Friedensforschung und (De-)Kolonialität

Friedensforschung und (De-)Kolonialität

Workshop, Universitäten Klagenfurt und Augsburg, Klagenfurt, 05.-07. Juli 2022

Was bedeutet es, eine dekoloniale Perspektive auf die Forschung anzuwenden, insbesondere wenn es um die Friedens- und Konfliktforschung selbst geht? Welche Verantwortung und Rechenschaftspflicht haben Forscher*innen – und wem gegenüber? Wie können wir sicherstellen, dass die Forschung nicht gewaltsame und koloniale Praktiken innerhalb und außerhalb akademischer Einrichtungen reproduziert, sondern stattdessen privilegienbewusst und konfliktsensibel ist?

Diese und viele weitere Fragen wurden während eines dreitägigen Workshops an der Universität Klagenfurt im Juli 2022 diskutiert. Dieser Workshop war eine Erweiterung und Vertiefung eines Online-Workshops, der im Oktober 2021 zum gleichen Thema stattgefunden hatte (siehe W&F 1/2022). Der Workshop wurde von Claudia Brunner, Viktorija Ratković und Daniela Lehner (alle Universität Klagenfurt, Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung) sowie Christoph Weller und Christina Pauls (beide Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung, Universität Augsburg) organisiert und durch die Deutsche Stiftung Friedensforschung gefördert.

Ziel des Workshops war es, die Beziehungen zwischen Theorie und Praxis, Haltungen und Handlungen in der Friedens- und Konfliktforschung weiter zu beleuchten und Methoden und Praktiken innerhalb des Feldes selbst, insbesondere im Hinblick auf aktuelle Entwicklungen in der Ukraine, kritisch zu hinterfragen. Daher wurden im Laufe des Workshops vor allem Fragen aufgeworfen, anstatt Antworten gegeben – und diese ermöglichten intensive Diskussionen, aus denen neue Allianzen und Ansätze für dekoloniale Arbeit in der Friedensforschung und -bildung hervorgegangen sind. Viele dieser Aufgaben wurden durch den Online-Workshop schon 2021 initiiert, nun hatten die Teilnehmer*innen die Möglichkeit, ihre Themen zu vertiefen und praktisch zu erkunden. Alle Beiträge wurden nach dem »Gegenleseprinzip« präsentiert, d.h. der Text wurde nicht von Autor*innen, sondern von anderen Teilnehmer*innen vorgestellt und in der Gruppe diskutiert. Neben der reinen Textarbeit hatten die Teilnehmer*innen die Möglichkeit, an einer von Christoph Weller (Universität Augsburg) konzipierten und moderierten Sitzung teilzunehmen, die sich dem Ukrainekrieg als Herausforderung für Friedensstudien, Friedenserziehung und (De-)Kolonisierung widmete, und in einem von Joschka Köck (Theater der Unterdrückten Wien) gestalteten Begegnungsraum einen Einblick in das körperliche und szenische Forschen zu erhalten.

Der Beitrag von Sebastian Garbe befasste sich mit der Positionierung von Forscher*innen im wissenschaftlichen Prozess und reflektierte die Doppelrolle von Aktivist*innen und Forscher*innen, wobei er den Unterschied zwischen Selbstzentrierung und Transparenz der Forschung hinterfragte. In der Diskussion sind die Teilnehmer*innen zu der Einsicht gelangt, dass auch hegemoniale Selbstkritik selbst Forscher*innen in den Mittelpunkt stellen kann und dass Phänomene, die von Natur aus relational sind, nicht immer von einer einzigen Person angemessen erklärt bzw. theoretisiert werden können. Daher sprach sich Garbe für mehr Transparenz in der Kommunikation von Forschungsmethodologie, -prozessen und -ergebnissen aus. Das zentrale Thema seines Beitrags war jedoch die Solidarität mit und von den Mapuche als Forschungssubjekten, insbesondere basierend auf einem relationalen Verständnis von Solidarität, sowie die Ausübung von Solidarität als Einzelperson oder bei fehlenden Ressourcen. Relationale Verständnisse von Solidarität basieren weder auf Gegner*innenschaft noch auf Abgrenzungen von »Innen« und »Außen«, sondern betrachten Solidarität als eine gegenseitige dauerhafte Verpflichtung, die immer wieder neu ausgehandelt werden muss.

Juliana Krohn setzte das Gespräch über Solidarität fort, indem sie auf die Diskrepanzen zwischen den erklärten Verpflichtungen zur Beendigung institutioneller Gewalt und dem tatsächlichen Mangel an Solidarität in der Praxis hinwies. Sie warf auch die Frage auf, wer zur Rechenschaft gezogen werden sollte, wenn in bestimmten Situationen Gewalt beobachtet oder ausgeübt wird. Auch wenn es in vielen Fällen nicht möglich ist, eine generalisierte Anleitung für diese Fälle zu finden, waren sich die Diskussionsteilnehmer*innen einig, wie wichtig es ist, sich mit der eigenen Impliziertheit, wie auch den eigenen Gefühlen der Ohnmacht und Überforderung als Zeug*innen auseinanderzusetzen, um diejenigen zu unterstützen, die direkt von Gewalt betroffen sind. Die Autorin betonte, dass selbst an Universitäten Gewalt ausgeübt wird, und dass die Friedens- und Konfliktforschung selbst möglicherweise nicht konfliktsensibler als andere Disziplinen ist, sondern sogar eine geringere Selbstwahrnehmung haben kann, wenn es um den Umgang mit unterschiedlichen Formen von Gewalt, wie institutioneller und symbolischer Gewalt, geht. Die Problematik läge darin, dass Vertreter*innen der Disziplin sich für besonders friedensorientiert und konfliktsensibel halten, aber in eigenen lebensweltlichen Kontexten kaum gegen Gewalt einstehen. Dadurch sei die Lücke zwischen Theorie und Praxis der Friedens- und Konfliktforschung sehr groß, was die Glaubwürdigkeit von Vertreter*innen der Disziplin zunehmend reduziere.

Den zweiten Tag des Workshops begann Cora Bieß mit einer Diskussion über den »Do No Harm«-Ansatz, indem sie ihn mit dem »HEADS UP«-Tool von Vanessa Andreotti konterkarierte (siehe S. 37ff. in dieser Ausgabe). Es wurde darüber diskutiert, wer definiert, was als schädlich oder wohltuend definiert wird. Um zu vermeiden, dass Do No Harm zu einem leeren Slogan ohne Substanz verkommt, muss sichergestellt werden, dass sich alle Konfliktparteien darüber im Klaren sind, wer die Entscheidungsgewalt darüber hat, was als nützlich und was als schädlich in einem bestimmten Kontext angesehen wird. Die Diskussion führte zu einem Gespräch darüber, welche wissenschaftlichen Ansätze der Friedenspädagogik Schaden anrichten können und welche materiellen Konsequenzen verschiedene Ansätze haben können. Dabei wurde beispielsweise die Messbarkeit und Operationalisierbarkeit von Bildungsprozessen kritisiert, welche oft durch Projektlogiken begrenzt und verkürzt werden. Weitere potentielle Schäden könnten entstehen, wenn ein geringes Maß an Machtsensibilität besteht und Friedenspädagogik nur als konfliktsensibles, nicht aber machtsensibles Handeln aufgefasst wird. Es wurde auch darüber gesprochen, dass die strenge Einhaltung von HEADS UP auch dazu führen kann, dass bestimmte Projekte oder Interventionen, die nicht dem Ansatz entsprechen, gar nicht erst angefangen werden. Dies könnte direkte materielle Konsequenzen haben, wenn die finanziellen Ressourcen solcher Projekte an den erforderlichen Stellen nicht verfügbar sind. Der Beitrag hob auch die Bedeutung einer privilegien- und konfliktsensiblen Haltung in der Praxis der friedenspädagogischen Arbeit hervor und ging der Frage nach, wie Konflikte von den Beteiligten, einschließlich der Interventionspartei, transformiert werden können.

Michaela Zöhrer und Christina Pesch berichteten über das partizipative Forschungsprojekt »Farida Global«, das als Versuch gestartet wurde, denjenigen die Entscheidungsmacht und die Macht der Wissensproduktion zurückzugeben, deren Situation von Forscher*innen und Journalist*innen oft ausgenutzt wird, in diesem Fall den Überlebenden des Völkermords an den Jesiden. Es wurden Fragen der Repräsentation, der Präsenz und der Abwesenheit im wissenschaftlichen Kontext aufgeworfen sowie die Art und Weise, wie die Betroffenen selbst Wissen produzieren oder verfügbar machen können, wobei auch das Schweigen eine Form des Widerstands darstellt. In der Diskussion wurde festgestellt, dass die (universitären) Räume, in denen Menschen ihre Lebensgeschichten erzählen, so gestaltet sein müssen, dass diese Menschen – Überlebende – einbezogen werden. Diese Inklusivität muss jedoch die Bedürfnisse der Betroffenen berücksichtigen und sie nicht nur um der Forschungsgerechtigkeit willen einbeziehen. Das könnte beinhalten, dass zentrale Begriffe von ihnen selbst hervorgebracht und mit Inhalt gefüllt werden, wie beispielsweise der Begriff des »respektvollen Umgangs«, den sich die Überlebenden von der Wissenschaft wünschen.

Widerstand als zentrales Element in der Menschenrechtsbildung wurde im Beitrag von Josefine Scherling ausführlich diskutiert. Sie ging darauf ein, was Widerstand ist und welche Arten von Widerstand in verschiedenen Gesellschaften erlaubt (oder legal) sind, sowie darauf, wie er manchmal romantisiert oder vereinnahmt wird. Im Gespräch wurde thematisiert, dass Widerstand nicht selten mit Gewalt, Unterdrückung und Konflikten einhergehe, auch wenn Gewaltfreiheit immer wieder deklariertes Ziel konkreter Widerstandsbewegungen sei: Widerstand ist gefährlich, in manchen Kontexten mehr als in anderen. Deshalb sollten Friedensforscher*innen sensibel dafür sein, wie sie über Widerstand nachdenken und ihre eigene soziale wie geographische Verortung mit einbeziehen. Die Genealogie der Menschenrechte wurde erörtert, insbesondere die Tatsache, dass sie in ihrer Entwicklung selbst soziale Hierarchien hervorgebracht haben. Ein weiterer Diskussionspunkt war ein nicht-eurozentrischer Blick auf die Geschichte der Menschenrechte, z.B. anhand einer Ausrichtung von Geschichtserzählungen an der Haitianischen Revolution, sowie auf Visionen und Alternativen und unterschiedliche lokale Bezugsrahmen zu diesem Thema. Dabei wurde festgehalten, dass Perspektiven aus dem Globalen Süden als Ausgangspunkt für historische Erzählungen der Menschenrechte dienen sollten.

Die Diskussion der Beiträge der Teilnehmer*innen wurde mit der Präsentation des Beitrags von Maria Zhiguleva abgeschlossen, in dem sie sich mit post- und dekolonialen Theorien und deren Anwendung im postsowjetischen Raum befasste: insbesondere mit den Möglichkeiten und Grenzen dieser Anwendungen. Obwohl es strukturelle Unterschiede zwischen den Imperien (in diesem Fall in Europa und Russland/UdSSR) gibt, sind die Beziehungen zwischen dem Zentrum in Moskau und den Regionen in der Peripherie zu beobachten, und der interne Kolonialismus kann für diese Region relevant sein. Ein Schwerpunkt lag auf den praktischen Implikationen für die Friedensbildung, wobei die Frage gestellt wurde, ob es Maßnahmen gibt, die ergriffen werden können, um das Ende der Gewalt gegenüber der Ukraine heute zu fördern und die Bedingungen und den Kontext des postkolonialen Friedens in der Region in Zukunft zu überprüfen. In der Diskussion sprachen die Teilnehmenden die Tatsache an, dass Kolonialität vielfältig und vielschichtig ist und dass es für die Analyse des Kolonialismus im postsowjetischen Raum sinnvoll sein könnte, spezifische Verbindungen zu neuen imperialen und maskulinen Regimen zu identifizieren. Darüber hinaus wurde Trauma als Instrument der Kolonisierung genannt, insbesondere das transgenerationale Trauma als Instrument zur Verursachung von Schäden, die über Generationen hinweg andauern – wie etwa am Beispiel des Stalinismus zu sehen.

Die Sitzung, die dem Krieg in der Ukraine als Herausforderung für die Friedens- und Konfliktforschung gewidmet war, wurde von Christoph Weller organisiert und moderiert. Ziel war es, die persönliche Positionierung, Erwartungen und Verantwortung jedes Einzelnen als soziales, politisches und wissenschaftliches Subjekt zu reflektieren. Fragen der Gewaltfreiheit als Thema, getrieben durch das Privileg, nicht in einem kriegsgebeutelten Land zu leben, wurden ebenso diskutiert wie Fragen der (Un-)Sichtbarkeit im Hinblick auf aktuelle Konflikte in anderen Weltregionen, die durch Doppelmoral und unterschiedliche Haltungen geprägt sind (z.B. Afghanistan oder Syrien). Gewaltfreiheit, Gewaltreduzierung und die Mittel zu ihrer Erreichung wurden im Zusammenhang mit dem Krieg (und Cyberwar) in der Ukraine erörtert, und die Positionierung des Westens und der deutschsprachigen Länder als Teil (oder nicht Teil) des Konflikts wurde ebenfalls diskutiert. Die Gruppe ist zu dem Schluss gekommen, dass Forscher*innen in der Friedens- und Konfliktforschung eine besondere Verantwortung haben, hegemoniale Konfliktquellen zur Sprache zu bringen und die Aufmerksamkeit für andere laufende Konflikte, in denen teils akute Unterversorgung herrscht, nicht zu verlieren. Die Positionierung Europas als »Friedensmacht« wurde hervorgehoben und kritisiert, ebenso wie die Notwendigkeit, die Analyse auf alle Aspekte des Krieges auszuweiten: der Diskurs über Waffenlieferung kann nicht andere wichtige Sachleistungen, Unterstützungsstrukturen und Programme der psychischen Gesundheit und psychosozialen Unterstützung ersetzen, die ebenfalls dringend notwendig sind.

Am dritten und letzten Tag des Workshops wurden die Teilnehmer*innen in einer von Michaela Zöhrer konzipierten und moderierten Abschlusssitzung gebeten, über die während des Workshops aufgeworfenen Fragen zu reflektieren, ihre Meinung zu offenen und ungelösten Lücken und Diskrepanzen zu äußern und über ihre Erwartungen sowie über mögliche Lösungen und nächste Schritte zu sprechen, die Forscher*innen in ihrer weiteren wissenschaftlichen Arbeit nutzen könnten. Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, Aktion und Haltung, war eines der drängendsten Themen, die auf dem Workshop diskutiert wurden. Die Wichtigkeit, das eigene Selbstbild und die tatsächlichen Handlungen zu betrachten, sowie die Notwendigkeit, generell mehr zu handeln, wurde geäußert. Das Zusammentreffen im Workshop und die Arbeit in der Gruppe hat die Teilnehmer*innen dazu gebracht, über die Bedeutung von Gemeinschaft und Solidarisierung in der Friedens- und Konfliktforschung nachzudenken. In dem Rahmen wurde die Bedeutung der Schaffung sicherer – und mutiger – Räume praktisch erprobt und theoretisch als Grundlage dafür reflektiert, wie jede*r Forscher*in zu ihrer Schaffung beitragen kann, um die eigene Verantwortung zu übernehmen.

Kontakt: decolonizepeace@aau.at

Maria Zhiguleva

Für wen oder was schreiben sie?

Für wen oder was schreiben sie?

Die Unzugänglichkeit der Friedensforschung

von Primitivo III Cabanes Ragandang

Wenn wir über die aktive Friedensforschung im Feld schreiben, wozu dient dies? Welchen Wert hat es für die Gemeinschaft(en), die unter der Abwesenheit von Frieden leiden? Schreiben wir für die reine Wissensproduktion? Welchen Nutzen können Gemeinschaften aus unseren Schriften ziehen? Diesen Fragen geht der vorliegende Artikel aus der Perspektive eines Friedensforschers nach, der sich in der Gemeinschaft engagiert und zum Wissenschaftler geworden ist.

Bevor ich mich der akademischen Welt zuwandte, arbeitete ich in Vollzeit in einer von Jugendlichen geleiteten gemeinnützigen Organisation, die sich für die Gewaltprävention in Mindanao auf den Philippinen einsetzt. Mindanao wird als die Heimat des zweit­ältesten Konflikts der Welt bezeichnet, eines Konfliktes, der sich um das Streben der islamisierten Moro-Stämme nach Selbstbestimmung dreht. Mein Interesse an der Friedensarbeit begann bereits während des Studiums, als ich mich in außerschulischen Friedensinitiativen engagierte, Hilfsgüter für die Evakuierten sammelte und Sitzungen zur Traumaheilung mit Jugendlichen und Kindern durchführte. Als Praktiker verstand ich die Friedensarbeit als ein direktes Engagement für die Gemeinschaft, insbesondere für diejenigen, die von langwierigen Konflikten betroffen sind.

Eines Tages sagte mir mein ehemaliger Professor, ich solle Zeit finden, um einen Master-Abschluss zu machen, denn „die Leute hören mehr auf Akademiker*innen als auf Praktiker*innen“. Später schloss ich einen Aufbaustudiengang ab und fand eine Stelle im akademischen Bereich, wo ich in Vollzeit als Assistenzprofessor in der Abteilung für Politikwissenschaften tätig bin. Da ich von einer Universität in Mindanao komme, folge ich einer Erkenntnisweise, die besagt, dass Friedens»forschung« genauso wichtig ist wie die Friedens»arbeit« in der Praxis mit der Gemeinschaft. Es ist für mich zu einer eingeprägten erkenntnistheoretischen Haltung geworden, die dem ähnelt, was Furlong und Marsh (2002) als „Haut, nicht Pullover“ beschrieben haben. Selbst in meiner neuen Rolle in der Wissenschaft ist diese erkenntnistheoretische Einstellung wie eine Haut, die sich nur schwer abstreifen lässt, da sie sich durch jahrelanges Friedensengagement vor Ort entwickelt hat.

Nach drei Jahren im akademischen Bereich erhielt ich ein Promotionsstipendium in Australien. Auf einer akademischen Konferenz, auf der ich meine Forschung als Friedenspraktiker vorstellte, wurde mir gesagt, ich solle in der Wissenschaft nicht zwei Hüte gleichzeitig tragen. Denn in der Wissenschaft zu sein bedeute, den Hut der Praktiker*in zurückzulassen. Ich wurde auch gebeten, von normativ geprägten Forschungsfragen abzusehen und einen Mittelweg in der Auseinandersetzung mit Theorien beizubehalten, was bedeutet, dass ich mich selbst nicht in meine Analyse einbeziehen sollte. Es fiel mir schwer zu verstehen, dass es 17 Revisionen meiner Forschungsfragen für meine Dissertation brauchte, bevor sie akademisch akzeptabel wurden. Dies war ein Wendepunkt für mich. Mir wurde klar, dass Wissenschaftler*innen leicht Zugang zum Feld der Praktiker*innen haben, um Daten zu sammeln, während es für einen Praktiker schwierig ist, Zugang zum Feld der Wissenschaftler*innen zu bekommen.

Bloße Beschreibung der Gemeinschaft, keine Intervention

In meiner Diplomarbeit im Grundstudium untersuchte ich einen indigenen Stamm im Hinterland in Nord-Mindanao. Nach den Interviews schenkte ich den Teilnehmer*innen Salz, getrockneten Fisch, einige alte Jeans und Hemden sowie Nudeln. Das war meine Art, mich bei ihnen zu bedanken, eine Praxis, die ich bei meiner Arbeit in einer gemeinnützigen Organisation gelernt hatte. Später erfuhr ich auf einer Reihe internationaler Konferenzen, dass das Geben von Geschenken an die Teilnehmer*innen als problematische Praxis angesehen wird, die gewisse ethische Dilemmata birgt (siehe Collins et al. 2017; Head 2009). Diese Ansicht war für mich jedoch rätselhaft. Warum sollten wir der Gemeinschaft, zu der wir vor der Datenerhebung eine Beziehung aufgebaut und die erforderlichen Rituale eingehalten haben, keine Geschenke machen? Wenn das Geben von Geschenken möglicherweise die Antworten der Teilnehmer*innen verändert, wie authentisch sind wir dann beim Aufbau einer Beziehung zu der Gemeinschaft, zu der wir Zugang haben?

Die Praktiker*innen bringen die Erfahrungen, die sie in der Praxis gesammelt haben, in das akademische Umfeld ein. Eine jahrzehntelange Erfahrung vor Ort ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einem Vorteil in der akademischen Welt. Vielmehr ist es für den*die Praktiker*in eine Herausforderung, sich an die wissenschaftlichen Standards anzupassen, die es oft erfordern, den Hut des*der Praktiker*in abzulegen. So ist beispielsweise die strategische Fallauswahl eine methodische Angelegenheit, da das Versäumnis, den ausgewählten Fall zu begründen, ein Grund für eine Verzerrung der Auswahl sein kann. Für eine*n Praktiker*in stellt sich die Frage der Voreingenommenheit nicht, wenn er*sie seinen*ihren eigenen Hinterhof untersucht, vor allem, wenn er*sie auf den Nutzen für die Gemeinschaft abzielt.

Die Praktiker*innen (und die Gemeinschaften, in denen sie tätig sind) werden zu Versuchstieren, deren Aktionen und Reaktionen bei der Arbeit vor Ort von den Wissenschaftler*innen beobachtet, interpretiert und diskutiert werden. Es gibt also eine Durchlässigkeit in der Welt der Praktiker*innen, aber kaum eine Durchlässigkeit auf der anderen Seite des Kontinuums.

Spivak (2004) beschrieb diese Form des Beobachtetwerdens als die Produktion einer zeitgenössischen Form der Subalternität: eine Umwandlung der Subalternität in eine Eigenschaft. Wissenschaftler*innen begeben sich ins Feld, holen als ethische Voraussetzung die Zustimmung ein, führen Interviews, kodieren Daten und veröffentlichen Ergebnisse, die auf ihrer Interpretation beruhen. Die Interpretation wird fortgesetzt, da die Wissenschaftler*innen eher dazu neigen, zu debattieren, als sich mit dem Problem zu befassen, von dem sie vor Ort erfahren haben. In diesem Fall werden die Gemeinschaft und der*die Praktiker*in zu einer Eigenschaft, auf die sich die Wissenschaft stützt, um Daten und Textinhalte zu produzieren. Die Beziehungen, die der*die Wissenschaftler*in während der Datenerhebung in der Gemeinschaft aufbaut, haben keinen greifbaren Nutzen für den Ort, an dem die Beziehungen aufgebaut werden. Dies steht im Einklang mit dem Argument von Todd (2016), dass in der Wissenschaft zwar Wissen geschaffen, legitimiert und reproduziert wird, dass es aber auch diese akademischen Strukturen sind, die die Verwirklichung von transformativen Zielen verhindern. In der Tat wird die Gemeinschaft manchmal gewarnt, keine Hilfe von einem Forschungsengagement zu erwarten, da es nicht in erster Linie darauf abziele, ihre Situation zu verbessern. Es dient nur zu Forschungszwecken.

Implikationen dieser Diskrepanz

Diese Herangehensweise und akademische Tradition der Wissensproduktion ist eine generationenübergreifend sedimentierte, tief verwurzelte Kultur. Sie lässt den Wissenschaftler*innen kaum Raum für eine direkte Auseinandersetzung mit der Gemeinschaft. Die Starrheit dieser Tradition bleibt selbst dann bestehen, wenn dringende Probleme nicht aus der Ferne, sondern direkt vor der Haustür der Hochschulen und der umliegenden Gemeinschaften auftreten. Wenn diese Kultur in Frage gestellt wird, verteidigt sie sich mit dem Begriff der »Forschungsfreiheit«. Da die Kultur stärker ist als die Politik, wird ein bloßes Memorandum der Universität diese Kultur nicht ändern. Es wird Zeit brauchen, dies zu ändern, und der Globale Süden sollte die Führung übernehmen, wie es einige bereits getan haben.

Wenn wissenschaftliche Arbeiten hauptsächlich im Hinblick auf die Bedürfnisse und Ziele der politischen Entscheidungsträger*innen verfasst werden, bedeutet dies, dass wir die Hilfe bürokratisieren und unsere guten Absichten aufschieben, der Gemeinschaft helfen zu wollen. Ausgehend von den Rohdaten interpretieren die Wissenschaftler*innen diese und verfassen Ergebnisse, die dann von den politischen Entscheidungsträger*innen neu interpretiert und als Grundlage für die Ausarbeitung von Interventionsprogrammen verwendet werden. Zu dem Zeitpunkt, an dem diese Programme dann die Gemeinschaft(en) erreichen, gibt es bereits eine nicht unerhebliche Interpretationslücke gegenüber der Zeit und der Bedeutung, als die Rohdaten von der Gemeinschaft gesammelt wurden. Dies führt zu Interventionsprogrammen, die manchmal nicht unbedingt den Bedürfnissen vor Ort entsprechen. Um solche prozessverzögerten Interventionen anzugehen, können die Wissenschaft und die Wissenschaftler*innen selbst den Rahmen dafür ändern, wie der aktuelle Prozess der Wissensproduktion aussieht und welche Rolle er bei der Herbeiführung eines progressiven Wandels in den Gemeinschaften spielen kann.

