die Berücksichtigung des sozialen Kontexts, in dem die Vergewaltigung begangen wird, ein – ein Faktor, der bei der Erstellung der Typologie allerdings nicht berücksichtigt werden konnte. Die bestehenden Wissenslücken sowie fehlende Daten über manche Folgen von Kriegsvergewaltigung machen deutlich, dass eine längerfristige Erforschung dieses Themas nötig ist.

Bislang konzentrierte sich die Forschung in Ländern, in denen Kriegsvergewaltigung stattgefunden hat, auf die einzelnen Personen, die vergewaltigt wurden. Dies ist jedoch nur eine Seite der Gleichung. Um die offenen Fragen zu beantworten, sollten auch die Täter sowie die Art und Weise, wie das Verbrechen begangen worden ist, berücksichtigt werden. So wird z.B. die Frage, warum im Krieg vergewaltigt wird, in der Literatur nur in Hinsicht auf die Folgen der Vergewaltigung (Zusammenbruch von Familien) oder die Eindrücke vergewaltigter Personen („der Täter wollte uns erniedrigen“) beantwortet. Auch wenn diese Motive zutreffen mögen – die Täter selbst werden selten gefragt. Dies ändert sich langsam. Mehr und mehr Forscher und selbst Dokumentarfilmer bemühen sich gemeinsam, Vergewaltiger oder männliche Kämpfer aus Gruppen, die im Krieg vergewaltigt haben, zu interviewen.28 Inwiefern Kämpfer freiwillig zu Tätern werden oder welche Folgen die Vergewaltigung von Zivilisten auf sie hat, ist ebenfalls unbekannt. Diese Aspekte und die »Kosten-Nutzen Kalkulation« der Vergewaltiger im Krieg wirklich zu verstehen, kann einen großen Einfluss darauf habe, diese Art der Gewalt in Zukunft zu stoppen und zu vermeiden.

BICC (Internationales Konversionszentrum Bonn)

Als unabhängige, gemeinnützige Organisation fördert das BICC Frieden, Sicherheit und Entwicklung. Auf Grundlage von anwendungsorientierter Forschung leistet das BICC Beratungstätigkeit, gibt politische Empfehlungen und bildet aus. Der internationale Mitarbeiterstab führt eigene und von Förderern und Auftraggebern finanzierte Projekte durch.

Zu den Forschungsschwerpunkten des BICC gehören globale Rüstungsentwicklungen und Abrüstung, Sicherheit, Migration, natürliche Ressourcen und Konflikte sowie Konversion. Das Zentrum sammelt und veröffentlicht Informationen, erstellt Gutachten und Publikationen und stellt diese Materialien NGOs, Regierungen und privaten Organisationen zur Verfügung.

Das BICC wurde 1994 mit Unterstützung des Landes Nordrhein-Westfalen (NRW) als gemeinnützige GmbH gegründet. Nach dem Global »Go-To Think Tanks«-Report der University of Pennsylvania 2010 gehört das BICC zu den führenden 50 Think Tanks weltweit (außer US-Einrichtungen).

Anmerkungen

1) Der Begriff »systematisch« bedeutet hier „die organisierte Art von Gewalttaten und die Unwahrscheinlichkeit, dass diese zufällig begangen werden. Muster von Verbrechen sind ein üblicher Ausdruck solch systematischen Auftretens“. Siehe United Nations Security Council: Report of the Secretary-General Pursuant to Security Council Resolution 1820 (2008). UN-Dokument S209/362 vom 20. August 2009, S.2, Fußnote 3.

2) Der Begriff »weit verbreitet« ist hier definiert durch eine große Anzahl an vergewaltigten Einzelpersonen sowie die geographische Verbreitung des Verbrechens.

3) Die folgende Publikation behandelt dieses Thema im Detail: Isikozlu, Elvan und Millard, Ananda S. (2010): Towards a Typology of Wartime Rape. Bonn: Bonn International Conversion Center. BICC brief 43.

4) »Typ« ist definiert durch das Zusammenspiel einer Reihe von Aspekten der Vergewaltigung, die in den folgenden Themen enthalten sind: Art des Konflikts, Merkmale der bewaffneten Gruppe, Motive für die Vergewaltigung, Merkmale des Vergewaltigers, Merkmale der vergewaltigten Person und Merkmale der Vergewaltigung.