Da gesellschaftliche Probleme direkt vor der Haustür der Wissenschaftler*innen auftreten können, bedeutet dies, dass es eine moralische Verpflichtung ist, auf sie zu reagieren, und dies die dringende Aufmerksamkeit der Forscher*innen erfordert. In diesem Fall ist es angebracht, dass die Wissenschaftler*innen bei ihrer Friedensforschung stets die Gemeinschaft im Auge behalten. Natürlich ist die theoretische Forschung ebenso wichtig, aber ich behaupte, dass der Einsatz unserer wissenschaftlichen Arbeit zur Lösung gesellschaftlicher Probleme mindestens ebenso wichtig ist. Es ist wichtig, am Ende eines jeden wissenschaftlichen Artikels einen Abschnitt mit Vorschlägen für eine Aktionsagenda zu geben, anstatt mit Argumenten zu enden, die die Punkte akademischer Debatten wiederholen. Eine solche Aktionsagenda sollte jedoch die Ansichten der Gemeinschaft einbeziehen und nicht nur die Ansichten der Forscher*innen.

Romantisierung des Wissenschaft-Aktivismus-Nexus?

In diesem Beitrag soll der »Vorteil« von Friedenspraktiker*innen beim Zutritt zur Friedensforschung (und zur akademischen Welt im Allgemeinen) nicht romantisiert werden. Ich erkenne die Herausforderung an, zwei Herren gleichzeitig zu dienen, und die potenziellen Risiken, wenn Wissenschaft und Aktivismus zusammenkommen. Zu diesen Risiken gehört, dass man zu sehr mit Forschung, Lehre und aktivistischer Arbeit beschäftigt ist, die zu den administrativen Aufgaben hinzukommen, die ein*e Akademiker*in normalerweise auch noch wahrnimmt. Letztendlich kann dies zu gesundheitlichen Risiken durch Burnout und zu zu wenig Ruhezeiten führen. Für einen Akademiker aus dem Globalen Süden, der in einem Konfliktgebiet lebt, ist dies eine noch größere Herausforderung, wenn die strukturelle Unterstützung geringer und die familiären Verpflichtungen größer sind.

Ich behaupte jedoch, dass im Zusammenhang mit der Hilfe für notleidende Gemeinschaften die Vorteile diese Risiken überwiegen. Die Verbindung von Wissenschaft und Aktivismus bietet uns eine neue Sichtweise und ein neues Instrumentarium zur Nutzung der Forschung, um Gemeinschaften in (Post-)Konfliktsituationen zu helfen (siehe Bracamonte, Boza und Poblete 2011; Ragandang 2020). Die Kombination beider Ansätze ist wirkungsvoller, als den einen über den anderen zu stellen. Mein Hauptargument ist, dass wir einen Paradigmenwechsel bei der Herangehensweise an die Forschung brauchen: weg von der reinen Wissensproduktion, hin zu einer Forschung, die mit einem proaktiven Engagement für die Gemeinschaft verbunden ist. Die Einbindung in die Gemeinschaft ist eine moralische Verpflichtung, die sicherstellt, dass die Disziplin auch in Zukunft für diejenigen Sinn ergibt, die am Rande der akademischen Türme stehen.

Solche Erwartungen gelten insbesondere für die Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen aus den (Post-)Konfliktkontexten des Globalen Südens: Wir sind in einer strategischen Position, um die Geschichte zu erzählen und die Sichtweise für die Menschen im Globalen Norden und darüber hinaus zu beschreiben. Wir sehen die Situation aus erster Hand oder leben mit der (Gewalt-)Situation, die wir in unserem täglichen Leben zu bewältigen versuchen.

Während ich diesen Artikel schreibe, flüstert der Subalterne in mir, dass ich nicht zu provokante Argumente nutzen sollte, die den Status Quo in Frage stellen. Das ist ein Tabu, vor dem mich meine Großmutter und unsere Kultur gewarnt haben. Aber ich denke, genau das ist der Zweck dieses Artikels (siehe Ragandang 2022) – also hoffe ich, dass mein subalternes Ich mich jetzt beruhigen wird. Angesichts der drängenden Probleme, mit denen (Post-)Konfliktgesellschaften konfrontiert sind, müssen Friedensforscher*innen ihre derzeitige Rolle in der Wissensproduktion unbedingt neu konfigurieren, damit ihre Präsenz für die Gemeinschaft einen Sinn ergibt. Wird diese Rolle nicht überdacht, vergrößert sich die Kluft zwischen Friedenspraktiker*innen und Friedenswissenschaftler*innen. Außerdem wird sich dann immer wieder die Frage stellen: „Für wen oder was schreiben sie denn?“

Literatur

Bracamonte, N. L.; Boza, A. S.; Poblete, T. O. (2011): From the seas to the streets: The Bajau in diaspora in the Philippines. International Proceedings of Economics Development and Research 20 (2011), S. 287-291.

Collins, A. B. et al. (2017): “We’re giving you something so we get something in return”: Perspectives on research participation and compensation among people living with HIV who use drugs. International Journal of Drug Policy 39, S. 92-98.

Head, E. (2009): The ethics and implications of paying participants in qualitative research. International Journal of Social Research Methodology 12(4), S. 335-344.

Marsh, D.; Furlong, P. (2002): A skin, not a sweater: ontology and epistemology in political science. In: Marsh, D.; Stoker, G. (Hrsg.): Theory and Methods in Political Science. Cham: Palgrave Macmillan, S. 17-41.

Ragandang, P. (2020): Youth as conflict managers. Peacebuilding of two youth-led non-profit organizations in Mindanao. Conflict Studies Quarterly 30, S. 87-106.

Ragandang, P. (2022): What are they writing for? Peace research as an impermeable metropole. Peacebuilding 10(3), S. 265-277.

Spivak, G. (2004): The trajectory of the subaltern in my work. Video, University of California Television, 8.2.2004.

Todd, Z. (2016): An indigenous feminist‘s take on the ontological turn:‘Ontology’ is just another word for colonialism. Journal of Historical Sociology 29(1), S. 4-22.

Primitivo III Cabanes Ragandang ist Doktorand an der Australian National University und erforscht die Rolle des kollektiven Gedächtnisses bei der Entstehung von generationenübergreifender Resilienz. Er ist der Gründer des »BHOLI Youth Centre« auf den Philippinen.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing.

Mikrokredite

Mikrokredite

Kontroversen, empirische Befunde und aktuelle Entwicklungen

von Sophia Cramer

Sozial und ökologisch nachhaltige Geldanlagen werden immer beliebter, seit Jahren steigen die Investitionsvolumina. Die deutsche Bundesregierung beabsichtigt mit der gezielten Kanalisierung von Finanzinvestitionen die Lösung gesellschaftlicher Probleme, seit August 2022 müssen Anlageberatungen Kleinanleger*innen zu ihren Nachhaltigkeitspräferenzen befragen. Investitionen in Mikrofinanzorganisationen (MFO), die Mikrokredite bereitstellen, sind ein Beispiel für »soziales Investment«. An empirischen Beispielen geht der Beitrag der Frage nach, welchen Nutzen sie haben und welche Risiken mit ihnen verbunden sind.

Mikrokreditprogramme1 erlangten in den 1990er-Jahre als Mittel zur Bekämpfung weltweiter Armut Prominenz, wurden 2006 mit der stellvertretenden Auszeichnung von Muhammad Yunus und der Grameenbank mit dem Friedensnobelpreis geehrt und verbreiten sich – auch mithilfe der Gelder öffentlicher und privater Investoren – seitdem rasant (Abb. 1). Der Nutzen von Mikrokrediten wird kontrovers diskutiert. Befürworter*innen stellen ihr transformatives Potential heraus: Menschen erhielten durch Kleinkredite Investitionsmittel für unternehmerische Tätigkeiten, Bildung, Gesundheit oder Energie, die ihnen die Chance eröffneten, sich aus eigener Kraft aus ihrer wirtschaftlichen Misere zu befreien (Yunus 2004). Frauen profitierten dabei besonders (Hansen et al. 2019). Der unabhängige UN-Experte für Auslandsschulden kritisiert aber 2020 in einem Bericht an den UN-Menschenrechtsrat: „Es hat sich jedoch gezeigt, dass Mikrokredite in vielen Fällen das Gegenteil von dem bewirken, das beabsichtigt war, einschließlich […] der Entstehung einer ‚Armutsfalle‘. […] Zwar konnten einige kurzfristige Vorteile festgestellt werden, doch wurden sie auch mit einer Schuldenspirale in Verbindung gebracht, die zu Verarmung, dem Zusammenbruch von Familien und sogar Selbstmord führte” (UNOHCHR 2020, Abs. 32).

Quelle: Eigene Zusammenstellung mit Daten des MIX Market Financial Performance Dataset, 1999-2019. URL: https://datacatalog.worldbank.org/dataset/mix-market

Wie lassen sich diese diskrepanten Einschätzungen erklären?

Armutsreduzierung und Empowerment

Es gibt viele Studien, die sich mit der Frage nach der Wirkung von Mikrokrediten auf die sozioökonomische Situation der Kund*innen beschäftigen, sie erzeugen aber ein ambivalentes Bild. Eine systematische Metastudie kommt zu dem Schluss, dass aufgrund methodologischer Mängel keine gesicherte Aussage gemacht werden könne (Duvendack et al. 2011). Problematisch sei dieser Befund einer weiteren Metastudie zufolge, weil vor allem die Studien von geringerer methodischer und konzeptueller Qualität zu positiven Einschätzungen kämen und dadurch falsche Schlussfolgerungen nahelegten (Duvendack und Mader 2019).

Eine Ausnahme sind randomisierte, kontrollierte Studien (kurz: RCT). Sechs RCTs, die in Bosnien und Herzegowina, Äthiopien, Indien, Mexiko, Mongolei und Marokko durchgeführt wurden (Banerjee et al. 2015a), untersuchen die sozioökonomischen Effekte von Mikrokrediten auf Neukund*innen (d.h. neue selbstständige Tätigkeit, Einnahmen und Ausgaben in Mikrounternehmen sowie Haushaltskonsum von Verbrauchs- und langlebigen Gütern). Keine der Studien beobachtete wesentliche Einkommensverbesserungen der Mikrounternehmen und Haushalte. Die Studie zu Indien stellt fest, dass die wenigen neugegründeten Unternehmen noch kleiner und weniger profitabel sind als der Durchschnitt der Mikrounternehmen in der Region, von denen die große Mehrheit bereits klein und unrentabel ist“ (Banerjee et al. 2015b, S. 45). Nur bei den profitabelsten 15 Prozent der Mikrounternehmen beobachteten die Autor*innen steigende Profite. Auch der durchschnittliche Konsum der Haushalte stieg nicht, aber es veränderten sich die Prioritäten: Ausgaben für Gebrauchsgüter wie Kühlschränke, Motorräder, Gold, Kleidung oder Fernseher stiegen, während jene für vermeidbare Güter (z.B. Tabak, Alkohol, Feiern) zurückgingen.

Diese Ergebnisse stehen im Kontrast zum Legitimierungsnarrativ für Mikrokredite: alle Menschen seien Unternehmer*innen mit ausgeprägtem Geschäftssinn. Die Innovationskraft von einkommensarmen Menschen, die keinen Zugang zu formalen Bankdienstleistungen haben, könne durch Mikrokredite freigesetzt werden. Trotz hoher Zinsen – weltweit durchschnittlich ca. 20 Prozent Portfolioerträge, in Mexiko sogar 74,7 Prozent (Cramer 2021) – seien kreditfinanzierte Investitionserträge in Mikrounternehmen überdurchschnittlich hoch und verbesserten damit ihre Einkommenslage (Rosenberg 2002).

Die ökonomischen Realitäten sehen anders aus. Viele Mikrokreditempfänger*innen sind informelle Kleinunternehmer*innen, die einfache Handels- und Dienstleistungsunternehmen wie Gemischtwarenläden oder kleine Restaurants betreiben, die sich in städtischen Gebieten besonders konzentrieren. Bateman und Chang (2012) erklären mit Verweis auf das begrenzte Potenzial lokaler Märkte, dass Mikrokredite künstlich die Anzahl der Mikrounternehmen erhöhten. Dies führe zu einem »Hyperwettbewerb« zwischen Mikrounternehmen des gleichen Typs und abnehmenden Erträgen für jedes einzelne Unternehmen. Investitionen in MFO zementierten deshalb ein weltweit verbreitetes System informeller Kleinwirtschaft, das wenig Wachstumspotenzial für Jobs und stabile Einkommen böte.

Ein ähnliches Bild zeigt sich im ländlichen Raum, ein priorisierter Bereich im Mikrofinanzsektor. Auch Programme für Ernährungssicherheit wie die »Allianz für eine grüne Revolution« (AGRA) oder die »Sonderinitiative EINEWELT ohne Hunger im südlichen Afrika« der deutschen Bundesregierung fördern für die Finanzierung von Agrar­inputs den Zugang zu Mikrokrediten (AGRA 2019; BMZ 2019). Eine Studie über die AGRA-Initiative beobachtete in Sambia und Tansania aber, dass einige Kleinbäuer*innen in eine Schuldenfalle rutschten (RLS et al. 2020). Misra (2019) zeigt in einer Untersuchung in Bangladesch, dass Landwirtschaft insbesondere für den Eigenbedarf betrieben wird. Mikrokreditfinanzierte Investitionen werden also nicht primär für die Kommerzialisierung von Produkten getätigt und tragen deshalb wenig zur Einnahmensteigerung bei. Zudem berücksichtigen die Kreditprodukte und Rückzahlungskonditionen bangladeschischer MFO nicht die typischen Merkmale landwirtschaftlicher Produktion: den jahreszeitlichen Agrarzyklus, die besondere Anfälligkeit für Wetterphänomene und die Schwankungen von Absatzpreisen.2 In der Folge werden Mikrokredite vor allem kompensatorisch genutzt: Aufnahme eines zweiten Kredits zur Tilgung eines laufenden Kredits bis zur Ernte und/oder für den Erwerb von Nahrungsmitteln, nachdem der Ratenzahlungsdruck die Bäuer*innen zur Veräußerung der Ernte gezwungen hat.

Eine weitere Erklärung für die ernüchternden Befunde der Wirkungsforschung ist die Mikrokreditverwendung. Nach MFO-Angaben ist der Anteil der Mikrokredite, der für Konsumzwecke vergeben wird, fast ebenso groß ist wie jener, der für Kleinunternehmen bestimmt ist (Abb. 2).

Quelle: Eigene Zusammenstellung mit Daten des MIX Market Financial Performance Dataset, 1999-2019

Viele Akteur*innen gehen davon aus, dass Frauen von Mikrokrediten besonders profitierten. Der Zugang zu Krediten könne ihnen helfen, durch ein eigenes Einkommen unabhängiger zu werden und/oder durch die Verfügung und Entscheidung über finanzielle Ressourcen ihre Verhandlungsposition im Haushalt zu verbessern (Hansen et al. 2019). Die Forschungslage hierzu ist jedoch widersprüchlich. Vaessen et al. (2014) fanden in ihrer Metaanalyse keine belastbaren Belege für einen Effekt von Mikrokrediten auf die Kontrolle der Haushaltsausgaben durch Frauen. Eine Metaauswertung qualitativer Studien in Südasien (Peters et al. 2016) ermittelte, dass Mikrokredite für einige Frauen Mobilitätsgewinne, zusätzliche Kenntnisse, soziale Fähigkeiten und ein erhöhtes Selbstwertgefühl bedeuteten. Die Treffen in Kreditgruppen förderten die Solidarität unter den Frauen und ihre wechselseitige Unterstützung.3 Diese Effekte seien vor allem in MFO beobachtbar, die nicht-finanzielle Angebote wie Schulungen anbieten. Ursächlich sind demnach also nicht die Mikrokredite, sondern ihre Begleitfaktoren. Andere Studien zeigen: Weil viele MFO Frauen als Kund*innen bevorzugen, werden diese häufig von ihren Partnern vorgeschickt. Sie können dann für die Kreditrückzahlung verantwortlich sein, ohne zugleich die Kontrolle über ihre Verwendung sowie die Haushaltsausgaben zu haben, was für sie Überschuldungsrisiken birgt. Andere qualitative Studien zeigen eine Zunahme an Konflikten und häuslicher Gewalt (Hansen et al. 2019). Die Philosophin und Feministin Silvia Federici geht so weit, Mikrokredite als bestes Beispiel dafür [zu bezeichnen], wie Schulden heute von internationalen Finanzagenturen genutzt werden, um Frauen in eine Position der größeren Ausbeutung und Unterordnung zu verorten und damit gleichzeitig Formen gemeinschaftlicher Solidarität [zu] zerstören“ (Federici 2021, S. 29).

Überschuldungsrisiken und -krisen

Der RCT-Befund, dass Mikrofinanzkund*innen den Konsum vermeidbarer Güter einschränken, legt nahe, dass sie »den Gürtel enger schnallen«, um mit ihrem Einkommen abzüglich Ratenzahlungen über die Runden zu kommen. Dieser Aufwand – nicht der Zahlungsausfall – ist ein definierendes Merkmal von Überschuldung: „[E]r/sie kämpft ständig mit der Einhaltung der Rückzahlungsfristen und muss strukturell unangemessen hohe Opfer im Zusammenhang mit seinen/ihren Darlehensverpflichtungen bringen“ (Schicks 2013, S. 100S). Überschuldung ist deshalb oft ein unsichtbares Phänomen. Druck und Drohungen durch das MFO-Personal und Scham durch öffentliche Bloßstellung (bspw. Ali 2014) können Gründe dafür sein, dass Kreditnehmer*innen alles tun, um ihre Raten pünktlich zu zahlen. Das kann zusätzliche Armutsrisiken hervorrufen: durch den Verzicht auf Mahlzeiten, Verkauf von Wertgegenständen oder einen Rückgang in der Bildung, da die Kinder aus der Schule genommen werden, um zu arbeiten (Guérin et al. 2018). Die manchmal geäußerte Einschätzung, dass „[d]ie hohen Rückzahlungsquoten von durchschnittlich 98 Prozent […] eindrucksvoll [zeigen], dass es den allermeisten Endkreditnehmer:innen gelingt, ihr unternehmerisches Potenzial zu entfalten“ (Invest in Vision o.J.), ist deshalb nicht haltbar.

Die Risiken für Überschuldung und zunehmende Armut bestehen überall. Sie sind dort besonders hoch, wo – auch ermöglicht durch die Konzentration der Gelder privater und staatlicher Investoren – viele MFO in übersättigten Märkten um Kund*innen konkurrieren, aktuell z.B. in Kambodscha (MIMOSA 2020), bis vor kurzem beliebt bei internationalen Impactinvestoren.4 2020 hatte etwa ein Viertel der Bevölkerung (2,8 Mio. Kund*innen) ausstehende Mikrokredite von ca. 11,8 Mrd. US$. Ihre Höhe betrug durchschnittlich 4.280 US$ (LICADHO 2021). Das ist gegenüber 2017, als der durchschnittliche Kredit noch bei 2.368 US$ lag, fast eine Verdopplung (Bliss 2022, S. 52), die durch die Vergabe immer höherer Kredite – z.B. durch Auslösung eines aktuell laufenden Kredites mit einem höheren Neukredit – zustande kommt. Laut einer unveröffentlichten Studie von Microfinance Centre und Good Return verwendet die Hälfte der befragten Schuldner*innen mehr als 50 Prozent ihres monatlichen Netto-Haushaltseinkommen für den Schuldendienst, bei 28 Prozent übersteigt der Schuldendienst das Haushaltseinkommen (zit. in Pfeifer 2022). Trotzdem lag die Rate überfälliger Kredite 2020 bei nur 1,69 Prozent (Credit Bureau Cambodia 2020). Verschiedene Studien zeigen aber, dass das nur aufgrund der oben genannten Selbsteinschränkungen möglich ist (Bliss 2022, S. 58f.). Dazu kommt, dass viele Kreditnehmer*innen mit Rückzahlungsschwierigkeiten aus Sorge um den Verlust des Landes – in Kambodscha sind Mikrokredite häufig mit Landtiteln besichert (Pfeifer 2022) – und unter dem Druck von MFO-Personal einen Teil ihres Landesbesitzes verkaufen, um ihren Kredit zurückzahlen zu können (Bliss 2022, S. 98). Da Landbesitz vor allem in ländlichen Gebieten eine wichtige Voraussetzung für Ernährungssicherheit ist, wirkt sich dies unmittelbar auf die Kreditnehmer*innen aus.

Kambodscha ist ein gut dokumentiertes Beispiel für eine Überschuldungskrise, wie es sie mit ähnlichen Charakteristika (Wachstumsdynamik, leichtfertige Kreditvergabe) auch in der Vergangenheit gab, z.B. zwischen 2008 und 2010 in Pakistan, Indien, Nicaragua, Bosnien-Herzegowina und Marokko (Chen et al. 2010; Mader 2013). Sie unterscheiden sich von Kambodscha dadurch, dass sie schließlich zum massenhaften Rückzahlungseinbruch führten.

Aktuell sind wiederholte Proteste ein Indiz für überschuldungsinduzierte Probleme auch in anderen Ländern. Im indischen Bundesstaat Assam (Ne Now News 2019) und in Sri Lanka (Wedagedara 2021) gingen Frauenkollektive auf die Straße gegen den enormen Druck durch Mehrfachverschuldung, hohe Zinsen, harsche Eintreibungspraktiken der MFO und wiederholte Suizide. In Sri Lanka griffen Massenproteste im April 2022 die Forderungen der Frauenkollektive auf (medico 2022). In Ecuador forderte das indigene Bündnis »CONAIE« während eines nationalen Generalstreiks im Juni 2022 u.a. ein Schuldenmoratorium und einen Schuldenerlass für Kleinproduzent*innen in ländlichen Regionen (Álvarez 2022). In einem allgemeinen Sinn skandalisiert die feministische Bewegung »Ni Una Menos« in Argentinien ausbeuterische Verhältnisse durch die Verschuldung von Frauen. Auch diese Länder sind bei internationalen Investoren sehr beliebt und weisen – bei zahlreichen Unterschieden in den Bereitstellungsformen von Mikrokrediten und Rechtsformen der MFO – eine allgegenwärtige Verfügbarkeit von Mikrokrediten auf.

Systemische Ursachen der zyklischen Krisen

Wiederholt ähnliche Krisendynamiken deuten darauf hin, dass ihre Ursachen systemisch bedingt sind. Sie sind – so meine These – in der globalen Refinanzierungsarchitektur des kommerziellen Mikrofinanzsektors angelegt. Ein wichtiges Finanzierungsinstrument für MFO sind – neben Spareinlagen (im Fall v.a. von Banken) – Kredite und Equity-Beteiligungen von Investor*innen. Daten des CGAPs Funder Survey zufolge belaufen sie sich 2020 auf 58 Mrd. US$, von denen der größere Anteil (44 Mrd. US$) aus öffentlichen Quellen stammt, z.B. von nationalen und multilateralen Entwicklungsbanken. Diese steigen jährlich, seit 2011 um insgesamt 144 Prozent (Abb. 3).

Quelle: Nach Tolzmann, M. 2022: CGAP Funder Survey 2020: Trends in International Funding for Financial Inclusion. Focus Note. Washington: CGAP, S. 2

Diese Refinanzierung bedeutet für MFO, dass sie ihren Geldgeber*innen überzeugend ihren Erfolg demonstrieren müssen, was sie symbolisch mit positiven Kennziffern zu ihrem Kreditportfoliowachstum, zu den Rückzahlungen ihrer Kund*innen und zur Rentabilität tun (Cramer 2014; bspw. Ranking in REDCAMIF 2022). In MFO löst das drei strukturelle Sachzwänge aus, die die oben genannten Überschuldungsrisiken bedingen.

Erstens brauchen sie genügend Einkommen, um ihre operativen Kosten und Zinszahlungen an ihre Geldgeber*innen decken zu können. Letztere lagen 2017 weltweit bei durchschnittlich 9,5 Prozent (Symbiotics 2018, S. 20). Die operativen Kosten der MFO sind wegen der kleinen Kreditbeträge und der aufwendigen Kund*innenevaluation hoch (Pronafim et al. 2017). Diese Kosten gekoppelt mit dem Wunsch nach Profit übersetzen sich in hohe Jahreszinsen, die die Haupteinnahmequelle von MFO darstellen.

Zweitens müssen MFO – um gegenüber ihren Investoren rückzahlungsfähig zu sein – ihre stete Zahlungsfähigkeit sicherstellen, die sich aus der pünktlichen Rückzahlung der Mikrokreditraten ergibt. Das lässt ihnen wenig Spielraum für flexible Zahlungsmodalitäten, die die Situation ihrer Kund*innen berücksichtigt. Diese ist bei Menschen mit niedrigem Einkommen häufig von Unsicherheit oder plötzlichen Notlagen (z.B. Krankheitsfall, Dürre, etc.) geprägt. Stattdessen konzentrieren sich viele MFO auf die Veranlassung pünktlicher Ratenzahlung. Wie oben beschrieben üben (manche) MFO dabei erheblichen Druck aus. Das garantiert hohe Rückzahlungsraten, selbst wenn sich hinter ihnen eine Überschuldungssituation verbirgt.

Drittens bedingt der erforderliche Nachweis eines wachsenden Kreditportfolios in MFO einen steten Wachstumsdruck. Dieser steht einer sorgfältigen Kund*innenauswahl unter dem Gesichtspunkt der potenziellen wohlfahrtssteigenden Effekte entgegen. Insbesondere in Märkten mit hoher MFO-Dichte ist die Nachfrage gegebenenfalls gedeckt. Um dennoch Wachstum zu generieren und in der Konkurrenz mit anderen zu überleben, »verkaufen« einige MFO eher Mikrokredite, als auf eine Nachfrage zu reagieren, senken möglicherweise ihre Ansprüche an die Kreditwürdigkeit ihrer Kund*innen und riskieren damit deren Überschuldung (Guérin et al. 2018).

Und nun? Der Zielgruppe zuhören

Statistische Aussagen, denen zufolge ein Teil der Mikrokreditnehmer*innen profitiere, verführen manche dazu, ihr Engagement – ob als Anleger*in, Investmentfonds oder Mitarbeiter*in eines Ministeriums – in diesem Bereich zu begründen. Wenig sichtbar sind in diesen statistischen Aussagen diejenigen, auf die diese Befunde nicht zutreffen. Sie sollten jedoch gehört werden und der Maßstab der Debatte über das Für und Wider des kommerziell refinanzierten Mikrofinanzsektors sein. Die NGO »LICADHO«, die mit ihren Studien auf die Überschuldungsproblematik in Kambodscha aufmerksam gemacht hat, empfiehlt beispielsweise, die Kreditbesicherung mit Landtiteln zu stoppen (LICADHO und STT 2019). Die Erfahrungen dort warnen vor der Übertragung dieser Kreditbesicherungspraxis auf andere Länder, etwa im Agrarsektor. Das »Collective of Women Victimised by Microfinance Debts« aus Sri Lanka fordert mit Blick auf die spezifisch genderorientierte Begründung für Mikrokredite, „die Frauen zu befähigen, einen Kreditmechanismus zu entwickeln, der ihnen gehört und von ihnen kontrolliert wird und bei dem das soziale Wohlergehen im Mittelpunkt steht“ (Wedagedara 2021). Dies können z.B. informelle Spar- und Kreditgruppen sein, die sich zusammenschließen, um gemeinsam zu sparen und sich bei Bedarf aus den kollektiven Ersparnissen Kredite auszahlen (Karlan et al. 2017). Der Refinanzierungsmechanismus für Mikrokredite ist dabei lokal und beruht nicht auf der oben genannten globalen Refinanzierungskette, sodass strukturelle Sachzwänge wie hohe Zinsen, unflexible Rückzahlungsbedingungen und Anreize zur leichtfertigen Kreditvergabe nicht vorliegen. Es geht also nicht um die pauschale Verurteilung von Mikrokrediten, sondern um die Frage, unter welchen Bedingungen sie die mit ihnen verbundenen Versprechungen auch tatsächlich einlösen können.

Anmerkungen

1) Mikrokredite werden von MFO in durchschnittlicher Höhe zwischen 400 (Südasien) und 2.000 US$ (Lateinamerika) für Menschen mit erschwertem Zugang zu Banken vergeben. Sie sind eine Komponente weiterer Mikrofinanzdienstleistungen wie Sparprodukte oder Versicherungen. Faktisch konzentrieren sich viele MFO auf die Vergabe von Mikrokrediten (MixMarket (2018): Global Outreach and Financial Performance Benchmark Report 2017-2018.).

2) Vgl. ähnlich die Einschätzung einer Evaluation von Programmen zu Agrarfinanzierung der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ 2017).

3) Mikrokredite werden als Gruppen- oder zu einem größeren und zunehmenden Anteil als Individualkredite vergeben. Im Fall der Gruppenkredite haften die Gruppenmitglieder wechselseitig füreinander (Ahlin und Suandi 2019).

4) Ausländische Investitionen in den kambodschanischen Mikrofinanzsektor belaufen sich 2018 auf ca. eine Milliarde US$ (Cramer 2021) und stammen u.a. von deutschen Gebern wie der KfW, ihrer Tochtergesellschaft DEG oder der »Microfinance Enhancement Facility«. Zu den privaten Investoren aus Deutschland gehören u.a. die deutschen Ableger von Oikocredit und der Triodos Bank, Invest in Vision und der GLS Alternative Investment Mikrofinanzfonds (Pfeifer 2022).

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Sophia Cramer ist Soziologin und forscht seit zehn Jahren zu Mikrofinanz, u.a. im Rahmen ihrer Promotion an der Universität Luzern.

Schablonen im Kopf

Schablonen im Kopf

Koloniale Kontinuitäten im Wahrnehmen, Denken und Handeln

von Michaela Zöhrer

Unsere Gegenwart steht in einer kolonialen Tradition. Darauf machen nicht nur Neokolonialismus-Kritiken aufmerksam, die Kontinuitäten oder »Neuauflagen« des Kolonialismus in aktuellen politischen und vor allem ökonomischen Verhältnissen feststellen. In diesen und vielen weiteren globalen Zusammenhängen sind darüber hinaus historisch tradierte eurozentrische Selbst-, Fremd- und Weltbilder bis heute wirkmächtig, die sich aus neuen und zugleich »altbekannten« Geschichten und Bildern speisen. Der Beitrag betrachtet die kulturelle Dimension europäischer Expansion, um sich darüber gegenwärtigen kolonialen Kontinuitäten in unser aller Wahrnehmen, Denken und Handeln – und einem möglichen selbstkritischen Umgang damit – zu nähern.

In unser aller Wahrnehmen, Denken und Handeln? Im Weiteren werde ich schwerpunktmäßig auf die Rolle »des Westens« oder genauer gesagt auf das eingehen, was als »westlicher Blick« verstanden werden kann. Auch bei einer solch selbstkritischen Betrachtung gilt es mit zu berücksichtigen, dass wir als Menschen alle Teil der sogenannten Nord-Süd-Beziehungen sind, auch wenn wir in diesen sehr unterschiedliche Positionen einnehmen und jeweils anders auf die Welt, uns selbst und andere blicken. Und wir alle sind Nachfahren und zeitgenössische Protagonist*innen geteilter Geschichte(n). Aus globalgeschichtlicher und zugleich eurozentrismuskritischer Perspektive handelt es sich in doppelter und ambivalenter Hinsicht um eine geteilte Geschichte (Conrad und Randeria 2013, S. 39): Sie ist eine gemeinsame (shared), aber auch von Abgrenzung und Hierarchisierung gekennzeichnete (divided) Geschichte des Austauschs und der Interaktion.

Kolonialismus »daheim«

Die „Imperien waren immer auch ‚zu Hause‘ präsent“ (Conrad 2012, S. 6): Über die Jahrhunderte hinweg fertigten »entdeckende«, erobernde und missionierende Europäer*innen Reise- und Augenzeugenberichte sowie Zeichnungen an, die ihre Erlebnisse und Erfahrungen vor Ort illustrieren sollten. Dabei wurden auch die kolonisierten Bewohner*innen der Karibik und Amerikas, Ozeaniens, Südasiens, des Nahen Ostens und Afrikas dargestellt und fantasiert: vor allem als »Barbaren«, »Exoten« und »edle Wilde«. Es wurden jedoch nicht nur Geschichten und Bilder mit in die Metropolen gebracht, sondern auch (zynisch formuliert) diverse »Souvenirs«. Darunter waren vielfältige kulturelle Raubgüter, deren Rückführung nach wie vor aussteht. Aber auch Menschen wurden in die Heimatländer der Kolonialmächte verschleppt und etwa in Völkerschauen ausgestellt, um deren vorgeblich »primitive«, »naturverbundene« und »unzivilisierte« Lebensweisen vorzuführen.

Während frühe Berichte und Zeichnungen (wie auch die aus den Kolonien importierten Waren und Genussmittel) lange Zeit vor allem für elitäre Kreise verfügbar waren, sollten Ende des 19. Jahrhunderts verschiedenste Bevölkerungsschichten regelmäßig in Berührung mit einem nunmehr massentauglichen und konsumierbaren Kolonialismus kommen: etwa über entsprechende Bild-Aufdrucke auf Streichholzschachteln, Keksdosen oder Schokoladentafeln.

Viele der verbreiteten Geschichten und Bilder dienten dazu, Erfolge und Fortschritte der Kolonisierungspraxis vorzuführen, um die Daheimgebliebenen auch zu Kompliz*innen »im Geiste« zu machen. Grundlegend wurden mit deren Verbreitung solche kulturellen Vorstellungsbilder propagiert, „die koloniale Expansion und Herrschaft überhaupt attraktiv und akzeptabel – und noch grundlegender: denkbar – machten (Conrad 2012, S. 7). Gleichzeitig beschränkte sich koloniale Wissensproduktion nicht auf Propaganda in den und für die Metropolen.

Koloniales »Wissensmanage­ment« und Rassismus

Europäische Expansion ging von Beginn an – das heißt spätestens seit der realitätsverzerrend als »Entdeckung« umschriebenen Vereinnahmung der sogenannten Neuen Welt ab 1492 – mit der Produktion von Wissen einher. Zugleich war ein zentrales Mittel zur Herrschaftsgewinnung und -sicherung die Verdrängung und Vernichtung anderer Kulturen. Mit den Worten Ngũgĩ wa Thiong’os (1995 [1993], S. 74) gab es „einen systematischen Angriff auf die Sprachen der Völker, ihre Literatur, Tänze, Namen, Geschichte, Hautfarbe, ihre Religionen, in der Tat auf jedes Mittel der Selbstdefinition“. Diese Delegitimierung, Exklusion und Auslöschung von Kultur und Wissen ging einher mit der machtvollen und zerstörerischen Verbreitung und Durchsetzung jenes Wissens, das vorgeblich über Höherwertigkeit und Allgemeingültigkeit verfügt.

Die wohl wichtigste Ideologie, die der Legitimierung von Versklavung und Kolonialismus sowie der im Zuge dessen verübten Gräueltaten und installierten Ausbeutungsverhältnisse diente, ist der Rassismus. Für den kolonialen Rassismus hält Albert Memmi (2016, S. 148) fest: „Ein ständiges Bemühen der Kolonialisten besteht darin, in Worten und Verhalten den Platz und das Schicksal des Kolonisierten, seines Partners im kolonialen Drama, zu erklären, zu rechtfertigen und zu erhalten, d.h., letzten Endes das Kolonialsystem und damit seinen eigenen Platz zu erklären, zu rechtfertigen und zu erhalten“. Dafür wurden Repräsentationen der »Anderen« – in Abgrenzung zu einem Selbst – wirkmächtig in die Welt gesetzt, entlang von dichotom organisierten und gegeneinander wertend in Stellung gebrachten Differenzen: nicht-weiß/weiß, barbarisch/zivilisiert, irrational/rational, kindlich/erwachsen, weiblich/männlich usw. Die behaupteten Differenzen wurden wie ahistorische und apolitische Gewissheiten behandelt und folglich naturalisiert; sie wurden absolut gesetzt, indem sie als endgültig ausgegeben wurden und sich das eigene Handeln (der Kolonisierenden) darauf ausrichtete, dass sie es auch werden (ebd.).

Kolonial-rassistische Wissensproduktion mündete oftmals in einem perfiden und folgenschweren Paradox: „Das hier produzierte Wissen ermöglicht[e] den ‚Zivilisierten‘ die Anwendung ‚barbarischer‘ Praktiken und untermauert[e] dabei gleichzeitig die Konstruktion der Täteridentität als zivilisiert und der Opfer als unzivilisiert“ (Ziai 2006, S. 34). Rassismus war Ermöglichungsbedingung und Ausdruck des gewaltvollen und entmenschlichenden Handelns der Täter*innen. Mit ihm wurden identitätsbildende Differenzen und Hierarchien etabliert, um die Gräuel und Ungerechtigkeiten (vor sich selbst) rechtfertigen zu können.

Trotz des immer auch bestehenden Widerstands vonseiten kolonisierter und versklavter Menschen, haben Imperialismus und Kolonialismus in vielen Weltregionen, die heute dem Globalen Süden zugerechnet werden, aber auch in sogenannten Siedlerkolonien wie den USA, Kanada, Australien oder Neuseeland gravierende Spuren hinterlassen, nicht zuletzt in den Selbst-, Fremd- und Weltbildern der Kolonisierten und nachfolgender Generationen. Zeitgleich bestimmen aus der Kolonialzeit stammende Vorstellungsbilder bis heute ein »westliches« Wahrnehmen, Denken und Handeln.

Koloniale Kontinuitäten

Noch heute schöpfen Menschen überall auf der Welt – bewusst oder unbewusst – aus jenem »Wissensarchiv«, das sich über die Jahrhunderte der Versklavung und Kolonisierung hinweg selektiv füllte: mit noch heute wirkmächtigen Repräsentationen, die die Welt einteilen und Gruppen von Menschen voneinander abgrenzen und hierarchisieren. Wie Stuart Hall (2012, S. 167) festhält: Die Welt wird (aus Sicht des Westens) „symbolisch geteilt, in gut-böse, wir-sie, anziehend-abstoßend, zivilisiert-unzivilisiert, der Westen-der Rest“, wobei »der Rest« als etwas festgeschrieben wird, „das der Westen nicht ist – sein Spiegelbild“. Auch in der globalen Gegenwartsgesellschaft gilt: Die Selbstvergewisserung und Selbstaufwertung der einen und die Abwertung der als »Andere« Hervorgebrachten gehen Hand in Hand miteinander. Ein gesteigertes Selbstwertgefühl von Kollektiven geht immer auf Kosten anderer – mithin auf Kosten derjenigen, die als »per se« minderwertig oder als »noch nicht« auf einer (Entwicklungs-)Stufe mit dem eigenen kollektiven Selbst wahrgenommen und entsprechend behandelt werden. Diejenigen, die bis heute die Kriterien und Maßstäbe definieren und durchsetzen können, welche der Zuweisung der Plätze auf der Stufenleiter – und der Behauptung der Existenz und Relevanz der Stufenleiter selbst – dienen, sind dabei dieselben, die sich gleichsam obenauf wähnen können.

Wenn nun von kolonialen Kontinuitäten im kollektiven Wahrnehmen, Denken und Handeln gegenüber anderen Weltregionen und als »fremd« erlebten Menschen – übrigens auch im eigenen Land – die Rede ist, dann lässt sich an recht verschiedene konkrete Beispiele denken, die mal mehr, mal weniger explizit oder klar ersichtlich in einer kolonialen Tradition stehen. Da wären zuerst »Restbestände« eines Kolonialkults, etwa manch rassistische Straßen- und Geschäftsnamen oder »Kolonialhelden« verherrlichende Statuen, die besonders offenkundig von einer fehlenden Bereitschaft zur kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen kolonialen Vergangenheit zeugen. Daneben gibt es Fälle, in denen in der Kolonialzeit tradierte Darstellungsweisen noch heute mehr oder minder identisch reproduziert werden. So ließ zum Beispiel vor wenigen Jahren Seifenprodukt-Werbung ein gängiges rassistisches Narrativ aus der Hochzeit des Imperialismus in dem Moment wieder aufleben, in dem sie die Verknüpfung »Schwarze Menschen = dreckig, weiße Menschen = sauber« bediente.

Darüber hinaus gibt es unzählige weniger offenkundige Beispiele anhand derer Vorstellungsbilder von Differenz und Dominanz wachgerufen und wachgehalten werden, die sich über die Jahrhunderte europäischer Expansion »festgesetzt« haben. Ich denke etwa an stereotype Darstellungen fremder, vor allem indigener, Kulturen in Schulbüchern. Oder an mancherlei Spendenplakate von Hilfsorganisationen, auf denen »Andere« – im Gegensatz zu »uns«, deren Unterstützung sie zu benötigen scheinen – immer noch anhand von Differenzmarkern repräsentiert werden, die schon für einen kolonialen Rassismus konstitutiv waren: Schwarz (statt weiß), krank (statt gesund), kindlich (statt erwachsen), passiv (statt aktiv), ungebildet (statt gebildet). Um hier von einer kolonialen Kontinuität zu sprechen, muss im Übrigen nicht notgedrungen ein »Hungerkind« mit »weißem Helfer« fotografisch abgelichtet sein. Es kann genügen, den afrikanischen Kontinent als schwarze Leere gerahmt von weißer Schulkreide zu zeigen und zu verkünden: „Ohne Bildung hat Afrika keine Zukunft“, „Wir schließen Bildungslücken“ (zur Plakat-Diskussion: Kiesel und Bendix 2010).

Bedeutsam ist zudem, wer und was nicht sichtbar wird – zumindest nicht als Sinnbild oder Inbegriff der jeweils unterstellten Norm, sondern wenn überhaupt als defizitäre oder exotische Abweichung. Zum Beispiel lohnt es sich mit Blick auf Darstellungsroutinen in Film, Fernsehen und Werbung zu fragen: Wer und was wird eigentlich ausgeblendet, wenn nach wie vor vornehmlich »primitive Stammeskulturen«, »hungernde Kinder«, »korrupte Diktatoren« oder auch »wilde Tiere« gezeigt werden, wenn es um den Kontinent Afrika geht? Oder warum werden in Deutschland lebende Menschen of Color fast ausschließlich in Klischeerollen – als etwa »kriminelle, ungebildete Ausländer*innen« – sichtbar, kaum jedoch als Mitbürger*innen mit ihren individuellen, tatsächlich ganz normalen Ecken und Kanten?

Jenseits des Eurozentrismus?

Werbung, Schulbücher, Spendenplakate, aber auch Auslandsberichterstattung, wissenschaftliche Konfliktanalysen, Aufdrucke auf Kaffeeverpackungen oder Reiseführer: Geschichten und Bilder von den (vermeintlichen) Lebenswirklichkeiten im Globalen Süden erreichen uns in Deutschland auf ganz unterschiedlichen Wegen und oft geradezu beiläufig. Diese mögen gegenwärtig anders aussehen und anderes betonen als jene Geschichten und Bilder, die zu der Zeit formal-politischer Kolonisation Verbreitung fanden. Sie erneuern nichtsdestotrotz häufig die gleichen Selbst-, Fremd- und Weltbilder, die bis heute ganz wesentlich dazu beitragen, dass Praktiken der Marginalisierung, Diskriminierung und Ausbeutung wie auch globale soziale Ungleichheiten und neokoloniale Verhältnisse für gerechtfertigt oder eben »normal« erachtet werden.

Was also tun? Aus meiner Sicht müssen wir in einem ersten, immer wieder aufs Neue zu tätigenden Schritt bewusst an unseren Wahrnehmungs-, Denk- und Bewertungsroutinen arbeiten, an den Schablonen in unseren Köpfen, die sich auch in unserem Handeln niederschlagen. Ein Bestandteil dieser Arbeit ist die Berücksichtigung geteilter globaler Geschichte(n) und damit der Versuch, einem internalisierten und zudem kulturell geradezu omnipräsenten Eurozentrismus aktiv zu begegnen: So wie Kolonialismus in den Kolonien und zur selben Zeit in Europa stattfand, mit jeweils sehr unterschiedlichen Auswirkungen und doch unumgänglich miteinander verflochten, so sind auch gegenwärtige koloniale Kontinuitäten immer global, wie lokal sie sich auch manifestieren mögen. Um einen Eurozentrismus möglichst zu überwinden, gilt es mit wenigstens zwei seiner zentralen Grundannahmen zu brechen (Conrad und Randeria 2013): Erstens mit der Annahme, dass die moderne Geschichte als Ausbreitung europäischer und ‚westlicher‘ Errungenschaften – des Kapitalismus, politisch-militärischer Macht, von Kultur und Institutionen –“ (ebd., S. 35) zu verstehen sei. Was kolonialgeschichtlich in der sogenannten Zivilisierungsmission seinen Höhepunkt fand, findet heutzutage sein Spiegelbild in der Haltung des Westens, beispielsweise »Demokratie« oder »Bildung« in Regionen des Globalen Südens bringen zu müssen.

Zweitens haben wir uns von der Vorstellung zu verabschieden, dass die europäische Geschichte des Fortschritts als eine rein innereuropäische Geschichte konzipiert werden könnte, dass also die Bedingungsmöglichkeiten »westlicher Errungenschaften« wie der Industrialisierung, aber etwa auch aktueller ökonomischer Dominanz, ausschließlich innerhalb Europas oder des Westens zu verorten wären. Mit einer solchen Vorstellung wird zum einen die Vielfalt globalen wechselseitigen Austauschs über die Jahrhunderte hinweg vernachlässigt. Zum anderen werden die vielen Schattenseiten der westlichen Modernisierung ausgeblendet: etwa die Relevanz, die den über Kolonialismus und Versklavung gewonnenen – auch menschlichen – »Ressourcen« in der Geschichte zukam. Und wie sieht es eigentlich aktuell am anderen Ende der Lieferketten aus?

Literatur

Conrad, S. (2012): Kolonialismus und Postkolonialismus: Schlüsselbegriffe der aktuellen Debatte. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 62(44-45), S. 3-9.

Conrad, S.; Randeria, S. (2013): Einleitung. Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt. In: Dies. (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M.: Campus Verlag, S. 9-49.

Hall, S. (2012 [1992]): Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht. In: Ders. (Hrsg.): Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg: Argument Verlag, S. 137-179.

Kiesel, T.; Bendix, D. (2010): White Charity. Eine postkoloniale, rassismuskritische Analyse der entwicklungspolitischen Plakatwerbung in Deutschland. Peripherie – Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt 30(3), S. 482-495.

Memmi, A. (2016 [1957]): Der Eingeborene und der Privilegierte. Der Rassismus. Mythisches Porträt des Kolonialisierten. (Ausschnitte aus Der Kolonisator und der Kolonialisierte). In: Kimmich, D.; Lavorano, S.; Bergmann, F. (Hrsg.): Was ist Rassismus? Stuttgart: Reclam, S. 145-162.

Ngũgĩ wa Thiong’o (1995 [1993]): Moving the Centre. Essays über die Befreiung afrikanischer Kulturen. Münster: Unrast.

Ziai, A. (2006): Zwischen Global Governance und Post-Development. Entwicklungspolitik aus diskursanalytischer Perspektive. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Michaela Zöhrer ist Friedens- und Konfliktforscherin und politische Bildnerin. Gelegentlich steht sie zivilgesellschaftlichen Organisationen zur Seite, die ihre (Bild-)Sprache eurozentrismus- und rassismuskritisch unter die Lupe nehmen möchten.

Altruismus oder Neokolonialismus?

Altruismus oder Neokolonialismus?

Umfang und Grenzen der belgischen Restitution von kongolesischem Kulturerbe

von Gracia Lwanzo Kasongo

Die Rückgabe (»Restitution«) kulturellen Erbes ist derzeit Gegenstand intensiver Debatten in den ehemaligen Kolonialstaaten. Die belgische Position gilt dabei als vorbildlich, da sie auf einem ganzheitlichen Ansatz beruht, der darauf abzielt, die kolonialen Sammlungen des Königlichen Museums für Zentralafrika in Frage zu stellen und alle unrechtmäßig erworbenen Güter zurückzugeben. Doch die Positionen, die in den Restitutionsdebatten weltweit und insbesondere in Europa eingenommen werden, scheinen immer noch eine Reihe von Fragen aufzuwerfen. Der vorliegende Artikel geht diesen Fragen nach.

Die Rückgabe des kulturellen Erbes ist derzeit Gegenstand intensiver Debatten in den ehemaligen Kolonialstaaten. Die belgische Position gilt als vorbildlich, da sie auf einem ganzheitlichen Ansatz beruht, der darauf abzielt, die kolonialen Sammlungen des Königlichen Museums für Zentralafrika (RMCA) in Frage zu stellen und alle auf unrechtmäßige Weise erworbenen Güter zurückzugeben. Die belgische Position wirft jedoch noch immer eine Reihe von Fragen auf. Um dies in einen zeithistorischen Kontext zu setzen: Die Black-Lives-Matters-Bewegung geht sogar so weit, die postkolonialen Beziehungen in Frage zu stellen, insbesondere in Bezug auf die strukturellen Konstruktionen von Ungleichheit und systemischem Rassismus, die von den ehemaligen Kolonialstaaten übernommen wurden. In Belgien war die Bewegung der Nachfahren afrikanischstämmiger Belgier*innen der Ausgangspunkt für die Politik der letzten fünf Jahre. Zu den dabei getroffenen Entscheidungen der Politik gehört die Einrichtung einer Sonderkommission, die die koloniale Vergangenheit beleuchten, die Beziehung zwischen dieser Vergangenheit und dem aktuellen Rassismus analysieren und die heikle Frage der Rückgabe aufwerfen soll (Rapport des Expertes 2021, S. 562).