5) Bei der Erforschung dieses Themas war nicht vorgesehen, ursächliche Zusammenhänge zwischen verschiedenen Arten der Kriegsvergewaltigung und ihren Folgen herzustellen, da Daten dazu nicht vorhanden sind.

6) Diese Vergewaltigungstypen sind auch Teil der Typologie der Kriegsvergewaltigung, wurden jedoch nicht veröffentlicht.

7) Diese Definition von Vergewaltigung beruht größtenteils auf der Definition des »Römischen Statuts«, das 1998 von dem Internationalen Strafgerichtshof (International Criminal Court, ICC) in »Elements of Crimes, Article 7, Crimes Against Humanity, 7 (1-g), Crime against humanity of rape« definiert wurde. Der Text des »Römischen Statuts» wurde am 17. Juli 1998 in Rom verabschiedet und trat am 1. Juli 2002 in Kraft. Deutsche Übersetzung unter www.admin.ch/ch/d/sr/i3/0.312.1.de.pdf.

8) Der Schwerpunkt dieser BICC-Forschung lag darauf, die Erfahrung von Kriegsvergewaltigung und die Folgen dieser Form von Gewalt zu beschreiben. Einschränkend muss bemerkt werden, dass Kausalfaktoren für Kriegsvergewaltigung nur wenig erforscht sind.

9) Für eine Literaturübersicht siehe: Isikozlu, Elvan und Millard, Ananda S. (2010), op.cit.

10) Manche definieren den Konflikt in BiH als internationalen, manche als internen Konflikt. Die Autorinnen definieren »internationalen Konflikt« als einen Konflikt, an dem zwei oder mehr staatliche Armeen, die nationale Interessen repräsentieren, miteinander Krieg führen. Dies war in BiH nicht der Fall; daher wurde er hier als interner Konflikt aufgeführt.

11) Die maskuline Form ist aus rein sprachlichen Gründen gewählt; sie bezieht sich sowohl auf männliche wie auf weibliche Täter.

12) Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, Artikel 7(g); op.cit.

13) United Nations Economic and Social Council (ECOSOC), Commission on Human Rights: Contemporary Forms of Slavery. Systematic rape, sexual slavery and slavery-like practices during armed conflict. Final report submitted by Ms. Gay J. McDougall, Special Rapporteur (E/CN.4/Sub.2/1998/13), 22. Juni 1998, Absatz 30.

14) Sierra Leone Truth and Reconciliation Commission (2004): Witness to Truth: Report of the Sierra Leone Truth & Reconciliation Commission. Kapitel 3, Vol. 3b, S.174.

15) Ibid.

16) Integrated Regional Information Networks/IRIN (2008): Sierra Leone: Sex Crimes Continue in Peacetime, 20. Juni; www.irinnews.org/report.aspx?REportID=78853.

17) Interview der Autorinnen mit Nidzara Ahmetasevic, Sarajevo, Februar 2009.

18) Bartels, Susan (2010): Now, The World Is Without Me. An Investigation of Sexual Violence in Eastern Democratic Republic of Congo. Cambridge: Harvard Humanitarian Initiative und Oxfam International, April 2010; www.hhi.harvard.edu.

19) Ibid, S.27.

20) Commission for Reception, Truth and Reconciliation in Timor-Leste: Chapter 7.7, Sexual Violence. In: CAVR, Report of Commission for Reception, Truth and Reconciliation in Timor-Leste, Dili: CAVR, 2005. S.98–99.

21) Munala, June (2007): Challenging Liberian Attitudes Toward Violence Against Women: Forced Migration Review, Vol. 27, S.36-37.

22) Bartels, Susan (2010), op.cit, S.23.

23) Americas Watch: Untold Terror. Violence Against Women in Peru’s Armed Conflict. New York: Human Rights Watch, Dezember 1992.

24) Interview der Autorinnen mit Altaira Krvavac, Tuzla, Februar 2009.

25) Folnegovic-Smalc, Vera: Psychiatric Aspects of the Rapes in the War against the Republics of Croatia and Bosnia-Herzegovina. In: Stiglmayer, Alexandra (ed.) (1994): Mass Rape: The War against Women in Bosnia-Herzegovina. Lincoln and London: University of Nebraska Press, S.174-179.

26) Loncar, Mladen, Vesna Medved, Nikolina Jovanovic and Ljubomir Hotujac (2006): Psychological Consequences of Rape on Women in 1991-1995 War in Croatia and Bosnia and Herzegovina. Croat Med Journal, Vol. 47, No. 1, S.67-75.

27) Siehe Isikozlu und Millard (2010), op.cit., für eine Betrachtung dieser Implikationen.

28) So z.B. der Dokumentarfilm »Weapon of War« von Ilse und Femke van Velzen, der sich mit Vergewaltigern im Krieg in der Demokratische Republik Kongo auseinandersetzt; www.weaponofwar.nl.

Dieses Dossier beruht auf der BICC-Publikation »Towards a Typology of Wartime Rape«, BICC brief 43, aus dem Jahr 2010; Autorinnen: Elvan Isikozlu und Ananda S. Millard. Der brief ist das Ergebnis eines Forschungsprojekts über Kriegsvergewaltigung, das durch das Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) gefördert und nach einem doppelblinden Peer-Review-Prozess veröffentlicht wurde. In diesem Dossier werden die wichtigsten Punkte zusammengefasst. Die komplette Publikation ist unter www.bicc.de zu finden.

Einzelfall oder System?

Einzelfall oder System?

Folter in Abu Ghraib

von Gert Sommer

Im Gefängnis Abu Ghraib haben Angehörige der US-Armee systematisch irakische Gefangene gefoltert, u.a. durch Schläge, Isolation, Schlafentzug, Einsetzen von Hunden (für Muslime unreine Tiere), Zwingen zu stundenlangen schmerzvollen körperlichen Haltungen, Aufsetzen von Kapuzen und Androhung von Exekution. Die US-Regierung versucht dies – wider besseres Wissen – als das Fehlverhalten einiger weniger Soldaten darzustellen.

„Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“

(Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 5 UNO, 1948)

Abu Ghraib ist jedoch kein Einzelfall. Im Verlauf des sog. Kampfes gegen den Terrorismus sind mindestens 10.000 Menschen außerhalb der USA in Lagern interniert. Besonders bekannt wurde der US-Stützpunkt Guantánamo auf Kuba, in dem seit über zwei Jahren Menschen ohne jegliche Rechte festgehalten werden.

In Abu Ghraib wurden unmenschliche Methoden eingesetzt, die für Muslime eine besondere Erniedrigung darstellen, z.B. unbekleidet zur Schau gestellt und zu sexuellen Handlungen gezwungen zu werden, und dies z.T. auch in Anwesenheit von Frauen. Traumatische Erfahrungen dieser Art stellen nicht nur aktuell für die Betroffenen eine ungeheuerliche Schande dar, sie führen zudem – neben physischen Schäden bis hin zum Tod (über 30 Gefangene sind in US-Gefangenschaft in Afghanistan und Irak umgekommen) – mit großer Wahrscheinlichkeit mittel- und langfristig zu psychischen Auffälligkeiten wie ständige Übererregtheit, psychische Taubheit und unkontrolliertes Wiedererleben der Erfahrungen, zu sog. posttraumatischen Belastungsstörungen, Ängsten und psychosomatischen Störungen, Depressionen bis hin zu Suizid.

Die Täter – Soldaten und Wachpersonal – scheinen im Zivilleben relativ normale Bürger gewesen zu sein. Was aber motivierte dann ihre Taten? Eine nahe liegende Erklärung, dass hier Sadisten ihre perversen Neigungen auslebten, dürfte kaum angemessen sein. Die psychologische Forschung hat angemessenere Erklärungsmöglichkeiten:

Gehorsam

Die Täter haben auf Befehl gehandelt, und Gehorsam ist eines der wichtigsten Ziele militärischer Ausbildung. Hinzu kommen können Angst vor Bestrafung bei Befehlsverweigerung und Furcht vor sozialem Ausschluss aus der Bezugsgruppe. Die Gehorsamsexperimente von Stanley Milgram haben gezeigt, dass die Mehrheit der Menschen auf Anweisung eines »Wissenschaftlers« bereit ist, anderen Menschen beträchtliche körperliche Schmerzen zuzufügen, etliche sogar bis hin zur (scheinbaren) Tötung des Opfers.