Bis zu einem gewissen Grad konnte Belgien durch seine Restitutionspolitik sein Image von dem einer ehemaligen Kolonialmacht zu dem eines wesentlichen Partners beim Aufbau eines kongolesischen Kulturerbes durch das aktuelle Projekt der »Wiederherstellung« wandeln. Wie Paul Gilroy zeigt, verwenden ehemalige Kolonialstaaten das Konzept des Multikulturalismus, um angeblich Ungleichheiten zu bekämpfen, während es in Wirklichkeit darum geht, einen bestimmten Machtwillen zu bekräftigen. Diese Macht schwindet allmählich und verwandelt sich nun in eine gewisse Melancholie über die vergangene Herrschaft; sie drückt sich aus in einer subtilen Art und Weise, die Dinge zu beeinflussen, und damit Kontinuität in gegenwärtigen Bereichen der Zusammenarbeit herzustellen. In Fällen der Rückgabe ist es interessant zu beobachten, wie sich dieser Rollenwechsel innerhalb der politischen Strukturen und den bilateralen Verhandlungen zwischen den ehemals kolonisierten und kolonisierenden Ländern vollzieht.

Wie in diesem Beitrag analysiert werden soll, muss der belgische Ansatz immer noch hinterfragt werden: im Hinblick auf die Machtasymmetrien, die in den heutigen politischen Beziehungen und Verhandlungen über Artefakte aufrechterhalten werden; im Hinblick auf die ideologische Abkürzung zur Wiedergutmachung (»Reparation«), die er impliziert; im Hinblick auf seine neokolonialen Tendenzen.

Restitution: eine paradigmatische Abkürzung

Wenn es um Restitution geht, gibt es eine Reihe prominenter Fälle: die deutsche Debatte, die französische Debatte, die kanadische Debatte – und die belgische. Im Folgenden wird ein eher typischer Ansatz für »Restitution als Reparation« vorgestellt, wie er von den Franzosen verfolgt wird. Wir werden auf den Fall Frankreichs eingehen, weil er erstens das öffentliche Interesse an dieser Debatte in den Medien geweckt hat, obwohl die Debatte schon lange vorher existierte, und zweitens, weil der Sarr-Savoy-Bericht von 2018 ein Muss in der aktuellen Restitutionsdiskussion zu sein scheint und den belgischen Bericht von 2021 über ethische Grundsätze für die Verwaltung und Rückgabe von Kolonialsammlungen in Belgien inspiriert hat.

Im Oktober 2021 gab Frankreich 26 Werke an Benin zurück, darunter den Thron von König Ghézo, die sich als Schlüsselstücke für die Darstellung der Geschichte Benins erwiesen. Die Werke wurden einst dem Trocadero-Museum von General Alfred Amédée Dodds gestiftet, der an den Strafexpeditionen von 1892 teilgenommen hatte (Sarr und Savoy 2018, S. 45). Die Rückgabezeremonie wurde jedoch von einem Gefühl der Ungerechtigkeit überschattet, da der Präsident Benins, Patrice Talon, der Meinung war, dass 26 Werke erst der Anfang seien. Es gibt so viele Werke, die an Benin zurückgegeben werden müssen, wie der Gott Gou, ein Werk, das als emblematisch für den Gott der Metalle und der Schmiede gilt, sowie die Fa-Tafel, ein mythisches Werk der Wahrsagerei des berühmten Wahrsagers Guédégbé (Nyidiiku 2021).

Die Tatsache, dass Frankreich auswählte, welche dieser Werke zurückgegeben werden sollten, während sich der Antrag auch auf andere Werke bezog, beweist eine gewisse Asymmetrie in den Beziehungen zwischen ehemaligen Kolonisatoren und ehemaligen Kolonisierten. Die Tatsache, dass Frankreich ein »Ausnahmegesetz«1 erlassen hat, das eine offene und allgemeine Debatte über die unter kolonialen Bedingungen erworbenen oder gestohlenen Werke einschränkt, wirft die Frage nach den gegenwärtigen Beziehungen zwischen den ehemaligen Kolonialländern und den ehemaligen Kolonisierten auf, die immer noch kühl und halbherzig zu sein scheinen. Ein weiteres beredtes Beispiel für diese Konditionalität und Selektivität ist die Rückgabe des Schwertes von Omar El Hadj an den Senegal, die am 17. November 2019 in Dakar stattfand. In einem Dokumentarfilm von Nora Philippe (2021) über die Rückgabe von Kulturgütern stellt sie fest, dass diese Rückgabe an die Bedingung geknüpft war, dass Senegal den französischen Ansatz der Migrationspolitik übernimmt, zusätzlich zu Vereinbarungen über Waffenkäufe.

Die oben genannten Fälle zeigen die quasi neokoloniale Vorherrschaft, die selbst in Fragen der Dekolonisierung fortbesteht. Eve Tuck und K Wayne Yang haben auch auf die Gefahr hingewiesen, dass die Dekolonisierung auf eine Metapher reduziert wird. Die Tatsache, dass die Institutionen, die mit der Herausforderung der Entkolonialisierung konfrontiert sind, in der Lage sind, sich den Rückgabekampf anzueignen und dies auch bereitwillig tun, schmälert die Handlungsfähigkeit der Menschen ganz erheblich, die doch die Sache tragen und den Rückgabeprozess anführen sollten, weil sie den Wesenskern des langen Kampfes um die Rückgabe kennen. Diese Aneignung ermöglicht eine Veränderung des wahrgenommenen Status der Kolonialstaaten vom kolonialen Täter über den Unschuldigen zum Helden (Tuck und Yang 2012; Rosoux 2009). Kolonialstaaten ergreifen die Gelegenheit, Restitution zu einer Abkürzung zur Reparation zu machen, einem Akt, der das alte Image abwäscht, um die Gegenwart zu rehabilitieren und den ehemaligen Kolonialstaat als Partner bei der Rekonstruktion der afrikanischen Geschichte erscheinen lässt.

Nkinsi Nkonde: Ein bezeichnen­der Fall von Asymmetrie

Die Verhandlungen über die Rückgabe des kongolesischen Kulturerbes durch Belgien sind an sich nicht neu; sie waren möglich, als Ne kuko bereits 1878 bei den belgischen Kolonialbehörden die Rückgabe des Nkinsi Nkonde beantragte, eines Attributs der Macht, das ihm vom Offizier Alexandre Delcommune des sogenannten »Kongo-Freistaates« gestohlen worden war. Dieser Antrag, obwohl er nur ein Objekt und nicht eine ganze Sammlung betraf, ist ein aufschlussreicher Fall. Die Statue von Nkinsi Nkonde war Gegenstand von drei Rückgabeforderungen. Zunächst von Ne kuko selbst, dann 1973 von Mobutu vor der UNO und 2016 von Thronfolger Alphonse Kapita. Alle diese Anträge wurden abgelehnt (Couttenier 2018). Es wird immer noch im RMCA aufbewahrt, dem sogenannten »Afrikamuseum«. Diese Haltung zeigt, dass die Frage der Restitution nicht nur seit langem eine der Ungleichbehandlung ist, sondern auch die Relevanz der jeweiligen Sprecherposition der darin aktiven Akteure verdeutlicht.

In der Tat besteht derzeit die Tendenz, die Rückgabe auf den »Macron-Effekt« zu beschränken, der wohl am eindrücklichsten in dessen Rede 2017 an der Universität von Ouagadougou, Burkina Faso, zum Ausdruck kam (Elysée 2017). Als ob dies der Ausgangspunkt der Debatte über die Restitution des afrikanischen Kulturerbes wäre, obwohl es eine dichte Geschichte von viel älteren Forderungen gibt. Dieses Narrativ bedarf der Rekontextualisierung, die auch die Erzählungen der Akteure aus dem Süden einbezieht, die an der Entstehung dieser heutigen Debatte beteiligt waren, um die Frage der Restitution in umfassender Weise zu behandeln. Interessant ist auch die Feststellung, dass die rechtliche Struktur der Restitutionsfragen, selbst auf internationaler Ebene, von diesen kolonialen Konventionen der Selektivität und Konditionalität dominiert zu sein scheint, die den Verhandlungsansatz bis heute nicht erleichtern (Spitra 2020, S. 329ff.).

Historische und aktuelle Antworten Belgiens

In den 1950er Jahren wurden diese Eigenschaften der Selektivität und Konditionalität sogar als Rechtfertigung für die kolonialistische Haltung ausgegeben, die Sarah Van Beurden als »kulturelle Bevormundung« bezeichnet. Die Konservierung und Erhaltung der Kunst wurde als notwendige Reaktion auf die »Barbarei« der Kongolesen verstanden und übertrug sich so das Vorrecht für den Schutz des kongolesischen Erbes (Van Beurden 2015a). Dieses Verständnis wurde dadurch legitimiert, dass alte Praktiken der kulturellen Zyklizität als Akte der Zerstörung dargestellt wurden. Bestimmte Kulturgüter folgen traditionell Zyklen der Existenz, in denen sie manchmal zerstört werden. Dabei haben die westliche Kulturanthropologie, Museologie und Kulturpolitik die kulturellen Praktiken rund um diese Artefakte oft geflissentlich ignoriert und sie nur anhand ihres materiellen »Wertes« bemessen. Dieser »Wert« bedurfte dann des Schutzes vor Zerstörung und legitimierte daher die Verweigerung von Restitution (siehe für viele: Singleton 2020, S. 187, 194; Strother 2020).

Diese Haltung beeinflusste die Zeit unmittelbar nach der Unabhängigkeit in den 1960er Jahren, in der die ehemaligen Kolonisierten die Rückgabe von geraubten Kulturgütern als Symbol der Entkolonialisierung und als starken Ausdruck der Selbstbestimmung betrachteten (Van Beurden 2015a). Die Rückgabe von Kulturgütern an den Kongo wurde bei den Unabhängigkeitsverhandlungen mit Belgien 1960 am zweiten Runden Tisch thematisiert, bei dem es auch um die Rückgabe des Landguts Tervuren (auf dem das RMCA untergebracht ist) und eine Entschädigungssumme für den Bau des Bogens zum fünfzigjährigen Bestehen ging. Die DR Kongo vertrat die Auffassung, dass das RMCA mit Geldern aus der DR Kongo gebaut wurde. Die Vertreter*innen der DR Kongo wollten daher dieses Grundstück als Entschädigung übertragen bekommen. Die Debatte an diesem Tisch drehte sich eigentlich vor allem um die wirtschaftlichen Dimensionen des postkolonialen Staates: die Begleichung der Schulden, die Aufteilung des kolonialen Portfolios und damit die Beteiligung an den großen Unternehmen; die Belgier sprachen sogar an, dass sie eine Entschädigung für die »Verluste« gelten machen würden, die sie durch die Unabhängigkeit »erleiden« müssten.

In den Verhandlungen wurde die Rückgabe des kongolesischen Kulturerbes daher bereits 1960 offiziell angesprochen (Lejeune 1969, S. 558; Kikassa 1989). Die Antwort Belgiens auf dieses Ersuchen lautete jedoch, Kongo habe kein Anrecht auf das RMCA, da es sich bei diesem Museum nicht um Rechte und Pflichten handele, die aus dem früheren »Freistaat Kongo« erwuchsen. Das zweite Argument der Belgier war, dass sie auch zur Entwicklung der Kolonie beigetragen hatten (z.B. durch Ausstattung des Kongo mit Infrastruktur). Daher hielten sie die Forderung nach einer materiellen Entschädigung für unbegründet. Um die Forderung zu entschärfen und die Parteien davon abzubringen, erklärte Außenminister Harmel, dass das Museum von Tervuren gemeinsam von Belgien und dem Kongo betrieben werden würde.2 Doch auch dieses Versprechen wurde nicht eingehalten. Stattdessen kam es zu einer Zusammenarbeit im Rahmen einer Konvention3, hinter der sich ein reales Herrschaftsverhältnis und eine im Wesentlichen asymmetrische Beziehung zwischen dem Kongo und Belgien verbargen (Van Beurden 2015b, S. 12).

In den Jahren nach dem Aufstieg des Mobutu-Regimes fanden 1976 und 1982 zwei weitere Restitutionen statt. Belgien hat nur 114 Objekte an das neue IMNZ (Institut des Nationalmuseums von Zaïre) unter der Regierung Mobutu zurückgegeben.4 Damals wählte Belgien für diese Restitution das Wort »Schenkung«, was mit dem Narrativ der gewünschten Zusammenarbeit in der postkolonialen Ära zusammenpasste und Belgien das Recht einräumte selbst zu entscheiden, welche Güter zurückgegeben werden sollten und welche nicht. Diese Formulierung passte perfekt zu dem Bild, das es vermitteln wollte: das eines wohlwollenden, pater­nalistischen Ex-Kolonisators (Racine 2020).

Es stellte sich zudem heraus, dass die meisten der zurückgegebenen Stücke aus der Kolonialzeit von schlechter Qualität waren. Unter den an Präsident Mobutu übergebenen Gütern befand sich nur ein einziger Qualitätsartikel (Mumbembele 2021). Hier ist bereits die Umkehrung der oben beschriebenen Situation zu beobachten, die aus einer Situation der Zusammenarbeit bei der Restitution eine einseitige Rückgabe mit einer paternalistischen Haltung (»Spenden«) macht. In diesem Verständnis wird der Kongo zum Kind, dem geholfen werden soll, dieses »störrische Kind«, das die Unabhängigkeit wollte, ohne für die Bestimmung und Durchführung seiner Kulturpolitik ausreichend selbst verantwortlich sein zu können.

Der aktuelle belgische Ansatz: eine neokolonialistische Struktur?

In Belgien wird im politischen Diskurs der aktuellen Regierung derzeit die Idee eines bilateralen Abkommens entworfen. Das historische Bild dazu ist das des Premierministers Sama Lukonde, dem sein belgischer Amtskollege Alexander De Croo in Begleitung des Staatssekretärs für wirtschaftlichen Aufschwung Thomas Dermine die Inventurliste des im RMCA beherbergten Kulturerbes überreichte. In einem kürzlich mit Dermine geführten Interview schätzte er, dass der Gesetzes­entwurf über die Rückgabe die Etappe des Staatsrats durchlaufen und schließlich Ende April 2022 den Parlamentarier*innen zur Debatte vorgelegt werden könnte (Bouffioux 2022).

Bei der Durchsicht dieses Entwurfs eines möglichen Kooperationsabkommens wird deutlich, dass der Geltungsbereich der Verhandlungen nicht nur lediglich auf die Objekte des RMCA beschränkt ist, sondern aktiv und bewusst das Museum von Namur und das Museum L von Louvain la Neuve ausschließt, die ebenfalls koloniale Objekte besitzen, um nur einige zu nennen. In einem Artikel von Clementine Deliss (2020, S. 185) wird diese Idee der »Restitution durch begrenzte Vereinbarung« als ein parteiischer Ausdruck betrachtet, der die entscheidenden existenziellen Fragen umgeht, die im postkolonialen Kontext auf dem Spiel stehen. Dazu gehören die symbolische Gewalt, der systemische Rassismus und die gegenwärtig eklatanten Ungleichheiten in einer zunehmend globalisierten Welt, in der die Wut über diese systemische Gewalt überall wächst.

Ein bedeutender Fortschritt ist jedoch im belgischen Ansatz zu erkennen, auch wenn er gewisse Einschränkungen aufweist. Im Gegensatz zum französischen Ansatz sieht er die Rückgabe von Gegenständen aus den kolonialen Sammlungen des RMCA vor, wenn sich durch Provenienzforschung herausstellt, dass es sich um Raubgut handelt. Es werden Provenienzstudien durchgeführt, um die Legitimität oder Illegitimität des Besitzes der Werke zu belegen, damit ihre Rückgabe diskutiert werden kann. Doch auch die Definition der »Legitimität des Besitzes« ist umstritten, da die Kolonialzeit als »Zwangszeit« eingestuft wird und die Definition dessen, was legitim war und was nicht, weiterhin von der belgischen Politik festgelegt wird. Die Restitution wird also nicht die Güter betreffen, die als rechtmäßig erworben gelten.

Der belgische Ansatz für die Rückgabe scheint dabei immer noch von der gleichen Semantik geprägt zu sein wie während der Zusammenarbeit nach der Unabhängigkeit, als die Rückgabe von Werken an Mobutu als »Geschenk« betrachtet wurde. Zudem nimmt Belgien im aktuellen Rahmen den Inhalt der Restitution vorweg, indem es die effektive Rückgabe auf unrechtmäßig erworbene Güter beschränkt. Studien haben gezeigt, dass diese unrechtmäßig erworbenen Güter nur 1 % der gesamten Sammlung ausmachen. Darüber hinaus scheint die Strategie der Regierung darauf abzuzielen, den Akt der Rückgabe hauptsächlich symbolisch zu gestalten, d.h. das Eigentumsrecht an die Kongolesen zu übertragen und eine virtuelle Rückgabe der Sammlungen durchzuführen, ohne dass notwendigerweise der materielle Akt folgt oder die Güter an die Kongolesen übergeben werden (News Belgium 2021; Lwanzo Kasongo 2021). Diese eher symbolische Art der Rückgabe wird noch dadurch verstärkt, dass die Sammlung des RMCA von der belgischen Regierung aus dem öffentlichen in den privaten Bereich überführt werden kann, bis die Provenienzstudien abgeschlossen sind.

Auch wenn man sich einer Sprache der Zusammenarbeit bedient, bleibt der alte Ansatz der »Restitution als Geschenk« in dem aktuellen Ansatz erhalten, der behauptet, „die Wiederherstellung des kongolesischen Kulturerbes zu unterstützen“. Er stellt den Kongo immer noch als das Kind dar, dem geholfen oder das unterstützt werden muss, und Belgien als den guten Samariter. Dies weckt Erinnerungen an die Zusammenarbeit in den Jahren nach der Unabhängigkeit. Die Aufrechterhaltung dieses, wenn auch subtilen, Herrschaftsmodus erlaubt es nicht, die Restitution als einen gesellschaftlichen Transformationsprozess in seiner Globalität und Komplexität zu betrachten.

Anmerkungen

1) Ministerrat, Gesetzesdekret, 31. März 2022.

2) A.P., Senat, 1965-1966, Sitzung vom 26. Mai 1966.

3) Die Grundlage für diese Vereinbarung bildet das Abkommen von 1968, das die belgisch-kongolesischen Beziehungen grundlegend strukturierte. Die Vereinbarung sah vor, dass das RMCA eine Art wissenschaftlichen Markt erhielt und im Gegenzug sein Fachwissen dem IMNZ (Institut des Nationalmuseums von Zaïre) zur Verfügung stellte, das nach diesem Abkommen gegründet werden sollte.

4) Das IMNZ ist eine Einrichtung, die 1970 von Belgien und dem Kongo im Rahmen der gegenseitigen Zusammenarbeit geschaffen wurde. Die Einrichtung wurde in ihrer Anfangszeit von Lucien Cahen geleitet, der auch Direktor der RMCA war.

Literatur

Bouffioux, M. (2022): Restitution au Congo: Thomas Dermine détaille un «dispositif ambitieux». Paris Match, 7.3.2022.

Couttenier, M. (2018): EO.0.0.7943. BMGN – Low Countries Historical Review 133(2), S. 91-104.

Deliss, C. (2020): Forme rapide de restitution. Multitudes 2020/1, Nr. 78, S. 185-189.

Elysée (2017): Emmanuel Macron’s speech at the University of Ouagadougou. Elysee.fr, 28 November 2017.

Kikassa, F. (1989): Le contentieux belgo-congolais de 1960 à 1966. Zaïre-Afrique 29(237), S. 371-395.

Lejeune, Ch. (1969): Le contentieux financier Belgo-Congolais. Revue Belge de Droit International 5(2), S. 535-564.

Lwanzo Kasongo, G. (2021): Is Immaterial Restitution Enough? A Belgian Approach to the Human Right of Access to Cultural Heritage. Völkerrechtsblog, 3.11.2021.

Mumbembele, P. (2021): Provenance research: What is at stake for ethnographic collections? Video. AfricaMuseum YouTube channel.

News Belgien (2021): Approche pour la restitution des objets dans le cadre du passé colonial. 28.01.2022.

Nyidiiku, K. (2021): Restitution des œuvres: le Bénin entre fierté, frustration et espoir. Le Point, 13.11.2021.

Philippe, N. (2021): Restituer? L‘Afrique en quête de ses chefs d‘œuvres. Arte-Dokumentarfilm.

Racine, A. (2020): Histoire de la restitution d‘œuvres traditionnelles au Zaïre. Afrique, en regards (Open Edition Hypothèses), 27.7.2020.

Rapport des Experts (2021): Commission spéciale chargée d‘examiner l‘état indépendant du Congo et le passé colonial de la Belgique au Congo, au Rwanda et au Burundi, ses conséquences et les suites qu‘il convient d‘y réserver, Belgian House of Representatives (dekamer.be), DOC 55 1462/002, 26.10.2021.

Rosoux, V. (2009): Passé colonial et politique étrangère de la Belgique. Studia diplomatica, LXII, S. 133-155.

Slit Sarr, F. ; Savoy, B. (2018): Rapport sur la restitution du patrimoine culturel africain. Vers une nouvelle éthique relationnelle. Frankreich : Ministère de la culture.

Singleton, M. (2020): Quand „restitution“ égale „destitution“. Journal des antropologues 164-165, S. 185-203.

Spitra, S. M. (2020): Civilisation, protection, restitution: A critical history of international cultural heritage law in the 19th and 20th century. Journal of the History of International Law 22(2-3), pp. 329-354.

Tuck, E. ;Yang, K. W. (2012): Decolonization is not a metaphor. Decolonization: Indigeneity, Education & Society 1(1), S. 1-40.

Van Beurden, S. (2015a): Authentically African. Arts and the transnational politics of Congolese culture. Athens: Ohio University Press.

Van Beurden, S. (2015b): Restitution or cooperation? Competing visions of post-colonial cultural development in Africa. Global Cooperation Research Papers 12. Duisburg: Käte Hamburger Kolleg.

Gracia Lwanzo Kasongo ist Doktorandin an der UCLouvain. Ihr Forschungsinteresse gilt der postkolonialen Versöhnung und der Verhandlung der Restitution in den kongolesisch-belgischen Beziehungen.

Aus dem Englischen übersetzt von ­David Scheuing.

Neokolonialer Frieden?!

Neokolonialer Frieden?!

Die koloniale Unterseite modern-liberaler Friedensvorstellungen

von Christina Pauls

»Frieden« ist kein neutraler Begriff. Der universalisierte Begriff des in Theorie und Praxis dominanten modern-liberalen Friedens1 sowie seine Fortführung in Form des neoliberalen Friedens sind eng mit kolonialen Praktiken verbunden. Die hier angebotene kritische Reflexion möchte dazu ermutigen, die eigene normative Ausrichtung gründlich zu hinterfragen. Dazu wird der modern-liberale Frieden mit post- und dekolonialen Theorien »gegen den Strich« gelesen, die historische Verwobenheit von (Neo-)Liberalismus mit (Neo-)Kolonialismus nachgezeichnet, und einige der neueren Ausprägungen des modern-liberalen Friedens einer kritischen Prüfung unterzogen.

Frieden steht in einem Spannungsverhältnis zwischen normativen Ansprüchen über Gewaltfreiheit und gesellschaftlichem Zusammenleben. Die angelegte Gewaltdefinition bestimmt maßgeblich Umfang und Grenzen möglicher normativer Ausrichtungen. Ein enger Gewaltbegriff wie auch Verständnisse von struktureller Gewalt sind meist eingebettet in die dominierende modern-liberale Werteordnung. Sie sind daher nicht in der Lage, die Gewaltförmigkeit dieser Werteordnung selbst zu identifizieren, oder gar anzugehen.

Modern-liberale Friedensverständnisse blenden die eigene Verstrickung in den Kolonialismus aus. Sie zeichnen ein vermeintlich universelles Bild, dessen historische Gewordenheit nicht thematisiert wird. Insbesondere der Beitrag der Kolonisierung zur Existenz gewaltvoller Strukturen in der Gegenwart, die bewaffneten Konflikten zugrunde liegen, wird in der Friedensforschung wenig beachtet. Das ist nicht nur friedenstheoretisch problematisch, sondern stabilisiert gewaltvolle und koloniale Verhältnisse, die der Frieden doch zu überwinden sucht. Neoliberale Varianten dieser Friedensverständnisse radikalisieren diese Verhältnisse in Form eines neokolonialen Friedens, wie im Folgenden ausgeführt wird. Dieser ist für Friedensforscher*innen und -Praktiker*innen umso gefährlicher, weil er schwerer zu identifizieren ist und aufgrund seiner Beschaffenheit Rechenschaftspflicht und transformative Gerechtigkeit auszuhöhlen droht. Um auf den kolonialen Schatten dieses Verständnisses aufmerksam zu machen, sollte Friedensforschung und -praxis in ihrer Selbstreflexion expliziter epistemische Gewalt in den Blick nehmen, also auch die in der Wissenspolitik und Genealogie des Friedens angelegten Formen von Gewalt aufdecken und problematisieren (vgl. Brunner 2018). Dieser Beitrag versucht, einige Anregungen zur Sichtbarmachung der kolonialen Unterseite neo-/liberaler Friedensverständnisse bereitzustellen.