Machtgefälle

In Gefängnissen besteht ein extremer Machtunterschied zwischen Wärtern und Gefangenen. Das Gefühl der eigenen Macht, Stärke und Überlegenheit scheint für viele Menschen eine große Versuchung darzustellen (dies mag für die Täter von Abu Ghraib, mehrheitlich aus der Unterschicht der USA – sog. white trash – besonders relevant sein): Der Unterlegene kann gedemütigt und misshandelt werden, ohne dass dieser sich wehren kann. Sexualisierte Gewalt ist dabei durchaus üblich. Das Gefängnisexperiment von Phil Zimbardo, bei dem Studierende zufällig in die Gruppen der Wärter und Gefangenen aufgeteilt wurden, musste schon nach wenigen Tagen abgebrochen werden: Die »Wärter« behandelten die »Gefangenen« zunehmend brutal bis hin zur sexuellen Erniedrigung.

Angst, Bedrohung, Frustration

Insbesondere in Kriegszeiten können sich die Soldaten einer ständigen Lebensbedrohung ausgesetzt erleben. Diese Angst kann in Gewalt und Brutalität umschlagen. Auch wenn diese Sicht schwer fallen mag: Täter sind nicht selten selbst Opfer –z.B. ihrer Sozialisation, der militärischen Ausbildung, der Überforderung durch die Kriegssituation. Unter »normalen« Bedingungen wären sie keine Folterer. Auch sie können als Folge ihrer Taten intensiv leiden, psychische Störungen ausbilden und gesellschaftlich diskriminiert werden.

Trotz dieser psychologischen Erklärungen ist festzuhalten, dass die Täter für ihre Taten verantwortlich sind: Sie haben andere Menschen gefoltert ohne dazu gezwungen worden zu sein. Aber sind die direkten Täter auch die Hauptschuldigen, wie die US-Regierung zu suggerieren versucht? Dagegen sprechen viele Hinweise: Zum einen der Umgang der USA mit Folter, zum anderen das politische Umfeld in den USA.

Zum Umgang der USA mit Folter

  • Im Gefängnis Abu Ghraib spielten offensichtlich der CIA und der militärische Geheimdienst eine wichtige Rolle, die beide Folterungen der Gefangenen forderten oder zumindest nahe legten, um gewünschte Informationen zu erlangen.
  • Auch in den normalen Gefängnissen der USA sind körperlicher und sexueller Missbrauch »Routine«, wie die New York Times schreibt. Warum sollte es dann in den von den USA kontrollierten Gefängnissen außerhalb der USA weniger brutal zugehen?
  • In Guantánamo sind seit über zwei Jahren Gefangene ohne jegliche Rechte (ohne Anklage, ohne Anwalt und ohne Außenkontakt) unter menschenunwürdigen Bedingungen interniert, sie wurden wohl auch gefoltert. Der damalige Kommandeur von Guantánamo, General Miller, »exportierte« offensichtlich die dort üblichen Verhörmethoden im September 2003 in den Irak.
  • Seit Anfang 2002 gibt es Stellungnahmen von US-Ministerien, dass die Genfer Konventionen für Gefangene in Afghanistan irrelevant seien, d.h. nicht beachtet werden müssen. Die US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat Belege für Folterungen in Afghanistan. Die Genfer Konventionen zur Behandlung von Gefangenen sind inhaltlich weitgehend identisch mit Artikel 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, sie sind rechtlich verbindlich. Sie nicht zu beachten, stellt somit einen Rechtsbruch bzw. ein Kriegsverbrechen dar.
  • Die US-Regierung hat im »Kampf gegen den Terror« Folter »delegiert«. Um schneller Informationen zu erhalten, hat sie Gefangene an Länder ausgeliefert, in denen gefoltert wird, z.B. nach Ägypten und Pakistan.
  • In den USA gibt es eine öffentliche Diskussion über die Zulässigkeit von Folter im »Kampf gegen den Terrorismus«. Dem entsprechend halten 45% der US-Bevölkerung Folter in diesem Zusammenhang für legitim. Die Antifolter-Konvention der UN von 1984 aber ist eindeutig: „Außergewöhnliche Umstände gleich welcher Art, sei es Krieg … oder ein sonstiger öffentlicher Notstand dürfen nicht als Rechtfertigung für Folter geltend gemacht werden“. Zudem sind die Verpflichtungen der Staaten zur Verhinderung des Verbrechens der Folter weit reichend festgelegt, u.a. strafrechtliche Verfolgung der Täter, Unterrichtung über das Folterverbot und Wiedergutmachung für die Opfer.
  • Die US-Armee hat jahrzehntelang in der »School of the Americas«, seit 2001 Western Hemisphere Institute for Security Cooperation, Militär für Lateinamerika ausgebildet, das wesentlich an Folter und politischen Morden beteiligt war.