Liberaler und neoliberaler Frieden

Modern-liberale Friedensvorstellungen2 gründen auf der Annahme, dass die wirtschaftliche Abhängigkeit zwischen Nationalstaaten, internationaler Handel sowie die Einbindung in die Weltwirtschaft alle Gewaltpotentiale einhegt.3 In Verschränkung mit diesen ökonomischen Bedingungen beziehen sich politisch liberale Werte auf den Schutz von Privateigentum und auf individuelle (Freiheits-)Rechte. Politische und ökonomische Aspekte des liberalen Friedens sind als komplementär zu verstehen, da sie von einer Korrelation zwischen Demokratisierung und wirtschaftlichem Wohlstand ausgehen.

Unter »Neoliberalismus« verstehe ich die Ablehnung aller regulierenden, sozialstaatlichen und überstaatlichen Eingriffe in die »Kräfte des Marktes«. In der Literatur zu »liberal peacebuilding« hat auch die Kritik am »neoliberalen Frieden« Einzug genommen – eine Variante des liberalen Friedens, die vor allem den Markt und das Wirtschaftswachstum als ausschlaggebend für die Konstitution von Frieden versteht. Der neoliberale Frieden radikalisiert und höhlt den liberalen Frieden insofern aus, als die Marktlogik und Wachstumsorientierung (ökonomische Liberalisierung) gegenüber dem Aufbau demokratischer Institutionen, der Stärkung individueller Rechte, Sicherheit und Stabilität (politische Liberalisierung) Priorität einnimmt. Dafür wird auf Privatisierung, Monetarisierung und Deregulierung sowie auf die Öffnung von Grenzen für ausländische Investitionen gesetzt, wie sich beispielhaft in Politiken der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds zeigt.

Historische Gewordenheit neo-/liberaler Friedensvorstellungen

Um auf die kolonialen Schattenseiten des liberalen wie neoliberalen Friedens hinzuweisen, ist es nötig, ihre historischen Bedingungen nachzuzeichnen, durch die sie sich mit kolonialer Gewalt verstrickt haben. Oft wird die formale Geburtsstunde liberaler Friedensverständnisse, wie auch der proto-institutionalisierten Friedens- und Konfliktforschung, in den politischen Bedingungen des frühen 20. Jahrhunderts lokalisiert. Primär vom Globalen Norden4 ausgehend wird seither systematisches Wissen über »Frieden«, seine philosophischen und theoretischen Grundlagen sowie politische und ökonomische Strategien zu seiner Umsetzung generiert. Die Gültigkeit dieser universalisierten Theorie des Friedens wird kontinuierlich am Globalen Süden in der Friedensarbeit im In- und Ausland, insbesondere durch »peacebuilding«, dargelegt und erprobt.

Allerdings identifizieren Theoretiker*innen aus dem Globalen Süden die Entstehungsbedingungen liberaler Friedensvorstellungen viel früher: in der Philosophie der Aufklärung und gar in der kolonialen Expansion selbst, die beide als miteinander verstrickt verstanden werden. So beschreibt Juan Daniel Cruz (2021, S. 2), wie die Idee der »Pazifizierung« (Befriedung), die in kaiserlichen Erlassen festgeschrieben wurde5, die territoriale, politische und ökonomische Kontrolle über Länder des Globalen Südens als fundamentalen Bestandteil kolonialer Expansion und Praxis legitimierte. Hier setzen auch dekoloniale Theorieansätze an, die mit dem Begriffspaar Modernität/Kolonialität auf die Untrennbarkeit der Moderne von kolonialen Zusammenhängen hingewiesen haben. Sie verstehen Kolonialität, die langanhaltenden Muster und Strukturen kolonialer Verhältnisse, als konstitutive Entstehungsbedingung von Moderne, wie wir sie heute kennen. Dies umfasst auch die (materielle) Grundlage des liberalen Werteverständnisses. Liberalismus, Kolonialismus und Moderne werden als verflochten betrachtet.

So liegt den Wurzeln europäischer und liberaler Friedensvorstellungen also der Glaube an eine weiße Überlegenheit zugrunde, der sich bis heute in der technokratischen Auffassung widerspiegelt, dass eine kleine Expert*innengruppe von Menschen »Frieden« entwerfen und implementieren könne – ein Frieden, der in Europa, insbesondere in kolonialer Begegnung mit den nicht-europäischen »Ver-Anderten«, konzipiert wurde. Der weiße, europäische, christliche, heteronormative, körperlich fähige, unverwundete Mann konstruiert sich selbst als ausgewählter Bringer des Friedens, indem er »die Anderen« zu anderen macht und in ihrem Wert herabsetzt.

Dieses Dominanzverhältnis der Über- und Unterordnung zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte kontinentale Geistesgeschichte, mal mehr, mal weniger sichtbar.6 Auch die Friedensforschung und -arbeit spiegelt sich darin wider, so einerseits durch ihren interventionistischen Charakter, der sich in der Bereitstellung externer Expert*innen zeigt, und andererseits durch ihre normative (Teil-)Ausrichtung an ökonomischer Entwicklung, die neue Abhängigkeitsverhältnisse schafft und alte zementiert.

Neo-/kolonialismus und neo-/liberaler Frieden

Der Begriff des Neokolonialismus wurde maßgeblich vom ghanaischen Präsidenten und antikolonialen Denker Kwame Nkrumah geprägt (Nkrumah 1965). Er wird seither vor allem zur polit-ökonomischen Kritik an Süd-Nord-Verhältnissen herangezogen. Im Zentrum steht die Einsicht, dass trotz formal-politischer Unabhängigkeit ehemalig kolonisierter Länder koloniale Zusammenhänge im Rahmen ökonomischer und monetärer Abhängigkeitsverhältnisse weiter bestehen. Diese werden mit dem Anspruch begründet, zur Überwindung von Dualismen wie entwickelt/unterentwickelt, arm/reich u.Ä. beizutragen. Sie verkennen jedoch, dass diese erst durch den Kolonialismus konstituiert wurden und tief in die Moderne eingeschrieben sind. Der peruanische Soziologe Anibal Quijano (2000) identifiziert beispielsweise, wie Rassismus und globale Arbeits»teilung« seit der Eroberung der Amerikas als fundamentale Achsen kolonialer Macht fungieren und so in ihrer Kombination als Entstehungsbedingung des heute globalisierten Kapitalismus dienten. Koloniale Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse nehmen also mit der anhaltenden Neoliberalisierung der Weltwirtschaft auch neue Formen (»neo«) auf, wenngleich sie auf denselben Logiken beruhen, durch die sie sich konstituiert haben.

Charakteristisch für die Neoliberalisierung von Frieden ist eine zunehmende Komplexität von Aktivitäten und Akteur*innen sowie die Externalisierung von Verantwortlichkeiten. Mit der Ero­sion von klar identifizierbaren Akteur*innen verschwimmen – um erneut Kwame Nkrumahs Beitrag zur Debatte aufzugreifen – auch im Neokolonialismus die Grenzen der Verantwortung in Kontrast zu der formalen Phase des Kolonialismus, wo Herrschaft und Verantwortung eindeutiger zuzuordnen waren. Damit verlieren auch Ansprüche auf Wiedergutmachung und Reparationen ihre potenziellen Adressat*innen. So radikalisiert der Neokolonialismus die Mechanismen der epistemischen Gewalt, die sich in der Unsichtbarmachung der eigenen Beiträge zu kolonialen Strukturen manifestieren, beispielsweise durch Verleugnungs- und Verdrängungsmechanismen.

Liberalismus und ihre neoliberalen Varianten stehen als politökonomische Ideologien also weiterhin im Dienst von Modernität/Kolonialität, denn sie dienen der „Akzelerierung der Moderne […], ohne aber wahrzunehmen, dass dies zugleich mit dem Fortbestehen und der Verstärkung von Kolonialität einher geht“ (Maldonado-Torres 2016, S. 5). Unter dem Deckmantel des Friedens werden koloniale Herrschaftsverhältnisse als nicht-intendierte Folgen eines am Frieden ausgerichteten Handelns stabilisiert. So sind der liberale wie auch der neoliberale Frieden untrennbar mit ihrer kolonialen Unter- oder Schattenseite, dem neo-/kolonialen Frieden, verbunden.

Neo-/koloniale Schattenseiten

Alle Friedensbemühungen stehen zunächst vor der Herausforderung eines fait accompli globaler Ordnung – eine kapitalistische, neoliberale Ordnung, die über Jahrhunderte gewachsen ist und in ihrer Genese wie anhaltender Beschaffenheit mit kolonialen Gewaltverhältnissen verwoben ist. Diese Ordnung erfordert von allen Subjekten eine Unterordnung in ihre Logik, um zu funktionieren. Friedensbemühungen aller Art sehen sich so teilweise dazu genötigt, sich an der globalisierten Marktlogik auszurichten und die (Post-)Konfliktgesellschaften durch entsprechende politische, pädagogische und ökonomische Maßnahmen auf eine Reintegration in den neoliberalen Weltmarkt vorzubereiten. Damit laufen sie Gefahr, zu einer Fortführung neokolonialer Ausbeutung durch Niedriglohnarbeit, moderne Sklaverei7 sowie der Vergrößerung von Ungleichheiten, beispielsweise durch illegale Finanzabflüsse vom Globalen Süden in den Globalen Norden, beizutragen und so neokolonialen Frieden zu perpetuieren.

Während sich der modern-liberale Frieden zunächst primär an den Entwicklungsdiskurs angeschlossen hat, setzt er sich in der gegenwärtigen Ausrichtung an psychologischen und psychosozialen Aspekten der Konflikttransformation fort und führt so zu einer Pathologisierung von Postkonflikt-Gesellschaften“ (Castro Varela und Dhawan 2017, S. 245). Denn die eurozentrische Psychologie tendiert dazu, Trauma zu individualisieren (beispielsweise mit der Diagnose Posttraumatischer Belastungsstörung), wodurch strukturelle und relationale Faktoren aus dem Blick geraten. Es schwingt die Konnotation mit, dass Menschen »gebrochen« und unvollständig sind, von einem als ideal konstru­ierten »gesunden« Menschen abweichen und durch bestimmte Praktiken wieder hergestellt werden können. Diese Menschen erfahren laut Tuck und Yang Anerkennung, die primär auf schmerzbasierter Forschung beruht, also der Sammlung und Nacherzählung ihrer Leidensgeschichten. Nicht nur Forschung, sondern auch Praxis läuft so Gefahr, rassistische Hierarchien in Form von politisch vertretbareren Entwicklungshierarchien fortzuführen (Tuck und Yang 2014, S. 231).

In der Ausgestaltung, Legitimation und Umsetzung von neo-/liberaler Friedens»schaffung« nimmt »eurozentrisches Wissen« auch auf die Vorstellungen von »Frieden« Einfluss und lässt keinen oder nur wenig Raum für alternative Deutungen von Frieden. Diese Universalisierung von Frieden geht einher mit der Unsichtbarmachung entsprechender alternativer Verständnisse solcher Weltbilder, die meist als »unterentwickelt« und »unmodern« abgetan werden. Denn viele solcher Weltbilder beruhen – im Gegensatz zum liberalen Verständnis – auf ausgedehnten Zeitvorstellungen, in denen nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit vor uns liegt und eine aktive Beziehung zu den Vorfahren gepflegt wird. Etymologische Explorationen von alternativen Friedensbegriffen, oder dem Frieden ähnlichen Begriffen in anderen Weltbildern, ermöglichen Zugang zur realen Vielfalt von Friedensverständnissen. Solche Einsichten sollten aber nicht davon ablenken, dass der konkrete politische Friedensdiskurs im Kontext globaler Machtasymmetrien entstanden ist und sich verstetigt hat. Daher ist es nicht ausreichend, auf die epistemische Vielfalt von Friedensvorstellungen hinzuweisen, sondern auch ihre Dominanzverhältnisse anzuerkennen und dort anzusetzen, wo diese unterbrochen oder sogar transformiert werden können.

Gibt es Handlungsoptionen?

Was hieße es dann konkret, sich dem neo-/liberalen Frieden in Bezug auf die hier aufgeführten kolonialen Schattenseiten zu widersetzen?

In Anbetracht der epistemischen Dominanz weißer (europäischer) Wissenschaftler*innen im Feld der Friedensforschung müssen andere Zugänge und Perspektiven auf Frieden gefunden werden. Dafür lohnt es sich, sich den lebendigen Wissenssystemen jener zuzuwenden, die von kolonialer Gewalt betroffen sind und aufgrund ihrer Position mehr »sehen« können als wir, die wir uns im kolonialen Zentrum dieser Wissensproduktion bewegen. Von Friedensforscher*innen und -praktiker*innen erfordert dies, sich den komplexen Verstrickungen zuzuwenden, in die der Friedensbegriff aber auch sie selbst als Menschen eingebettet sind. Es gibt keine einfachen und schnellen Lösungen für den Umgang mit kolonialen Schattenseiten modern/liberaler Frieden.

Ein Ansatz könnte darin liegen, an einigen der Grundannahmen neo-/liberaler Friedensverständnisse zu rütteln. Der radikale Individualismus, der sowohl wirtschaftliche als auch politische Grundvoraussetzung für Liberalismus ist, sollte entthront und in Balance mit kollektiven Rechten und kollektivem Wohlstand, auch in Beziehung zur Natur, gebracht werden. Dies kann jedoch kein Unterfangen sein, das selbstbezogen und selbstreflexiv im eigenen Kopf stattfindet. Im Gegenteil sind es zutiefst relationale, gemeinschaftliche Prozesse, die das Potential bergen, sich selbst als verbunden und als Teil größerer Zusammenhänge zu verstehen. Anstatt ausschließlich zukunftsgeleitetes Handeln zu propagieren, sollte auch der Bezug zur Vergangenheit (wieder-)belebt werden, ohne sie zu romantisieren oder verändern zu wollen, sondern in reale Beziehung mit ihr und ihren Beiträgen zur Schaffung der Gegenwart zu treten.

Der dominante Friedensbegriff bedarf also insofern einer »Entnaturalisierung«, aber auch einer Kontextualisierung in koloniale Verhältnisse, und sollte so auch selbst zum Objekt politischer Aushandlung avancieren, damit eine selbstbestimmte und emanzipatorische Ausrichtung der Arbeit am Konflikt sowie am Umgang mit Gewaltverhältnissen eine reale Möglichkeit wird. Die hier angebotene Kritik am universalen Friedensbegriff birgt durchaus „die Gefahr einer kulturrelativistischen Legitimierung von Menschenrechtsverletzungen und Unrechtssystemen“ (Castro Varela und Dhawan 2017, S. 245). Auf der anderen Seite könnte sie eine Befreiungsbewegung von einem kolonial aufgeladenen und ausgenutzten Konzept darstellen, das ansonsten stillschweigend und unsichtbar geworden zur Aufrechterhaltung und Verstärkung von Kolonialität beiträgt.

Es geht also darum, die Schatten kennen und verstehen zu lernen, den Blick zu schärfen für neue, nicht direkt sichtbare Formen der Verstetigung kolonialer Beziehungen – und darum, gemeinsam nach Wegen zu suchen, diese zu überwinden.

Anmerkungen

1) Dieser modern-liberale Friedensbegriff basiert auf sog. »modernen« Prinzipien wie Rationalität, Aufklärung und »Zivilisierung« und ist zudem eng mit liberalen Grundwerten verwoben, wie unter anderem individuellen Rechten, einem spezifischen Demokratieverständnis sowie dem Vertrauen in Handelsbeziehungen und unregulierte Märkte.

2) Ich spreche hier von Friedensvorstellungen im Plural, weil selbst der modern-liberale Überbegriff von Frieden zahlreiche Spielarten ermöglicht und die hier angebotene Kritik nicht alle dieser Spielarten abdecken kann.

3) Ein prominentes Beispiel, das sich in den Internationalen Beziehungen großer Anerkennung erfreut, ist der sog. (Doppel-)Befund des demokratischen Friedens.

4) »Globaler Süden« und »Globaler Norden« bezeichnen nicht nur geographische Kategorien, sondern primär unterschiedlich privilegierte und deprivilegierte Positionen im globalen System, die durch Kolonialismus konstituiert wurden. So lässt sich auch ein »Norden im Süden« und ein »Süden im Norden« identifizieren, also Menschen(-gruppen), die kontextual über- oder unterprivilegiert sind.

5) Zum Beispiel im Asiento – dem Generalvertrag vom 27. März 1528, in dem Kaiser Karl V. der Augsburger Handelsfamilie der Welser Gebiete im heutigen Venezuela und Kolumbien zur kolonialen »Befriedung« zur Verfügung stellte.

6) Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann zeichnet in »Undienlichkeit« (2020) nach, wie das Wirken und Handeln politischer Philosophen mit der Versklavung und Kolonisierung verwoben ist.

7) Laut Global Slavery Index leben 40 Mio. Menschen in »moderner Slaverei«, die sich beispielsweise in Menschenhandel und Zwangsarbeit manifestiert (globalslaveryindex.org).

Literatur

Brunner, C. (2018): Nachgefragt: Was ist epistemische Gewalt? Ein Interview. W&F 2/2018, S. 42-43.

Castro Varela, M. do Mar; Dhawan, N. (2017): Postkoloniale Studien in den Internationalen Beziehungen. Die IB dekolonisieren. In: Sauer, F.; Masala, C. (Hrsg.): Handbuch Internationale Beziehungen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 233-256.

Cruz, J. D. (2021): Colonial Power and decolonial peace. Peacebuilding 9(3), S. 274-288.

Därmann, I. (2020): Undienlichkeit. Gewaltgeschichte und politische Phoilosophie. Berlin: Matthes & Seitz.

Maldonado-Torres, N. (2016): Outline of ten theses on coloniality and decoloniality. Online bei Fondation Frantz Fanon, 23.10.2016.

Nkrumah, K. (1965): Neo-colonialism, the last stage of imperialism. London: Thomas Nelson & Sons.

Quijano, A. (2000): Coloniality of power, eurocentrism, and Latin America. Nepantla. Views from South 1(3), S. 533-580.

Tuck, E.; Yang, K.W. (2014): R-Words. Refusing research. In: Paris, D.; Will, M.T. (Hrsg): Humanizing research: decolonizing qualitative inquiry with youth and communities. Thousand Oaks: Sage, S. 223-248

Christina Pauls, M.A. Peace Studies, promoviert zur Kolonialität des Friedens. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im BMBF-Projekt »Bayerisches Zentrum für Friedens- und Konfliktforschung: Deutungskämpfe im Übergang« am Standort Augsburg und außerdem in der politischen Bildung aktiv.

»Freiwillige« Kolonialisierung?

»Freiwillige« Kolonialisierung?

Franc CFA, Frankophonie und Militärabkommen in Westafrika

von Dolly Afoumba

Wie ist die Existenz dominanter Wirtschafts-, Kultur- und Militärinstitutionen in Westafrika nach dem Ende des formellen Kolonialismus zu verstehen? Weshalb scheint ein »freiwilliger« Kolonialismus fortzubestehen? Was genau ist darunter zu verstehen? Der Beitrag versucht sich an der Analyse der neokolonialen Herrschaftsmuster, die sich im Franc CFA, der Frankophonie und militärischen Abkommen mit ehemals kolonisierten Staaten widerspiegeln, und diskutiert kritisch deren Rolle und Einfluss.

In diesem Artikel setze ich mich mit der Idee des »freiwilligen« Kolonialismus auseinander. Was ist »freiwilliger Kolonialismus«? Wie drückt sich die Freiwilligkeit in den heutigen Beziehungen zwischen Frankreich oder auch Deutschland und ihren ehemaligen Kolonien aus? Es gilt herauszufinden, inwiefern die Institutionen oder Abkommen, die beide Seiten sowohl wirtschaftlich, kulturell als auch militärisch verknüpfen, zur Aufrechterhaltung des (neo-)kolonialen Systems beitragen.

»Freiwillige Kolonisierung«?

Die Idee des Willens, beherrscht oder unterworfen werden zu wollen, wurde von Kaku Nubukpo und anderen zumindest für den frankophonen Raum popularisiert (Nubukpo et al. 2016). Der togolesische Ökonom Nubukpo ist der Ansicht, dass die Länder unter dem Franc-CFA-Regime freiwillig oder absichtlich dortgeblieben sind, da einige beschlossen hatten, die Franc-Zone zu verlassen. Er spricht daher von »freiwilliger Knechtschaft«. Ein gänzlich anderes Konzept »freiwilliger Kolonisierung« brachte US-Ökonom Paul Romer mit der Idee der »Charter Cities« ins Spiel. Die Idee war, dass neue afrikanische Städte geschaffen werden sollen, die mindestens 50 Jahre ausschließlich von westlichen Länder verwalten werden sollen. Hier würde ein Kolonialsystem freiwillig und im Vordergrund des Machtverhältnisses gesetzt werden.

Die Bezeichnung »freiwilliger Kolonialismus« hängt dabei von dem Bild ab, das man dem ehemaligen Kolonisierten zuschreibt, und wie er sich selbst sieht. Franz Fanon (2001 [1959], S. 12) schrieb schon 1959: „Der Kolonialismus kämpft, um seine Herrschaft und die menschliche und wirtschaftliche Ausbeutung zu stärken. Er kämpft auch, um das Bild, das er von den Algeriern hat, und das abgewertete Bild, das die Algerier von sich selbst hatten, identisch zu bewahren“. Dieses Zitat zeigt zu Recht, dass das Kolonialsystem von einem gewissen Minderwertigkeitskomplex genährt wird, den die Kolonisierten zu einem bestimmten Zeitpunkt gegenüber den Kolonialherren haben: der Wunsch, geliebt zu werden. Die Freiwilligkeit könnte also von Menschen kommen, die ihres Selbstwertgefühls beraubt wurden. Sie glauben daher, der Dienst für ihre Herren würde ihnen mehr Selbstwertgefühl und Selbstliebe einbringen, als der eigenen Heimat zu dienen. Es scheint aber auch heute noch in der Forschung nicht klar zu sein, wie diese Freiwilligkeit zu verstehen ist. Es müsste noch mehr dazu geforscht werden, wann es gewollte und bewusste Handlungen sind und wann es sich eher um Handlungen unter Zwang handelt. Im weiteren Verlauf des Beitrags will ich dieser Idee der Freiwilligkeit auf drei Ebenen nachspüren und zu verstehen versuchen.

Wirtschaftliche Dimension: Der Fall »Franc CFA«

Mit der Idee von Kaku Nubukpo konnten die ganzen antikolonialen Proteste gegen die Währung Franc CFA in Afrika infrage gestellt werden. Die Proteste der afrikanischen Zivilgesellschaft gegen den Franc CFA begannen im Jahr 2016, genau dem Jahr der Erscheinung seines Werkes. So bot er den Medien den geeigneten und auch attraktivsten Slogan, um all diesen Bewegungen entgegenzuwirken. Es ging nicht mehr um Neo-Kolonialismus oder koloniale Kontinuität, sondern um die freiwillige Kolonisierung, an denen afrikanische Eliten profitieren. Für ihn galt es festzuhalten: „[D]ie lokalen Regierungen in Afrika sind diejenigen, die den Franc CFA wollen“ (Nubukpo 2016). Doch stimmt das?

Die Abkommen für die Gründung der kolonialen Währung Franc CFA wurden auf Initiative General De Gaulles im Jahr 1945 unterschrieben. Dies geschah in einem kolonialen Kontext, in dem Frankreich der einzige Entscheidungsträger war. Das erklärte Ziel bestand darin, Frankreich nach dem Krieg wieder die Kontrolle über seine verschiedenen Kolonien zu verschaffen. Nach einer Rezension des Buches von Soumaïla Cissé (2013) sollte diese Währung auch dazu dienen, „die Integration der ehemaligen französischen Kolonien in den internationalen Handel zu erleichtern“ (Haïdara 2016). Dies sollte durch zwei der vier Kernprinzipien des Franc CFA geschehen: die feste Parität und die freie Konvertierbarkeit des Franc CFA mit dem französischen Franc. Es ging also um die garantierte Konvertibilität der Kolonialwährung mit einer starken Währung, die auf dem internationalen Markt als solche anerkannt war. Eine Währung, die zugleich stark und stabil war und alle französischen Kolonien in sich vereinte. Alle Zutaten waren damit vorhanden, um die Kolonien davon zu überzeugen, dieses System nach der Unabhängigkeit beizubehalten. Dennoch traten 1955 mehrere Staaten wie Kambodscha, Laos und Vietnam aus dem System aus, die nordafrikanischen Länder folgten ebenfalls. Es blieben nur die französischsprachigen Länder südlich der Sahara. Sind sie denn angesichts dieses scheinbaren Altruismus Frankreichs aus reiner Freiwilligkeit geblieben?

Kako Nubukpo zufolge waren sie unter keinerlei Zwang, vielmehr stellte er die konkreten Erfahrungen einzelner Staaten in den Vordergrund. Er sagte in einem Interview, dass „die Erfahrung des Scheiterns von Guinea Conakry, das Ende der 1950er Jahre auf den Franc CFA verzichtete, den Eifer der afrikanischen Länder, die diesem Land hatten folgen wollen, abkühlte“ (Nubukpo 2016b). Er umging es jedoch, die Gründe für das Scheitern von Guinea Conakry unter der Regierung von Sékou Touré zu erklären. Frankreich nutzte vier Mittel, um die afrikanischen Staaten dazu zu zwingen, unter dem kolonialen Regime des Franc CFA zu bleiben.

Zunächst musste der Unabhängigkeitsdrang diesen Ländern durch die Sabotage der neu geschaffenen Währungen gebremst werden. So geschah es mit Guinea Conakry. Constantin Melnik erklärte, wie die französische Regierung den Wiederaufbauplan von Sékou Touré sabotierte, nachdem sein Land den Franc CFA verlassen hatte: „Der französische Geheimdienst würde Falschgeld herstellen, Guinea damit überschwemmen und so seine Wirtschaft schwächen sowie die Unzufriedenheit der Bevölkerung verstärken. Die Fallschirmjäger des Service Action wurden mobilisiert. Im benachbarten Senegal wurden die sogenannten Maquisards ausgebildet, die bereit waren, alles zu tun, was der große weiße Zauberer, der Macht und Lohn verteilte, wollte. Es wurden Waffen und gefälschte Banknoten verschickt“ (Melnik 1994, S. 363).

Die Umsetzung dieses Projekts wird als »Operation Persil« bezeichnet. Dies erfahren wir in den Schriften von Maurice Robert (2014), damaliger Leiter der Afrika-Abteilung des SDECE (Service de Documentation Extérieure et de Contre-Espionnage). Diese Operation trug maßgeblich zur Schwächung der guineischen Wirtschaft bei. Heute wird Guinea missbräuchlich als Beispiel angezeigt, um jeden anderen Staat abzuschrecken, der aus dem Franc-CFA-System aussteigen möchte. Die Einführung von Falschgeld im zweiten Schritt führte zu Inflation und zu einem monetären Chaos auf dem Binnenmarkt Guineas. Der Staat war nicht mehr in der Lage, die Menge des Geldes im Land sowie die Kapitalzuflüsse und -abflüsse zu kontrollieren; die Unternehmen und die Bevölkerung wussten nicht genau, ob sie legitimes Geld oder Falschgeld in ihren Kassen hatten. Der Vertrauensverlust in die Währung führte zu weiterer Destabilisierung des Landes.

Frankreich nutzte auch die Strategie der Isolierung. Im Jahr 1965 war Guinea, wie heute beispielsweise Mali, durch Frankreich und seine Verbündeten in Westafrika isoliert. Die Elfenbeinküste, Niger, Senegal und Burkina Faso brachen ihre wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen zu Guinea ab (Société Générale Guinée o.J.). Zwischen der Sabotage seiner Währung, Putschversuchen (wie 1961) und wirtschaftlicher Isolation konnte die Wirtschaft Guineas keinerlei Fortschritt erzielen.

Andere Länder versuchten ebenfalls, aus diesem System auszusteigen, wie z. B. Togo unter Sylvanius Olympio im Jahr 1960. Nach dessen Ermordung 1963 stieg Togo wieder in das Franc-CFA-System ein. Mali unter Modibo Keita kann ebenso als ein Beispiel gelten. Mali wurde ebenso wie Guinea Conakry isoliert und trat am 01. Juni 1984 nach dem Sturz und Tod von Keita wieder dem Franc-CFA-System bei (Tambour 2021).

Die französische Regierung ist die oberste Instanz bei der Verwaltung des Franc CFA. Zu den Prinzipien des Franc CFA gehört auch die Fixierung der Parität. Eine solche Garantie wäre für Investoren attraktiv, da sie sich keine Sorgen um die Volatilität der Währung machen müssten. Seit seiner Einführung hat der Franc CFA jedoch mehrere Abwertungen erfahren, die einseitig von Frankreich beschlossen wurden. Dies lernen wir von der Forschung des ivorischen Ökonom Nicola Agbohou. Nach der Abwertung des Franc CFA im Jahr 1994 sagte Édouard Balladur, der damalige französische Premierminister, der Franc CFA wurde 1994 auf Betreiben Frankreichs abgewertet, weil es uns schien, dass dies die beste Formel war, um diesen Ländern (den Afrikanern) bei ihrer Entwicklung zu helfen“ (Jeune Afrique Economique 1994, zitiert von Agbohou 1999). Später erinnert er daran, dass „die Währung kein technisches, sondern ein politisches Thema ist, das die Souveränität und Unabhängigkeit der Nationen berührt“. Ein Ausbruch des französischen Ministers, der viel über die wahren Entscheidungsträger der Währungspolitik in den Ländern des Franc CFA aussagt. Mit dieser Währung besetzt Frankreich nicht nur die wirtschaftliche und finanzielle Führung dieser Länder, sondern auch ihre Souveränität. Zudem wurde diese Abwertung deutlich von afrikanischen Führern verweigert. Agbohou (1999) berichtet, dass Omar Bongo, Präsident von Gabun, und Gnassingbé Eyadema, Präsident von Togo, diese Entscheidung anprangerten: „Wir wurden in denselben Korb geworfen“, bedauerte Bongo. „Frankreich […] hat […] entschieden. Die afrikanischen Stimmen zählten nicht viel“, sagte Gnassingbé. Die Stimme der westafrikanischen Zivilgesellschaften war erst recht weder gefragt noch wurde sie berücksichtigt. Ein ähnlich koloniales Verhältnis zur Währung Franc CFA wurde im Jahr 2019 sichtbar, als im französischen Parlament über »das Ende des CFA Franc« debattiert wurde. Die westafrikanischen Bevölkerungen, geschweige denn ihre Regierungen, die diese Währung benutzen, waren nicht gefragt und nicht eingeladen. Institutionell drückt sich das neokoloniale Verhältnis des Franc CFA darin aus, dass die Debatten auf den außerplanmäßigen Gipfeltreffen der Staatsoberhäupter der CEMAC (Central African Economic and Monetary Community) und WAEMU (West African Economic and Monetary Union) immer unter der Aufsicht des französischen Finanzministers und der Direktorin des IMF (International Monetary Fund) stattfinden.

All dies zeigt, dass es eine wahrhaft töricht wäre, im Fall des Franc CFA von freiwilliger Knechtschaft zu sprechen.

Auf kultureller Ebene: die Frankophonie

Zunächst einmal ist es schwierig, eine kulturelle Institution als kolonial zu bezeichnen. Aber die Mittel der Herrschaft sind zahlreich und die Sprache ist eine furchtbare Waffe bei der Unterwerfung von Völkern. Die Geschichte, in die sich die Gründung der Frankophonie einreiht, ist die Geschichte des Verbots der lokalen Sprachen in Behörden, Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen zugunsten des Französischen, das die Sprache der Zivilisation sein sollte. Kolonialgesetze und Gesetze zur Klassifizierung von »Rassen« wie der »Code de l’indigénat« in Algerien wurden in französischer Sprache verfasst. Die Schule in den französischen Kolonien und Protektoraten wurde auf Französisch abgehalten. Es wird sogar berichtet, dass während dieser ganzen Zeit Kinder, die in der Schule nicht Französisch sprachen, streng bestraft werden konnten. Afrikanische Soldaten, die während der europäischen und der Weltkriege an der Seite der französischen Armee gekämpft hatten, sangen das sogenannte »Lied der Afrikaner«, eine spezielle französische Hymne der afrikanischen Soldaten. Es ist also nicht nur die Sprache, sondern auch die Kultur, die sich auf Kosten der lokalen Kulturen durchsetzt.

Es gab eine administrative und soziopolitische Auferlegung der Sprache, die es im Sinne der Kolonialisten ermöglichen sollte, die Afrikaner*innen zu »zivilisieren«, um sie aus ihrer »Primitivität« herauszuholen. Gleichzeitig wurden die lokalen Sprachen einer Kategorisierung und Hierarchisierung unterworfen. Sie wurden als Sprachen »ohne« betrachtet, d.h. Sprachen ohne Geschichte, ohne Kulturen usw. Diese Logik der Hierarchisierung und Kategorisierung der afrikanischen Sprachen existiert heute noch. So erklärten die beiden Linguistinnen Cécile Canut und Mariem Guellouz, dass Strafen, die von Frankreich während der Kolonialzeit angewandt wurden, um Schüler*innen zu verbieten, ihre lokalen Sprachen in der Schule zu sprechen, auch heute noch angewandt werden (Canut und Guellouz 2019). Ihre Behauptungen wurden von Zeug*innen aus Burkina Faso, Senegal und Mali bestätigt. Es geht zum Beispiel darum, dass die zu bestrafende Schüler*in den ganzen Tag vom Unterricht bis nach Hause einen »verfaulten« Eselsschädel auf dem Kopf tragen musste. Zu Hause führen sogar einige Eltern diese Unterdrückung fort, indem sie als Folge dieser Strafe ihren Kindern das Sprechen der Heimatsprachen verbieten. In den Ländern des Franc CFA ist Französisch nach wie vor die offizielle Landessprache. Obwohl Französisch mittlerweile eine globale Sprache mit mehr afrikanischen Sprecher*innen als französischen Staatsbürger*innen ist, bleibt Frankreich der führende Staat in der Frankophonie selbst. Wie die Politikwissenschaftlerin Françoise Vergès (2018) treffend erklärte: „Es ist nicht so, nur weil ich Französisch spreche, dass ich Ideen einbringen muss, die unbedingt Ideen der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte sind. Ich kann entgegen auf Französisch Ideen einbringen, die Ideen der Mandeng-Erklärung (Erklärung der Menschenrechte in Afrika aus dem 19. Jahrhundert) sind.“ Anders gesagt, die französische Sprache muss nicht nur benutzt werden, um über die Werte und die Geschichte Frankreichs zu berichten. Frankophone Sprecher*innen müssen die Freiheit haben, auf Französisch über ihre Kultur, Werte und Geschichte zu berichten.

Es wäre daher für die Dekolonisierung der Frankophonie wichtig, dass Französisch auf die spezifischen Werte und Identitäten der Völker hört, die diese Sprache nun auch sprechen, aber nicht die gleiche kulturelle Geschichte wie die Französ*innen haben. Um dies zu erreichen, muss Französisch zu einer Sprache des geteilten Ausdrucks werden und nicht zu einer Sprache, die eine bestimmte Kultur aufzwingt. Franz Fanon sagte zu Recht: „Der Kolonialismus zwingt die Wiederholung des kulturell Identischen als ein Schicksal auf, das für seine eigene Stabilität funktional ist. Als Folge davon schließt sich die Kultur der Kolonisierten, ‚einst lebendig und offen für die Zukunft‘, erdrückt von der militärischen, wirtschaftlichen und symbolischen Unterdrückung durch den Kolonisator, erstarrt im kolonialen Status, gefangen im Korsett der Unterdrückung. Zugleich präsent und mumifiziert attestiert sie gegen ihre Mitglieder. Sie definiert sie in der Tat unwiderruflich“ (Fanon 2001 [1959], S. 41). Die afrikanischen Staaten, die sich von dieser kolonialen Bindung nach der Unabhängigkeit trennen wollten, wählten die lokalen Sprachen als erste Amtssprachen. Dies war beispielsweise in Ruanda der Fall, das Swahili zur Amtssprache erklärte. In jüngerer Zeit war diese Entsagung in Mali der Fall, das Bambara als offizielle Sprache gegen die ehemalige Amtssprache Französisch wählte. Allein diese sprechen dafür, dass die Entfernung von Französisch als erster Amtssprache in ehemaligen Kolonien in Afrika auch ein Märtyrerakt der Unabhängigkeitserklärung ist. Dies beweist, dass die Spitzenposition des Französischen auf Kosten lokaler Sprachen nicht das Ergebnis einer kreativen Aneignung der kolonialen Sprache ist, sondern vielmehr das der Dominanz Frankreichs über diese Länder darstellt.

Auf der militärischen Ebene

Auf militärischer Ebene ist die Redewendung »mit Zustimmung der Regierung« das meistgenutzte Argument der europäischen Mächte, die sich auf afrikanischem Boden niedergelassen haben. Am Beispiel Malis lässt sich zeigen, wie neokoloniale Tendenzen immer noch alltägliche Praxis vieler Staaten darstellen. Am 13. Januar 2022 verbot die neue militärische Übergangsregierung Malis sowohl französischen Truppen als auch den weiteren Kräften der europäischen Task Force Takuba den Zugang zu seinem Territorium. Noch am selben Tag beschuldigte Mali die französische Armee, seinen Luftraum verletzt zu haben (France24 2022). Am 14. Januar erklärte Frankreich wiederum, es handle legitim, da Mali 2013 und 2020 zwei Abkommen in Form von Briefwechseln unterzeichnet habe, die den Einsatz seiner Armee vor Ort rechtfertigten (Houmfa 2022). Durch diese Antwort bestätigte Frankreich, dass es mit seiner Präsenz in Mali eher ein imperialistisches Ziel als den Kampf gegen Terroristen verfolgte. Bei diesem Verbot bezog sich die malische Regierung auf das »Prinzip der Gegenseitigkeit«, und betrachtete es als Antwort auf Sanktionen Frankreichs und seiner westafrikanischen Verbündeten, die diese aufgrund des gewaltlosen Putsches im Mai 2021 verhängt hatten. Mali ist ein souveräner Staat und seine Regierung hat das Recht, sich seine Partnerländer beim Kampf gegen den Terrorismus selbst auszuwählen. Frankreich sieht die »Abkommen« aber als Beweis der freiwilligen Kolonisierung. Gemäß diesem Abkommen gelte: „Das Personal der französischen Truppe bewegt sich ohne Einschränkung auf dem Hoheitsgebiet der Republik Mali einschließlich ihres Luftraums unter Verwendung der ihm zur Verfügung stehenden Mittel und ohne dass es eine Begleitung durch die Kräfte der malischen Seite beantragen muss“ (zitiert nach: Accord 1901 vom 7.3.2013 und Zusatzprotokoll). Kurz gesagt geht es hierbei um eine bewusste Selbstaufgabe der eigenen Souveränität an die Armee der ehemaligen Kolonialmacht. In diesem Zusammenhang wurde Deutschland auch beschuldigt, den malischen Luftraum verletzt zu haben. Im Januar 2022 wurde ein deutsches Militärflugzeug von der malischen Regierung zurückgewiesen (Tognon 2022), doch das Land schloss sich Frankreich an und weigerte sich, die Souveränität Malis in diesen Fragen zu respektieren. Am 18. Februar 2022 forderte die Regierung Malis dann den unverzüglichen Abzug der Militäroperationen »Barkhane« und »Takuba« aus Mali. Eine Entscheidung, die Frankreich nicht mehr dazu zwang, einen Abzug in Erwägung zu ziehen, sondern zu gehen.

Diese Analyse zeigt, dass es auf wirtschaftlicher, kultureller und sogar militärischer Ebene nicht sinnvoll ist, von einer »freiwilligen Kolonisierung« in der Zone der westafrikanischen Frankophonie bzw. der Länder des Franc CFA zu sprechen, da diese Staaten in den meisten Fälle in kolonialen Kontinuitäten gebunden ihre Souveränität über Geldpolitik, Kultur oder Militärpolitik aufgeben. Der Fall Mali zeigt auch, dass dies Neo-Kolonisierung von einem Staatsoberhaupt gewollt werden kann, der gegen das Interesse seines Volkes zugunsten der Kolonialmacht handelt. Im Fall der Länder der Frankophonie ist es klar, dass sie in vielen Fragen immer noch unter dem Einfluss der kolonialen Ideologie ihrer Gründungszeit stehen.

Literatur

Agbohou, N. (1999): La France et l’Euro contre l’Afrique. Pour une monnaie africaine et la coopération Sud-Sud. Paris: Editions Solidarite Mondiale.

Canut, C.; Guellouz, M. (2019): Les Africains ont-ils été dépossédés de leurs langues au cours de l’histoire ? Interview bei RFI, 28.01.2019.

Cissé, S. (2013): De belles années au service de l’intégration régionale. Abidjan: Edition Eburnie.

Fanon, F. (2001[1959]): L’An V de la révolution algérienne (1959). Paris: Éditions La Découverte.

France 24 (2022): Le Mali dénonce une «violation» de son espace aérien par un avion militaire français. 13.01.2022.

Haïdara, B. (2016): Le franc CFA, véritable élément d’intégration africaine ou instrument d’une dépendance perpétuelle vis-à-vis de la France? Lamenparle, Hypotheses.org, 27.6.2016.

Houmfa, M. (2022): Violation de l’espace aérien malien: la France se dit protégée par des accords existants. Voa Afrique, 14.1.2022.

Melnik, C. (1994): Un espion dans le Ciecle. La diagonale du double (Non Fiction). Paris: Ed. Plon.

Nubukpo, K. (2016): Le Franc CFA est un outil de la servitude volontaire. Videointerview mit France24.

Nubukpo, K. et al. (Hrsg.) (2016): Sortir l’Afrique de la servitude monétaire. À qui profite le franc CFA? Paris: La Dispute.

Robert, M. (2014): Ministre de l’Afrique. Entretiens avec André Renault. Roubaix: Seuil.

Société Générale Guinée (o.J.): Histoire de la Guinée. Webseite.

Tambour (2021): 1 juillet 1962. Le 1er président Malien Modibo Keita retire de facto le Mali de la zone franc en créant le franc malien. Website, 1.7.2021.

Tognon, A. (2022): Mali. Un avion militaire allemand refoulé par le régime Goïta. La Nouvelle Tribune, 20.01.2022.

Vergès, F. (2018): Il faut décoloniser la francophonie. Interview bei France 24, 11.10.2018.

Dolly Afoumba ist Bildungsreferentin und Doktorandin im Fachbereich Neueste Geschichte an der Universität Marburg. Sie schreibt regelmäßig über (Neo-)Kolonialismus in der afrikanischen Wirtschafts-, Militär- und Währungspolitik.

Zementierte Ungleichheit

Zementierte Ungleichheit

Entwicklungshilfe, Kapitalismus und andere neokoloniale Abhängigkeiten

von Jasper A. Kiepe

Dieses Essay fasst Gedanken zur zementierten Ungleichheit in den neokolonialen Abhängigkeiten des Globalen Südens vom Globalen Norden zusammen, versucht ein kurzes, aber differenziertes Bild auf das System globaler Finanz- und Wirtschaftskontrolle und die sogenannte »Entwicklungszusammenarbeit« zu werfen und stellt die Frage, wer im postkolonialen Diskurs sprechen darf und wer gehört wird. Wie und von wem können Regierungen und Kreditgeber zur Rechenschaft gezogen werden und wie kann dies helfen, neokoloniale Verhältnisse zu verändern?

Neokolonialismus verstehe ich im Sinne von Kwame Nkrumahs Definition und nach Mark Langan als die Fortsetzung externer Kontrolle, insbesondere über Länder Afrikas, durch neue und subtilere Methoden (nach Langan 2018, S. 4; vgl. auch Weber in dieser Ausgabe, S. 28). Nkrumah warnt vor den potenziell regressiven Auswirkungen von unregulierten Formen der Hilfe, des Handels und ausländischer Direktinvestitionen auf die Armutsbekämpfung und das Wohlergehen in den afrikanischen Ländern. Langan stellt fest, dass dies nicht Korruption, Nepotismus oder Verstöße gegen die Menschenrechte von lokalen Eliten ausschließt. Im Gegenteil, wir müssen Fälle von schlechter Regierungsführung feststellen und kontextualisieren, um zu beleuchten, wie externe Geberorganisationen und Unternehmen solche Handlungen oft ermöglichen (und fördern), um lukrative wirtschaftliche Vereinbarungen zu erhalten. Nkrumah unterscheidet zwei Formen neokolonialer Intervention – bi- und multilaterale »Spenden« oder »Entwicklungshilfe« auf der einen und wirtschaftliche Investitionen auf der anderen Seite –, wobei ich mich in diesem Beitrag vor allem auf die sogenannte institutionelle Unterstützung durch supranationale Organisationen beziehe. So kommen die Systeme globaler Finanz- und Wirtschaftskontrolle in den Blick.

Entwicklung und Abhängigkeit in Theorie und Praxis

Internationale Organisationen der Finanz- und Geldpolitik, wie der Internationale Währungsfonds (IMF), sowie diverse kleinere und mittlere Entwicklungsbanken (u.a. KfW, EIB, EBRD) haben über Jahrzehnte hinweg Kredite an die Länder des Globalen Südens vergeben. Die schiere Summe lässt sich am Beispiel des IMF für einen Einjahreszeitraum gut illustrieren: Zwischen 2019 und 2020 flossen hier mehr als 165 Mrd. US$ an 83 Länder (IMF 2020, S. 28). Die Kreditvergaben der anderen Institutionen kommen hier noch ergänzend hinzu. Die Art der Kreditvergabe unterscheidet sich auch maßgeblich. Während beispielsweise die Weltbank vor allem spezifische Projekte finanziert, unterstützt der IMF Staaten direkt, die dann die lokale Kreditvergabe selbst verwalten und gestalten.

Spätestens seit dem Prozess der Paris-Declaration für Hilfsgelder und deren Vergabe (OECD 2005) werden diese Gelder beinahe ausschließlich an die jeweiligen nationalen Regierungen gegeben. Dies wurde entschieden, um dem Wortlaut nach einerseits Effizienz der Maßnahmen durch lokale Teilhabe zu erhöhen, und andererseits um rechtsstaatliche Rechenschaftsmechanismen, Transparenz und Kontrolle in den jeweiligen Ländern zu stärken. In der Praxis bedeutet dies, dass Kredite vergeben werden, um Regierungen bei einem Reformprozess, bei der Umsetzung nationaler Entwicklungspläne oder bei der Entwicklung von Infrastruktur zu unterstützen, für die die jeweilige Regierung anderweitig kein Budget zur Verfügung hätte.

Hieraus ergibt sich eine Vielzahl von Abhängigkeiten, die die »zementierte Ungleichheit« verdeutlichen. Diese beinhalten allem voran die Abhängigkeit mancher Staaten von Fördergeldern und Krediten und den daraus resultierenden Einfluss der Förderinstitutionen auf Regierungsführung und »Policy« (Langan 2015). Dieser Einfluss gibt Spendenorganisationen und Ländern eine enorme Hebelkraft auf die Exekutive eines souveränen Staates, die fundamentale Kontrollfunktionen außer Kraft setzen kann (siehe z. B. Oxfam 2021). Hierzu können Veruntreuung und Korruption kommen – oft auf der Seite der Empfängerstaaten –, die nur schwer zu verfolgen sind. Organisationen wie der IMF haben sich in den letzten Jahren angestrengt, Veruntreuung von Geldern vorzubeugen und dies wird zunehmend von unabhängigen Organisationen verfolgt (Transparency International 2018).

Eine Abhängigkeit eines Staates und seiner Institutionen von Investitionen ergibt sich, wenn anderweitig wenig Investitionskapital zur Verfügung steht. Hohe Staatsverschuldung ist dann eine natürliche Konsequenz dieser Wirtschaftsordnung. Nach Jahrzehnten des Kreditvergabewesens in die Staaten des Globalen Südens sind folglich wirtschaftliche Abhängigkeiten und Verschuldungen gegenüber Institutionen des Globalen Nordens entstanden, deren Politik und Handeln wiederum entgegen aller anderslautenden Neutralitätsbekundungen sehr wohl von der jeweiligen politischen Agenda der Geberländer dominiert wird. „In der Zwischenzeit haben sich die Veränderungen der relativen Preise, die im Mittelpunkt der […] Strukturanpassungsprogramme stehen, ungeachtet ihrer Vorzüge als unzureichend erwiesen, um nachhaltiges Wachstum und Entwicklung zu schaffen“, schrieb der südafrikanische Politologe Rod Alence schon 2004 (Ebd., S. 163). Seitdem diese Kritiken immer lauter wurden, haben sich die internationalen Organisationen des Bretton-Woods-Systems bemüht, ihre Programme durch stärkere lokale Teilhabe zu verändern, die Unabhängigkeit der Nationalbanken zu fördern und die Nachprüfung und Nachverfolgung der Mittelverwendungen zu verbessern, um dadurch die Effizienz der Entwicklungszusammenarbeit zu erhöhen (Reinsberg, Kern und Rau-Göhring 2021).

Wer spricht, wer wird gehört?

Gleichzeitig erübrigen diese Policy-Veränderungen und die Debatte über die Effektivität von Entwicklungszusammenarbeit nicht einen Dialog darüber, wer am Ende des Tages profitiert, und mehr noch, wer eigentlich darüber sprechen darf (und wer nicht, siehe Spivak 1988). So hart die Kritik an Strukturanpassungsprogrammen und finanzieller Unterstützung/Kreditvergabe aus einer theoretischen Betrachtung sein kann, die oftmals in den komfortablen Hörsälen der Universitäten des Globalen Nordens angestellt wird, so darf doch gleichzeitig nicht vergessen werden, dass manche dieser strukturellen Entwicklungsprogramme zumindest kurzfristig für viele Menschen etwas zum Positiven verändern können, insbesondere im Bereich der grundlegenden Menschenrechte und der »menschlichen Sicherheit«. Dies bedeutet nicht, den negativen Konsequenzen oder strukturellen, systemischen Problemen den Rücken zuzuwenden, aber es anerkennt die Realität einer kurzfristigen Situationsverbesserung. Deshalb ist eine kritische, postkoloniale Diskussion über diese »Zusammenarbeit« wichtig – ob sie effektiv ist oder nicht und wer am Ende daran profitiert. Dies beinhaltet eine kritische Betrachtung davon, wer in diesem Verhältnis Akteur und wer Statist ist und ob derartige »Unterstützung« perspektivisch weiter existieren sollte. Nicht zuletzt stellt es die Frage danach, wie Kreditvergabe und internationale »Hilfe« effektiver, mit stärkerer Teilhabe des Globalen Südens und funktionierenden Systemen der Rechenschaft gehandhabt werden könnte.

Was in der Behandlung dieser Herausforderungen als Problem sichtbar wird, ist, wessen Stimmen in den Debatten zu Wort kommen, Gehör finden und auch zu materiellen Konsequenzen führen. Werden denn die Stimmen der Menschen des Globalen Südens gehört, die eigentlich selbst über ihre Politik, Wirtschaft und Reformen entscheiden sollten?

Es muss kritisiert werden, dass dies traditionell ein Dialog ist, der im Globalen Norden von Menschen des Globalen Nordens über den Globalen Süden, oder mit wenig Teilhabe lokaler Eliten geführt wird. Dies ist an sich schon ein neokolonialer Akt und verwerflich, weil es bedrohliche Erinnerungen an die verbrecherischen Diskurse der europäischen Kolonialmächte weckt, die die Welt erst in Kolonialmächte und Kolonien aufgeteilt haben. Auch Entwicklungszusammenarbeit wirft Fragen auf – z. B. ob wirklich »zusammengearbeitet« wird, oder ob es sich nicht vielmehr um ein einseitiges Machtverhältnis handelt.

Gleichzeitig sind die Kritiken von Akademiker*innen und Practitioners aus allen Regionen nicht immer repräsentativ. Es gilt wieder einmal das Privileg, sprechen »zu dürfen« – und dies gibt vielleicht berechtigt kritischen Geistern viel Raum, wenngleich die eigentlichen Rezipient*innen entwicklungspolitischer Zusammenarbeit, die immer noch zu oft in den marginalisierten Randregionen des Globalen Südens leben, keine Stimme in diesem Diskurs haben. In Bezug auf Entwicklungszusammenarbeit, die sehr vielseitig, manchmal bestimmt nicht effektiv ist, und die viele negative Folgen haben kann, wird häufig vergessen, wie schlecht es vielen Menschen immer noch geht. Dies beinhaltet, wie wenig inklusiv das kapitalistische System auf globaler und lokaler Ebene ist und wie viele Katastrophen und Konflikte es zuzüglich der systembedingten globalen ökonomischen Ungerechtigkeiten gibt. Es bleibt die Frage, wie man die Stimme der Unterrepräsentierten hörbar machen könnte – Demokratisierung und eine erhöhte diskursive Teilhabe der Durchschnittsbevölkerung wären vielleicht Antworten, und eine, die von der Entwicklungsagenda des Globalen Nordens verfolgt wird, die aber zugleich eine normative, koloniale Zuschreibung bleibt.

Hier ergibt sich ein Dilemma, weil zwar Teilhabe durch Entscheidung und Kontrolle bei den kreditbegünstigten Ländern durch demokratische Ordnung erhöht würden, sich gleichzeitig die supranationalen Geberorganisationen jedoch der Kontrolle entziehen und „Zentren politischer Entscheidungsfindung weit weg von öffentlichem Einfluss jeglicher Art“ sind (Fischer 2019, S. 566), in denen Technokrat*innen die Entscheidungen treffen. Zugespitzt könnte argumentiert werden, dass diese Abhängigkeiten kapitalistische Kontrolle über lokale Märkte begünstigen und dies würde nicht funktionieren in Ländern mit starken eigenen Kontrollinstitutionen (vgl. Goldsmith, 2002).

Dieses System bedingt, dass es für Menschen des Globalen Südens oftmals eine Zwangssituation erzeugt, bei der die Frage am Ende nur »friss oder stirb« ist – und auch dies weckt beunruhigende Erinnerungen an koloniale Gewalt. Man könnte argumentieren, dass manche Staaten des Globalen Südens noch nicht bereit sind, ohne »Hilfe« des Globalen Nordens auszukommen. Dies beinhaltet einen subversiven und zutiefst anmaßenden Gewalt­akt, der zwangsläufig in antiquierten Parolen im Sinne von „die sind nicht bereit, wir müssen ihnen helfen“ mündet. Doch die Tatsache, dass Staaten unterschiedlich weit entwickelt sind, ist schon das Ergebnis kolonialer Gewalt und Ausbeutung.

Internationale Maßstäbe und die Realität

Organisationen zwingen Gelder nicht auf, auch wenn im postkolonialen Dialog argumentiert werden könnte, dass die Länder des Globalen Südens oft eigentlich keine Wahl haben. Es sind oftmals die Regierungen, die sich – nicht zuletzt aufgrund eigener Verdienstmöglichkeiten – gerne diese Gelder nehmen. Hier ist Vorsicht geboten: Es klingt das Klischee der kleptokratischen Eliten des Globalen Südens an, das zu oft (aber nicht immer) zutrifft. Gleichzeitig sind Regierungen die Hände gebunden, weil das benötigte Kapital für existentielle Reformen zuhause oft nicht zur Verfügung steht, und weil die Regierungen aufgrund der systemisch fehlenden Kontrolle über die eigene Volkswirtschaft und über die eigenen Ressourcen häufig wenig Spielraum haben. Hier liegt das eigentliche Problem der »kolonialen Geister« – dass sich eine Welt mit wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeiten verselbstständigt hat, die durch das koloniale Projekt geschaffen wurde und die dem Globalen Süden eine DNA der kapitalistischen (Selbst-)Ausbeutung bis heute zwangsverordnet. Internationale Währungs- und Handels­organisationen sind hierbei nicht die Ursache einer neokolonialen Wirtschaftsordnung im Globalen Süden, sondern ein Symptom davon.

Die Frage nach dem Neokolonialismus in Bezug auf internationale Organisationen ist eigentlich keine Frage nach diesen Organisationen, sondern eine Frage nach den Prämissen unserer Welt und unseres Lebens. Am Ende des Tages ist die Feststellung, dass bestimmte Institutionen »neokolonial« sind oder neokoloniale Politik verfolgen, nicht falsch – aber die Feststellung ist weder überraschend noch direkt verurteilbar.

Insgesamt geht es nicht darum, per se die Zuwendungen abzuschaffen, sondern darum, die (kapitalistischen) Prämissen zu verändern. Es geht darum, einen kritischen Diskurs zu führen, der zwei Ziele verfolgt: zunächst Rechenschaft zu stärken, bei Geber­ländern und Organisationen, aber auch in Empfängerländern. Menschen und Systeme müssen in ihrer Unabhängigkeit gestärkt werden, damit die eigenen Regierungen zur Rechenschaft gezogen werden können für Kredite und Reformen, und damit die Frage gestellt werden kann, ob vielleicht in der Zukunft weitere Kredite überhaupt noch nötig sind. Das zweite Ziel sollte sein, den Dialog zu stärken und Raum zu schaffen, um einem repräsentativeren Publikum des Globalen Südens die Entscheidung über seine eigene Politik zu überlassen. Dies würde auch beinhalten, bei den Entscheidungsträger*innen zu diversifizieren und dafür zu sorgen, dass der Globale Süden bei den Geldgebern hinreichend repräsentiert ist. Nur eine Veränderung dieser grundlegenden politischen Prämissen kann die zementierte Ungleichheit zu überwinden beginnen.

Literatur

Alence, R. (2004): Political institutions and developmental governance in Sub-Saharan Africa. The Journal of Modern African Studies 42(2), S. 163–187.

Ayogu, M. (2019): International trade and capital flight from Africa: Challenges for governance. PERI Working paper. Amherst: University of Massachusetts.

Fischer, A.M. (2019): On the origins and legacies of really existing capitalism: In conversation with Kari Polanyi Levitt. Development and Change 50(2), S. 542-572.

Goldsmith, E. (2002): Development as colonialism. World Affairs: The Journal of International Issues 6(2), S. 18-36.

IMF (2020): Annual Report 2020. A year like no other.imf.org/AR2020

Langan, M. (2015): Budget support and Africa–European Union relations: Free market reform and neo-colonialism? European Journal of International Relations 21(1), S. 101-121.

Langan, M. (2018): Neo-colonialism and the poverty of ‘development’ in Africa. London: Palgrave Macmillan.

McVeigh, K. (2017): World is plundering Africa’s wealth of ‘billions of dollars a year’. The Guardian, 24.07.2017.

OECD (2005): Paris declaration on aid effectiveness. Paris: OECD Publishing.

Oxfam (2021): Adding fuel to the fire. How IMF demands for austerity will drive up inequality worldwide. Oxfam briefing paper. August 2021.

Reinsberg, B., Kern, A. und Rau-Göhring, M. (2021): The political economy of IMF conditionality and central bank independence. European Journal of Political Economy, 68, 101987.

Spivak, G. C. (1988): Can the Subaltern speak? In: Nelson, C.; Grossberg, L. (Hrsg.), Marxism and the Interpretation of Culture. Champaign: University of Illinois Press, S. 271-313.

Transparency International (2018): The new IMF anti-corruption framework: 3 things we’ll be looking for a year from now. Transparency.org, 27.04.2018.

World Bank (o. J.): Sub-Saharan Africa trade statistics: exports, imports, products, tariffs, GDP and related development indicators.wits.worldbank.org/CountryProfile/en/SSF.

Jasper A. Kiepe arbeitet zu gesamtheitlichen, postkolonialen, lokalen und intersektionalen Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung.

Der Preis der Energiewende

Der Preis der Energiewende

Koloniale Machtgefüge und die Kohlemine »El Cerrejón« in Kolumbien

von Theresa Bachmann

Weltgeschichtlich betrachtet ist die Zeit der Kolonialreiche längst vorbei. De facto aber prägen neokoloniale Beziehungsmuster bis heute die Beziehungen zwischen Staaten und Konzernen aus dem sogenannten Globalen Norden und dem Globalen Süden. Ausgehend von Überlegungen kritischer Intellektueller des Globalen Südens zur Rolle von Kolonialität im globalen Machtgefüge, zeigt dieser Beitrag am Beispiel der Cerrejón-Mine auf, welch hohen Preis Kolumbien für Deutschlands Energiesicherheit bezahlt.

Der bereits eingeleitete Ausstieg aus Atom- und Kohlestrom ist ein zentraler Bestandteil von Deutschlands Energiewende. Während die stärkere Förderung erneuerbarer Energien alternativlos ist, muss gleichzeitig jedoch auch die Energiesicherheit gewährleistet werden. In der aktuellen Übergangsphase heißt das, dass eine geringe Stromproduktion durch deutsche Windkraftanlagen durch vermehrte Importe, beispielsweise von französischem Atom- oder polnischem Kohlestrom, kompensiert wird. In einer zunehmend globalisierten Welt bleibt Deutschlands Energiemix also nicht ohne Folgen für und in anderen Staaten. Diese Verflechtungen spielen zwar in der öffentlichen Debatte in Deutschland zumeist nur eine untergeordnete Rolle, sind aber zum Teil gerade deswegen sozial-ökologisch, ökonomisch wie politisch besonders problematisch. Der globale Abbau und Handel mit Kohle zu Stromgewinnungszwecken ist diesbezüglich ein Paradebeispiel.

Obwohl in Deutschland der Steinkohleabbau bereits beendet wurde, stammt ein signifikanter Anteil in Deutschland verbrauchten Stroms weiterhin aus Steinkohle. Angaben des Vereins der Kohlen­importeure (VDKi 2022) zufolge, betrug dieser 2021 ca. 8,6 % am gesamten Primärenergieverbrauch. Die dafür notwendigen Kohleimporte steigerten sich allein im letzten Jahr um 24,5 % – das entspricht einer Menge von 7,2 Mio. Tonnen – auf insgesamt 39 Mio. Tonnen (Ibid.). Während in Deutschland intensiviert über einen früheren Kohleausstieg diskutiert wird, wird dabei kaum thematisiert, dass dasselbe Deutschland seit Jahren mit großem Abstand größter Steinkohleimporteur Europas ist. Die Steinkohle wird dabei nicht nur aus Australien oder den USA eingekauft, sondern auch aus Südafrika und Kolumbien, wo niedrigere Förderstandards mit großen Umweltschäden sowie zum Teil schwersten Menschenrechtsverletzungen in direktem Zusammenhang mit dem Export von Kohle stehen. So werden in Förderregionen lebende Gemeinschaften vertrieben, von der Wasserversorgung abgeschnitten, Proteste kriminalisiert sowie Gegner*innen aktiv mundtot gemacht. Selektive Gewalt in Form von gezielten Tötungen von Umwelt- und Menschenrechtsaktivist*innen erreicht – global gesehen – derzeit einen traurigen Höchststand. Global Witness (2020) beschreibt die Lage in Kolumbien, Zentralamerika und den Philippinen, gerade für die indigene Bevölkerung, als besonders prekär. Nichtsdestotrotz beziehen Deutschlands fünf größte Stromversorger allesamt auch Kohle aus Kolumbien.

Neokolonialismus und globale Machtgefüge

Auf dem Höhepunkt der »Dekolonisierung«, während immer mehr Staaten formal ihre Unabhängigkeit erlangten, wies Ghanas Unabhängigkeitsheld Kwame Nkrumah bereits auf die reale Möglichkeit des Neokolonialismus hin. In seinen Worten ist die „Essenz des Neokolonialismus, dass der Staat, der ihm unterworfen ist, theoretisch unabhängig ist und nach außen hin internationale Souveränität genießt. Praktisch jedoch ist sein ökonomisches System und damit einhergehend seine Politik von außen gesteuert“ (Nkrumah 1963: ix). Für Nkrumah sind die Regierungen neokolonial regierter Staaten dabei nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems, da sie „ihre Autorität zum Regieren von der Unterstützung ihrer neokolonialen Vorgesetzten ableiten. Sie haben daher nur wenig Interesse daran, […] Schritte jedweder Art einzuleiten, die koloniale Handelsbeziehungen herausfordern würden“ (Ibid., S. 1). Wenngleich die Hochphase der Kolonialreiche weltgeschichtlich passé ist, so setzen sich koloniale Beziehungsmuster – mit denselben, klar definierten Gewinner*innen und Verlierer*innen – demnach bis in die Gegenwart fort.

Die Auseinandersetzung mit dem Konzept des Neokolonialismus galt in akademischen Kreisen lange Zeit als marxistisch und nicht zeitgemäß. Manche assoziierten Neokolonialismus „mit modernen Tyrannen wie Robert Mugabe, die das Konzept in ihren politischen Diskurs eingebunden haben. Und für viele wird es zu Unrecht als dreistes polemisches Mittel angesehen, um den „Westen“ für die anhaltende Misswirtschaft afrikanischer Eliten verantwortlich zu machen“ (Langan 2018, S. 4). Nichtsdestotrotz erscheinen Überlegungen wie die oben dargelegten angesichts der politischen und ökonomischen Realität in weiten Teilen des Erdballs hoch relevant und haben daher in den letzten Jahren zu einem klaren Umschwung beigetragen.

In Anbetracht der Thematik dieses Beitrages1 ist dabei die intellektuelle Arbeit im sogenannten Globalen Süden besonders hervorzuheben: Lange bevor sich kritische Forschende in Universitäten des Globalen Nordens verstärkt post- und dekolonialen Theorien zuwandten, dekonstruierten zahlreiche Denker*innen weit über den afrikanischen Kontext hinaus anhaltende koloniale Kontinuitäten. An dependenztheoretische Arbeiten anknüpfend, ist für Lateinamerika in diesem Zusammenhang insbesondere die interdisziplinäre Forschungsgruppe »Modernität/Kolonialität« von Bedeutung. Den ihr angehörenden Autor*innen zufolge kann das Phänomen scheinbar universeller Formeln wie »Modernität« und »Fortschritt« nicht „ohne Bezugnahme auf die damit einhergehenden Kolonialität von Macht sowie die Marginalisierung von Kulturen und Wissen subalterner Gruppen“ (Escobar 2008, S. 181) verstanden werden. Das global aktuell dominierende Machtgefüge entsteht dem peruanischen Soziologen Aníbal Quijano (2019, S. 1) zufolge aus dem Zusammenspiel von: „1) der Kolonialität der Macht, d. h. die Idee von „Rasse“ als universeller Grundlage sozialer Klassifizierung und Herrschaft; 2) Kapitalismus als universelle[m] Muster sozialer Ausbeutung; 3) dem Staat als universeller, zentraler Kontrollinstanz kollektiver Autorität und dem modernen Nationalstaat als seiner hegemonialen Variante; 4) dem Eurozentrismus als besondere[r] Form der Wissensproduktion.“ Die im lateinamerikanischen Fall zumeist von europäischstämmigen, weißen Eliten vorangetriebenen Unabhängigkeitsbestrebungen von den Mutterländern ist dabei nicht als Bruch zu verstehen, da diese nicht mit einer „Dekolonisierung der Gesellschaft einhergingen (Quijano 2019, S. 34). Stattdessen veränderten diese lediglich die institutionellen Grundlagen, auf Basis derer sich Macht innerhalb und zwischen Staaten ungleich verteilt und Gesellschaften, Wirtschaften und Politik prägt.

Eine Einordnung am Beispiel von »El Cerrejón«

Die konkreten Wirkungsmechanismen und die Auswirkungen dieses Machtgefüges werden mit Blick auf Kolumbiens Kohlesektor im Allgemeinen und den Fall »El Cerrejón« im Besonderen schnell sichtbar. Seit Kolonialtagen ist der Abbau und Export von natürlichen Rohstoffen eine tragende Säule der kolumbianischen Wirtschaft. Bedingt durch stark ansteigende Weltmarktpreise, nahm der Abbau und die wirtschaftliche Relevanz von Rohstoffexporten Anfang des Jahrtausends weiter zu. Wurden zu Beginn der 1980er Jahre noch weniger als 5 Mio. Tonnen Kohle jährlich abgebaut, so stieg die Fördermenge zwischen 2010 und 2020 auf jährliche 80 bis 91 Mio. Tonnen (Urrego 2021). Der weitaus größte Teil wird dabei in den beiden nördlichen Bundesstaaten La Guajira und Cesar abgebaut, wo ausländische Bergbauunternehmen einige der größten Kohleminen weltweit betreiben und von dort aus in die ganze Welt verschiffen.2 Alle kolumbianischen Regierungen der letzten Jahrzehnte haben diese Entwicklung explizit gefördert. So wird in den nationalen Entwicklungsplänen das durch die sogenannte »Bergbau-Energie-Lokomotive« erzielte wirtschaftliche Wachstum und damit einhergehende Staatseinnahmen als zentral für die Reduzierung von Armut und Ungleichheit dargestellt.

Die Lebensrealität vieler Kolumbianer*innen widerspricht dieser Argumentation. Trotz konstantem ökonomischem Wachstum seit 2000 lebt mindestens ein Drittel der Bevölkerung in Armut, mit stark ansteigender Tendenz und verschärft durch die Effekte der Covid-19-Pandemie. Gerade die Regionen, in denen die meisten natürlichen Reichtümer liegen, sind besonders stark betroffen. Besonders extrem ist die Lage in dem bereits genannten La Guajira, wo 63 % der Bevölkerung in Armut lebt und rund ein Viertel in extremer Armut. Die Lage der indigenen Bevölkerung der Wayúu – die rund 45 % der Bevölkerung La Guajiras ausmacht – ist noch prekärer: Allein zwischen 2010 und 2018 verhungerten ca. 5.000 Kinder unter 5 Jahren, die meisten davon Wayúus (Guerrero 2018). Die an der Grenze zu Venezuela gelegenen Halbinsel La Guajira ist zu 97 % von Wüste bedeckt. Seit 1983 beherbergt sie den größten Kohletagebau Lateinamerikas. Bis zuletzt wurde die gemeinhin nur als »El Cerrejón« bekannte Mine vom schweizerischen Konzern Glencore, dem britischen BHP und dem US-Konzern Anglo American betrieben.3

Die Geschichte El Cerrejóns liest sich bis dato wie eine Chronologie der Gewalt und Straflosigkeit. Mehrere tausend Menschen und Gemeinden wurden aus dem »Kohlekorridor« zwangsumgesiedelt bzw. vertrieben. Den damit einhergehenden Verpflichtungen, beispielsweise für adäquaten Ersatz zu sorgen, kamen weder Betreiber noch staatliche Behörden nach. Während die Mine in einer der trockensten Regionen des Landes täglich 24 Mio. Liter Wasser verbraucht bzw. verschmutzt, wird der Zugang zu Wasser für die Bevölkerung immer schwieriger. Trotz gerichtlicher Verbote wurden seit 2016 Teile der letzten für die Bevölkerung noch zugänglichen Wasserzuflüsse zugunsten der Mine umgeleitet. Eine durch den Klimawandel begünstigte Dürre hat die humanitäre Krise in den letzten Jahren weiter verschärft und Befürchtungen eines Ethnozids sowie eines Ökozids an den Wayúus und mehreren afrokolumbianischen Gemeinschaften geweckt. Deren Rechte sind durch die kolumbianische Verfassung und die ILO-Konvention 169 eigentlich besonders gut geschützt, doch wurden diese seit Inbetriebnahme missachtet und entsprechende Gerichtsurteile nicht oder nur stark verzögert umgesetzt. Mittlerweile 14 Gerichtsurteile (Stand: 25. Januar 2022) bestätigen den Betroffenen allesamt, dass u.a. ihre territorialen Rechte, ihr Recht auf Wasser und auf Gesundheit durch El Cerrejón verletzt werden und damit drohen, ihren angestammten Lebensraum unbewohnbar zu machen.

Betroffene und ihre Unterstützer*innen leisten seit Jahren Widerstand. Angesichts miserabler Arbeitsbedingungen solidarisierten sich zuletzt auch Minenarbeiter*innen mit ihnen. Dennoch zieht sich die Kriminalisierung von Protest und Repression wie ein roter Faden durch die Geschichte El Cerrejóns. In Einklang mit Kwame Nkrumahs Befürchtungen, ist das Handeln des kolumbianischen Staates für die Betroffenen nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems, da dieser gemeinsame Sache mit den Betreibern macht. Häufig zeichnen Armee und Polizei für gewaltsame Räumungen und Vertreibungen verantwortlich. Lokale Armeeeinheiten werden durch die Minenbetreiber direkt mit Lebensmitteln und Logistik unterstützt. Anwohner*innen wurden in der Vergangenheit durch den Konzern zudem Subventionen aus staatlichen Kompensationsprogrammen angeboten, der behauptete, diese Mittel stammten aus seinen eigenen Entschädigungszahlungen an den kolumbianischen Staat. Die Vorzugsbehandlung der El Cerrejón-Betreiber durch den Staat wird auch durch eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung des australischen Centre for International Corporate Tax Accountability and Research (CICTAR) (2021) belegt, die aufdeckt, dass Glencore in Kolumbien so drastische Steuernachlässe gewährt bekommt, dass das Unternehmen nahezu zum Nulltarif die Reichtümer La Guajiras ausbeuten darf. Gleichzeitig müssen die Anführer*innen der Proteste mit Bedrohungen, Verschwindenlassen oder ihrer gezielten Ermordung rechnen. Oft genug sind dafür direkt Paramilitärs zu verantworten, zu denen sowohl Minenbetreiber als auch der Staat zweifelhafte Kontakte pfleg(t)en.

Fazit

Seit Jahrhunderten bestehende Machtgefälle und „weiße Privilegien“ (Escobar 2008, S. 38) werden im Namen von »Globalisierung« und »Fortschritt« weiter zementiert. Nicht nur in Kolumbien, weltweit wird diese neokoloniale Ordnung mithilfe von Gewalt durchgesetzt. Mitnichten eine veraltete, marxistische Debatte, beeinflussen in der Kolonialzeit entstandene Beziehungsgefüge weiterhin Politik, Wirtschaft und Gesellschaften und konsolidieren die dramatische Ungleichheit zwischen Gewinner*innen und Verlierer*innen dieses globalen Systems. Unwissenheit und/oder Ignoranz kann dieses System durchaus begünstigen, wie das El Cerrejón-Beispiel zeigt. Obwohl die Vorgänge in der Region sehr gut dokumentiert und international bekannt sind, gibt es in Deutschland, der Schweiz und anderen Staaten, wo die zu Strom verarbeitete kolumbianische Kohle verbraucht wird, nur wenig substantiellen öffentlichen Druck, diese Kohle nicht mehr zu importieren. Dies ermöglicht die aktuelle paradoxe Situation, in der in Deutschland im Rahmen der Energiewende möglicherweise der vorgezogene Kohleausstieg bis 2030 durchgesetzt wird, während durch die dadurch steigende Nachfrage nach Kohle in Kolumbien und anderswo mehr Umweltschäden, Treibhausgasemissionen und Menschenrechtsverletzungen verursacht werden: „Das ist globale Kolonialität in ihrem unmittelbarsten Sinne“ (Escobar 2008, S. 38).

Anmerkungen

1) Viele der hier zitierten Autor*innen weisen in ihrer Arbeit auch auf die geopolitische Dimension von Wissen und seiner Produktion hin (s. folgender Absatz). Die »Kolonialität des Wissens« drückt sich demnach u. a. darin aus, dass global als relevant betrachtetes Wissen sowie die Art, es zu produzieren, bis heute ausschließlich in Zentren des Weltsystems definiert und hervorgebracht wird, während die Peripherien des Globalen Südens lediglich Forschungsobjekt oder Empfänger*innen von Wissen sind.

2) Ungefähr 95 % der in Kolumbien geförderten Kohle wird exportiert.

3) Seit Januar 2022 ist Glencore der einzige Betreiber.

Literatur

CICTAR (2021) Broke: Coal mining giant games global tax system. 26.10.2021. cictar.org/glencore.

Escobar, A. (2008): Territories of difference: Place, movements, life, redes. Durham/ London: Duke University Press.

Global Witness (2020): Defending tomorrow: The climate crisis and threats against land and environmental defenders. London: Global Witness.

Guerrero, S. (2018): “4.770 niños muertos en La Guajira es una barbarie”: Corte. El Heraldo, 15.10.2018.

Langan, M. (2018): Neo-colonialism and the poverty of ‘development’ in Africa. Cham: Palgrave Macmillan.

Nkrumah, K. (1963): Neo-colonialism: The last stage of imperialism. New York: International Publishers.

Quijano, A. (2019): Colonialidad del poder, eurocentrismo y América Latina. Espacio abierto, Vol. 28, Nr. 1, S. 260-301.

Urrego, A. (2021): Colombia ya es el tercer exportador de carbón coque y metalúrgico a nivel mundial. La República, 26.08.2021.

Verein der Kohlenimporteure (2022): Pressemitteilung 1/2022. Berlin, 14.01.2022.

Theresa Bachmann ist Doktorandin der Friedens- und Konfliktforschung an der University of Kent (GB). Im Rahmen ihrer Dissertation forscht sie zu Räumen der Bürger*innenbeteiligung im Kontext des aktuellen kolumbianischen Friedensprozesses.

Neokolonialismus genau betrachtet

Neokolonialismus genau betrachtet

Versuch einer umfassenderen Begriffsbestimmung

von Nicki K. Weber

Von Kwame Nkrumahs berühmter Analyse als letzter Stufe des Imperialismus über den Begriff des Eurozentrismus bis hin zu postkolonialer Kritik und den dekolonialen Theorien von »Kolonialität/Modernität« haben Begrifflichkeiten und »Theorien« des Neokolonialismus einige Wandlungen durchlebt. Dieser Beitrag versucht sich an einer genaueren Begriffsbestimmung und bietet Möglichkeiten des Anschlusses an heutige Gewalt- und Herrschaftskritik an, um das Feld konkurrierender Begrifflichkeiten zu sortieren.

Der Begriff des Neokolonialismus im Sinne von »neuem Kolonialismus« ist ein politischer Begriff, der sich (unter anderem) als beschreibend, wertend und konfliktiv begreifen lässt. Er beschreibt politische Praktiken (Diallo 2017, S. 194), die auf den in der Kolonialzeit gewachsenen Macht- und Herrschaftsverhältnissen basieren und diese auf der ökonomischen, soziokulturellen, militärischen und technologischen Ebene (vgl. All-African Peoples‘ Conference 2005) reproduzieren.

Als wertend kann der Begriff des Neokolonialismus aufgefasst werden, weil er als Zustandsbeschreibung auf die aus kolonialen Beziehungen gewachsene strukturelle Gewalt hinweist, der Individuen oder Gruppen (un-)mittelbar durch Fremdbestimmung ausgesetzt sind (Diallo 2017, S. 195f.). Konfliktiv hingegen ist der Begriff, weil er es ermöglicht, neokoloniale Praktiken auch im Alltag zu kritisieren, und versucht, Verantwortlichkeiten zu benennen.

Zwischen Fronten

Erste Beschreibungen neokolonialer Praktiken finden sich in der Abhandlung »Neo-Colonialism: The Last Stage of Imperialism« (vgl. Nkrumah 1966) des antikolonialen Widerstandskämpfers und späteren Präsidenten der Republik Ghana Kwame Nkrumah (1909-1972). Er stellte fest, dass die »neuen« afrikanische Staaten trotz der formalen Unabhängigkeit weiterhin in Abhängigkeitsverhältnisse verstrickt sind, die sich maßgeblich im Weltsystem widerspiegeln, das von neuen Hegemonialmächten wie den USA geprägt sei (Ashcroft, Griffiths und Tiffin, S. 178).

Mit dem Ende formaler Kolonialherrschaft Mitte des 20. Jahrhunderts stellte sich zunächst die Frage, wie sich die Beziehungen zwischen Kolonisierten und Kolonisatoren nach der Unabhängigkeit gestalten lassen. Angehende Super- und ehemalige Kolonialmächte bemühten sich um globalen Einfluss.

Die Härte des westlichen Kampfs um seinen Gestaltungsanspruch in den neuen Staaten Afrikas wird besonders an der Ermordung des damaligen Premierministers der Demokratischen Republik Kongo Patrice Lumumba deutlich, die der Stabilisierung belgisch-kongolesischer Beziehungen dienen sollte, um eine Orientierung an sozialistischen politischen Systemen zu verhindern (Van Reybrouck 2013, S. 364).

Verantwortungsdiffusion

Nkrumah argumentierte in seiner Abhandlung, dass die Akteure in den neokolonialen Beziehungen diffuser geworden seien. Neokoloniale Beziehungen können demnach zwischen ehemaligen Kolonien und Kolonialmächten bestehen. Diese Verhältnisse können sich aber auch verändern: So war nach der Unabhängigkeit Vietnams vor allem die Beziehung zu den USA prägend für das Land und weniger die Beziehung zur ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. Die Machtverhältnisse in Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank tragen zur diffusen Verantwortungssituation bei. Anders als im Kolonialismus können Kolonialisierte in neokolonialen Verhältnissen oft nicht »ihren« Kolonialisten direkt verantwortlich machen. Das mache den Neokolonialismus gefährlicher als den traditionellen Kolonialismus (Nkrumah 1966, S. x-xi). Diese unklare Herrschafts- und Gewaltausübung, der sich die afrikanischen unabhängigen Staaten ausgesetzt sahen, wurde durch die Fronten des globalen Systemkonflikts zwischen dem sogenannten »Ostblock« und dem »Westen« noch verkompliziert.

Die zentrale Frage, die sich den jetzt unabhängigen Staaten Afrikas stellte, war, wie man sich im Nebel der Verantwortung gegenüber den Ansprüchen angehender Supermächte und ehemaliger Kolonialmächte behaupten könnte. Die Frage der Verantwortung war nicht zuletzt auch deshalb schwierig zu klären, weil nicht nur exterritoriale Kräfte die informelle Herrschaft des Neokolonialismus ermöglichten, sondern auch die Eliten in den afrikanischen Ländern eine entscheidende Rolle spielten (vgl. Afoumba in dieser Ausgabe, S. 38).

Obgleich Nkrumah in seinem Definitionsversuch Neokolonialismus in erster Linie in eine kapitalismuskritische Tradition stellte, behandelt seine Analyse die neokolonialen Konflikte vor allem zwischen Staaten, weniger klassentheoretisch. Dabei verkennt er die Rolle innerstaatlicher Eliten (Ziai 2020, S. 129). Afrikanische Feminist*innen machten wiederholt darauf aufmerksam, dass der Einfluss multilateraler Organisationen auch aufgrund patriarchaler Verbindungen zwischen den (alten und neuen) Eliten ehemaliger Kolonialstaaten und -mächten ermöglicht wurde – zumeist zu Lasten von politischen, sozialen und demokratischen Rechten für Frauen (McFadden 2007, S. 42).

Optimist*innen und Pessimist*innen

Innerhalb dieser Eliten wurde (und wird bis heute) der Vorwurf des Neokolonialismus unterschiedlich bewertet. Die Positionen lassen sich in Optimist*innen, Pessimist*innen und ein Kontinuum, die Neutralist*innen, unterteilen (vgl. Mabe 2005).

Während die einen nach der formalen Unabhängigkeit dem Westen optimistisch gegenüberstanden und eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Dominanz als Notwendigkeit für die »Entwicklung« auf dem afrikanischen Kontinent anerkannten, waren andere nicht bereit, »afrikanische Werte« und wiedergewonnene Unabhängigkeiten angesichts der vor allem wirtschaftlichen Übermacht aufzugeben. Sie standen dem westlichen Einfluss pessimistisch gegenüber und sahen keine Möglichkeit, der Zäsur von Kolonialismus und transatlantischem Sklavenhandel allzu Zukunftsträchtiges abzugewinnen. Die Behauptung, (neo-)koloniale Einflüsse hätten insbesondere auf den Gebieten der Bildung und Wissenschaft »positive Modernisierungseffekte«, lehnten sie als »neokolonialistische Mystifikationen«1 ab und strebten nach Reparationen und der Anerkennung des Kolonialismus als System der Ausbeutung. Aus diesen Bestrebungen gingen die Bewegungen des Panafrikanismus und der Négritude hervor. Stand die frankophone Bewegung der Négritude (Senghor 1967) dafür ein, dass es trotz Kolonialisierung ein explizit afrikanisches Kulturschaffen gebe, das in Differenz zu Europa bewertet werden will, so versuchte der Panafrikanismus, maßgeblich angetrieben vom US-Bürgerrechtler und Soziologen W. E. B. Du Bois, die Überwindung des Rassismus als globale Herausforderung des 20. Jahrhunderts zu benennen. Rassismus und die damit verwobene koloniale Kontinuität wurden in ihren jeweiligen Ausdrucksformen einer neokolonialen Dominanzkultur unter anderem in den soziokulturellen, wirtschaftlichen und rechtlichen Strukturen kritisiert (McEachraen 2020, S. 233f.). So wurde deutlich, dass Rassismus nicht nur den Kolonialismus ideologisch legitimierte, sondern in unterschiedlichen Formen – als Abgrenzung zu »fremden Kulturen«, Nationen oder Religionen – fortwirkt. Der Begriff des Neokolonialismus diente diesen Bewegungen dazu, diese auch soziokulturell fortwirkende Dimension des Kolonialismus zu adressieren.

Neokolonialismus, Neoimperialismus, Neoliberalismus

Drei Begrifflichkeiten werden immer wieder miteinander in Verbindung gebracht: Neokolonialismus, Neoimperialismus und Neoliberalismus. In der Fachliteratur fallen die Begriffe des Neokolonialismus und Neoimperialismus des Öfteren zusammen (Ashcroft, Griffiths und Tiffin 2013, S. 179). Nicht zuletzt die Definition des neuen Kolonialismus als letzte Stufe des Imperialismus formulierte Nkrumah in Rekurs auf Lenins marxistische Interpretation des Imperialismus als kapitalistischem Phänomen (Ziai 2020, S. 129) mit dem Ziel der Etablierung einer globalen hierarchischen Wirtschaftsstruktur. Im Allgemeinen lässt sich eine vorsichtige Differenz herausarbeiten: Kolonialismus definiert sich unter anderem über die territoriale Fremdherrschaft, während Imperialismus einen Herrschaftsanspruch ohne direkte Kontrolle über ein Staatsgebiet meint (Conrad 2012, S. 3). Wie der Neokolonialismus funktioniert der Neoimperialismus über die diffuse Ausbreitung staatlichen Einflusses mittels der internationalen Währungsordnung mit der Etablierung der Bretton-Woods-Institutionen nach dem zweiten Weltkrieg. Beide Begriffe beziehen sich auf die Bedingungen einer Weltordnung, die in großen Teilen die informelle Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker in Kauf nimmt.

In diesem Zusammenhang steht nun der Neoliberalismus für deregulierte, globale Marktkonkurrenz, in der allen Dingen und Lebewesen nur über ihren Marktpreis ein Wert zugemessen wird. Imperialistische und koloniale Praktiken prägen so die Konkurrenz am Weltmarkt, der wiederum zum Nachtteil der »Entwicklungsländer« eingerichtet ist. Auch nicht-staatliche Akteure entziehen sich diesem Vorwurf nicht, da sie zumindest als der neoliberalen Ordnung kompatibel angesehen werden und den Interessen der Großmächte (wenn auch unbeabsichtigt) dienen (Hardt und Negri 2002, S. 324). Wie oben schon erwähnt wurde, sind daher für die Analyse neokolonialer Beziehungen direkte koloniale Vorbedingungen nicht notwendig bzw. erschöpft sich eine Kritik des Neokolonialismus nicht in diesen Beziehungen. Die Einbeziehung des Begriffs des Eurozentrismus als weiterer analytischer Schritt kann helfen, die diffuse Verantwortungslage besser zu beschreiben. Kolonialismus und Imperialismus sind ideologisch miteinander verbunden, weil beide davon ausgehen, dass für bestimmte Bevölkerungs- oder Kulturgruppen – wohlgemerkt zu ihrem eigenen Vorteil – Herrschaft erforderlich ist (Said 1994, S. 44).

Unter dem Einfluss des gegenwärtigen Eurozentrismus

Eurozentrismus, die (un-)bewusste Bewertung alles »Fremden« ausgehend von der eigenen, vorrangig westeuropäischen Positionierung, und Neokolonialismus gemeinsam zu betrachten ist deshalb hilfreich, weil so das der wirtschaftlichen und institutionellen Dominanz zugrunde liegende Verständnis eines überlegenen Westens und dem daraus abgeleiteten Führungsanspruch unterstrichen wird. Diese Phänomene lassen sich mit Achille Mbembe (vgl. Mbembe 2021) als »gegenwärtiger Eurozentrismus« auf den Begriff bringen. Dieser entsteht zum einen aus den kolonialen und imperialen Projekten und ihrer ideologischen Fundierung ab dem 19. Jahrhundert, sowie auf der dargestellten neokolonialen Fortführung nach dem zweiten Weltkrieg durch kapitalistische Ausbeutung und die Landnahme in »Entwicklungsländern« mit der Hilfe von ausländischen, privaten und staatlichen Investoren. Ein Beispiel ist das Interesse Frankreichs an den Uranvorkommen im Niger und die damit verbundene Ausbeutung lokaler Arbeitskräfte oder die US-amerikanischen Sicherheits- und Rohstoffinteressen im Sahel (vgl. Afoumba 2021). Neokoloniale Praktiken wie die Landnahme beschränken sich nicht nur auf Afrika, sondern werden auch aus den Reihen der Europäischen Union im asiatischen und lateinamerikanischen Ausland unterstützt (Borras et al. 2016).

Die Kritik an der Verknüpfung von Neokolonialismus und Eurozentrismus entfaltet sich entlang der Frage, ob auch ehemals vom europäischen Kolonialismus betroffene Weltregionen neokoloniale Praktiken entwickeln können. Hier wird beispielweise die Ressourcensicherung und »Entwicklungsarbeit« der Volksrepublik China in afrikanischen Staaten diskutiert. Eine solche »Übersetzung« des Prinzips neokolonialen Handelns ist aber zumindest umstritten (vgl. Schüller und Asche 2007), nicht zuletzt weil die VR China zwar nicht in eurozentristische Ordnungsvorstellungen eingebunden ist, jedoch von einem globalen Kapitalismus profitiert.

Ein »enger« und ein »weiter« Begriff

Jean-Paul Sartre teilte seine Analyse des neokolonialen Systems in Algerien in drei Bereiche auf, die die politischen Erfolge der Unabhängigkeit gefährdeten und auf denen sich neokolonialer Verhältnisse offenbaren: Ökonomie und Soziales sowie (Sozial-)Psychologisches (vgl. Sartre 1988, S. 15). Im Anschluss daran lässt sich der Neokolonialismus zusammenfassend auf einen »engen« und einen »weiten« Begriff bringen. Im engeren Sinne verweist Neokolonialismus auf Konflikte um wirtschaftliche Abhängigkeiten in einer globalisierten Welt, die die staatliche Souveränität beeinträchtigen und soziale Probleme befeuern. Im weiteren Sinne verweist Neokolonialismus auf (sozial-)psychologische Herausforderungen, die mit dem Zeitalter der Dekolonisation auftreten. Rassistische Diskriminierung, Deprivation und Exklusion von Personengruppen mit begrenzten politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Zugängen (hierfür wurde der Begriff der Subalternen geprägt), sind die Ergebnisse von Konstruktionen eines »Anderen« in neokolonialen Verhältnissen (vgl. Spivak 1985). Die wirtschaftliche Abhängigkeit ist demnach nur eine Seite des Neokolonialismus. Die andere, schwerer nachweisbare Seite stellt die kulturelle und epistemische Gewalt von Wissensverhältnissen dar, die unter anderem durch Sprache, Literatur, Wissenschaft und Medien wirkt und neokolonialen Praktiken Vorschub leistet (Ngũgĩ wa Thiong’o 1995, S. 70).

Theoretische Anschlussfähigkeit?!

Auch wenn dem Begriff des Neokolonialismus attestiert wird, ihm fehle eine kohärente Theorie (Ziai 2020, S. 129), ist er durchaus anschlussfähig, nicht zuletzt an post- und dekoloniale Theorien und Kritiken.

Das im antikolonialen Widerstand verwurzelte und maßgeblich von akademischen Migrant*innen in den USA und in Indien interdisziplinär entwickelte Feld der Postkolonialen Theorien zielt auf die Analyse und Dekonstruktion der im weiten Begriff des Neokolonialismus formulierten Phänomene ab: die kolonialen Kontinuitäten, deren asymmetrische Macht- und Wissensverhältnisse in sozialen und politischen Verhältnissen reproduziert und so stabilisiert werden. Zwar gebe es, so eine häufige Kritik, in postkolonialen Theorien ein Interesse an den Verflechtungen von Kolonialismus und Kapitalismus, doch werde die Bedeutung des Kapitalismus für den Kolonialismus in postkolonialer Theorie zu Gunsten eines kulturellen Fokus vernachlässigt (Hall 2013, S. 198f.). Der Begriff des Neokolonialismus hat das Potenzial diese Lücke zu schließen (Diallo 2017, S. 196) und materielle, geistig-kulturelle wie sprachliche Abhängigkeiten gemeinsam zu betrachten.

Ein breiteres Verständnis von Kolonialismus versuchen Texte rund um das Projekt »Modernidad/Colonialidad« zu gewinnen, das vor allem stark von Forscher*innen aus Lateinamerika vorangetrieben wurde. Dieser dekoloniale Theorieansatz versucht, die koloniale Situation asymmetrischer Machtverhältnisse als ein Grundmoment der Epoche der eurozentrische Moderne zu begreifen, die es letztlich mit nicht-europäischen, lokalen Erkenntnismethoden zu dekolonialisieren gilt. Die Kritik an der Moderne innerhalb dekolonialer Theorien wurde Ende der 1960er Jahren innerhalb der lateinamerikanischen Dependenztheorie aufgegriffen (Castro Varela do Mar/Dhawan 2020, S. 336). Deren im Vergleich zur postkolonialen Theorie allgemein als breiter verstandener Gegenstand umfasst die informelle und ökonomische Abhängigkeit der Peripheriestaaten von den »entwickelten« Industriestaaten und reflektiert stark die unter dem Begriff des Neokolonialismus formulierten Vorwürfe. Der dekoloniale Theorieansatz kann als theoretisch fundierter Nachfolger der Debatte um Neokolonialismus verstanden werden (Ziai 2020, S. 129), weil er den engen und weiten Begriff des Neokolonialismus gebündelt behandelt, ohne einen Begriff gegen den anderen zu sehr auszuspielen (vgl. am Beispiel des Friedensbegriffs den Beitrag von Pauls in dieser Ausgabe, S. 42).

Beispiele neokolonialer Strukturen und Verhaltensweisen

Unter dem Begriff des Neokolonialismus bekommen also aktuelle Strukturen und Verhalten asymmetrischer Macht- und Herrschaftsverhältnisse einen Namen, die als Langzeitfolgen von Kolonialismus und Imperialismus weiter präsent sind und mittels radikaler Deregulierung der Weltmärkte im Zeitalter der Globalisierung fortgesetzt werden. Die Verwendung und Verwendbarkeit dieser Begriffsbildung kann an zwei Beispielen kurz illustriert werden. Während der globalen Covid-19-Pandemie der letzten beiden Jahre und bei der Verteilung der im Westen entwickelten Impfstoffe wurde immer wieder auf neokoloniale Strukturen aufmerksam gemacht. Im Konflikt zwischen der Konzeption geistigen Eigentums, besonders hinsichtlich der Bedeutung von Eigentum als Grundprinzip liberaler Marktwirtschaft, und dem Menschenrecht auf Gesundheit offenbart sich der Neokolonialismus in seiner ganzen Breite. Die Behauptungen, das Wissen über Impfstoffe könne aufgrund von Eigentumsrechten und der innovativen »Kraft« liberalisierter Märkte nicht global geteilt werden und Länder ohne einen gewissen Industriestandard wären nicht in der Lage, Impfstoffe eigenständig zu produzieren und zu verteilen, sprechen hier eine deutliche Sprache (vgl. ECCHR 2020). Gerade im Kontext der Medizin ist ein kritisches Verständnis für die Rolle traditionellen Wissens und dessen Weiterentwicklung in den kolonialen »Laboren der Moderne« (Stoler und Cooper 1997) hoch aktuell. Es ist schwer, dieses hybride Wissen, das Ergebnis der gewaltvollen Verflechtung von Nord und Süd, als »westliches Eigentum« zu begreifen, welches nur in einem Akt der Güte geteilt werden »darf«.

Auch die Institution des Museums wird seit längerem stärker kolonialismuskritisch beleuchtet. Die Entscheidung, die Rückgabe kolonialer Raubkunst zu verzögern, gleicht einer Verweigerung, die ein neokoloniales Verhalten offenbart, das Bénédicte Savoy als »institutionelle Abwehr« bezeichnet (Savoy 2021, S. 195-199). Nicht zuletzt hinsichtlich der postkolonialen Herausforderung der Selbstbestimmung afrikanischer Kulturen und der Bedeutung von Kunstobjekten für Selbstbestimmung, offenbaren die Rechtfertigungen einer Verweigerung der Rückgabe ein neokoloniales Verhalten. Aus kriegerischen und kolonialen Kontexten geraubte Exponate sollten in den ethnologischen Museen Europas zu Forschungszwecken einerseits und andererseits zum Erhalt für zukünftige Generation verwahrt werden, so ein bekanntes Argument. Die Debatte über Restitution ist längst auch eine Kritik an neokoloniale Beziehungen, in deren Zentrum auch Frage nach einer neuen Ethik des globalen Austauschs steht. Diese zielt auch drauf ab, neokoloniale Fremdbestimmung zu vermeiden (vgl. zu dieser Frage auch Lwanzo in dieser Ausgabe, S. 46).

Zusammenfassung

Neokoloniale Konflikte können heute nicht mehr ausschließlich auf der Ebene demokratischer Wirtschaftsreformen zu Gunsten der Peripheriestaaten bearbeitet werden. Unter dem Begriff des Neokolonialismus werden Effekte und Phänomene adressiert, die in unterschiedlicher Ausprägung von post- sowie dekolonialen Theorieschulen seit geraumer Zeit behandelt werden. Diese Erkenntnisse machen es erforderlich, das Analysefeld asymmetrischer Macht- und Herrschaftsverhältnisse breiter zu interpretieren, um die gegenwärtigen Gewaltformen und ihre vielseitigen kolonialen und imperialistischen Ursprünge zu begreifen. Sie bilden die »andere Seite« einer von ökonomischen und ethischen Handlungsempfehlungen unserer von »Good Governance« geprägten, globalisierten Weltordnung. Die Gestaltung von Beziehung zwischen Gleichberechtigten steht vor immensen Herausforderungen, denen es in ihrer Komplexität zu begegnen gilt. Der Begriff des Neokolonialismus hat nicht nur das Potenzial, Schieflagen für die Bearbeitung offenzulegen, sondern kann auch die notwendige Irritation aufbringen, die zur Reflexion über herrschende Verhältnisse einlädt.

Anmerkung

1) Der Begriff der »neokolonialistischen Mystifikation« stammt von Jean-Paul Sartre, der 1956 davor warnte, sich auf den Trugschluss einzulassen, es gäbe innerhalb des kolonialen Systems Beziehungen, die nicht von Abhängigkeits- und Unterdrückungsverhältnissen geprägt seien (Sartre 1988, S. 29). Der Modus kolonialer Unterdrückung bleibe erhalten, solange das koloniale System fortbesteht. Auch eine Verbesserung der politischen und sozialen Umstände kann für Sartre die Beziehungsgrundlage nicht maßgeblich verändern. Dieser Blick auf die Struktur des Kolonialismus macht eine Unterteilung in »gute« und »schlechte« Kolonisatoren unmöglich (Sartre 1988, S. 16).

Literatur

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Nicki K. Weber ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Augsburg. Er forscht zu Postkolonialer Theorie und Schwarzer Kritik. Sein Dissertationsprojekt behandelt politisch-philosophische Konzeptionen zwischen europäischem Existenzialismus und »Black existentialism«.