Wenn wir nur diese wenigen Hinweise zum Umgang der USA mit Folter berücksichtigen, dann können die jetzt angeklagten Folterer im Irak sicherlich nicht als große Ausnahmen angesehen werden. Folter scheint vielmehr ein integraler Bestandteil des Handlungsrepertoires der USA in relevanten Situationen zu sein.

Das gesellschaftliche Umfeld für Folter

Im Zusammenhang mit der Folter im Irak muss darüber hinaus aber auch das politisch-gesellschaftliche Umfeld in den USA, insbesondere unter der Bush-Regierung, beachtet werden.

  • Die USA haben bedeutende internationale Abkommen systematisch boykottiert oder aufgekündigt. Dazu zählen u.a. das Kyoto-Protokoll zur Reduktion umweltschädlicher Emissionen, Verträge zur Begrenzung der Atomwaffenrüstung und – im jetzigen Zusammenhang besonders bedeutsam – der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Das Völkerrecht ist – bei allen Unzulänglichkeiten – eine hoch bedeutsame zivilisatorische Errungenschaft. Wenn die jetzige Bush-Regierung das Völkerrecht offensichtlich so gering schätzt, warum sollten Soldaten und Wachpersonal dann ein anderes Bewusstsein haben?
  • Im Irakkrieg 2003 ging es wesentlich um die Kontrolle der höchst wichtigen Ressource Erdöl. Er war ein Bruch des Völkerrechts, begleitet von systematischer Erniedrigung der Vereinten Nationen und Verhöhnung der Regierungen, die diesen Krieg nicht unterstützten. Wenn aber die US-Regierung so offensichtlich die Charta der Vereinten Nationen missachtet, warum sollte dann der einzelne Soldat der Überzeugung sein, internationales Recht – wie die Genfer Konventionen – sei bindend? Der zeitlich nicht begrenzte »Krieg gegen den Terror« birgt die Gefahr, dass in den USA der Mythos entsteht, unschuldiges Opfer von Gewalt zu sein, und dass man sich deshalb über alle Normen hinwegsetzen könne.
  • Die USA halten sich historisch für ein auserwähltes Land (God’s own country), jede Rede eines US-Präsidenten endet mit „God bless America“. Verschärfend kommt hinzu, dass der jetzige Präsident Bush sich als Werkzeug einer Höheren Macht sieht. Wie schon unter Präsident Reagan geht es dann letztlich darum, dass das Gute (natürlich repräsentiert von den USA) das Böse in der Welt bekämpft – früher den Kommunismus, heute den Terrorismus bzw. die Achse des Bösen. Wenn die Welt so konzipiert wird, dass die eigene Seite das Wahre und Gute repräsentiert (Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie) und dies gemäß göttlicher Vorsehung missionarisch verbreiten soll, dann besteht die Gefahr, dass der Zweck die Mittel heiligt und entsprechend auch höchst zweifelhafte und verbrecherische Mittel als akzeptabel gelten.

Diese wenigen Hinweise zur negativen Haltung der US-Regierung gegenüber internationalem Recht verdeutlichen, dass Folter und unmenschliche Behandlung in Abu Ghraib kein isolierter Verstoß gegenüber dem Völkerrecht sind.

Folterhintergrund: Militär und Krieg

Das Militär ist jene weltweit verbreitete anachronistische Organisation, in der Menschen systematisch dazu gebracht werden, Befehlen von Vorgesetzten zu gehorchen und gezielt zu töten. Militär bedeutet also Sozialisation zum Töten von Menschen und ist somit gegen zivile und humanitäre Grundsätze gerichtet. Im Krieg werden moralische Grundwerte – insbesondere das Tötungsverbot – systematisch verletzt. Kriege bedeuten immer Grausamkeiten und unermessliches Elend.

Betrachten wir die oben genannten Fakten, dann wird deutlich: Verantwortlich sind nicht nur die Einzeltäter, sondern auch das gesellschaftliche System, das diese Täter produziert hat, und die Institution Krieg.

Gert Sommer, Professor für Psychologie an der Universität Marburg, Vorsitzender des Forum Friedenspsychologie, stellv. Vorsitzender Wissenschaft & Frieden, Träger des Preises der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie