Lernen von den »Guardias«

Lernen von den »Guardias«

Integrale Sicherheit als Antwort auf multiple Gewaltphänomene in Kolumbien1

von María Cárdenas

Am Beispiel der »Guardias« und im Kontext des kolumbianischen Friedenskonsolidierungsprozesses soll dieser Beitrag Aufschluss darüber geben, wie Indigene, Afrokolumbianische und kleinbäuerliche Gemeinden inmitten von allgegenwärtiger Gewalt durch integrale Sicherheitssysteme kollektiven Selbstschutz praktizieren, um das (Über-)Leben ihrer Gemeinden und Ontologien zu sichern. Angesichts multipler planetarer Krisen bietet ihre Praxis wichtige Denkanstöße für die notwendige Überwindung des hegemonialen Verständnisses von (militarisierter) Sicherheit.

Die »Guardia Indígena«, die »Guardia Cimarrona« und die »Guardia Campesina« (kurz »Guardias«) sind heute die international bekanntesten gemeindebasierten und integralen Sicherheitssysteme in Kolumbien. Seit der Jahrtausendwende wurden sie von ihren Gemeinden gestärkt, um ihr territorio und ihre Bevölkerung vor bewaffneten Akteuren und ihrer gewaltsamen Vereinnahmung für extraktive Ökonomien zu schützen. So stellen sie sich illegalen Ökonomien ebenso in den Weg wie legalen und illegalen bewaffneten Akteuren und sind zum Teil beteiligt an der »Liberación de la Madre Tierra« – also an Initiativen, die die »Mutter Erde« aus z.B. Monokulturprojekten befreien wollen.2 Angesichts der Allgegenwärtigkeit der Gewalt stellen die Guardias seither gleichsam den bestmöglichen Schutz vor militärischer Gewalt dar, als auch eine unbewaffnete Alternative zu ihr. Gleichwohl wird ihre Arbeit häufig aus einer eurozentrischen Perspektive auf ein anthropozentrisches Verständnis von Sicherheit reduziert. Auch aus einer solchen Perspektive können die Guardias zwar Aufschlüsse über Alternativen zu militarisierter Sicherheit geben. Die ontologischen Konflikte, die der Gewalt gegen diese Gemeinden zugrundeliegen, werden hierdurch jedoch vernachlässigt. Ebenso wird das Potential unsichtbar, das integralen Sicherheitssystemen zur Überwindung jener multiplen (Un-)Sicherheitskrisen innewohnt, die durch die Moderne/Kolonialität hervorgerufen wurden (Escobar 2020).

Der Beitrag baut auf meiner ethnographischen Forschung mit Indigenen und Afrokolumbianischen Friedensaktivist:innen seit 2017 (u.a. Cárdenas 2023), sowie einer vom Deutsch Kolumbianischen Friedensinstitut (CAPAZ) unterstützten explorativen Studie von 20193 auf. Ziel ist es, mit Blick auf das Sicherheitsverständnis Indigener, Afrokolumbianischer und kleinbäuerlicher Gemeinden das hegemoniale Verständnis von Sicherheit neu zu betrachten. Der Beitrag ist auch ein Angebot, die hegemonialen Formen oder Versuche der Gewährleistung von Sicherheit zu reflektieren. Zu diesem Zweck werde ich im Folgenden die Arbeit der Guardias im Cauca näher in den Blick nehmen.

Hintergrund: Bewaffnete Gewalt und Morde im Cauca

Unsicherheit und Gewalt haben die südwestliche Region Cauca seit Jahrzehnten geprägt. Fast acht Jahre nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens hat die Frage der Sicherheit in dieser Region allerdings nicht an Bedeutung verloren, denn sowohl die Anzahl bewaffneter Akteure als auch die Gewalt gegen soziale und ethnische Organisationen und Aktivist:innen haben weiter zugenommen. Zwischen dem Tag der Unterzeichnung des Friedensabkommens 2016 bis zum 3.7.2024 wurden laut INDEPAZ in Kolumbien 1.621 soziale Führungspersönlichkeiten (líderes) ermordet (INDEPAZ 2024). Allein im Cauca waren es 324 ermordete soziale Aktivist:innen, von denen mehr als ein Drittel Indigene waren (128), gefolgt von Kleinbäuer:innen (79), und Afrokolumbianischen Aktivist:innen (32).4 Die unverhältnismäßige Gewalt gegen ländliche und insbesondere Indigene Führungspersonen ist vor allem auf ihren Widerstand gegen Wirtschaftsakteure und lokale Eliten zurückzuführen, die nach der Demobilisierung der FARC-EP um die ökonomische und sozio-politische Kontrolle der Region konkurrieren und eine Ausweitung der legalen und illegalen Wirtschaftsweisen in diesem Departement anstreben (Albarracín et al. 2022).

Teil integraler Sicherheitssysteme

Indigene, Afrokolumbianische und kleinbäuerliche Guardias können als integrale gemeinschaftliche Sicherheitssysteme verstanden werden, die temporär, semi-permanent oder permanent sein können und aus einem unbezahlten, unbewaffneten Dienst bestehen, den meist alle Mitglieder der Gemeinschaft mindestens einmal verrichten. Das Leitmotto der Guardias „Todos somos guardia“ („Wir alle sind Guardias“) bedeutet sowohl, dass die Arbeit der Guardia bzw. die damit verbundene Verantwortung nicht ausgelagert werden kann, als auch, dass jede:r – von den Älteren bis zu den Kindern – ein wichtiger Teil ist, um zum Schutz des territorio und dessen Gemeinschaft beizutragen. Hierdurch ist die Gruppe zumindest bei den semi-permanenten und temporären Guardias meist relativ heterogen, was Gender, Alter und familiäre Situation anbelangt.5 Die Gemeindemitglieder, die als Guardia dienen, tragen im Dienst zumeist den traditionellen bastón de mando – einen mit Bändern der Organisationsfarben verzierten Holzstab. Häufig tragen sie dazu auch ein Halstuch und eine Weste, auf denen das Logo der Organisation, der ihre Gemeinde angehört, sichtbar ist.

Da die Guardias Teil der politischen Autonomie der Gemeinden und dieser untergeordnet sind, werden sie auf Gemeindeebene organisiert. Ihre Organisation hängt also von ihrem jeweiligen gobierno propio ab (ihren autochthonen Formen politischer Selbstorganisation), sowie von dem sozio-ökologischen und politischen Kontext, in den sie eingebettet sind. Nicht nur angesichts der besonderen Gewaltbetroffenheit der Cauca-Region kann die Arbeit der dort ansässigen Guardias also nicht auf andere Kontexte übertragen werden.

Die Guardias sind zudem nur ein Element der gemeindebasierten Schutzmechanismen im heutigen Kolumbien, zu denen auch die planes de vida (Lebenspläne), medicina ancestral (traditionelle Medizin) und spiritueller Schutz (durch z.B. Taitas oder Thê’ Walas), sowie institutionalisierte Dialogforen zählen. Der Bekanntheitsgrad der Guardias hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sie aus einem eurozentrischen Sicherheitsverständnis leichter zu greifen sind als z.B. die Wirkung von Thê’ Walas. Dies hat es einzelnen Guardias im Cauca ermöglicht, Zuwendungen von staatlichen und internationalen Stellen zu erhalten – eine Entwicklung, die manche Gemeinden aufgrund der damit (vermeintlich verbundenen oder wachsenden) Nähe zum eurozentrischen Sicherheitsverständnis bzw. ihrer Reduktion hierauf mit Sorge betrachten.

Der hier entwickelte Blick auf die Guardias im Cauca soll daher keinesfalls zu einer Generalisierung der Guardias und Reduktion ihrer Komplexität, Heterogenität und kontextspezifischen Ausprägung beitragen, denn diese hat in Kolumbien auch zu einer Dichotomie von Romantisierung vs. Kriminalisierung geführt. Ziel ist vielmehr, zu erörtern, welche Alternativen die Guardias in Kolumbien zu einer militärischen oder militarisierten Durchsetzung von Sicherheit eröffnen – auch in einem Kontext allgegenwärtiger Gewalt – und was wir von ihnen für das Verständnis von Sicherheit und seine Erreichung lernen können.

Der integrale Schutz des »Territorio«

Die Aufgabe der Guardias ist es, Sicherheit und Harmonie in einer integralen Weise zu fördern, die sich nicht auf physische Sicherheit oder den negativen Frieden beschränkt (Galtung 1972), sondern auf das abzielt, was häufig als »die Kontrolle des Territoriums« (control territorial) bezeichnet wird. Als territorio lässt sich zunächst vereinfacht das Leben und die Beziehungen der Lebewesen untereinander in einem gewissen Raum bezeichnen. Dieser Raum sollte jedoch nicht auf ein eurozentrisches, zweidimensionales Verständnis im Sinne einer Karte reduziert werden, sondern ist zum einen multidimensional und dynamisch, und beinhaltet zum anderen auch die vertikale, spirituelle und historische Dimension. Zudem ist es eng mit dem menschlichen Körper verschränkt.

Die Kontrolle des territorio beinhaltet also zwar auch das, was im eurozentrischen Sicherheitsverständnis als die Kontrolle über ein gewisses Stück Land verstanden wird: zu wissen, wer sich auf dem spezifischen Gelände aufhält, was diese Menschen tun und wieso. Im Kontext allgegenwärtiger Gewalt ist es wichtig, die Routen von bewaffneten Akteuren zu kennen, wann sie unberechtigterweise das Gelände durchqueren, und welche Beziehungen sie mit anderen Akteuren halten. Dies ermöglicht nicht nur eine sehr gute Kenntnis der Akteure der Region und ihrer Interessen (und trägt dadurch zum friedens- und sicherheitsrelevanten Wissensarchiv dieser Gemeinden bei), sondern es hat oft unmittelbar praktischen Nutzen. Beispielsweise wenn die Kenntnisse hierüber es diesen Gemeinden ermöglichen, zwangsrekrutierte Minderjährige wieder aus den Fängen von bewaffneten Akteure zu holen, illegalen Bergbau zu identifizieren, oder gar Bagger-Lader der Polizei zu übergeben.6 Juan Carabalí von der Nationalen Schutzeinheit (UNP)7 stellt klar:

„Man stellt sich die Guardias oft so vor, dass sie bewaffnet sind, aber das stimmt nicht. Der Guardia ist derjenige, der hinausgeht, um zu verhandeln, um einen Dia­log zu führen, um die Menschen, die [von bewaffneten Akteuren] getötet werden sollen, wegzubringen, um sie aus den Händen von bewaffneten Gruppen zu holen, die sie töten wollen. Ja, die afrokolumbianischen Gemeinschaften tun das die ganze Zeit, und die indigenen Gemeinschaften, die ganze Zeit.“ (Juan Carabalí, UNP, 23.4.2019).

Sicherheit wird hier also Carabalí zufolge nicht über Gewalt (oder die Androhung dieser) hergestellt, sondern über den Mut, ins Gespräch zu kommen und sich der Gewalt entgegenzustellen, sowie über die Autorität, mit der die Guardia ihr territorio verteidigt.

Die Arbeit der Guardias kann jedoch nicht auf den Umgang mit Gewaltkonfrontationen und ihre Verhandlungskapazitäten reduziert werden. Aufgrund des eingangs genannten Verständnisses von territorio besteht territoriale Kon­trolle auch darin, auf den Zustand bzw. die Gesundheit des Territoriums, der Pflanzen und der Tiere zu achten sowie auf den Zustand von Straßen, Zäunen und Brücken (Forschungsmemo vom 16.2.2019). Daher beinhaltet die territoriale Kontrolle neben dem Schutz der Natur auch die »Minga« – also die Gemeindearbeit (z.B. Renovierungs- und Reparaturarbeiten, Unterstützung bei der Ernte, die Reparatur eines Hauses, eines Zauns, eines Brunnens oder einer Brücke). Ebenso beinhaltet die Arbeit der Guardia zum Teil auch die Mediation bei Nachbarschafts- oder familiären Konflikten, sowie bei Streitigkeiten innerhalb der Gemeinschaft und mit den Nachbargemeinden (wobei dies je nach Gemeinde auch von anderen Ämtern und Rollen übernommen wird). Die Guardias erfüllen daher vielerorts auch Funktionen, um die Autonomie und Widerstandsfähigkeit der Gemeinde gegen die Kolonialität und ihre Gewalt zu stärken. Es handelt sich bei der Guardia damit also um einen Teil autonomer und integraler Sicherheitssysteme, in dem sich Menschen die Aufgabe teilen, das Pluriversum zu schützen – nach außen (bzgl. bewaffneter Akteure und Nachbargemeinden), nach innen (Gemeindekohäsion), als auch horizontal und vertikal (bzgl. des Schutzes des Territoriums bzw. der Natur, der Ahnen und des spirituellen Raums vor z.B. Extraktivismus) – oft auch mit ihrem eigenen Leben.

Dies macht auf einen weiteren Aspekt der Territorialkontrolle aufmerksam, der über ein eurozentrisches Sicherheitsverständnis hinausgeht. Es geht nämlich nicht nur um den Schutz einer bestimmten Gruppe von Menschen und gegebenenfalls ihres Besitzes, sondern auch um den Schutz der Natur in ihrem eigenen Recht8, sowie um den Schutz der Beziehungen und des Gleichgewichts zwischen Menschen, nicht-menschlichen Lebewesen und dem spirituellen Raum. Bei diesem nicht-westlichen Verständnis von »Sicherheit« geht es also auch um die Beziehungen zwischen Menschen und dem was wir unter Natur verstehen (also Flora und Fauna), ebenso wie um die spirituellen und emotionalen Beziehungen, die das Territorium beinhaltet, und um die Gesetze bzw. Regeln, denen diese folgen.

In wissenschaftlichen Debatten, insbesondere des »ontological turn« oder der »political ontology«, erhalten diese relationalen Möglichkeiten, die Welt in ihrer Pluriversalität zu verstehen, zunehmend an Bedeutung (vgl. FitzGerald 2021). Vor diesem Hintergrund lässt sich control territorial nicht nur als Teil von territorialen Kämpfen verstehen, sondern vielmehr sind territoriale Kämpfe, bzw. der Versuch das Territorium zu schützen, im Sinne von Arturo Escobar (2020) immer auch ontologische Kämpfe. Es geht bei den Guardias also um den Schutz des Pluriversums vor seiner Vernichtung durch ontologische Zerstörung, die die Monokulturen (hier nicht auf den Anbau beschränkt) der Moderne/Kolonialität nach sich ziehen. Die eingangs genannten vielfachen Morde in Kolumbien an Indigenen, Afrokolumbianischen oder kleinbäuerlichen Aktivist:innen weisen daher nicht nur auf die nekropolitische Dimension hin, die rassialisiertes Leben der kapitalistischen Logik unterwirft (Ruette-Orihuela et al. 2023), sondern auch auf die ontologische Dimension der Gewalt, da die Ermordeten als zentrale Akteure in der Aufrechterhaltung des widerständigen Wissens und in der Organisation des ontologischen Widerstands verstanden werden müssen.

Auswirkungen des Friedensabkommens seit 2016

Die Nationale Schutzeinheit UNP hat eingeräumt, dass sie auf der ländlichen Ebene sehr schwach ist. Vor allem bei Indigenen und Afrokolumbianischen Gemeinschaften sind die Sicherheitsmaßnahmen oft nicht in der Lage, Morde zu verhindern.9 Darüber hinaus gab es Fälle von Leibwächtern der UNP-Vertragspartner, denen paramilitärische Verbindungen nachgewiesen werden konnten.10 Vor diesem Hintergrund und mit dem Ziel, den rechtlichen Rahmen der autonomen Sicherheitsmechanismen auszuweiten – und damit auch ihre Möglichkeiten, Sicherheit integral zu stärken11 –, wurde das Recht auf autonome Sicherheitssysteme als Teil des ethnischen Kapitels auch in das kolumbianische Friedensabkommen von 2016 aufgenommen (vgl. Cárdenas 2019). Es garantiert unter anderem, dass „bei der Gestaltung und Umsetzung des Sicherheits- und Schutzprogramms für Gemeinschaften und Organisationen in den Gebieten eine ethnische und kulturelle Perspektive einbezogen wird. Die Stärkung der eigenen Sicherheitssysteme der ethnischen Völker, die national und international anerkannt sind, […] wird garantiert“.

Dies hatte weitreichende Folgen, von denen ich hier nur zwei nennen werde: Zum einen die politische und rechtliche Anerkennung der Afrokolumbianischen und Indigenen Guardias und damit die Anerkennung alternativer Konzeptualisierungen von Sicherheit. Das ist ein wichtiger politischer Erfolg für Indigene, aber auch Afrokolumbianische Gemeinden. Dieses nicht-anthropozentrische, integrale Verständnis von Sicherheit wurde zuletzt durch die erfolgreiche Initiative Afrokolumbianischer Gemeinschaften aus dem Nord-Cauca auch in einem Urteil der kolumbianischen Übergangsjustiz JEP erneuert: Dort wurde der Fluss Cauca als Opfer des bewaffneten Konflikts anerkannt und ihm das Recht auf Wiedergutmachung und Nicht-Wiederholung zugestanden. Es lässt sich also als Folge des ethnischen Kapitels ein Einfließen von nicht-eurozentrischen Ontologien in die kolumbianische Rechtsprechung feststellen.

Zum anderen wurden die Guardias in ihrer finanziellen, strukturellen und ideellen Form durch Sicherheitsinstitutionen wie die Nationale Schutzeinheit UNP gestärkt. 2019 arbeitete UNP mit 78 Kollektiven im ganzen Land zusammen, von denen die meisten Indigene und Schwarze Gemeinschaften waren, und individuell mit etwa 800 Indigenen und etwa 500 Afrokolumbianischen Aktivist:innen, die Personenschutz benötigten (Stand Februar 2019, Interview mit der UNP vom 23.4.2019). Die Maßnahmen umfassen materiellen (Westen, Walkie-Talkies usw.) und immateriellen Schutz (Ausbildung in ethnischen Rechten, in Menschenrechten und im humanitären Völkerrecht, usw.), aber auch spirituellen Schutz (zur Harmonisierung des Territoriums z.B.; ebd.). Diese Dynamik hat sicherlich zur größeren Sichtbarkeit der Guardias beigetragen.

Wenngleich im Cauca die »Guardia Indígena« besonders stark ist, hat in den letzten Jahren auch die Zahl der Afrokolumbianischen Gemeinderäte mit eigenen Guardias zugenommen hat. Laut Victor Hugo Moreno Mina (ACONC) gab es 2019 neunzehn Afrokolumbianische Guardias in den 43 Gemeinderäten im Cauca (Interview mit Victor Hugo Moreno Mina, 22.2.2019). Nach einem von der internationalen Zusammenarbeit finanzierten Workshop für interethnische Guardias im Jahr 2018 wurde in Cauca auch die interethnische Guardia gegründet, die sich aus Indigenen, Afrokolumbianischen und bäuerlichen Gruppen zusammensetzt, um voneinander zu lernen, sich gegenseitig zu stärken und z.B. bei der Überführung illegaler und bewaffneter Akteure zu kooperieren. Angesichts der Allgegenwärtigkeit von Gewalt durch zahlreiche legale und illegale bewaffnete Akteure und illegale Ökonomien im Cauca sowie der Nachlässigkeit bzw. Schwäche des Staates, dieser entgegenzutreten, erweisen sich die Guardias auch weiterhin als unverzichtbares Sicherheitssystem, aber auch als Symbol für den autonomen und integralen Aufbau von Frieden nach dem Friedensabkommen.

»Todos somos guardia« – wir alle sind »Guardia«

Dies hat Edgar Alberto Velasco Tumiña (Autoridades Indígenas del Sur Occidente – AISO) zufolge dazu geführt, dass „[die indigene Guardia] in vielen Teilen der Welt ein Beispiel für den Widerstand gegen den Krieg [ist]. [W]ir haben gelernt, unsere Angst zu verlieren, unsere Angst vor dem Krieg, vor den Streitkräften, und wir widersetzen uns den Landbesitzern, den multinationalen Konzernen und der Regierung selbst“.

Das Narrativ der Guardia als Verteidigerin des Territoriums und als Friedensstifterin hat verstärkt seit dem Abschluss des Friedensabkommens Bündnisse mit einer Vielzahl von Akteuren ermöglicht, die sich außerhalb ihrer Gemeinden und/oder ihres territorio befinden: mit der internationalen Zusammenarbeit, der Studierendenbewegung, den Umweltschutzbewegungen oder der städtischen Linken. In jüngerer Zeit ist die Schaffung der inter­ethnischen Guardia (bestehend aus »Guardia Indígena«, »Guardia Campesina« und »Guardia Cimarrona«) selbst ein Versuch, über territorios hinweg zusammenzuarbeiten und ethnische oder rassistische Gräben zu überbrücken.

Ein Beispiel für den symbolischen Stellenwert, den die Guardias über ihre Territorien hinaus erlangt haben, war ihre zentrale Rolle beim Nationalstreik von 2021, in dem sie sich mit der meist urbanen Bevölkerung solidarisierten und diese beim Schutz vor repressiver Gewalt durch staatliche Sicherheitsbehörden und Bürgerwehren unterstützten.12 Ihre wachsende Popularität und ihre Kooperation mit Akteuren aus dem urbanen Raum hat sie jedoch auch angreifbarer für Kriminalisierung und Diffamierung gemacht13.

Zusammen mit dem Anstieg von sich diversifizierenden und miteinander konkurrierenden Gewaltakteuren im Cauca, die die Gewaltsituation gegen ländliche Gemeinden verschärfen, hat sich die Arbeit der Guardias daher erschwert: In den ersten sechs Monaten des Jahres 2024 wurden bereits 89 soziale Aktivist:innen ermordet, viele davon wegen ihres Widerstands gegen den legalen und illegalen Extraktivismus. Eine der Guardias, die in diesem Zusammenhang ihr Leben verlor, war die Älteste und Nasa-Gouverneurin Carmelita Ascue Yule aus dem Cauca. Sie wurde am 16. März 2024 ermordet, als sie versuchte, Minderjährige aus ihrer Gemeinde vor der Zwangsrekrutierung durch eine Dissidentengruppe der FARC zu schützen.

Anmerkungen

1) Ausschnitte des vorliegenden Texts wurden bereits als Forumsbeitrag in Iberoamericana veröffentlicht, siehe Cárdenas 2020. Vielen Dank an David Scheuing und Astrid Juckenack für ihre Anmerkungen.

2) Siehe auch die Webpage der Bewegung unter liberaciondelamadretierra.org/de/.

3) Die Studie hatte den den Titel »Strengthening autonomy or the state? Die unterschiedliche Anerkennung der Guardias im Friedensabkommen und ihre Zusammenarbeit im Territorium im Rahmen des Post-Abkommens«.

4) Ibid. Im Vergleich hierzu macht die Indigene Bevölkerung laut der Volkszählung von 2018 lediglich rund 4.4 % und die Afrokolumbianische rund 9.34 % der Gesamtbevölkerung aus (vgl. DANE 2019, DANE 2023).

5) Frauen werden also nicht in die Sicherheit »integriert« (wie es aus einer euro- und androzentrischen Perspektive z.B. beim Militär der Fall ist), sondern als integraler Bestandteil der Gemeinschaft sind sie auch integraler Bestandteil ihres Schutzes (der nicht militärisch ist).

6) So erklärte Victor Hugo Moreno Mina (Asociación de Consejos Comunitarios del Norte del Cauca – ACONC) bei einem von mir begleiteten Vortrag an der Nationalen Polizeiakademie, dass die Guardia wiederholt den illegalen Bergbau in ihren Gebieten gestoppt und schwere Maschinen und Delinquenten der Polizei übergeben habe (Memo vom 01.11.2018).

7) Die UNP untersteht dem Innenministerium und ist für die Koordinierung und Durchführung des Schutzes von Personen oder Gruppen zuständig, deren Leben aufgrund ihrer Arbeit bedroht ist.

8) Dank der sozialen Kämpfe von Indigenen und Afrolateinamerikanischen Gemeinden wurden in Lateinamerika viele Teile der Natur (Flüsse, Berge etc.) als Rechtssubjekte anerkannt.

9) So Pablo Elías, Direktor der UNP, in CIEDH 2020, S. 5.

10) Siehe Comisión Colombiana de Juristas (2018).

11) Der rechtliche Rahmen der Guardia hängt vom allgemeinen rechtlichen Rahmen der Gemeinschaften ab: Für die Indigene und Afrokolumbianische Bevölkerung beruhen die ethnischen Rechte in Kolumbien auf dem Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation, das von Kolumbien durch das Gesetz 21 von 1991 gebilligt und in der Verfassung von 1991 sowie im Gesetz 70 von 1993 festgeschrieben wurde. Folglich hat die Guardia Campesina keinen rechtlichen Rahmen, während die Guardia Indígena (seit 2001) und die Guardia Cimarrona (seit 2013) ihren lokalen Behörden, entweder dem Cabildo oder dem Gemeinderat, unterstellt sind.

12) Im Rahmen des Nationalstreiks wurden über 80 Demonstrierende v.a. von staatlichen Sicherheitskräften ermordet (vgl. Prieto 2022). Zum Nationalstreik in Kolumbien von 2021 und seiner Gewalt, siehe Cortés und Cárdenas 2021.

13) Beispielsweise »verwechselte« Ex-Präsident Álvaro Uribe in einem Tweet während des stark polarisierten Klimas des Nationalstreiks von 2021 die Guardia der indigenen Organisation CRIC mit der ELN-Guerilla, siehe: El Espectador 2021.

Literatur

Albarracín, J. et al. (2022): Local competitive authoritarianism and post-conflict violence. An analysis of the assassination of social leaders in Colombia. International Interactions 49(2), S. 237-267.

Cárdenas, M. (2019): “Nicht ohne uns!” Der partizipative Friedensprozess in Kolumbien. W&F 2/2019, S. 13-16.

Cárdenas, M. (2020): Ampliación de derechos étnicos en el marco de la construcción de paz en Colombia. Paradojas del fortalecimiento de las guardias en el Cauca contemporáneo y post-acuerdo. Foro de debate – “Etnicidades en disputa: nuevos caminos, nuevos desafíos”. Iberoamericana 20(75), S. 221-227.

Cárdenas, M. (2023): Why peacebuilding is condemned to fail if it ignores ethnicization. The case of Colombia. Peacebuilding 11(2), S. 185-204.

Cortés, G.; Cárdenas, M. (2021): Die Zivilbevölkerung in Kolumbien darf uns nicht egal sein. Blogbeitrag Wissenschaft & Frieden, 18.5.2021.

Centro de Informacíon sobre Empresas y Derechos Humanos (CIEDH) (2020): Las personas defensoras de los derechos humanos y las empresas en Colombia. März 2020.

Comisión Colombiana de Juristas (2018): ¿Cuáles son los patrones? Asesinatos de Líderes Sociales en el Post Acuerdo. Bogota: Eigenverlag.

DANE (2019): Población indígena de Colombia: Resultados del Censo Nacional de Población y Vivienda 2018. Gobierno de Colombia, 16.9.2019.

DANE (2023): Visibilidad estadística población negra, afrocolombiana, raizal y palenquera. Gobierno de Colombia, 2023.

El Espectador (2021): Álvaro Uribe trina contra el CRIC, borra el mensaje y culpa a sus ayudantes. El Espectador, 5.5.2021.

Escobar, A, (2020): Thinking-feeling with the earth: Territorial struggles and the ontological dimension of the epistemologies of the south. In: De Sousa Santos, B.; Meneses, M. P. (Hrsg.): Knowledges born in the struggle: Constructing the epistemologies of the Global South. New York: Routledge, S. 41-57.

FitzGerald, G. (2021): Pluriversal peacebuilding: Peace beyond epistemic and ontological violence. E-International Relations, 27.11.2021.

Galtung, J. (1972): Gewalt, Frieden und Friedensforschung. In: Senghaas, D. (Hrsg.): Kritische Friedensforschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 55-104.

INDEPAZ (2024): Visor de asesinato a personas lideres sociales y defensores de derechos humanos en Colombia. Datenbank, URL: indepaz.org.co/visor-de-asesinato-a-personas, abgerufen am 3.7.2024.

Prieto, L. V. (2022): Paro Nacional 2021: ¿En qué quedó?. Blogbeitrag Fundación Paz & Reconciliación (PARES), 28.4.2022.

Ruette-Orihuela, K. et al. (2023): Necropolitics, peacebuilding and racialized violence: The elimination of indigenous leaders in Colombia. Political Geography 105, 102934.

María Cárdenas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin an der Goethe-Universität Frankfurt. Ihre Forschung befasst sich mit dekolonialen Perspektiven, »Critical Race und Ethnic Studies« sowie der Frage, wie pluriversaler Frieden aufgebaut bzw. pluriversales Peacebuilding operationalisiert werden kann.

Komplexe Transformationen voraus

Komplexe Transformationen voraus

Gedanken zur Zivilen Konfliktbearbeitung nach 25 Jahren Plattform Zivile Konfliktbearbeitung

von Jörn Grävingholt

Herzlichen Dank für die freundliche und erwartungsschürende Einführung. Als erstes darf ich der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung im Namen von Brot für die Welt ganz herzliche Gratulationen aussprechen. Auch wenn ich hierbei auf den Schultern anderer stehe, da insbesondere Martina Fischer als Kollegin von Brot für die Welt für die Plattform weitaus mehr getan hat und weiter tun wird, als ich das je in meinem Leben werde schaffen können. Doch damit möchte ich jetzt auch den institutionellen Hut ablegen. Denn was mich mit dem Thema der Zivilen Konfliktbearbeitung und Friedensförderung verbindet, hat mit den wenigen Monaten, die ich erst bei Brot für die Welt bin, naturgemäß viel weniger zu tun, als mit den knapp zwei Jahrzehnten, die ich vorher aus wissenschaftlicher Perspektive das Feld beobachten, begleiten und an der einen oder anderen Stelle auch ein bisschen mitbearbeiten durfte. Daher ist was ich jetzt sage, sicherlich mehr Jörn Grävingholt als Brot für die Welt.

25 Jahre Plattform Zivile Konfliktbearbeitung: Zum Glück, sagte ich mir, als ich angefragt wurde, wollen sie nicht, dass ich nur weitere Blumensträuße überbringe, sondern haben sich sehr mutig, wie ich finde, als Frage über diese Veranstaltung geschrieben: „Was muss sich verändern?“ Das finde ich erst mal großartig, auch wenn wir vielleicht alle in diesem Raum – auch nach den Diskussionen, die wir gerade gehört haben, und den Diskussionen, die es früher am Tag gab – das Gefühl haben, dass es ein »Weiter so« ohnehin nicht wird sein können.

Daher habe ich mich zunächst gefragt: Welche Entwicklungen ereignen sich gerade vor unseren Augen, die Veränderungen erfordern? Ich habe mich dabei zunehmend gefragt, ob ich mich jetzt gerade in eine ganz furchtbare Welt hineindenke – und war nun sehr erleichtert, der Paneldiskussion vorhin zu folgen und festzustellen: „Ja, diese Fragen, die ich mir stelle, die stellen sich andere auch“.

Die Rahmenbedingungen, wenn wir in die Welt schauen, sind – glaube ich – allen klar: Gewalt, kriegerische Gewalt hat in den letzten rund zehn Jahren dramatisch zugenommen. Die Zahlen, die uns zur Verfügung stehen, sagen uns, dass wir im letzten Jahrzehnt mehr als doppelt so viele Kriegstote zu beklagen hatten wie in den rund zehn Jahren vorher. Also eine völlig dramatische Entwicklung.

Diese Zahlen sind nicht nur ein statistischer Trend. Ganz abgesehen von dem immensen menschlichen Leid, das hinter diesen Zahlen nur erahnt werden kann – und von dem die meisten in diesem Raum durchaus eine Vorstellung haben dürften –, ganz abgesehen von diesem Leid geht die internationale Gewalteskalation spätestens seit dem 7. Oktober 2023 und der militärischen Reaktion Israels im Gazastreifen auch mit einer Polarisierung öffentlicher Diskurse einher, die wir in dieser Form seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt haben. Vielleicht am ehesten noch vergleichbar mit dem Bruch, den der 11. September 2001 bedeutet hat.

Befördert durch diese Polarisierung beobachten wir auch eine neue Legitimierung von Gewalt als Mittel der Konfliktlösung. Eine höchst beunruhigende Entwicklung, in der Gewalt nicht nur als Mittel der Verteidigung, sondern tatsächlich in vielerlei Hinsicht als ein Mittel der Wahl eingesetzt wird, um angestrebte Ziele zu erreichen. Die Fähigkeit von Gewaltakteuren, Gefolgschaft zu finden für ihr Modell des Kampfes um jeden Preis, hat offensichtlich zugenommen.

Die Polarisierung des politischen Spektrums, die wir seit Jahren mit wachsender Sorge beobachten, wirkt sich auch an dieser Stelle aus: Am extremistischen Ende dieses Spektrums steht ein im Kern zutiefst chauvinistisches Weltbild, wie Sabine Fischer es in brillanter Weise an der Fundierung des Putin’schen Gewaltregimes in Russland analysiert hat, das aber keineswegs auf die Geisteswelt des russischen Präsidenten begrenzt ist.1 Wir beobachten diesen Chauvinismus – in seiner Kombination aus aggressivem Nationalismus, autokratischem Herrschaftsverständnis und tief verwurzelter Misogynie und in seiner mit allen drei Strömungen eng verbundenen maßlosen Gewaltbereitschaft – in vielen populistischen Herrscherfiguren und Herrschaftskasten über den Globus verteilt: in seiner terroristischen Version von den Taliban über den Islamischen Staat bis zur Hamas, in seiner finster diktatorischen Variante von Nordkorea bis Teheran, in seiner »transformativ autoritären« Version bei Erdogan, Modi, Bolsonaro und Xi, in einer noch vom Rechtsstaat eingehegten Variante bei Trump über Kaczynski und Orban bis Netanjahu.

In allen Varianten spielen Mischungen von Gewaltbereitschaft, von aggressivem Nationalismus und oft von einer überraschenden Frauenfeindlichkeit eine große Rolle. Und einzig bei der letztgenannten Variante spielen die rechtsstaatlichen Korrektive noch eine maßgebliche Rolle, wie zuletzt in Warschau beobachtet werden konnte. Aber auch dort sehen wir eben schwere Verheerungen in der politischen Kultur, die diese Entwicklung nach sich zieht. Wir wären blind, würden wir diese Tendenzen in Deutschland nicht auch beobachten. Putschpläne von sogenannten Reichsbürger*innen sind nur ein Beispiel. Gewalt ist in diesem Weltbild nicht der Verrat an den zivilisatorischen Errungenschaften der Menschheit und einzig zur Verhinderung noch größerer Übel, also noch schlimmerer Gewalt legitimiert. Gewalt ist hier vielmehr ein normales Mittel der Zielerreichung und wer sich ihrer nicht bedient, solange er der Stärkere ist, gilt praktisch als »Dummkopf«. Wer sich ihrer nicht bedient, tut dies nur aus taktischen Gründen, weil er sich noch nicht stark genug fühlt und wartet, bis er stark genug geworden ist, um seine Ziele am Ende doch mit Gewalt durchsetzen zu können. (Wenn ich an dieser Stelle oft die maskuline Form verwendet habe, dann ist das kein Zufall.)

Trotzdem ist das sozusagen die einfache Variante. Eine Variante, mit der wir uns politisch-ideologisch relativ einfach auseinandersetzen können.

Doch das Ideal der friedlichen, auf Kooperation statt Gewalt gegründeten Welt, das wir hier in diesem Raum vermutlich alle in der einen oder anderen Form unterstützen – geprägt durch Humanismus, durch das »Nie wieder!« der europäischen Nachkriegszeit, geprägt durch die Aporien des Kalten Krieges und die irgendwie buchstäblich wundersame Erfahrung seiner Überwindung, vielleicht auch geprägt durch eine moderne christliche oder andere religiös kolorierte Ethik –, dieses Ideal wird zunehmend auch aus einer anderen Richtung infrage gestellt. Aus einer Richtung, die wir lange oder eigentlich bis heute in gewissem Sinne als unsere natürlichen Verbündeten wahrgenommen haben und als deren Verbündete wir uns vermutlich alle bis heute betrachten: emanzipatorische soziale Bewegungen, Menschenrechtsorganisationen und andere Netzwerke von Aktivist*innen im sogenannten Globalen Süden, die, ohne das unbedingt mit diesen Worten zu sagen, uns den Spiegel vorhalten, uns in gewisser Weise der kollektiven Heuchelei bezichtigen. In gewissem Sinne fragen sie uns letztlich, ob der Boden, auf dem wir stehen, wenn wir dieses Ideal der Kooperation vor uns hertragen, nicht eigentlich durch unseren Wohlstand und durch eine gewisse globale Dominanz charakterisiert ist, die im Grunde nur durch Jahrhunderte des Kolonialismus und des Imperialismus ermöglicht – und bis heute nicht wirklich überwunden – worden sind.

Der Frieden im Kleinen hängt sehr an den Strukturen im Großen. Ein Zusammenhang der zunehmend gesehen wird. Diese Diskussionen werden als Diskussionen über Gerechtigkeit geführt. In gewissem Sinne sind die Debatten, die wir vielleicht noch aus den späten 1960er bzw. 1970er Jahren kennen, über strukturellen Imperialismus, strukturelle Gewalt, »Dependencia«, wieder zurück auf der Tagesordnung und stehen wieder groß und laut im Raum. Dass bitte kein Missverständnis aufkommt: das ist eine vollkommen andere Fragestellung, als sie der aggressive Chauvinismus, von dem ich gerade gesprochen habe, darstellt. Auch wenn wir uns vielleicht nicht jeden dieser antikolonialen oder postkolonialen Anwürfe zu eigen machen müssen, so müssen wir doch die Fragen, die gestellt werden, unbedingt ernst nehmen.

Es reicht nur ein Blick auf die verheerende Halbzeitbilanz der Agenda 2030 und das Drama der jährlichen Klimaverhandlungen, um zu sehen, dass Vorwürfe, der Westen schaue kollektiv noch immer aus einer Komfortzone auf die Dinge dieser Welt, nicht völlig aus der Luft gegriffen sind. Das Fatale daran ist: Die Chauvinisten von heute zögern keinen Moment, sich auch des antikolonialen Aktivismus zu bedienen, wenn es ihnen opportun erscheint und ihrer Argumentation nützlich ist. So und nur so ist zu erklären, dass Putin manchen als Freiheitskämpfer gegen den Westen gilt oder emanzipatorische Bewegungen zur Befreiung von Frauen aus patriarchalen Unterdrückungsstrukturen Verständnis für den Terror einer radikal antifeministischen Bewegung wie der Hamas äußern.

Trotzdem ist diese antikoloniale Infragestellung eine, der wir uns aussetzen und mit der wir uns unbedingt auseinandersetzen müssen. Weil Frieden eben nicht nur die Abwesenheit von Gewalt ist – das wissen wir alle – sondern weil es am Ende um Frieden und Gerechtigkeit geht. Dieser Aspekt scheint mir der zentrale zu sein, den wir wieder viel mehr in den Blick nehmen müssen. Auch da will ich nicht missverstanden werden: Ich glaube nicht, dass wir sagen können, alle Ungerechtigkeiten in irgendwelchen Konflikten dieser Welt lassen sich auf Kolonialismus zurückführen und dass wir diese hier von unserer Seite beseitigen könnten. Aber die Wahrnehmung, dass der »Westen« in einer Welt massiver globaler Ungerechtigkeit auch in Fragen von Krieg und Frieden eher Teil des Problems als Teil der Lösung ist, ist weit verbreitet. Aus ihr spricht die Klage über globale Ungerechtigkeit und ein weit verbreiteter Hunger nach Gerechtigkeit.

Die Frage ist daher für mich schon noch mal neu: Wie hängt das Kleine – wie hängt die Friedensförderung vor Ort, die Friedensförderung dort, wo es konkret um Menschen geht, um das Zusammenleben von Gemeinschaften – mit dem Großen zusammen? Wir kennen alle Adornos Frage nach dem „richtigen Leben im Falschen“. Ein Stück weit ist das auch hier die Frage, um die es gehen wird: Hat zivile Krisenprävention wirklich die Kraft, transformierend nicht nur im Hinblick auf die Wahl der Mittel, sondern auch im Hinblick auf strukturell ungerechte Zustände zu wirken? Oder drohen am Ende zivile Mittel doch nur bestehende, vielerorts zunehmend als ungerecht empfundene Zustände zu stabilisieren? Das wäre fatal. Indem ich diese Frage stelle, behaupte ich nicht, dass wir darauf überhaupt keine Antwort geben könnten. Ich bin überzeugt, dass wir das können, aber vor allen Dingen, dass wir das viel umfassender als bisher auch wirklich tun müssen, dass wir diese Diskussion viel offener, viel stärker führen müssen, allerorten und auch gerade öffentlich. Ich meine, wir müssen viel mehr über das »Wozu« des Friedens, der Gewaltlosigkeit, der zivilen Friedensarbeit reden, auch streiten und mit unseren Gesprächspartner*innen in aller Welt dabei das Thema Gerechtigkeit viel stärker in den Vordergrund stellen.

Vielerorts wird ein »legitimacy deficit« von Nachkriegsordnungen empfunden, weil nichts ankommt bei den Menschen oder oftmals nichts ankommt, wenn irgendwo ein scheinbarer Friede erreicht worden ist. Die Gerechtigkeitsfrage, die dahintersteht, muss noch zentraler werden. Und wir müssen uns dann fragen: „Welche Angebote können wir machen?“ Auch in den politischen Raum müssen wir wieder stärker hineinwirken. Dort müssen wir deutlich machen, dass wir als Gesellschaft, als Staat, als Europa viel glaubwürdigere Angebote machen müssen, dass wir diese Gerechtigkeitsfragen viel ernster nehmen müssen, als das im Moment den Eindruck erweckt.

Für die zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedensförderung ist das nicht die Aufforderung, alles neu zu erfinden. Aber es geht darum, die Gründe, den Boden, auf dem wir mit diesen Ansätzen stehen stehen, stärker zur Diskussion zu stellen und auch global mit unseren Partnerinnen und Partnern in die Diskussion zu gehen – ein Stück weit auch mit offenem Ausgang. Es ist dann eine Fahrt hinaus aufs offene Meer und ohne Sicherheiten, aber – um jetzt doch mit einer positiven Note zu enden – auch mit der Chance, an neuen Ufern anzukommen.

Anmerkung

1) Fischer, S. (2023): Die chauvinistische Bedrohung: Russlands Kriege und Europas Antworten. Berlin: Econ/Ullstein.

Jörn Grävingholt ist Politikwissenschaftler und leitet seit Sommer 2023 die Abteilung Politik bei Brot für die Welt. Zuvor forschte er am German Institute of Development and Sustainability (IDOS) in Bonn und war in dieser Zeit viele Jahre im Beirat der Bundesregierung für Zivile Krisenprävention und Friedensförderung tätig, von 2011 bis 2018 als dessen Co-Vorsitzender.

»Friedensarbeit verändern«

Ein Projekt der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung

Logo Projekt Friedensarbeit

Ganz im Sinne des Mottos »Give Peace a Change!« geht die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung mit ihrem Projekt »Friedensarbeit verändern« notwendigen Fragen nach strukturellem Rassismus und diesen reproduzierenden kolonialen Kontinuitäten in der Zivilen Konfliktbearbeitung und der Friedensarbeit im Größeren nach.

Bis heute sind Rassismen und Diskriminierungen globale Konfliktgegenstände, -ursachen und -treiber, die ein System von Machtungleichgewichten aufrechterhalten und reproduzieren, das die sozialen Hierarchien lokal und global bestimmt (vgl. Roig 2021, Pötter-Jantzen 2021). Dies zeigt sich sowohl in der Zivilen Konfliktbearbeitung im Ausland – beispielsweise in machtgeprägten Nord-Süd-Partnerschaften – als auch in der Konfliktbearbeitung im Inland, wo systematische postkoloniale, rassismus- und machtkritische sowie intersektionale Perspektiven in institutionellen Selbstverständnissen noch als Querschnittsthema verankert werden müssen. Die Dekolonisierung ist von großer Bedeutung für die Glaubwürdigkeit der Friedensarbeit sowie für vertrauensvolle Partnerschaften und die Anerkennung multiperspektivischer Expertisen und Erfahrungen. Voraussetzung dafür ist die Anerkennung der Existenz von Rassismus sowie der aus ihm resultierenden andauernden Machtasymmetrien als eines gesellschaftlichen Konfliktverhältnisses.

Mit ihrem gerade erschienen »Glossar für rassismus- und machtkritisches Denken in der Zivilen Konfliktbearbeitung« bündelt die Plattform ZKB daher zentrale Begriffe und Ansätze im Bereich der Rassismus- und Machtkritik, um so die Debatten in der Zivilen Konfliktbearbeitung darüber zu begleiten, wie rassismus- und machtkritisches Denken in Konzepten, Methoden, Selbstverständnissen und Haltungen der Konfliktbearbeitung gestärkt werden kann.

Das Glossar sowie eine Reflexionshilfe für rassismus- und diskriminierungssensible Veranstaltungen finden sich auf der Webseite des Projekts: pzkb.de/friedensarbeit-veraendern.

Ansprechperson ist Cora Bieß, erreichbar unter cora.biess@pzkb.de

Literatur:

Pötter-Jantzen, M. (2021): Das Ende der weißen Retter. Wege zu einer antirassistischen Friedensarbeit. Forum Weltkirche, 7.11.2021. Online verfügbar unter: forumzfd.de/de/das-ende-der-weissen-retter.

Roig, E. (2021): Why we matter. Das Ende der Unterdrückung. Berlin: Aufbau Verlag.

Afroplanetarismus als Friedensphilosophie

Afroplanetarismus als Friedensphilosophie

von Korassi Téwéché

Wie lässt sich nach den Gräueln des Kolonialismus über Frieden sprechen? Dieser Text diskutiert die Hypothese, dass die Voraussetzung für eine echte Emanzipation des postkolonialen Subjekts die Transzendenz1 des Historizismus ist. Mit dem Ansatz der organischen Philosophie und des Afroplanetarismus wird diese neue Art und Weise vorgestellt, die individuelle und kollektive Existenz des Menschen auf einer neuen Grundlage, d.h. jenseits des Einzelfaktors Geschichte zu verstehen und positiv zu gestalten.

Eine kritische Analyse der zeitgenössischen philosophischen Reflexionen über »Krieg« und »Frieden« in der Welt und insbesondere in Afrika zeigt eine ständige Bezugnahme auf die Kolonialgeschichte (vgl. Mbembe 2017; Mamdani 2020). Dies basiert auf der Annahme, dass die heutigen Konflikte im Bereich der internationalen Beziehungen ein Abbild der Kolonialkriege von gestern seien (Mamdani 1996, 2003; Henderson und Singer 2020). Im Folgenden argumentiere ich, dass dieser Bezug auf die Geschichte ein epistemisches Hindernis für ein klareres analytisches Verständnis der Gegenwart darstellt. Als Alternative zum postkolonialen Ansatz postuliere ich die Methode der organischen Philosophie, die eine Transzendenz des Historizismus voraussetzt.2 Die Analyse der Grundlagen, der Bedeutung und der Implikationen des Konzepts der »Transzendenz« ist die Basis für die Diskussion des daraus sich ergebenden Afroplanetarismus als einer Friedensphilosophie.

Der Historizismus des postkolonialen Paradigmas

Unter »Historizismus« ist eine mimetische und fetischistische Bezugnahme der postkolonialen kritischen Theorie auf die Geschichte des Kolonialismus und seine Wissensobjekte zu verstehen.3 Ziel eines solchen Ansatzes ist es, eine Erklärung für die zeitgenössischen soziopolitischen, wirtschaftlichen und kulturellen Dynamiken zu liefern und deren Logik aus der Reflexion über die Vergangenheit zu ermitteln.

Die Theorie wird als »mimetisch« bezeichnet, da die Beobachtung der Realität Afrikas und der heutigen Welt ausschließlich durch die koloniale Vergangenheit erfolgt. Die aktuelle Realität wird nicht unmittelbar in sich selbst erfasst. Zwischen ihr und dem Blick der beobachtenden Person befindet sich die Maske der Kolonialgeschichte, ihrer Figuren, ihrer Verbrechensszenen, ihrer makabren Ästhetik (vgl. Mbembe 2017, S. 26; 2016). Die Realität wird als ständige Wiederkehr dieser Logik begriffen, die Kritiker*innen mithilfe der Sprachanalyse und der Kritik sozialer, politischer, wirtschaftlicher, kultureller, religiöser, ästhetischer u.a. Strukturen auf ihren Sinn hin untersuchen wollen (vgl. Mbembe 2014, S. 122). Deshalb werden in der Kritik ständig Kategorien wie »Weiß«, »Schwarz«, »Europäer*innen«, »Afrikaner*innen«, »westlich« usw. verwendet, als würden diese auf greifbare Identitäten verweisen und etwa der »Kolonialherr« und der »Kolonialisierte« diesen »Essenzen« entsprechen (vgl. Mbembe 2014, S. 256). Sie existieren jenseits von kolonialem Raum und Zeit und werden in der Gegenwart verkörpert, wenn auch unter mehr oder weniger veränderten Aspekten.

Die Idee des »Fetischismus« erklärt die psychologische Basis des Historizismus. Sie bedeutet, dass die Reproduktion der vergangenen Wissensobjekte in der Theorie keinen Selbstzweck hat. Vielmehr dient sie als Grundlage für eine praktische Moral der postkolonialen Subjekte im Alltag. Der Zweck des postkolonialen Handelns besteht in der Befreiung der postkolonialen Subjekte von der Gewalt dieser andauernden Vergangenheit. In diesem Sinne ist auch das Argument des »strategischen Essentialismus« von Gayatri Spivak (1988) in ihrem Beitrag »Can the subaltern speak?« zu interpretieren. Die Verwendung essentialistischer Kategorien wird durch ihren praktischen Zweck gerechtfertigt. Sie dienen als Organisationsmittel der »Subalternen« gegen die neokolonialen Mächte (Spivak 2001). Eine ähnliche »Strategie« findet sich auch in den Arbeiten von Edward Said (1978) und Achille Mbembe (2014), insbesondere bei der gezielten Verwendung der Begriffe »Orientalismus« und »Neger«.

Zwar lässt sich einwenden, dass der Bezug auf die Geschichte eine polemische, subversive oder kritische Bedeutung hat. Doch die kritische Analyse dieses Ansatzes lässt einen Widerspruch erkennen (vgl. Theombogü 2023). Einerseits beansprucht die Theorie, das koloniale Ereignis, seine Objekte, seine Raum-Zeit-Dimension und die Strukturen seines Imaginären zu kritisieren (vgl. Mbembe et al. 2006). Andererseits essentialisiert und verstetigt sie diese Objekte, indem sie ihnen eine Vorrangstellung gegenüber allen anderen Zeit- und Räumlichkeiten einräumt. Im weiteren Verlauf dieses Beitrags erörtere ich die Frage nach den Konsequenzen eines solchen Historizismus für die effektive Befreiung und Emanzipation von Menschen aus zeitgenössischer Gewalt. Dabei wird vor allem die Frage beantwortet, was es unter einem solchen Kontext bedeutet, Frieden zu schaffen.

Eine organische Philosophie für eine Transzendenz des Historizismus

Was ich als organische Philosophie bezeichne bedeutet, den Menschen nicht als reines Produkt der Geschichte zu betrachten, sondern als Konjunktion4 von Subjektivität und Realität des Lebens.5 Dies bedeutet zum einen die Fähigkeit des Subjekts, sich selbst und der Welt unmittelbar anwesend zu sein, und zum anderen die Aktualisierung seiner Fähigkeiten durch Handeln und positive Selbsttransformation im Alltag. Das Subjekt nimmt seine Existenz als das Ereignis eines Aufenthalts auf, den es unmittelbar hinterfragt, versteht und gestaltet (vgl. Boulaga 1977). Daraus ergibt sich das Postulat dieser Philosophie, dass der Reparation notwendigerweise die Transzendenz des Historizismus vorausgeht. Die Erläuterung dieser These wird Gegenstand der folgenden Ausführungen sein. Dafür werde ich den Begriff von »Reparation« einführen, der zugleich als Transzendenz und Emanzipation des Diskurses über die Vergangenheit gelten soll.

Das Konzept der »Transzendenz« bedeutet nicht eine Verleugnung des Kolonialismus, vielmehr die Konjunktion des Subjekts und der Realität der Phänomene, die es unmittelbar in seinem Alltag erfährt. Zwar begleitet die Vergangenheit den Menschen in seinem Verhalten, seinem Denken, seinen Gefühlen und seinem Gedächtnis. Jedoch ist er nicht unbedingt durch diese Einflüsse bestimmt. Die Wirklichkeit, die er erlebt, ist der kontinuierliche Ausdruck einer Transzendenz, d.h. einer unmittelbaren Beziehung zum Dasein, und nicht die Reproduktion einer Vergangenheit, die sie absolut determiniert. Im Alltag zeigt sich diese Kraft der Transzendenz in der Betätigung des eigenen Willens, der Wünsche, der Gefühle und der Motivation. Die Kriege der Gegenwart sind deswegen keine Wiederholung der Vergangenheit. Wenn jemand nicht als Mensch respektiert wird, oder wenn seine Rechte auf Meinungsfreiheit, Mobilität, Bildung, Gemeineigentum, usw. verletzt oder vorenthalten werden, dann weiß der Mensch, dass er sich im Krieg befindet. Außerdem ist ihm Frieden unmittelbar im Alltag bekannt. Der Mensch erfährt ihn, wenn er in die Ruhe kommt, im Einklang mit sich selbst und dem Universum ist. Diese Ruhe kommt nur, wenn man sich gegenseitig zuhören kann, wenn man respektiert wird, wenn das Gemeineigentum des Lebens gerecht verteilt wird. Daher lässt sich argumentieren, dass die Transzendenz ein Symbol der Freiheit sowie der Verantwortung des Menschen im Alltag ist.

Außerdem setzt die Idee des »emanzipatorischen Diskurses«, wie ich sie hier verwende, eine unmittelbare Kenntnis der Wirklichkeit im Alltag voraus. Dieser Diskurs ist keine Rede über die Vergangenheit mehr, sondern ein Schweigen. Schweigen heißt in der Gegenwart agieren, sich von der Ignoranz freizumachen, über die Geschichte zu reden, ohne die unmittelbare Realität und die aktuelle Freiheit bzw. Verantwortung des Menschen gegenüber seinem Dasein zu berücksichtigen. Es heißt auch, das alltägliche Leben selbst zu reparieren, Frieden in der aktuellen Wirklichkeit zu schöpfen. Ein Beispiel für diese Art des Denkens ist die ursprüngliche Version des postkolonialen Diskurses. Dies war die Rede Fanons, der sein berühmtes Werk »Schwarze Haut, weiße Masken« mit einer langen Prosa an die Freiheit beendete, in der er schrieb: „Ich erkenne mich als Mensch in einer Welt, in der die Worte sich in Schweigen auflösen; in einer Welt, in der der andere sich endlos verhärtet. Nein, ich habe kein Recht, mich hierhin zu begeben und meinen Hass auf den Weißen herauszuschreien. Ich bin nicht verpflichtet, dem Weißen meine Dankbarkeit zuzuflüstern. Es gibt mein Leben, das im Lasso des Daseins gefangen ist. Es gibt meine Freiheit, die mich auf mich selbst zurückwirft. Nein, ich habe kein Recht, ein Schwarzer zu sein. Ich habe keine Pflicht, dies oder jenes zu sein.“ (Fanon 1952, S. 185)6 Ziel von Fanons Diskurs war, nicht eine bloße Kritik des sogenannten »Westens« zu formulieren, sondern im Alltag ganz konkret das Leben vor der Macht des Todes zu retten. Reden bedeutete zuerst schweigen, danach agieren, die Realität positiv gestalten; Frieden in der Wirklichkeit realisieren. Die Rede begleitet immer das Handeln und zielt darauf ab, über dieses zu reflektieren bzw. zu meditieren.

Mit meinem Postulat der organischen Philosophie möchte ich also diese Rückkehr zum Leben des Subjekts selbst, jenseits des Historizismus, hervorheben. Diese Rückkehr kann zwar mit dem Fanon’schen Konzept der Freiheit verglichen werden, wenn er schreibt: „Ich bin mein eigenes Fundament. Und indem ich die historische, instrumentelle Gegebenheit überwinde, führe ich den Zyklus meiner Freiheit ein“ (Fanon 1952, S. 187). Jenseits der Bestätigung der Freiheit möchte allerdings die Idee der Transzendenz die konkrete, alltägliche und effektive Dimension der Entdeckung des Fundaments hervorheben. Das postkoloniale Subjekt ist nur dann wirklich frei, wenn es das Leben selbst erfährt und seinen Alltag transformiert. Mit dem Begriff der Transzendenz bezeichne ich diese Konjunktion des Subjekts mit dem Leben, die seine Transformation über die bloße Grundsatzerklärung einer Freiheit hinaus bewirkt. Dies scheint mir die grundlegende Voraussetzung dafür zu sein, dass die Freiheit des postkolonialen Subjekts verwirklicht werden kann.

Dieser Diskurs unterscheidet sich grundsätzlich von dem Diskurs, den ich »Historizismus« nenne. Gegenstand von diesem ist nicht Frieden durch Handeln zu schaffen; vielmehr geht es darum, das Bild einer Epoche widerzuspiegeln. Zwar wird über Krieg, Frieden, Leben und Tod geredet. Doch die Rede wird durch den Spiegel einer Epoche reflektiert. Die Protagonist*innen dieser Epoche – »Afrika«, der »Westen«, der »Neger«, der »weiße Kolonialherr« usw. – werden dargestellt, kritisiert, dekonstruiert. Es geht wesentlich um einen Kampf der Repräsentation, bei denen die Szene die Vergangenheit ist und die Protagonist*innen immer wieder dieselben Gesten, Worte, Gedanken und Gefühle mimen. Reden heißt in diesem Fall, eine Szene vorstellen, sie vergleichen, oder gleichsetzen. Handeln wird mit Reden gleichgesetzt. Die historizistische Grundannahme ist, dass der Mensch nicht genug weiß, was Krieg ist, weder jener der Vergangenheit noch jener der Gegenwart. Darüber zu reden, heißt, so lautet die zweite Annahme des Historizismus, eine Reparation zu leisten. Doch die Frage ist, inwiefern dieser Diskurs einen echten Weg zur Wiedergutmachung bzw. zum Frieden in Afrika und in der Welt bildet? Im letzten Teil meiner Argumentation möchte ich erklären, wie das Postulat der organischen Philosophie, wie es zuvor formuliert wurde, der Ausgangspunkt für ein neues Konzept von Frieden und Reparation als Alternative zu der Perspektive des Historizismus in Afrika sein könnte.

Der Afroplanetarismus als Friedensphilosophie

Unter Afroplanetarismus verstehe ich eine neue Art und Weise, Afrika ausgehend von dem Postulat der organischen Philosophie zu denken. Sowohl dieser Kontinent als auch sein Verhältnis zur Erde werden nicht mehr notwendigerweise in Bezug auf die Kolonialgeschichte betrachtet, sondern aus der Transzendenz, durch die die Subjekte ihre Geschichte überwinden. Das postkoloniale Subjekt, das in einer unmittelbaren Alltagsbeziehung zu sich selbst existiert, erfährt so einerseits seine Freiheit und schafft andererseits die Bedingungen für seine positive Selbsttransformation. Statt als Objekt eines Determinismus der Kolonialgeschichte wird somit die Welt des Subjekts zum Horizont einer Freiheit und einer Möglichkeit, die bereits das unmittelbare Leben auf der Erde in sich birgt. Insofern überwindet der Afroplanetarismus das koloniale Konstrukt »Afrika« in einen neuen Weltbezug zur planetarischen bzw. organischen Realität des Lebens. Aus diesem Ansatz der organischen Philosophie möchte ich nun für ein differenziertes Konzept des Friedens und der Reparation in Afrika argumentieren.

Diese Philosophie will die Bedingung eines friedlichen Lebens in Afrika und der Welt schaffen, indem sie den Weg für einen alternativen Diskurs öffnet. Statt über eine wiederkehrende koloniale Vergangenheit zu reden, wird hier die Macht des Schweigens vorgeschlagen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um ein resigniertes Schweigen, das die Kolonialvergangenheit vergisst bzw. verdrängt, sondern um die Ruhe der Transzendenz. Das Subjekt erkennt zwar die Verbrechen der Kolonialgeschichte an, kann sich dennoch von ihnen befreien. Durch den täglichen Einsatz seines Intellekts, seines Herzens und seines Willens öffnet das Subjekt sich den aktuellen Lebensumständen, um darin neue Möglichkeiten für ein emanzipatorisches Handeln zu entdecken, das überwindet und nicht erstarrt. Es heißt jeden Tag in der Realität zu landen und sie von innen zu gestalten. Der Frieden wird nur dadurch entstehen, indem das Leben im Alltag empfangen wird. Zwei Aspekte scheinen hier wichtig: Erstens, sich als Dasein wahrzunehmen. Dasein bedeutet konkret, die Grundbedingungen des eigenen Lebens und des Zusammenlebens zu manifestieren: den Körper, den Geist, die Intelligenz, die Lebensressourcen zu gestalten. Es geht darum, die Potentiale des Subjekts zu verwirklichen. Ziel ist die positive Transformation des eigenen Lebens durch ein unmittelbares Wissen über die Wirklichkeit zu ermöglichen.

Insofern bedeutet Afroplanetarismus die Geschichte Afrikas und ihre Fetischobjekte bzw. Bilder zu transzendieren. Es heißt zur Realität des Lebens des postkolonialen Subjekts zurückzukehren, die Möglichkeiten seines eigenen Daseins zu übernehmen und die epistemologischen, politischen, und ethischen Implikationen dieses Wissens für das Zusammenleben auf diesem Kontinent und der Welt zu verstehen. Epistemologisch heißt es, dass kein Bild der Geschichte an sich die absolute Wahrheit darstellt, sondern nur einen Teil davon. Politisch bedeutet es, dass die Bilder der Gesellschaften begrenzt sind. Ethisch heißt es, dass das Handeln des Menschen so mit den Potentialitäten des Lebens in Einklang gebracht werden muss, damit der Mensch sich entfalten kann. Was der Mensch wirklich ist, realisiert er im Alltag. Zwar hat die Geschichte eine große Bedeutung für sein individuelles und kollektives Gedächtnis. Doch jenseits der Bilder aus dem kollektiven Gedächtnis hat jedes Individuum bzw. jede Gesellschaft die Kraft, sich immer wieder neu zu erfinden, um über ihre Grenzen hinauszuwachsen. Diese Fähigkeit, sich selbst zu erfinden, kann nur verwirklicht werden, wenn der Mensch sich von der fetischistischen Bindung an die Objekte seiner Vergangenheit löst und sich dynamisch die Wirklichkeit aneignet, die sich unmittelbar in seiner Gegenwart ergibt.

Diese Idee nun zu einem »Afroplanetarismus als ewiger Frieden« (in Symmetrie zur berühmten Kant’schen Konstruktion) erweitert zu denken bedeutet dann, erstens die Bedingungen für ein gemeinsames Leben im Alltag zu schaffen, zweitens, die partikulären Geschichten und Bilder unserer Gesellschaften zu überwinden, und drittens die Ordnung des Universums ins Leben zu bringen. Diese drei Wahrheiten sind meiner Meinung nach die Grundbedingung des ewigen Friedens.

Fazit

Es ist ein großer Fehler mit Heraklit zu behaupten, dass der Krieg der Vater aller Dinge“ ist. Durch seine Intelligenz weiß der Mensch, dass hinter dem scheinbaren Krieg im Weltall eine immanente Harmonie liegt. Die Gegensätze bilden eine lebendige Synthese, in der jedes Element seinen Platz hat. Aber diese Harmonie ist dem Menschen nicht gegeben. Er muss sie verwirklichen, indem er seine Intelligenz, sein Herz und seinen Willen im Alltag koordiniert. Dies setzt eine kontinuierliche Transzendenz seiner gewaltvollen Vergangenheit voraus. Zwar wird ihn dies trotzdem begleiten, jedoch kann er sich davon befreien und die Gegenwart erneut anders gestalten. Erst dann wird seine Menschlichkeit jeden Tag offenbar.

Anmerkungen

1) Hier und im Folgenden wird das Wort »Transzendenz« im transitiven Sinne eines »Übersteigens«, »Überwindens« verwendet.

2) Ich bevorzuge den Begriff »Methode« statt »Tradition« oder »Schule«. Denn die organische Philosophie ist keine etablierte Philosophie, sondern ein epistemologischer Ansatz, den ich vorschlage und der sich vom Ansatz des postkolonialen Historizismus unterscheiden soll.

3) Darin grenzt sich dieser Begriff von dem der deutschen Idealisten sowie von strukturalistischen und poststrukturalistischen Theorien ab (vgl. Scholtz 1989).

4) Ich verwende das Wort »Konjunktion« nach der ursprünglichen Bedeutung des lateinischen »conjunctio«, was eben Verbindung, Vereinigung bedeutet.

5) In einem früheren Text erörterte ich im Zusammenhang mit der Debatte um die Rückgabe afrikanischer Kunstobjekte diese Idee des Primats des Lebens über seine kontingenten Äußerungen (vgl. Téwéché 2023, S. 37).

6) Ich folge hier nicht der deutschen Übersetzung von Fanons Buch, um einige Begriffe besser hervorheben zu können.

Literatur

Boulaga, F. E. (1977): La crise du Muntu: authenticité africaine et philosophie. Paris: Présence africaine.

Fanon, F. (1952): Peau noire masques blancs. Paris: Seuil.

Henderson, E. A.; Singer, J. D. (2000): Civil war in the post-colonial world, 1946-92. Journal of Peace research 37(3), S. 275-299.

Mamdani, M. (1996): Citizen and Subject: Contemporary Africa and the Legacy of Late Colonialism. Princeton: Princeton University Press.

Mamdani, M. (2003): Making sense of political violence in postcolonial Africa. In: Lundestad, G.; Njølstad, O. (Hrsg.): War and Peace in the 20th Century and Beyond. Oslo: World Scientific Publishing Company, S. 71-99.

Mamdani, M. (2020): When victims become killers: Colonialism, nativism, and the genocide in Rwanda. Princeton: Princeton University Press.

Mbembe, A. (2014): Kritik der schwarzen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Mbembe, A. (2016): Postkolonie. Wien: Turia + Kant.

Mbembe, A. (2017): Politik der Feindschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Mbembe, A. et al. (2006): What is postcolonial thinking? Esprit No. 12, S. 117-133.

Said, E. (1978): Orientalism: Western concepts of the Orient. New York: Pantheon.

Scholtz, G. (1989): Das Historismusproblem und die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert. Archiv für Kulturgeschichte 71(2), S. 463-486.

Spivak, G. (1988): Can the Subaltern Speak? In: Nelson, C.; Grossberg, L. (Hrsg.): Marxism and the Interpretation of Culture. Urbana: University of Illinois Press, S. 271-313.

Spivak, G. (2001): The Norton anthology of theory and criticism. New York: WW. Norton.

Téwéché, K. (2023): De-fetishizing restitutions! On the Ethical Stakes of Restitutions Debate. Forum Wissenschaft 2/2023. S. 35-38.

Theombogü (2023): En Afropolitanie. Po&sie 2023/1-2 (183/184), S. 199-206.

Korassi Téwéché interessiert sich u.a. für Philosophie, Kunst – Film, Fotografie – und Geschichte. Sein letzter Artikel »De-fetishizing restitutions! On the Ethical Stakes of Restitutions Debate« erschien in Forum Wissenschaft (2/2023).

Friedensforschung und (De-)Kolonialität

Friedensforschung und (De-)Kolonialität

Workshop, Universitäten Klagenfurt und Augsburg, Klagenfurt, 05.-07. Juli 2022

Was bedeutet es, eine dekoloniale Perspektive auf die Forschung anzuwenden, insbesondere wenn es um die Friedens- und Konfliktforschung selbst geht? Welche Verantwortung und Rechenschaftspflicht haben Forscher*innen – und wem gegenüber? Wie können wir sicherstellen, dass die Forschung nicht gewaltsame und koloniale Praktiken innerhalb und außerhalb akademischer Einrichtungen reproduziert, sondern stattdessen privilegienbewusst und konfliktsensibel ist?

Diese und viele weitere Fragen wurden während eines dreitägigen Workshops an der Universität Klagenfurt im Juli 2022 diskutiert. Dieser Workshop war eine Erweiterung und Vertiefung eines Online-Workshops, der im Oktober 2021 zum gleichen Thema stattgefunden hatte (siehe W&F 1/2022). Der Workshop wurde von Claudia Brunner, Viktorija Ratković und Daniela Lehner (alle Universität Klagenfurt, Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung) sowie Christoph Weller und Christina Pauls (beide Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung, Universität Augsburg) organisiert und durch die Deutsche Stiftung Friedensforschung gefördert.

Ziel des Workshops war es, die Beziehungen zwischen Theorie und Praxis, Haltungen und Handlungen in der Friedens- und Konfliktforschung weiter zu beleuchten und Methoden und Praktiken innerhalb des Feldes selbst, insbesondere im Hinblick auf aktuelle Entwicklungen in der Ukraine, kritisch zu hinterfragen. Daher wurden im Laufe des Workshops vor allem Fragen aufgeworfen, anstatt Antworten gegeben – und diese ermöglichten intensive Diskussionen, aus denen neue Allianzen und Ansätze für dekoloniale Arbeit in der Friedensforschung und -bildung hervorgegangen sind. Viele dieser Aufgaben wurden durch den Online-Workshop schon 2021 initiiert, nun hatten die Teilnehmer*innen die Möglichkeit, ihre Themen zu vertiefen und praktisch zu erkunden. Alle Beiträge wurden nach dem »Gegenleseprinzip« präsentiert, d.h. der Text wurde nicht von Autor*innen, sondern von anderen Teilnehmer*innen vorgestellt und in der Gruppe diskutiert. Neben der reinen Textarbeit hatten die Teilnehmer*innen die Möglichkeit, an einer von Christoph Weller (Universität Augsburg) konzipierten und moderierten Sitzung teilzunehmen, die sich dem Ukrainekrieg als Herausforderung für Friedensstudien, Friedenserziehung und (De-)Kolonisierung widmete, und in einem von Joschka Köck (Theater der Unterdrückten Wien) gestalteten Begegnungsraum einen Einblick in das körperliche und szenische Forschen zu erhalten.

Der Beitrag von Sebastian Garbe befasste sich mit der Positionierung von Forscher*innen im wissenschaftlichen Prozess und reflektierte die Doppelrolle von Aktivist*innen und Forscher*innen, wobei er den Unterschied zwischen Selbstzentrierung und Transparenz der Forschung hinterfragte. In der Diskussion sind die Teilnehmer*innen zu der Einsicht gelangt, dass auch hegemoniale Selbstkritik selbst Forscher*innen in den Mittelpunkt stellen kann und dass Phänomene, die von Natur aus relational sind, nicht immer von einer einzigen Person angemessen erklärt bzw. theoretisiert werden können. Daher sprach sich Garbe für mehr Transparenz in der Kommunikation von Forschungsmethodologie, -prozessen und -ergebnissen aus. Das zentrale Thema seines Beitrags war jedoch die Solidarität mit und von den Mapuche als Forschungssubjekten, insbesondere basierend auf einem relationalen Verständnis von Solidarität, sowie die Ausübung von Solidarität als Einzelperson oder bei fehlenden Ressourcen. Relationale Verständnisse von Solidarität basieren weder auf Gegner*innenschaft noch auf Abgrenzungen von »Innen« und »Außen«, sondern betrachten Solidarität als eine gegenseitige dauerhafte Verpflichtung, die immer wieder neu ausgehandelt werden muss.

Juliana Krohn setzte das Gespräch über Solidarität fort, indem sie auf die Diskrepanzen zwischen den erklärten Verpflichtungen zur Beendigung institutioneller Gewalt und dem tatsächlichen Mangel an Solidarität in der Praxis hinwies. Sie warf auch die Frage auf, wer zur Rechenschaft gezogen werden sollte, wenn in bestimmten Situationen Gewalt beobachtet oder ausgeübt wird. Auch wenn es in vielen Fällen nicht möglich ist, eine generalisierte Anleitung für diese Fälle zu finden, waren sich die Diskussionsteilnehmer*innen einig, wie wichtig es ist, sich mit der eigenen Impliziertheit, wie auch den eigenen Gefühlen der Ohnmacht und Überforderung als Zeug*innen auseinanderzusetzen, um diejenigen zu unterstützen, die direkt von Gewalt betroffen sind. Die Autorin betonte, dass selbst an Universitäten Gewalt ausgeübt wird, und dass die Friedens- und Konfliktforschung selbst möglicherweise nicht konfliktsensibler als andere Disziplinen ist, sondern sogar eine geringere Selbstwahrnehmung haben kann, wenn es um den Umgang mit unterschiedlichen Formen von Gewalt, wie institutioneller und symbolischer Gewalt, geht. Die Problematik läge darin, dass Vertreter*innen der Disziplin sich für besonders friedensorientiert und konfliktsensibel halten, aber in eigenen lebensweltlichen Kontexten kaum gegen Gewalt einstehen. Dadurch sei die Lücke zwischen Theorie und Praxis der Friedens- und Konfliktforschung sehr groß, was die Glaubwürdigkeit von Vertreter*innen der Disziplin zunehmend reduziere.

Den zweiten Tag des Workshops begann Cora Bieß mit einer Diskussion über den »Do No Harm«-Ansatz, indem sie ihn mit dem »HEADS UP«-Tool von Vanessa Andreotti konterkarierte (siehe S. 37ff. in dieser Ausgabe). Es wurde darüber diskutiert, wer definiert, was als schädlich oder wohltuend definiert wird. Um zu vermeiden, dass Do No Harm zu einem leeren Slogan ohne Substanz verkommt, muss sichergestellt werden, dass sich alle Konfliktparteien darüber im Klaren sind, wer die Entscheidungsgewalt darüber hat, was als nützlich und was als schädlich in einem bestimmten Kontext angesehen wird. Die Diskussion führte zu einem Gespräch darüber, welche wissenschaftlichen Ansätze der Friedenspädagogik Schaden anrichten können und welche materiellen Konsequenzen verschiedene Ansätze haben können. Dabei wurde beispielsweise die Messbarkeit und Operationalisierbarkeit von Bildungsprozessen kritisiert, welche oft durch Projektlogiken begrenzt und verkürzt werden. Weitere potentielle Schäden könnten entstehen, wenn ein geringes Maß an Machtsensibilität besteht und Friedenspädagogik nur als konfliktsensibles, nicht aber machtsensibles Handeln aufgefasst wird. Es wurde auch darüber gesprochen, dass die strenge Einhaltung von HEADS UP auch dazu führen kann, dass bestimmte Projekte oder Interventionen, die nicht dem Ansatz entsprechen, gar nicht erst angefangen werden. Dies könnte direkte materielle Konsequenzen haben, wenn die finanziellen Ressourcen solcher Projekte an den erforderlichen Stellen nicht verfügbar sind. Der Beitrag hob auch die Bedeutung einer privilegien- und konfliktsensiblen Haltung in der Praxis der friedenspädagogischen Arbeit hervor und ging der Frage nach, wie Konflikte von den Beteiligten, einschließlich der Interventionspartei, transformiert werden können.

Michaela Zöhrer und Christina Pesch berichteten über das partizipative Forschungsprojekt »Farida Global«, das als Versuch gestartet wurde, denjenigen die Entscheidungsmacht und die Macht der Wissensproduktion zurückzugeben, deren Situation von Forscher*innen und Journalist*innen oft ausgenutzt wird, in diesem Fall den Überlebenden des Völkermords an den Jesiden. Es wurden Fragen der Repräsentation, der Präsenz und der Abwesenheit im wissenschaftlichen Kontext aufgeworfen sowie die Art und Weise, wie die Betroffenen selbst Wissen produzieren oder verfügbar machen können, wobei auch das Schweigen eine Form des Widerstands darstellt. In der Diskussion wurde festgestellt, dass die (universitären) Räume, in denen Menschen ihre Lebensgeschichten erzählen, so gestaltet sein müssen, dass diese Menschen – Überlebende – einbezogen werden. Diese Inklusivität muss jedoch die Bedürfnisse der Betroffenen berücksichtigen und sie nicht nur um der Forschungsgerechtigkeit willen einbeziehen. Das könnte beinhalten, dass zentrale Begriffe von ihnen selbst hervorgebracht und mit Inhalt gefüllt werden, wie beispielsweise der Begriff des »respektvollen Umgangs«, den sich die Überlebenden von der Wissenschaft wünschen.

Widerstand als zentrales Element in der Menschenrechtsbildung wurde im Beitrag von Josefine Scherling ausführlich diskutiert. Sie ging darauf ein, was Widerstand ist und welche Arten von Widerstand in verschiedenen Gesellschaften erlaubt (oder legal) sind, sowie darauf, wie er manchmal romantisiert oder vereinnahmt wird. Im Gespräch wurde thematisiert, dass Widerstand nicht selten mit Gewalt, Unterdrückung und Konflikten einhergehe, auch wenn Gewaltfreiheit immer wieder deklariertes Ziel konkreter Widerstandsbewegungen sei: Widerstand ist gefährlich, in manchen Kontexten mehr als in anderen. Deshalb sollten Friedensforscher*innen sensibel dafür sein, wie sie über Widerstand nachdenken und ihre eigene soziale wie geographische Verortung mit einbeziehen. Die Genealogie der Menschenrechte wurde erörtert, insbesondere die Tatsache, dass sie in ihrer Entwicklung selbst soziale Hierarchien hervorgebracht haben. Ein weiterer Diskussionspunkt war ein nicht-eurozentrischer Blick auf die Geschichte der Menschenrechte, z.B. anhand einer Ausrichtung von Geschichtserzählungen an der Haitianischen Revolution, sowie auf Visionen und Alternativen und unterschiedliche lokale Bezugsrahmen zu diesem Thema. Dabei wurde festgehalten, dass Perspektiven aus dem Globalen Süden als Ausgangspunkt für historische Erzählungen der Menschenrechte dienen sollten.

Die Diskussion der Beiträge der Teilnehmer*innen wurde mit der Präsentation des Beitrags von Maria Zhiguleva abgeschlossen, in dem sie sich mit post- und dekolonialen Theorien und deren Anwendung im postsowjetischen Raum befasste: insbesondere mit den Möglichkeiten und Grenzen dieser Anwendungen. Obwohl es strukturelle Unterschiede zwischen den Imperien (in diesem Fall in Europa und Russland/UdSSR) gibt, sind die Beziehungen zwischen dem Zentrum in Moskau und den Regionen in der Peripherie zu beobachten, und der interne Kolonialismus kann für diese Region relevant sein. Ein Schwerpunkt lag auf den praktischen Implikationen für die Friedensbildung, wobei die Frage gestellt wurde, ob es Maßnahmen gibt, die ergriffen werden können, um das Ende der Gewalt gegenüber der Ukraine heute zu fördern und die Bedingungen und den Kontext des postkolonialen Friedens in der Region in Zukunft zu überprüfen. In der Diskussion sprachen die Teilnehmenden die Tatsache an, dass Kolonialität vielfältig und vielschichtig ist und dass es für die Analyse des Kolonialismus im postsowjetischen Raum sinnvoll sein könnte, spezifische Verbindungen zu neuen imperialen und maskulinen Regimen zu identifizieren. Darüber hinaus wurde Trauma als Instrument der Kolonisierung genannt, insbesondere das transgenerationale Trauma als Instrument zur Verursachung von Schäden, die über Generationen hinweg andauern – wie etwa am Beispiel des Stalinismus zu sehen.

Die Sitzung, die dem Krieg in der Ukraine als Herausforderung für die Friedens- und Konfliktforschung gewidmet war, wurde von Christoph Weller organisiert und moderiert. Ziel war es, die persönliche Positionierung, Erwartungen und Verantwortung jedes Einzelnen als soziales, politisches und wissenschaftliches Subjekt zu reflektieren. Fragen der Gewaltfreiheit als Thema, getrieben durch das Privileg, nicht in einem kriegsgebeutelten Land zu leben, wurden ebenso diskutiert wie Fragen der (Un-)Sichtbarkeit im Hinblick auf aktuelle Konflikte in anderen Weltregionen, die durch Doppelmoral und unterschiedliche Haltungen geprägt sind (z.B. Afghanistan oder Syrien). Gewaltfreiheit, Gewaltreduzierung und die Mittel zu ihrer Erreichung wurden im Zusammenhang mit dem Krieg (und Cyberwar) in der Ukraine erörtert, und die Positionierung des Westens und der deutschsprachigen Länder als Teil (oder nicht Teil) des Konflikts wurde ebenfalls diskutiert. Die Gruppe ist zu dem Schluss gekommen, dass Forscher*innen in der Friedens- und Konfliktforschung eine besondere Verantwortung haben, hegemoniale Konfliktquellen zur Sprache zu bringen und die Aufmerksamkeit für andere laufende Konflikte, in denen teils akute Unterversorgung herrscht, nicht zu verlieren. Die Positionierung Europas als »Friedensmacht« wurde hervorgehoben und kritisiert, ebenso wie die Notwendigkeit, die Analyse auf alle Aspekte des Krieges auszuweiten: der Diskurs über Waffenlieferung kann nicht andere wichtige Sachleistungen, Unterstützungsstrukturen und Programme der psychischen Gesundheit und psychosozialen Unterstützung ersetzen, die ebenfalls dringend notwendig sind.

Am dritten und letzten Tag des Workshops wurden die Teilnehmer*innen in einer von Michaela Zöhrer konzipierten und moderierten Abschlusssitzung gebeten, über die während des Workshops aufgeworfenen Fragen zu reflektieren, ihre Meinung zu offenen und ungelösten Lücken und Diskrepanzen zu äußern und über ihre Erwartungen sowie über mögliche Lösungen und nächste Schritte zu sprechen, die Forscher*innen in ihrer weiteren wissenschaftlichen Arbeit nutzen könnten. Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, Aktion und Haltung, war eines der drängendsten Themen, die auf dem Workshop diskutiert wurden. Die Wichtigkeit, das eigene Selbstbild und die tatsächlichen Handlungen zu betrachten, sowie die Notwendigkeit, generell mehr zu handeln, wurde geäußert. Das Zusammentreffen im Workshop und die Arbeit in der Gruppe hat die Teilnehmer*innen dazu gebracht, über die Bedeutung von Gemeinschaft und Solidarisierung in der Friedens- und Konfliktforschung nachzudenken. In dem Rahmen wurde die Bedeutung der Schaffung sicherer – und mutiger – Räume praktisch erprobt und theoretisch als Grundlage dafür reflektiert, wie jede*r Forscher*in zu ihrer Schaffung beitragen kann, um die eigene Verantwortung zu übernehmen.

Kontakt: decolonizepeace@aau.at

Maria Zhiguleva

Für wen oder was schreiben sie?

Für wen oder was schreiben sie?

Die Unzugänglichkeit der Friedensforschung

von Primitivo III Cabanes Ragandang

Wenn wir über die aktive Friedensforschung im Feld schreiben, wozu dient dies? Welchen Wert hat es für die Gemeinschaft(en), die unter der Abwesenheit von Frieden leiden? Schreiben wir für die reine Wissensproduktion? Welchen Nutzen können Gemeinschaften aus unseren Schriften ziehen? Diesen Fragen geht der vorliegende Artikel aus der Perspektive eines Friedensforschers nach, der sich in der Gemeinschaft engagiert und zum Wissenschaftler geworden ist.

Bevor ich mich der akademischen Welt zuwandte, arbeitete ich in Vollzeit in einer von Jugendlichen geleiteten gemeinnützigen Organisation, die sich für die Gewaltprävention in Mindanao auf den Philippinen einsetzt. Mindanao wird als die Heimat des zweit­ältesten Konflikts der Welt bezeichnet, eines Konfliktes, der sich um das Streben der islamisierten Moro-Stämme nach Selbstbestimmung dreht. Mein Interesse an der Friedensarbeit begann bereits während des Studiums, als ich mich in außerschulischen Friedensinitiativen engagierte, Hilfsgüter für die Evakuierten sammelte und Sitzungen zur Traumaheilung mit Jugendlichen und Kindern durchführte. Als Praktiker verstand ich die Friedensarbeit als ein direktes Engagement für die Gemeinschaft, insbesondere für diejenigen, die von langwierigen Konflikten betroffen sind.

Eines Tages sagte mir mein ehemaliger Professor, ich solle Zeit finden, um einen Master-Abschluss zu machen, denn „die Leute hören mehr auf Akademiker*innen als auf Praktiker*innen“. Später schloss ich einen Aufbaustudiengang ab und fand eine Stelle im akademischen Bereich, wo ich in Vollzeit als Assistenzprofessor in der Abteilung für Politikwissenschaften tätig bin. Da ich von einer Universität in Mindanao komme, folge ich einer Erkenntnisweise, die besagt, dass Friedens»forschung« genauso wichtig ist wie die Friedens»arbeit« in der Praxis mit der Gemeinschaft. Es ist für mich zu einer eingeprägten erkenntnistheoretischen Haltung geworden, die dem ähnelt, was Furlong und Marsh (2002) als „Haut, nicht Pullover“ beschrieben haben. Selbst in meiner neuen Rolle in der Wissenschaft ist diese erkenntnistheoretische Einstellung wie eine Haut, die sich nur schwer abstreifen lässt, da sie sich durch jahrelanges Friedensengagement vor Ort entwickelt hat.

Nach drei Jahren im akademischen Bereich erhielt ich ein Promotionsstipendium in Australien. Auf einer akademischen Konferenz, auf der ich meine Forschung als Friedenspraktiker vorstellte, wurde mir gesagt, ich solle in der Wissenschaft nicht zwei Hüte gleichzeitig tragen. Denn in der Wissenschaft zu sein bedeute, den Hut der Praktiker*in zurückzulassen. Ich wurde auch gebeten, von normativ geprägten Forschungsfragen abzusehen und einen Mittelweg in der Auseinandersetzung mit Theorien beizubehalten, was bedeutet, dass ich mich selbst nicht in meine Analyse einbeziehen sollte. Es fiel mir schwer zu verstehen, dass es 17 Revisionen meiner Forschungsfragen für meine Dissertation brauchte, bevor sie akademisch akzeptabel wurden. Dies war ein Wendepunkt für mich. Mir wurde klar, dass Wissenschaftler*innen leicht Zugang zum Feld der Praktiker*innen haben, um Daten zu sammeln, während es für einen Praktiker schwierig ist, Zugang zum Feld der Wissenschaftler*innen zu bekommen.

Bloße Beschreibung der Gemeinschaft, keine Intervention

In meiner Diplomarbeit im Grundstudium untersuchte ich einen indigenen Stamm im Hinterland in Nord-Mindanao. Nach den Interviews schenkte ich den Teilnehmer*innen Salz, getrockneten Fisch, einige alte Jeans und Hemden sowie Nudeln. Das war meine Art, mich bei ihnen zu bedanken, eine Praxis, die ich bei meiner Arbeit in einer gemeinnützigen Organisation gelernt hatte. Später erfuhr ich auf einer Reihe internationaler Konferenzen, dass das Geben von Geschenken an die Teilnehmer*innen als problematische Praxis angesehen wird, die gewisse ethische Dilemmata birgt (siehe Collins et al. 2017; Head 2009). Diese Ansicht war für mich jedoch rätselhaft. Warum sollten wir der Gemeinschaft, zu der wir vor der Datenerhebung eine Beziehung aufgebaut und die erforderlichen Rituale eingehalten haben, keine Geschenke machen? Wenn das Geben von Geschenken möglicherweise die Antworten der Teilnehmer*innen verändert, wie authentisch sind wir dann beim Aufbau einer Beziehung zu der Gemeinschaft, zu der wir Zugang haben?

Die Praktiker*innen bringen die Erfahrungen, die sie in der Praxis gesammelt haben, in das akademische Umfeld ein. Eine jahrzehntelange Erfahrung vor Ort ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einem Vorteil in der akademischen Welt. Vielmehr ist es für den*die Praktiker*in eine Herausforderung, sich an die wissenschaftlichen Standards anzupassen, die es oft erfordern, den Hut des*der Praktiker*in abzulegen. So ist beispielsweise die strategische Fallauswahl eine methodische Angelegenheit, da das Versäumnis, den ausgewählten Fall zu begründen, ein Grund für eine Verzerrung der Auswahl sein kann. Für eine*n Praktiker*in stellt sich die Frage der Voreingenommenheit nicht, wenn er*sie seinen*ihren eigenen Hinterhof untersucht, vor allem, wenn er*sie auf den Nutzen für die Gemeinschaft abzielt.

Die Praktiker*innen (und die Gemeinschaften, in denen sie tätig sind) werden zu Versuchstieren, deren Aktionen und Reaktionen bei der Arbeit vor Ort von den Wissenschaftler*innen beobachtet, interpretiert und diskutiert werden. Es gibt also eine Durchlässigkeit in der Welt der Praktiker*innen, aber kaum eine Durchlässigkeit auf der anderen Seite des Kontinuums.

Spivak (2004) beschrieb diese Form des Beobachtetwerdens als die Produktion einer zeitgenössischen Form der Subalternität: eine Umwandlung der Subalternität in eine Eigenschaft. Wissenschaftler*innen begeben sich ins Feld, holen als ethische Voraussetzung die Zustimmung ein, führen Interviews, kodieren Daten und veröffentlichen Ergebnisse, die auf ihrer Interpretation beruhen. Die Interpretation wird fortgesetzt, da die Wissenschaftler*innen eher dazu neigen, zu debattieren, als sich mit dem Problem zu befassen, von dem sie vor Ort erfahren haben. In diesem Fall werden die Gemeinschaft und der*die Praktiker*in zu einer Eigenschaft, auf die sich die Wissenschaft stützt, um Daten und Textinhalte zu produzieren. Die Beziehungen, die der*die Wissenschaftler*in während der Datenerhebung in der Gemeinschaft aufbaut, haben keinen greifbaren Nutzen für den Ort, an dem die Beziehungen aufgebaut werden. Dies steht im Einklang mit dem Argument von Todd (2016), dass in der Wissenschaft zwar Wissen geschaffen, legitimiert und reproduziert wird, dass es aber auch diese akademischen Strukturen sind, die die Verwirklichung von transformativen Zielen verhindern. In der Tat wird die Gemeinschaft manchmal gewarnt, keine Hilfe von einem Forschungsengagement zu erwarten, da es nicht in erster Linie darauf abziele, ihre Situation zu verbessern. Es dient nur zu Forschungszwecken.

Implikationen dieser Diskrepanz

Diese Herangehensweise und akademische Tradition der Wissensproduktion ist eine generationenübergreifend sedimentierte, tief verwurzelte Kultur. Sie lässt den Wissenschaftler*innen kaum Raum für eine direkte Auseinandersetzung mit der Gemeinschaft. Die Starrheit dieser Tradition bleibt selbst dann bestehen, wenn dringende Probleme nicht aus der Ferne, sondern direkt vor der Haustür der Hochschulen und der umliegenden Gemeinschaften auftreten. Wenn diese Kultur in Frage gestellt wird, verteidigt sie sich mit dem Begriff der »Forschungsfreiheit«. Da die Kultur stärker ist als die Politik, wird ein bloßes Memorandum der Universität diese Kultur nicht ändern. Es wird Zeit brauchen, dies zu ändern, und der Globale Süden sollte die Führung übernehmen, wie es einige bereits getan haben.

Wenn wissenschaftliche Arbeiten hauptsächlich im Hinblick auf die Bedürfnisse und Ziele der politischen Entscheidungsträger*innen verfasst werden, bedeutet dies, dass wir die Hilfe bürokratisieren und unsere guten Absichten aufschieben, der Gemeinschaft helfen zu wollen. Ausgehend von den Rohdaten interpretieren die Wissenschaftler*innen diese und verfassen Ergebnisse, die dann von den politischen Entscheidungsträger*innen neu interpretiert und als Grundlage für die Ausarbeitung von Interventionsprogrammen verwendet werden. Zu dem Zeitpunkt, an dem diese Programme dann die Gemeinschaft(en) erreichen, gibt es bereits eine nicht unerhebliche Interpretationslücke gegenüber der Zeit und der Bedeutung, als die Rohdaten von der Gemeinschaft gesammelt wurden. Dies führt zu Interventionsprogrammen, die manchmal nicht unbedingt den Bedürfnissen vor Ort entsprechen. Um solche prozessverzögerten Interventionen anzugehen, können die Wissenschaft und die Wissenschaftler*innen selbst den Rahmen dafür ändern, wie der aktuelle Prozess der Wissensproduktion aussieht und welche Rolle er bei der Herbeiführung eines progressiven Wandels in den Gemeinschaften spielen kann.

Da gesellschaftliche Probleme direkt vor der Haustür der Wissenschaftler*innen auftreten können, bedeutet dies, dass es eine moralische Verpflichtung ist, auf sie zu reagieren, und dies die dringende Aufmerksamkeit der Forscher*innen erfordert. In diesem Fall ist es angebracht, dass die Wissenschaftler*innen bei ihrer Friedensforschung stets die Gemeinschaft im Auge behalten. Natürlich ist die theoretische Forschung ebenso wichtig, aber ich behaupte, dass der Einsatz unserer wissenschaftlichen Arbeit zur Lösung gesellschaftlicher Probleme mindestens ebenso wichtig ist. Es ist wichtig, am Ende eines jeden wissenschaftlichen Artikels einen Abschnitt mit Vorschlägen für eine Aktionsagenda zu geben, anstatt mit Argumenten zu enden, die die Punkte akademischer Debatten wiederholen. Eine solche Aktionsagenda sollte jedoch die Ansichten der Gemeinschaft einbeziehen und nicht nur die Ansichten der Forscher*innen.

Romantisierung des Wissenschaft-Aktivismus-Nexus?

In diesem Beitrag soll der »Vorteil« von Friedenspraktiker*innen beim Zutritt zur Friedensforschung (und zur akademischen Welt im Allgemeinen) nicht romantisiert werden. Ich erkenne die Herausforderung an, zwei Herren gleichzeitig zu dienen, und die potenziellen Risiken, wenn Wissenschaft und Aktivismus zusammenkommen. Zu diesen Risiken gehört, dass man zu sehr mit Forschung, Lehre und aktivistischer Arbeit beschäftigt ist, die zu den administrativen Aufgaben hinzukommen, die ein*e Akademiker*in normalerweise auch noch wahrnimmt. Letztendlich kann dies zu gesundheitlichen Risiken durch Burnout und zu zu wenig Ruhezeiten führen. Für einen Akademiker aus dem Globalen Süden, der in einem Konfliktgebiet lebt, ist dies eine noch größere Herausforderung, wenn die strukturelle Unterstützung geringer und die familiären Verpflichtungen größer sind.

Ich behaupte jedoch, dass im Zusammenhang mit der Hilfe für notleidende Gemeinschaften die Vorteile diese Risiken überwiegen. Die Verbindung von Wissenschaft und Aktivismus bietet uns eine neue Sichtweise und ein neues Instrumentarium zur Nutzung der Forschung, um Gemeinschaften in (Post-)Konfliktsituationen zu helfen (siehe Bracamonte, Boza und Poblete 2011; Ragandang 2020). Die Kombination beider Ansätze ist wirkungsvoller, als den einen über den anderen zu stellen. Mein Hauptargument ist, dass wir einen Paradigmenwechsel bei der Herangehensweise an die Forschung brauchen: weg von der reinen Wissensproduktion, hin zu einer Forschung, die mit einem proaktiven Engagement für die Gemeinschaft verbunden ist. Die Einbindung in die Gemeinschaft ist eine moralische Verpflichtung, die sicherstellt, dass die Disziplin auch in Zukunft für diejenigen Sinn ergibt, die am Rande der akademischen Türme stehen.

Solche Erwartungen gelten insbesondere für die Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen aus den (Post-)Konfliktkontexten des Globalen Südens: Wir sind in einer strategischen Position, um die Geschichte zu erzählen und die Sichtweise für die Menschen im Globalen Norden und darüber hinaus zu beschreiben. Wir sehen die Situation aus erster Hand oder leben mit der (Gewalt-)Situation, die wir in unserem täglichen Leben zu bewältigen versuchen.

Während ich diesen Artikel schreibe, flüstert der Subalterne in mir, dass ich nicht zu provokante Argumente nutzen sollte, die den Status Quo in Frage stellen. Das ist ein Tabu, vor dem mich meine Großmutter und unsere Kultur gewarnt haben. Aber ich denke, genau das ist der Zweck dieses Artikels (siehe Ragandang 2022) – also hoffe ich, dass mein subalternes Ich mich jetzt beruhigen wird. Angesichts der drängenden Probleme, mit denen (Post-)Konfliktgesellschaften konfrontiert sind, müssen Friedensforscher*innen ihre derzeitige Rolle in der Wissensproduktion unbedingt neu konfigurieren, damit ihre Präsenz für die Gemeinschaft einen Sinn ergibt. Wird diese Rolle nicht überdacht, vergrößert sich die Kluft zwischen Friedenspraktiker*innen und Friedenswissenschaftler*innen. Außerdem wird sich dann immer wieder die Frage stellen: „Für wen oder was schreiben sie denn?“

Literatur

Bracamonte, N. L.; Boza, A. S.; Poblete, T. O. (2011): From the seas to the streets: The Bajau in diaspora in the Philippines. International Proceedings of Economics Development and Research 20 (2011), S. 287-291.

Collins, A. B. et al. (2017): “We’re giving you something so we get something in return”: Perspectives on research participation and compensation among people living with HIV who use drugs. International Journal of Drug Policy 39, S. 92-98.

Head, E. (2009): The ethics and implications of paying participants in qualitative research. International Journal of Social Research Methodology 12(4), S. 335-344.

Marsh, D.; Furlong, P. (2002): A skin, not a sweater: ontology and epistemology in political science. In: Marsh, D.; Stoker, G. (Hrsg.): Theory and Methods in Political Science. Cham: Palgrave Macmillan, S. 17-41.

Ragandang, P. (2020): Youth as conflict managers. Peacebuilding of two youth-led non-profit organizations in Mindanao. Conflict Studies Quarterly 30, S. 87-106.

Ragandang, P. (2022): What are they writing for? Peace research as an impermeable metropole. Peacebuilding 10(3), S. 265-277.

Spivak, G. (2004): The trajectory of the subaltern in my work. Video, University of California Television, 8.2.2004.

Todd, Z. (2016): An indigenous feminist‘s take on the ontological turn:‘Ontology’ is just another word for colonialism. Journal of Historical Sociology 29(1), S. 4-22.

Primitivo III Cabanes Ragandang ist Doktorand an der Australian National University und erforscht die Rolle des kollektiven Gedächtnisses bei der Entstehung von generationenübergreifender Resilienz. Er ist der Gründer des »BHOLI Youth Centre« auf den Philippinen.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing.

Mikrokredite

Mikrokredite

Kontroversen, empirische Befunde und aktuelle Entwicklungen

von Sophia Cramer

Sozial und ökologisch nachhaltige Geldanlagen werden immer beliebter, seit Jahren steigen die Investitionsvolumina. Die deutsche Bundesregierung beabsichtigt mit der gezielten Kanalisierung von Finanzinvestitionen die Lösung gesellschaftlicher Probleme, seit August 2022 müssen Anlageberatungen Kleinanleger*innen zu ihren Nachhaltigkeitspräferenzen befragen. Investitionen in Mikrofinanzorganisationen (MFO), die Mikrokredite bereitstellen, sind ein Beispiel für »soziales Investment«. An empirischen Beispielen geht der Beitrag der Frage nach, welchen Nutzen sie haben und welche Risiken mit ihnen verbunden sind.

Mikrokreditprogramme1 erlangten in den 1990er-Jahre als Mittel zur Bekämpfung weltweiter Armut Prominenz, wurden 2006 mit der stellvertretenden Auszeichnung von Muhammad Yunus und der Grameenbank mit dem Friedensnobelpreis geehrt und verbreiten sich – auch mithilfe der Gelder öffentlicher und privater Investoren – seitdem rasant (Abb. 1). Der Nutzen von Mikrokrediten wird kontrovers diskutiert. Befürworter*innen stellen ihr transformatives Potential heraus: Menschen erhielten durch Kleinkredite Investitionsmittel für unternehmerische Tätigkeiten, Bildung, Gesundheit oder Energie, die ihnen die Chance eröffneten, sich aus eigener Kraft aus ihrer wirtschaftlichen Misere zu befreien (Yunus 2004). Frauen profitierten dabei besonders (Hansen et al. 2019). Der unabhängige UN-Experte für Auslandsschulden kritisiert aber 2020 in einem Bericht an den UN-Menschenrechtsrat: „Es hat sich jedoch gezeigt, dass Mikrokredite in vielen Fällen das Gegenteil von dem bewirken, das beabsichtigt war, einschließlich […] der Entstehung einer ‚Armutsfalle‘. […] Zwar konnten einige kurzfristige Vorteile festgestellt werden, doch wurden sie auch mit einer Schuldenspirale in Verbindung gebracht, die zu Verarmung, dem Zusammenbruch von Familien und sogar Selbstmord führte” (UNOHCHR 2020, Abs. 32).

Quelle: Eigene Zusammenstellung mit Daten des MIX Market Financial Performance Dataset, 1999-2019. URL: https://datacatalog.worldbank.org/dataset/mix-market

Wie lassen sich diese diskrepanten Einschätzungen erklären?

Armutsreduzierung und Empowerment

Es gibt viele Studien, die sich mit der Frage nach der Wirkung von Mikrokrediten auf die sozioökonomische Situation der Kund*innen beschäftigen, sie erzeugen aber ein ambivalentes Bild. Eine systematische Metastudie kommt zu dem Schluss, dass aufgrund methodologischer Mängel keine gesicherte Aussage gemacht werden könne (Duvendack et al. 2011). Problematisch sei dieser Befund einer weiteren Metastudie zufolge, weil vor allem die Studien von geringerer methodischer und konzeptueller Qualität zu positiven Einschätzungen kämen und dadurch falsche Schlussfolgerungen nahelegten (Duvendack und Mader 2019).

Eine Ausnahme sind randomisierte, kontrollierte Studien (kurz: RCT). Sechs RCTs, die in Bosnien und Herzegowina, Äthiopien, Indien, Mexiko, Mongolei und Marokko durchgeführt wurden (Banerjee et al. 2015a), untersuchen die sozioökonomischen Effekte von Mikrokrediten auf Neukund*innen (d.h. neue selbstständige Tätigkeit, Einnahmen und Ausgaben in Mikrounternehmen sowie Haushaltskonsum von Verbrauchs- und langlebigen Gütern). Keine der Studien beobachtete wesentliche Einkommensverbesserungen der Mikrounternehmen und Haushalte. Die Studie zu Indien stellt fest, dass die wenigen neugegründeten Unternehmen noch kleiner und weniger profitabel sind als der Durchschnitt der Mikrounternehmen in der Region, von denen die große Mehrheit bereits klein und unrentabel ist“ (Banerjee et al. 2015b, S. 45). Nur bei den profitabelsten 15 Prozent der Mikrounternehmen beobachteten die Autor*innen steigende Profite. Auch der durchschnittliche Konsum der Haushalte stieg nicht, aber es veränderten sich die Prioritäten: Ausgaben für Gebrauchsgüter wie Kühlschränke, Motorräder, Gold, Kleidung oder Fernseher stiegen, während jene für vermeidbare Güter (z.B. Tabak, Alkohol, Feiern) zurückgingen.

Diese Ergebnisse stehen im Kontrast zum Legitimierungsnarrativ für Mikrokredite: alle Menschen seien Unternehmer*innen mit ausgeprägtem Geschäftssinn. Die Innovationskraft von einkommensarmen Menschen, die keinen Zugang zu formalen Bankdienstleistungen haben, könne durch Mikrokredite freigesetzt werden. Trotz hoher Zinsen – weltweit durchschnittlich ca. 20 Prozent Portfolioerträge, in Mexiko sogar 74,7 Prozent (Cramer 2021) – seien kreditfinanzierte Investitionserträge in Mikrounternehmen überdurchschnittlich hoch und verbesserten damit ihre Einkommenslage (Rosenberg 2002).

Die ökonomischen Realitäten sehen anders aus. Viele Mikrokreditempfänger*innen sind informelle Kleinunternehmer*innen, die einfache Handels- und Dienstleistungsunternehmen wie Gemischtwarenläden oder kleine Restaurants betreiben, die sich in städtischen Gebieten besonders konzentrieren. Bateman und Chang (2012) erklären mit Verweis auf das begrenzte Potenzial lokaler Märkte, dass Mikrokredite künstlich die Anzahl der Mikrounternehmen erhöhten. Dies führe zu einem »Hyperwettbewerb« zwischen Mikrounternehmen des gleichen Typs und abnehmenden Erträgen für jedes einzelne Unternehmen. Investitionen in MFO zementierten deshalb ein weltweit verbreitetes System informeller Kleinwirtschaft, das wenig Wachstumspotenzial für Jobs und stabile Einkommen böte.

Ein ähnliches Bild zeigt sich im ländlichen Raum, ein priorisierter Bereich im Mikrofinanzsektor. Auch Programme für Ernährungssicherheit wie die »Allianz für eine grüne Revolution« (AGRA) oder die »Sonderinitiative EINEWELT ohne Hunger im südlichen Afrika« der deutschen Bundesregierung fördern für die Finanzierung von Agrar­inputs den Zugang zu Mikrokrediten (AGRA 2019; BMZ 2019). Eine Studie über die AGRA-Initiative beobachtete in Sambia und Tansania aber, dass einige Kleinbäuer*innen in eine Schuldenfalle rutschten (RLS et al. 2020). Misra (2019) zeigt in einer Untersuchung in Bangladesch, dass Landwirtschaft insbesondere für den Eigenbedarf betrieben wird. Mikrokreditfinanzierte Investitionen werden also nicht primär für die Kommerzialisierung von Produkten getätigt und tragen deshalb wenig zur Einnahmensteigerung bei. Zudem berücksichtigen die Kreditprodukte und Rückzahlungskonditionen bangladeschischer MFO nicht die typischen Merkmale landwirtschaftlicher Produktion: den jahreszeitlichen Agrarzyklus, die besondere Anfälligkeit für Wetterphänomene und die Schwankungen von Absatzpreisen.2 In der Folge werden Mikrokredite vor allem kompensatorisch genutzt: Aufnahme eines zweiten Kredits zur Tilgung eines laufenden Kredits bis zur Ernte und/oder für den Erwerb von Nahrungsmitteln, nachdem der Ratenzahlungsdruck die Bäuer*innen zur Veräußerung der Ernte gezwungen hat.

Eine weitere Erklärung für die ernüchternden Befunde der Wirkungsforschung ist die Mikrokreditverwendung. Nach MFO-Angaben ist der Anteil der Mikrokredite, der für Konsumzwecke vergeben wird, fast ebenso groß ist wie jener, der für Kleinunternehmen bestimmt ist (Abb. 2).

Quelle: Eigene Zusammenstellung mit Daten des MIX Market Financial Performance Dataset, 1999-2019

Viele Akteur*innen gehen davon aus, dass Frauen von Mikrokrediten besonders profitierten. Der Zugang zu Krediten könne ihnen helfen, durch ein eigenes Einkommen unabhängiger zu werden und/oder durch die Verfügung und Entscheidung über finanzielle Ressourcen ihre Verhandlungsposition im Haushalt zu verbessern (Hansen et al. 2019). Die Forschungslage hierzu ist jedoch widersprüchlich. Vaessen et al. (2014) fanden in ihrer Metaanalyse keine belastbaren Belege für einen Effekt von Mikrokrediten auf die Kontrolle der Haushaltsausgaben durch Frauen. Eine Metaauswertung qualitativer Studien in Südasien (Peters et al. 2016) ermittelte, dass Mikrokredite für einige Frauen Mobilitätsgewinne, zusätzliche Kenntnisse, soziale Fähigkeiten und ein erhöhtes Selbstwertgefühl bedeuteten. Die Treffen in Kreditgruppen förderten die Solidarität unter den Frauen und ihre wechselseitige Unterstützung.3 Diese Effekte seien vor allem in MFO beobachtbar, die nicht-finanzielle Angebote wie Schulungen anbieten. Ursächlich sind demnach also nicht die Mikrokredite, sondern ihre Begleitfaktoren. Andere Studien zeigen: Weil viele MFO Frauen als Kund*innen bevorzugen, werden diese häufig von ihren Partnern vorgeschickt. Sie können dann für die Kreditrückzahlung verantwortlich sein, ohne zugleich die Kontrolle über ihre Verwendung sowie die Haushaltsausgaben zu haben, was für sie Überschuldungsrisiken birgt. Andere qualitative Studien zeigen eine Zunahme an Konflikten und häuslicher Gewalt (Hansen et al. 2019). Die Philosophin und Feministin Silvia Federici geht so weit, Mikrokredite als bestes Beispiel dafür [zu bezeichnen], wie Schulden heute von internationalen Finanzagenturen genutzt werden, um Frauen in eine Position der größeren Ausbeutung und Unterordnung zu verorten und damit gleichzeitig Formen gemeinschaftlicher Solidarität [zu] zerstören“ (Federici 2021, S. 29).

Überschuldungsrisiken und -krisen

Der RCT-Befund, dass Mikrofinanzkund*innen den Konsum vermeidbarer Güter einschränken, legt nahe, dass sie »den Gürtel enger schnallen«, um mit ihrem Einkommen abzüglich Ratenzahlungen über die Runden zu kommen. Dieser Aufwand – nicht der Zahlungsausfall – ist ein definierendes Merkmal von Überschuldung: „[E]r/sie kämpft ständig mit der Einhaltung der Rückzahlungsfristen und muss strukturell unangemessen hohe Opfer im Zusammenhang mit seinen/ihren Darlehensverpflichtungen bringen“ (Schicks 2013, S. 100S). Überschuldung ist deshalb oft ein unsichtbares Phänomen. Druck und Drohungen durch das MFO-Personal und Scham durch öffentliche Bloßstellung (bspw. Ali 2014) können Gründe dafür sein, dass Kreditnehmer*innen alles tun, um ihre Raten pünktlich zu zahlen. Das kann zusätzliche Armutsrisiken hervorrufen: durch den Verzicht auf Mahlzeiten, Verkauf von Wertgegenständen oder einen Rückgang in der Bildung, da die Kinder aus der Schule genommen werden, um zu arbeiten (Guérin et al. 2018). Die manchmal geäußerte Einschätzung, dass „[d]ie hohen Rückzahlungsquoten von durchschnittlich 98 Prozent […] eindrucksvoll [zeigen], dass es den allermeisten Endkreditnehmer:innen gelingt, ihr unternehmerisches Potenzial zu entfalten“ (Invest in Vision o.J.), ist deshalb nicht haltbar.

Die Risiken für Überschuldung und zunehmende Armut bestehen überall. Sie sind dort besonders hoch, wo – auch ermöglicht durch die Konzentration der Gelder privater und staatlicher Investoren – viele MFO in übersättigten Märkten um Kund*innen konkurrieren, aktuell z.B. in Kambodscha (MIMOSA 2020), bis vor kurzem beliebt bei internationalen Impactinvestoren.4 2020 hatte etwa ein Viertel der Bevölkerung (2,8 Mio. Kund*innen) ausstehende Mikrokredite von ca. 11,8 Mrd. US$. Ihre Höhe betrug durchschnittlich 4.280 US$ (LICADHO 2021). Das ist gegenüber 2017, als der durchschnittliche Kredit noch bei 2.368 US$ lag, fast eine Verdopplung (Bliss 2022, S. 52), die durch die Vergabe immer höherer Kredite – z.B. durch Auslösung eines aktuell laufenden Kredites mit einem höheren Neukredit – zustande kommt. Laut einer unveröffentlichten Studie von Microfinance Centre und Good Return verwendet die Hälfte der befragten Schuldner*innen mehr als 50 Prozent ihres monatlichen Netto-Haushaltseinkommen für den Schuldendienst, bei 28 Prozent übersteigt der Schuldendienst das Haushaltseinkommen (zit. in Pfeifer 2022). Trotzdem lag die Rate überfälliger Kredite 2020 bei nur 1,69 Prozent (Credit Bureau Cambodia 2020). Verschiedene Studien zeigen aber, dass das nur aufgrund der oben genannten Selbsteinschränkungen möglich ist (Bliss 2022, S. 58f.). Dazu kommt, dass viele Kreditnehmer*innen mit Rückzahlungsschwierigkeiten aus Sorge um den Verlust des Landes – in Kambodscha sind Mikrokredite häufig mit Landtiteln besichert (Pfeifer 2022) – und unter dem Druck von MFO-Personal einen Teil ihres Landesbesitzes verkaufen, um ihren Kredit zurückzahlen zu können (Bliss 2022, S. 98). Da Landbesitz vor allem in ländlichen Gebieten eine wichtige Voraussetzung für Ernährungssicherheit ist, wirkt sich dies unmittelbar auf die Kreditnehmer*innen aus.

Kambodscha ist ein gut dokumentiertes Beispiel für eine Überschuldungskrise, wie es sie mit ähnlichen Charakteristika (Wachstumsdynamik, leichtfertige Kreditvergabe) auch in der Vergangenheit gab, z.B. zwischen 2008 und 2010 in Pakistan, Indien, Nicaragua, Bosnien-Herzegowina und Marokko (Chen et al. 2010; Mader 2013). Sie unterscheiden sich von Kambodscha dadurch, dass sie schließlich zum massenhaften Rückzahlungseinbruch führten.

Aktuell sind wiederholte Proteste ein Indiz für überschuldungsinduzierte Probleme auch in anderen Ländern. Im indischen Bundesstaat Assam (Ne Now News 2019) und in Sri Lanka (Wedagedara 2021) gingen Frauenkollektive auf die Straße gegen den enormen Druck durch Mehrfachverschuldung, hohe Zinsen, harsche Eintreibungspraktiken der MFO und wiederholte Suizide. In Sri Lanka griffen Massenproteste im April 2022 die Forderungen der Frauenkollektive auf (medico 2022). In Ecuador forderte das indigene Bündnis »CONAIE« während eines nationalen Generalstreiks im Juni 2022 u.a. ein Schuldenmoratorium und einen Schuldenerlass für Kleinproduzent*innen in ländlichen Regionen (Álvarez 2022). In einem allgemeinen Sinn skandalisiert die feministische Bewegung »Ni Una Menos« in Argentinien ausbeuterische Verhältnisse durch die Verschuldung von Frauen. Auch diese Länder sind bei internationalen Investoren sehr beliebt und weisen – bei zahlreichen Unterschieden in den Bereitstellungsformen von Mikrokrediten und Rechtsformen der MFO – eine allgegenwärtige Verfügbarkeit von Mikrokrediten auf.

Systemische Ursachen der zyklischen Krisen

Wiederholt ähnliche Krisendynamiken deuten darauf hin, dass ihre Ursachen systemisch bedingt sind. Sie sind – so meine These – in der globalen Refinanzierungsarchitektur des kommerziellen Mikrofinanzsektors angelegt. Ein wichtiges Finanzierungsinstrument für MFO sind – neben Spareinlagen (im Fall v.a. von Banken) – Kredite und Equity-Beteiligungen von Investor*innen. Daten des CGAPs Funder Survey zufolge belaufen sie sich 2020 auf 58 Mrd. US$, von denen der größere Anteil (44 Mrd. US$) aus öffentlichen Quellen stammt, z.B. von nationalen und multilateralen Entwicklungsbanken. Diese steigen jährlich, seit 2011 um insgesamt 144 Prozent (Abb. 3).

Quelle: Nach Tolzmann, M. 2022: CGAP Funder Survey 2020: Trends in International Funding for Financial Inclusion. Focus Note. Washington: CGAP, S. 2

Diese Refinanzierung bedeutet für MFO, dass sie ihren Geldgeber*innen überzeugend ihren Erfolg demonstrieren müssen, was sie symbolisch mit positiven Kennziffern zu ihrem Kreditportfoliowachstum, zu den Rückzahlungen ihrer Kund*innen und zur Rentabilität tun (Cramer 2014; bspw. Ranking in REDCAMIF 2022). In MFO löst das drei strukturelle Sachzwänge aus, die die oben genannten Überschuldungsrisiken bedingen.

Erstens brauchen sie genügend Einkommen, um ihre operativen Kosten und Zinszahlungen an ihre Geldgeber*innen decken zu können. Letztere lagen 2017 weltweit bei durchschnittlich 9,5 Prozent (Symbiotics 2018, S. 20). Die operativen Kosten der MFO sind wegen der kleinen Kreditbeträge und der aufwendigen Kund*innenevaluation hoch (Pronafim et al. 2017). Diese Kosten gekoppelt mit dem Wunsch nach Profit übersetzen sich in hohe Jahreszinsen, die die Haupteinnahmequelle von MFO darstellen.

Zweitens müssen MFO – um gegenüber ihren Investoren rückzahlungsfähig zu sein – ihre stete Zahlungsfähigkeit sicherstellen, die sich aus der pünktlichen Rückzahlung der Mikrokreditraten ergibt. Das lässt ihnen wenig Spielraum für flexible Zahlungsmodalitäten, die die Situation ihrer Kund*innen berücksichtigt. Diese ist bei Menschen mit niedrigem Einkommen häufig von Unsicherheit oder plötzlichen Notlagen (z.B. Krankheitsfall, Dürre, etc.) geprägt. Stattdessen konzentrieren sich viele MFO auf die Veranlassung pünktlicher Ratenzahlung. Wie oben beschrieben üben (manche) MFO dabei erheblichen Druck aus. Das garantiert hohe Rückzahlungsraten, selbst wenn sich hinter ihnen eine Überschuldungssituation verbirgt.

Drittens bedingt der erforderliche Nachweis eines wachsenden Kreditportfolios in MFO einen steten Wachstumsdruck. Dieser steht einer sorgfältigen Kund*innenauswahl unter dem Gesichtspunkt der potenziellen wohlfahrtssteigenden Effekte entgegen. Insbesondere in Märkten mit hoher MFO-Dichte ist die Nachfrage gegebenenfalls gedeckt. Um dennoch Wachstum zu generieren und in der Konkurrenz mit anderen zu überleben, »verkaufen« einige MFO eher Mikrokredite, als auf eine Nachfrage zu reagieren, senken möglicherweise ihre Ansprüche an die Kreditwürdigkeit ihrer Kund*innen und riskieren damit deren Überschuldung (Guérin et al. 2018).

Und nun? Der Zielgruppe zuhören

Statistische Aussagen, denen zufolge ein Teil der Mikrokreditnehmer*innen profitiere, verführen manche dazu, ihr Engagement – ob als Anleger*in, Investmentfonds oder Mitarbeiter*in eines Ministeriums – in diesem Bereich zu begründen. Wenig sichtbar sind in diesen statistischen Aussagen diejenigen, auf die diese Befunde nicht zutreffen. Sie sollten jedoch gehört werden und der Maßstab der Debatte über das Für und Wider des kommerziell refinanzierten Mikrofinanzsektors sein. Die NGO »LICADHO«, die mit ihren Studien auf die Überschuldungsproblematik in Kambodscha aufmerksam gemacht hat, empfiehlt beispielsweise, die Kreditbesicherung mit Landtiteln zu stoppen (LICADHO und STT 2019). Die Erfahrungen dort warnen vor der Übertragung dieser Kreditbesicherungspraxis auf andere Länder, etwa im Agrarsektor. Das »Collective of Women Victimised by Microfinance Debts« aus Sri Lanka fordert mit Blick auf die spezifisch genderorientierte Begründung für Mikrokredite, „die Frauen zu befähigen, einen Kreditmechanismus zu entwickeln, der ihnen gehört und von ihnen kontrolliert wird und bei dem das soziale Wohlergehen im Mittelpunkt steht“ (Wedagedara 2021). Dies können z.B. informelle Spar- und Kreditgruppen sein, die sich zusammenschließen, um gemeinsam zu sparen und sich bei Bedarf aus den kollektiven Ersparnissen Kredite auszahlen (Karlan et al. 2017). Der Refinanzierungsmechanismus für Mikrokredite ist dabei lokal und beruht nicht auf der oben genannten globalen Refinanzierungskette, sodass strukturelle Sachzwänge wie hohe Zinsen, unflexible Rückzahlungsbedingungen und Anreize zur leichtfertigen Kreditvergabe nicht vorliegen. Es geht also nicht um die pauschale Verurteilung von Mikrokrediten, sondern um die Frage, unter welchen Bedingungen sie die mit ihnen verbundenen Versprechungen auch tatsächlich einlösen können.

Anmerkungen

1) Mikrokredite werden von MFO in durchschnittlicher Höhe zwischen 400 (Südasien) und 2.000 US$ (Lateinamerika) für Menschen mit erschwertem Zugang zu Banken vergeben. Sie sind eine Komponente weiterer Mikrofinanzdienstleistungen wie Sparprodukte oder Versicherungen. Faktisch konzentrieren sich viele MFO auf die Vergabe von Mikrokrediten (MixMarket (2018): Global Outreach and Financial Performance Benchmark Report 2017-2018.).

2) Vgl. ähnlich die Einschätzung einer Evaluation von Programmen zu Agrarfinanzierung der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ 2017).

3) Mikrokredite werden als Gruppen- oder zu einem größeren und zunehmenden Anteil als Individualkredite vergeben. Im Fall der Gruppenkredite haften die Gruppenmitglieder wechselseitig füreinander (Ahlin und Suandi 2019).

4) Ausländische Investitionen in den kambodschanischen Mikrofinanzsektor belaufen sich 2018 auf ca. eine Milliarde US$ (Cramer 2021) und stammen u.a. von deutschen Gebern wie der KfW, ihrer Tochtergesellschaft DEG oder der »Microfinance Enhancement Facility«. Zu den privaten Investoren aus Deutschland gehören u.a. die deutschen Ableger von Oikocredit und der Triodos Bank, Invest in Vision und der GLS Alternative Investment Mikrofinanzfonds (Pfeifer 2022).

Literatur

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Sophia Cramer ist Soziologin und forscht seit zehn Jahren zu Mikrofinanz, u.a. im Rahmen ihrer Promotion an der Universität Luzern.

Schablonen im Kopf

Schablonen im Kopf

Koloniale Kontinuitäten im Wahrnehmen, Denken und Handeln

von Michaela Zöhrer

Unsere Gegenwart steht in einer kolonialen Tradition. Darauf machen nicht nur Neokolonialismus-Kritiken aufmerksam, die Kontinuitäten oder »Neuauflagen« des Kolonialismus in aktuellen politischen und vor allem ökonomischen Verhältnissen feststellen. In diesen und vielen weiteren globalen Zusammenhängen sind darüber hinaus historisch tradierte eurozentrische Selbst-, Fremd- und Weltbilder bis heute wirkmächtig, die sich aus neuen und zugleich »altbekannten« Geschichten und Bildern speisen. Der Beitrag betrachtet die kulturelle Dimension europäischer Expansion, um sich darüber gegenwärtigen kolonialen Kontinuitäten in unser aller Wahrnehmen, Denken und Handeln – und einem möglichen selbstkritischen Umgang damit – zu nähern.

In unser aller Wahrnehmen, Denken und Handeln? Im Weiteren werde ich schwerpunktmäßig auf die Rolle »des Westens« oder genauer gesagt auf das eingehen, was als »westlicher Blick« verstanden werden kann. Auch bei einer solch selbstkritischen Betrachtung gilt es mit zu berücksichtigen, dass wir als Menschen alle Teil der sogenannten Nord-Süd-Beziehungen sind, auch wenn wir in diesen sehr unterschiedliche Positionen einnehmen und jeweils anders auf die Welt, uns selbst und andere blicken. Und wir alle sind Nachfahren und zeitgenössische Protagonist*innen geteilter Geschichte(n). Aus globalgeschichtlicher und zugleich eurozentrismuskritischer Perspektive handelt es sich in doppelter und ambivalenter Hinsicht um eine geteilte Geschichte (Conrad und Randeria 2013, S. 39): Sie ist eine gemeinsame (shared), aber auch von Abgrenzung und Hierarchisierung gekennzeichnete (divided) Geschichte des Austauschs und der Interaktion.

Kolonialismus »daheim«

Die „Imperien waren immer auch ‚zu Hause‘ präsent“ (Conrad 2012, S. 6): Über die Jahrhunderte hinweg fertigten »entdeckende«, erobernde und missionierende Europäer*innen Reise- und Augenzeugenberichte sowie Zeichnungen an, die ihre Erlebnisse und Erfahrungen vor Ort illustrieren sollten. Dabei wurden auch die kolonisierten Bewohner*innen der Karibik und Amerikas, Ozeaniens, Südasiens, des Nahen Ostens und Afrikas dargestellt und fantasiert: vor allem als »Barbaren«, »Exoten« und »edle Wilde«. Es wurden jedoch nicht nur Geschichten und Bilder mit in die Metropolen gebracht, sondern auch (zynisch formuliert) diverse »Souvenirs«. Darunter waren vielfältige kulturelle Raubgüter, deren Rückführung nach wie vor aussteht. Aber auch Menschen wurden in die Heimatländer der Kolonialmächte verschleppt und etwa in Völkerschauen ausgestellt, um deren vorgeblich »primitive«, »naturverbundene« und »unzivilisierte« Lebensweisen vorzuführen.

Während frühe Berichte und Zeichnungen (wie auch die aus den Kolonien importierten Waren und Genussmittel) lange Zeit vor allem für elitäre Kreise verfügbar waren, sollten Ende des 19. Jahrhunderts verschiedenste Bevölkerungsschichten regelmäßig in Berührung mit einem nunmehr massentauglichen und konsumierbaren Kolonialismus kommen: etwa über entsprechende Bild-Aufdrucke auf Streichholzschachteln, Keksdosen oder Schokoladentafeln.

Viele der verbreiteten Geschichten und Bilder dienten dazu, Erfolge und Fortschritte der Kolonisierungspraxis vorzuführen, um die Daheimgebliebenen auch zu Kompliz*innen »im Geiste« zu machen. Grundlegend wurden mit deren Verbreitung solche kulturellen Vorstellungsbilder propagiert, „die koloniale Expansion und Herrschaft überhaupt attraktiv und akzeptabel – und noch grundlegender: denkbar – machten (Conrad 2012, S. 7). Gleichzeitig beschränkte sich koloniale Wissensproduktion nicht auf Propaganda in den und für die Metropolen.

Koloniales »Wissensmanage­ment« und Rassismus

Europäische Expansion ging von Beginn an – das heißt spätestens seit der realitätsverzerrend als »Entdeckung« umschriebenen Vereinnahmung der sogenannten Neuen Welt ab 1492 – mit der Produktion von Wissen einher. Zugleich war ein zentrales Mittel zur Herrschaftsgewinnung und -sicherung die Verdrängung und Vernichtung anderer Kulturen. Mit den Worten Ngũgĩ wa Thiong’os (1995 [1993], S. 74) gab es „einen systematischen Angriff auf die Sprachen der Völker, ihre Literatur, Tänze, Namen, Geschichte, Hautfarbe, ihre Religionen, in der Tat auf jedes Mittel der Selbstdefinition“. Diese Delegitimierung, Exklusion und Auslöschung von Kultur und Wissen ging einher mit der machtvollen und zerstörerischen Verbreitung und Durchsetzung jenes Wissens, das vorgeblich über Höherwertigkeit und Allgemeingültigkeit verfügt.

Die wohl wichtigste Ideologie, die der Legitimierung von Versklavung und Kolonialismus sowie der im Zuge dessen verübten Gräueltaten und installierten Ausbeutungsverhältnisse diente, ist der Rassismus. Für den kolonialen Rassismus hält Albert Memmi (2016, S. 148) fest: „Ein ständiges Bemühen der Kolonialisten besteht darin, in Worten und Verhalten den Platz und das Schicksal des Kolonisierten, seines Partners im kolonialen Drama, zu erklären, zu rechtfertigen und zu erhalten, d.h., letzten Endes das Kolonialsystem und damit seinen eigenen Platz zu erklären, zu rechtfertigen und zu erhalten“. Dafür wurden Repräsentationen der »Anderen« – in Abgrenzung zu einem Selbst – wirkmächtig in die Welt gesetzt, entlang von dichotom organisierten und gegeneinander wertend in Stellung gebrachten Differenzen: nicht-weiß/weiß, barbarisch/zivilisiert, irrational/rational, kindlich/erwachsen, weiblich/männlich usw. Die behaupteten Differenzen wurden wie ahistorische und apolitische Gewissheiten behandelt und folglich naturalisiert; sie wurden absolut gesetzt, indem sie als endgültig ausgegeben wurden und sich das eigene Handeln (der Kolonisierenden) darauf ausrichtete, dass sie es auch werden (ebd.).

Kolonial-rassistische Wissensproduktion mündete oftmals in einem perfiden und folgenschweren Paradox: „Das hier produzierte Wissen ermöglicht[e] den ‚Zivilisierten‘ die Anwendung ‚barbarischer‘ Praktiken und untermauert[e] dabei gleichzeitig die Konstruktion der Täteridentität als zivilisiert und der Opfer als unzivilisiert“ (Ziai 2006, S. 34). Rassismus war Ermöglichungsbedingung und Ausdruck des gewaltvollen und entmenschlichenden Handelns der Täter*innen. Mit ihm wurden identitätsbildende Differenzen und Hierarchien etabliert, um die Gräuel und Ungerechtigkeiten (vor sich selbst) rechtfertigen zu können.

Trotz des immer auch bestehenden Widerstands vonseiten kolonisierter und versklavter Menschen, haben Imperialismus und Kolonialismus in vielen Weltregionen, die heute dem Globalen Süden zugerechnet werden, aber auch in sogenannten Siedlerkolonien wie den USA, Kanada, Australien oder Neuseeland gravierende Spuren hinterlassen, nicht zuletzt in den Selbst-, Fremd- und Weltbildern der Kolonisierten und nachfolgender Generationen. Zeitgleich bestimmen aus der Kolonialzeit stammende Vorstellungsbilder bis heute ein »westliches« Wahrnehmen, Denken und Handeln.

Koloniale Kontinuitäten

Noch heute schöpfen Menschen überall auf der Welt – bewusst oder unbewusst – aus jenem »Wissensarchiv«, das sich über die Jahrhunderte der Versklavung und Kolonisierung hinweg selektiv füllte: mit noch heute wirkmächtigen Repräsentationen, die die Welt einteilen und Gruppen von Menschen voneinander abgrenzen und hierarchisieren. Wie Stuart Hall (2012, S. 167) festhält: Die Welt wird (aus Sicht des Westens) „symbolisch geteilt, in gut-böse, wir-sie, anziehend-abstoßend, zivilisiert-unzivilisiert, der Westen-der Rest“, wobei »der Rest« als etwas festgeschrieben wird, „das der Westen nicht ist – sein Spiegelbild“. Auch in der globalen Gegenwartsgesellschaft gilt: Die Selbstvergewisserung und Selbstaufwertung der einen und die Abwertung der als »Andere« Hervorgebrachten gehen Hand in Hand miteinander. Ein gesteigertes Selbstwertgefühl von Kollektiven geht immer auf Kosten anderer – mithin auf Kosten derjenigen, die als »per se« minderwertig oder als »noch nicht« auf einer (Entwicklungs-)Stufe mit dem eigenen kollektiven Selbst wahrgenommen und entsprechend behandelt werden. Diejenigen, die bis heute die Kriterien und Maßstäbe definieren und durchsetzen können, welche der Zuweisung der Plätze auf der Stufenleiter – und der Behauptung der Existenz und Relevanz der Stufenleiter selbst – dienen, sind dabei dieselben, die sich gleichsam obenauf wähnen können.

Wenn nun von kolonialen Kontinuitäten im kollektiven Wahrnehmen, Denken und Handeln gegenüber anderen Weltregionen und als »fremd« erlebten Menschen – übrigens auch im eigenen Land – die Rede ist, dann lässt sich an recht verschiedene konkrete Beispiele denken, die mal mehr, mal weniger explizit oder klar ersichtlich in einer kolonialen Tradition stehen. Da wären zuerst »Restbestände« eines Kolonialkults, etwa manch rassistische Straßen- und Geschäftsnamen oder »Kolonialhelden« verherrlichende Statuen, die besonders offenkundig von einer fehlenden Bereitschaft zur kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen kolonialen Vergangenheit zeugen. Daneben gibt es Fälle, in denen in der Kolonialzeit tradierte Darstellungsweisen noch heute mehr oder minder identisch reproduziert werden. So ließ zum Beispiel vor wenigen Jahren Seifenprodukt-Werbung ein gängiges rassistisches Narrativ aus der Hochzeit des Imperialismus in dem Moment wieder aufleben, in dem sie die Verknüpfung »Schwarze Menschen = dreckig, weiße Menschen = sauber« bediente.

Darüber hinaus gibt es unzählige weniger offenkundige Beispiele anhand derer Vorstellungsbilder von Differenz und Dominanz wachgerufen und wachgehalten werden, die sich über die Jahrhunderte europäischer Expansion »festgesetzt« haben. Ich denke etwa an stereotype Darstellungen fremder, vor allem indigener, Kulturen in Schulbüchern. Oder an mancherlei Spendenplakate von Hilfsorganisationen, auf denen »Andere« – im Gegensatz zu »uns«, deren Unterstützung sie zu benötigen scheinen – immer noch anhand von Differenzmarkern repräsentiert werden, die schon für einen kolonialen Rassismus konstitutiv waren: Schwarz (statt weiß), krank (statt gesund), kindlich (statt erwachsen), passiv (statt aktiv), ungebildet (statt gebildet). Um hier von einer kolonialen Kontinuität zu sprechen, muss im Übrigen nicht notgedrungen ein »Hungerkind« mit »weißem Helfer« fotografisch abgelichtet sein. Es kann genügen, den afrikanischen Kontinent als schwarze Leere gerahmt von weißer Schulkreide zu zeigen und zu verkünden: „Ohne Bildung hat Afrika keine Zukunft“, „Wir schließen Bildungslücken“ (zur Plakat-Diskussion: Kiesel und Bendix 2010).

Bedeutsam ist zudem, wer und was nicht sichtbar wird – zumindest nicht als Sinnbild oder Inbegriff der jeweils unterstellten Norm, sondern wenn überhaupt als defizitäre oder exotische Abweichung. Zum Beispiel lohnt es sich mit Blick auf Darstellungsroutinen in Film, Fernsehen und Werbung zu fragen: Wer und was wird eigentlich ausgeblendet, wenn nach wie vor vornehmlich »primitive Stammeskulturen«, »hungernde Kinder«, »korrupte Diktatoren« oder auch »wilde Tiere« gezeigt werden, wenn es um den Kontinent Afrika geht? Oder warum werden in Deutschland lebende Menschen of Color fast ausschließlich in Klischeerollen – als etwa »kriminelle, ungebildete Ausländer*innen« – sichtbar, kaum jedoch als Mitbürger*innen mit ihren individuellen, tatsächlich ganz normalen Ecken und Kanten?

Jenseits des Eurozentrismus?

Werbung, Schulbücher, Spendenplakate, aber auch Auslandsberichterstattung, wissenschaftliche Konfliktanalysen, Aufdrucke auf Kaffeeverpackungen oder Reiseführer: Geschichten und Bilder von den (vermeintlichen) Lebenswirklichkeiten im Globalen Süden erreichen uns in Deutschland auf ganz unterschiedlichen Wegen und oft geradezu beiläufig. Diese mögen gegenwärtig anders aussehen und anderes betonen als jene Geschichten und Bilder, die zu der Zeit formal-politischer Kolonisation Verbreitung fanden. Sie erneuern nichtsdestotrotz häufig die gleichen Selbst-, Fremd- und Weltbilder, die bis heute ganz wesentlich dazu beitragen, dass Praktiken der Marginalisierung, Diskriminierung und Ausbeutung wie auch globale soziale Ungleichheiten und neokoloniale Verhältnisse für gerechtfertigt oder eben »normal« erachtet werden.

Was also tun? Aus meiner Sicht müssen wir in einem ersten, immer wieder aufs Neue zu tätigenden Schritt bewusst an unseren Wahrnehmungs-, Denk- und Bewertungsroutinen arbeiten, an den Schablonen in unseren Köpfen, die sich auch in unserem Handeln niederschlagen. Ein Bestandteil dieser Arbeit ist die Berücksichtigung geteilter globaler Geschichte(n) und damit der Versuch, einem internalisierten und zudem kulturell geradezu omnipräsenten Eurozentrismus aktiv zu begegnen: So wie Kolonialismus in den Kolonien und zur selben Zeit in Europa stattfand, mit jeweils sehr unterschiedlichen Auswirkungen und doch unumgänglich miteinander verflochten, so sind auch gegenwärtige koloniale Kontinuitäten immer global, wie lokal sie sich auch manifestieren mögen. Um einen Eurozentrismus möglichst zu überwinden, gilt es mit wenigstens zwei seiner zentralen Grundannahmen zu brechen (Conrad und Randeria 2013): Erstens mit der Annahme, dass die moderne Geschichte als Ausbreitung europäischer und ‚westlicher‘ Errungenschaften – des Kapitalismus, politisch-militärischer Macht, von Kultur und Institutionen –“ (ebd., S. 35) zu verstehen sei. Was kolonialgeschichtlich in der sogenannten Zivilisierungsmission seinen Höhepunkt fand, findet heutzutage sein Spiegelbild in der Haltung des Westens, beispielsweise »Demokratie« oder »Bildung« in Regionen des Globalen Südens bringen zu müssen.

Zweitens haben wir uns von der Vorstellung zu verabschieden, dass die europäische Geschichte des Fortschritts als eine rein innereuropäische Geschichte konzipiert werden könnte, dass also die Bedingungsmöglichkeiten »westlicher Errungenschaften« wie der Industrialisierung, aber etwa auch aktueller ökonomischer Dominanz, ausschließlich innerhalb Europas oder des Westens zu verorten wären. Mit einer solchen Vorstellung wird zum einen die Vielfalt globalen wechselseitigen Austauschs über die Jahrhunderte hinweg vernachlässigt. Zum anderen werden die vielen Schattenseiten der westlichen Modernisierung ausgeblendet: etwa die Relevanz, die den über Kolonialismus und Versklavung gewonnenen – auch menschlichen – »Ressourcen« in der Geschichte zukam. Und wie sieht es eigentlich aktuell am anderen Ende der Lieferketten aus?

Literatur

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Ziai, A. (2006): Zwischen Global Governance und Post-Development. Entwicklungspolitik aus diskursanalytischer Perspektive. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Michaela Zöhrer ist Friedens- und Konfliktforscherin und politische Bildnerin. Gelegentlich steht sie zivilgesellschaftlichen Organisationen zur Seite, die ihre (Bild-)Sprache eurozentrismus- und rassismuskritisch unter die Lupe nehmen möchten.

Altruismus oder Neokolonialismus?

Altruismus oder Neokolonialismus?

Umfang und Grenzen der belgischen Restitution von kongolesischem Kulturerbe

von Gracia Lwanzo Kasongo

Die Rückgabe (»Restitution«) kulturellen Erbes ist derzeit Gegenstand intensiver Debatten in den ehemaligen Kolonialstaaten. Die belgische Position gilt dabei als vorbildlich, da sie auf einem ganzheitlichen Ansatz beruht, der darauf abzielt, die kolonialen Sammlungen des Königlichen Museums für Zentralafrika in Frage zu stellen und alle unrechtmäßig erworbenen Güter zurückzugeben. Doch die Positionen, die in den Restitutionsdebatten weltweit und insbesondere in Europa eingenommen werden, scheinen immer noch eine Reihe von Fragen aufzuwerfen. Der vorliegende Artikel geht diesen Fragen nach.

Die Rückgabe des kulturellen Erbes ist derzeit Gegenstand intensiver Debatten in den ehemaligen Kolonialstaaten. Die belgische Position gilt als vorbildlich, da sie auf einem ganzheitlichen Ansatz beruht, der darauf abzielt, die kolonialen Sammlungen des Königlichen Museums für Zentralafrika (RMCA) in Frage zu stellen und alle auf unrechtmäßige Weise erworbenen Güter zurückzugeben. Die belgische Position wirft jedoch noch immer eine Reihe von Fragen auf. Um dies in einen zeithistorischen Kontext zu setzen: Die Black-Lives-Matters-Bewegung geht sogar so weit, die postkolonialen Beziehungen in Frage zu stellen, insbesondere in Bezug auf die strukturellen Konstruktionen von Ungleichheit und systemischem Rassismus, die von den ehemaligen Kolonialstaaten übernommen wurden. In Belgien war die Bewegung der Nachfahren afrikanischstämmiger Belgier*innen der Ausgangspunkt für die Politik der letzten fünf Jahre. Zu den dabei getroffenen Entscheidungen der Politik gehört die Einrichtung einer Sonderkommission, die die koloniale Vergangenheit beleuchten, die Beziehung zwischen dieser Vergangenheit und dem aktuellen Rassismus analysieren und die heikle Frage der Rückgabe aufwerfen soll (Rapport des Expertes 2021, S. 562).

Bis zu einem gewissen Grad konnte Belgien durch seine Restitutionspolitik sein Image von dem einer ehemaligen Kolonialmacht zu dem eines wesentlichen Partners beim Aufbau eines kongolesischen Kulturerbes durch das aktuelle Projekt der »Wiederherstellung« wandeln. Wie Paul Gilroy zeigt, verwenden ehemalige Kolonialstaaten das Konzept des Multikulturalismus, um angeblich Ungleichheiten zu bekämpfen, während es in Wirklichkeit darum geht, einen bestimmten Machtwillen zu bekräftigen. Diese Macht schwindet allmählich und verwandelt sich nun in eine gewisse Melancholie über die vergangene Herrschaft; sie drückt sich aus in einer subtilen Art und Weise, die Dinge zu beeinflussen, und damit Kontinuität in gegenwärtigen Bereichen der Zusammenarbeit herzustellen. In Fällen der Rückgabe ist es interessant zu beobachten, wie sich dieser Rollenwechsel innerhalb der politischen Strukturen und den bilateralen Verhandlungen zwischen den ehemals kolonisierten und kolonisierenden Ländern vollzieht.

Wie in diesem Beitrag analysiert werden soll, muss der belgische Ansatz immer noch hinterfragt werden: im Hinblick auf die Machtasymmetrien, die in den heutigen politischen Beziehungen und Verhandlungen über Artefakte aufrechterhalten werden; im Hinblick auf die ideologische Abkürzung zur Wiedergutmachung (»Reparation«), die er impliziert; im Hinblick auf seine neokolonialen Tendenzen.

Restitution: eine paradigmatische Abkürzung

Wenn es um Restitution geht, gibt es eine Reihe prominenter Fälle: die deutsche Debatte, die französische Debatte, die kanadische Debatte – und die belgische. Im Folgenden wird ein eher typischer Ansatz für »Restitution als Reparation« vorgestellt, wie er von den Franzosen verfolgt wird. Wir werden auf den Fall Frankreichs eingehen, weil er erstens das öffentliche Interesse an dieser Debatte in den Medien geweckt hat, obwohl die Debatte schon lange vorher existierte, und zweitens, weil der Sarr-Savoy-Bericht von 2018 ein Muss in der aktuellen Restitutionsdiskussion zu sein scheint und den belgischen Bericht von 2021 über ethische Grundsätze für die Verwaltung und Rückgabe von Kolonialsammlungen in Belgien inspiriert hat.

Im Oktober 2021 gab Frankreich 26 Werke an Benin zurück, darunter den Thron von König Ghézo, die sich als Schlüsselstücke für die Darstellung der Geschichte Benins erwiesen. Die Werke wurden einst dem Trocadero-Museum von General Alfred Amédée Dodds gestiftet, der an den Strafexpeditionen von 1892 teilgenommen hatte (Sarr und Savoy 2018, S. 45). Die Rückgabezeremonie wurde jedoch von einem Gefühl der Ungerechtigkeit überschattet, da der Präsident Benins, Patrice Talon, der Meinung war, dass 26 Werke erst der Anfang seien. Es gibt so viele Werke, die an Benin zurückgegeben werden müssen, wie der Gott Gou, ein Werk, das als emblematisch für den Gott der Metalle und der Schmiede gilt, sowie die Fa-Tafel, ein mythisches Werk der Wahrsagerei des berühmten Wahrsagers Guédégbé (Nyidiiku 2021).

Die Tatsache, dass Frankreich auswählte, welche dieser Werke zurückgegeben werden sollten, während sich der Antrag auch auf andere Werke bezog, beweist eine gewisse Asymmetrie in den Beziehungen zwischen ehemaligen Kolonisatoren und ehemaligen Kolonisierten. Die Tatsache, dass Frankreich ein »Ausnahmegesetz«1 erlassen hat, das eine offene und allgemeine Debatte über die unter kolonialen Bedingungen erworbenen oder gestohlenen Werke einschränkt, wirft die Frage nach den gegenwärtigen Beziehungen zwischen den ehemaligen Kolonialländern und den ehemaligen Kolonisierten auf, die immer noch kühl und halbherzig zu sein scheinen. Ein weiteres beredtes Beispiel für diese Konditionalität und Selektivität ist die Rückgabe des Schwertes von Omar El Hadj an den Senegal, die am 17. November 2019 in Dakar stattfand. In einem Dokumentarfilm von Nora Philippe (2021) über die Rückgabe von Kulturgütern stellt sie fest, dass diese Rückgabe an die Bedingung geknüpft war, dass Senegal den französischen Ansatz der Migrationspolitik übernimmt, zusätzlich zu Vereinbarungen über Waffenkäufe.

Die oben genannten Fälle zeigen die quasi neokoloniale Vorherrschaft, die selbst in Fragen der Dekolonisierung fortbesteht. Eve Tuck und K Wayne Yang haben auch auf die Gefahr hingewiesen, dass die Dekolonisierung auf eine Metapher reduziert wird. Die Tatsache, dass die Institutionen, die mit der Herausforderung der Entkolonialisierung konfrontiert sind, in der Lage sind, sich den Rückgabekampf anzueignen und dies auch bereitwillig tun, schmälert die Handlungsfähigkeit der Menschen ganz erheblich, die doch die Sache tragen und den Rückgabeprozess anführen sollten, weil sie den Wesenskern des langen Kampfes um die Rückgabe kennen. Diese Aneignung ermöglicht eine Veränderung des wahrgenommenen Status der Kolonialstaaten vom kolonialen Täter über den Unschuldigen zum Helden (Tuck und Yang 2012; Rosoux 2009). Kolonialstaaten ergreifen die Gelegenheit, Restitution zu einer Abkürzung zur Reparation zu machen, einem Akt, der das alte Image abwäscht, um die Gegenwart zu rehabilitieren und den ehemaligen Kolonialstaat als Partner bei der Rekonstruktion der afrikanischen Geschichte erscheinen lässt.

Nkinsi Nkonde: Ein bezeichnen­der Fall von Asymmetrie

Die Verhandlungen über die Rückgabe des kongolesischen Kulturerbes durch Belgien sind an sich nicht neu; sie waren möglich, als Ne kuko bereits 1878 bei den belgischen Kolonialbehörden die Rückgabe des Nkinsi Nkonde beantragte, eines Attributs der Macht, das ihm vom Offizier Alexandre Delcommune des sogenannten »Kongo-Freistaates« gestohlen worden war. Dieser Antrag, obwohl er nur ein Objekt und nicht eine ganze Sammlung betraf, ist ein aufschlussreicher Fall. Die Statue von Nkinsi Nkonde war Gegenstand von drei Rückgabeforderungen. Zunächst von Ne kuko selbst, dann 1973 von Mobutu vor der UNO und 2016 von Thronfolger Alphonse Kapita. Alle diese Anträge wurden abgelehnt (Couttenier 2018). Es wird immer noch im RMCA aufbewahrt, dem sogenannten »Afrikamuseum«. Diese Haltung zeigt, dass die Frage der Restitution nicht nur seit langem eine der Ungleichbehandlung ist, sondern auch die Relevanz der jeweiligen Sprecherposition der darin aktiven Akteure verdeutlicht.

In der Tat besteht derzeit die Tendenz, die Rückgabe auf den »Macron-Effekt« zu beschränken, der wohl am eindrücklichsten in dessen Rede 2017 an der Universität von Ouagadougou, Burkina Faso, zum Ausdruck kam (Elysée 2017). Als ob dies der Ausgangspunkt der Debatte über die Restitution des afrikanischen Kulturerbes wäre, obwohl es eine dichte Geschichte von viel älteren Forderungen gibt. Dieses Narrativ bedarf der Rekontextualisierung, die auch die Erzählungen der Akteure aus dem Süden einbezieht, die an der Entstehung dieser heutigen Debatte beteiligt waren, um die Frage der Restitution in umfassender Weise zu behandeln. Interessant ist auch die Feststellung, dass die rechtliche Struktur der Restitutionsfragen, selbst auf internationaler Ebene, von diesen kolonialen Konventionen der Selektivität und Konditionalität dominiert zu sein scheint, die den Verhandlungsansatz bis heute nicht erleichtern (Spitra 2020, S. 329ff.).

Historische und aktuelle Antworten Belgiens

In den 1950er Jahren wurden diese Eigenschaften der Selektivität und Konditionalität sogar als Rechtfertigung für die kolonialistische Haltung ausgegeben, die Sarah Van Beurden als »kulturelle Bevormundung« bezeichnet. Die Konservierung und Erhaltung der Kunst wurde als notwendige Reaktion auf die »Barbarei« der Kongolesen verstanden und übertrug sich so das Vorrecht für den Schutz des kongolesischen Erbes (Van Beurden 2015a). Dieses Verständnis wurde dadurch legitimiert, dass alte Praktiken der kulturellen Zyklizität als Akte der Zerstörung dargestellt wurden. Bestimmte Kulturgüter folgen traditionell Zyklen der Existenz, in denen sie manchmal zerstört werden. Dabei haben die westliche Kulturanthropologie, Museologie und Kulturpolitik die kulturellen Praktiken rund um diese Artefakte oft geflissentlich ignoriert und sie nur anhand ihres materiellen »Wertes« bemessen. Dieser »Wert« bedurfte dann des Schutzes vor Zerstörung und legitimierte daher die Verweigerung von Restitution (siehe für viele: Singleton 2020, S. 187, 194; Strother 2020).

Diese Haltung beeinflusste die Zeit unmittelbar nach der Unabhängigkeit in den 1960er Jahren, in der die ehemaligen Kolonisierten die Rückgabe von geraubten Kulturgütern als Symbol der Entkolonialisierung und als starken Ausdruck der Selbstbestimmung betrachteten (Van Beurden 2015a). Die Rückgabe von Kulturgütern an den Kongo wurde bei den Unabhängigkeitsverhandlungen mit Belgien 1960 am zweiten Runden Tisch thematisiert, bei dem es auch um die Rückgabe des Landguts Tervuren (auf dem das RMCA untergebracht ist) und eine Entschädigungssumme für den Bau des Bogens zum fünfzigjährigen Bestehen ging. Die DR Kongo vertrat die Auffassung, dass das RMCA mit Geldern aus der DR Kongo gebaut wurde. Die Vertreter*innen der DR Kongo wollten daher dieses Grundstück als Entschädigung übertragen bekommen. Die Debatte an diesem Tisch drehte sich eigentlich vor allem um die wirtschaftlichen Dimensionen des postkolonialen Staates: die Begleichung der Schulden, die Aufteilung des kolonialen Portfolios und damit die Beteiligung an den großen Unternehmen; die Belgier sprachen sogar an, dass sie eine Entschädigung für die »Verluste« gelten machen würden, die sie durch die Unabhängigkeit »erleiden« müssten.

In den Verhandlungen wurde die Rückgabe des kongolesischen Kulturerbes daher bereits 1960 offiziell angesprochen (Lejeune 1969, S. 558; Kikassa 1989). Die Antwort Belgiens auf dieses Ersuchen lautete jedoch, Kongo habe kein Anrecht auf das RMCA, da es sich bei diesem Museum nicht um Rechte und Pflichten handele, die aus dem früheren »Freistaat Kongo« erwuchsen. Das zweite Argument der Belgier war, dass sie auch zur Entwicklung der Kolonie beigetragen hatten (z.B. durch Ausstattung des Kongo mit Infrastruktur). Daher hielten sie die Forderung nach einer materiellen Entschädigung für unbegründet. Um die Forderung zu entschärfen und die Parteien davon abzubringen, erklärte Außenminister Harmel, dass das Museum von Tervuren gemeinsam von Belgien und dem Kongo betrieben werden würde.2 Doch auch dieses Versprechen wurde nicht eingehalten. Stattdessen kam es zu einer Zusammenarbeit im Rahmen einer Konvention3, hinter der sich ein reales Herrschaftsverhältnis und eine im Wesentlichen asymmetrische Beziehung zwischen dem Kongo und Belgien verbargen (Van Beurden 2015b, S. 12).

In den Jahren nach dem Aufstieg des Mobutu-Regimes fanden 1976 und 1982 zwei weitere Restitutionen statt. Belgien hat nur 114 Objekte an das neue IMNZ (Institut des Nationalmuseums von Zaïre) unter der Regierung Mobutu zurückgegeben.4 Damals wählte Belgien für diese Restitution das Wort »Schenkung«, was mit dem Narrativ der gewünschten Zusammenarbeit in der postkolonialen Ära zusammenpasste und Belgien das Recht einräumte selbst zu entscheiden, welche Güter zurückgegeben werden sollten und welche nicht. Diese Formulierung passte perfekt zu dem Bild, das es vermitteln wollte: das eines wohlwollenden, pater­nalistischen Ex-Kolonisators (Racine 2020).

Es stellte sich zudem heraus, dass die meisten der zurückgegebenen Stücke aus der Kolonialzeit von schlechter Qualität waren. Unter den an Präsident Mobutu übergebenen Gütern befand sich nur ein einziger Qualitätsartikel (Mumbembele 2021). Hier ist bereits die Umkehrung der oben beschriebenen Situation zu beobachten, die aus einer Situation der Zusammenarbeit bei der Restitution eine einseitige Rückgabe mit einer paternalistischen Haltung (»Spenden«) macht. In diesem Verständnis wird der Kongo zum Kind, dem geholfen werden soll, dieses »störrische Kind«, das die Unabhängigkeit wollte, ohne für die Bestimmung und Durchführung seiner Kulturpolitik ausreichend selbst verantwortlich sein zu können.

Der aktuelle belgische Ansatz: eine neokolonialistische Struktur?

In Belgien wird im politischen Diskurs der aktuellen Regierung derzeit die Idee eines bilateralen Abkommens entworfen. Das historische Bild dazu ist das des Premierministers Sama Lukonde, dem sein belgischer Amtskollege Alexander De Croo in Begleitung des Staatssekretärs für wirtschaftlichen Aufschwung Thomas Dermine die Inventurliste des im RMCA beherbergten Kulturerbes überreichte. In einem kürzlich mit Dermine geführten Interview schätzte er, dass der Gesetzes­entwurf über die Rückgabe die Etappe des Staatsrats durchlaufen und schließlich Ende April 2022 den Parlamentarier*innen zur Debatte vorgelegt werden könnte (Bouffioux 2022).

Bei der Durchsicht dieses Entwurfs eines möglichen Kooperationsabkommens wird deutlich, dass der Geltungsbereich der Verhandlungen nicht nur lediglich auf die Objekte des RMCA beschränkt ist, sondern aktiv und bewusst das Museum von Namur und das Museum L von Louvain la Neuve ausschließt, die ebenfalls koloniale Objekte besitzen, um nur einige zu nennen. In einem Artikel von Clementine Deliss (2020, S. 185) wird diese Idee der »Restitution durch begrenzte Vereinbarung« als ein parteiischer Ausdruck betrachtet, der die entscheidenden existenziellen Fragen umgeht, die im postkolonialen Kontext auf dem Spiel stehen. Dazu gehören die symbolische Gewalt, der systemische Rassismus und die gegenwärtig eklatanten Ungleichheiten in einer zunehmend globalisierten Welt, in der die Wut über diese systemische Gewalt überall wächst.

Ein bedeutender Fortschritt ist jedoch im belgischen Ansatz zu erkennen, auch wenn er gewisse Einschränkungen aufweist. Im Gegensatz zum französischen Ansatz sieht er die Rückgabe von Gegenständen aus den kolonialen Sammlungen des RMCA vor, wenn sich durch Provenienzforschung herausstellt, dass es sich um Raubgut handelt. Es werden Provenienzstudien durchgeführt, um die Legitimität oder Illegitimität des Besitzes der Werke zu belegen, damit ihre Rückgabe diskutiert werden kann. Doch auch die Definition der »Legitimität des Besitzes« ist umstritten, da die Kolonialzeit als »Zwangszeit« eingestuft wird und die Definition dessen, was legitim war und was nicht, weiterhin von der belgischen Politik festgelegt wird. Die Restitution wird also nicht die Güter betreffen, die als rechtmäßig erworben gelten.

Der belgische Ansatz für die Rückgabe scheint dabei immer noch von der gleichen Semantik geprägt zu sein wie während der Zusammenarbeit nach der Unabhängigkeit, als die Rückgabe von Werken an Mobutu als »Geschenk« betrachtet wurde. Zudem nimmt Belgien im aktuellen Rahmen den Inhalt der Restitution vorweg, indem es die effektive Rückgabe auf unrechtmäßig erworbene Güter beschränkt. Studien haben gezeigt, dass diese unrechtmäßig erworbenen Güter nur 1 % der gesamten Sammlung ausmachen. Darüber hinaus scheint die Strategie der Regierung darauf abzuzielen, den Akt der Rückgabe hauptsächlich symbolisch zu gestalten, d.h. das Eigentumsrecht an die Kongolesen zu übertragen und eine virtuelle Rückgabe der Sammlungen durchzuführen, ohne dass notwendigerweise der materielle Akt folgt oder die Güter an die Kongolesen übergeben werden (News Belgium 2021; Lwanzo Kasongo 2021). Diese eher symbolische Art der Rückgabe wird noch dadurch verstärkt, dass die Sammlung des RMCA von der belgischen Regierung aus dem öffentlichen in den privaten Bereich überführt werden kann, bis die Provenienzstudien abgeschlossen sind.

Auch wenn man sich einer Sprache der Zusammenarbeit bedient, bleibt der alte Ansatz der »Restitution als Geschenk« in dem aktuellen Ansatz erhalten, der behauptet, „die Wiederherstellung des kongolesischen Kulturerbes zu unterstützen“. Er stellt den Kongo immer noch als das Kind dar, dem geholfen oder das unterstützt werden muss, und Belgien als den guten Samariter. Dies weckt Erinnerungen an die Zusammenarbeit in den Jahren nach der Unabhängigkeit. Die Aufrechterhaltung dieses, wenn auch subtilen, Herrschaftsmodus erlaubt es nicht, die Restitution als einen gesellschaftlichen Transformationsprozess in seiner Globalität und Komplexität zu betrachten.

Anmerkungen

1) Ministerrat, Gesetzesdekret, 31. März 2022.

2) A.P., Senat, 1965-1966, Sitzung vom 26. Mai 1966.

3) Die Grundlage für diese Vereinbarung bildet das Abkommen von 1968, das die belgisch-kongolesischen Beziehungen grundlegend strukturierte. Die Vereinbarung sah vor, dass das RMCA eine Art wissenschaftlichen Markt erhielt und im Gegenzug sein Fachwissen dem IMNZ (Institut des Nationalmuseums von Zaïre) zur Verfügung stellte, das nach diesem Abkommen gegründet werden sollte.

4) Das IMNZ ist eine Einrichtung, die 1970 von Belgien und dem Kongo im Rahmen der gegenseitigen Zusammenarbeit geschaffen wurde. Die Einrichtung wurde in ihrer Anfangszeit von Lucien Cahen geleitet, der auch Direktor der RMCA war.

Literatur

Bouffioux, M. (2022): Restitution au Congo: Thomas Dermine détaille un «dispositif ambitieux». Paris Match, 7.3.2022.

Couttenier, M. (2018): EO.0.0.7943. BMGN – Low Countries Historical Review 133(2), S. 91-104.

Deliss, C. (2020): Forme rapide de restitution. Multitudes 2020/1, Nr. 78, S. 185-189.

Elysée (2017): Emmanuel Macron’s speech at the University of Ouagadougou. Elysee.fr, 28 November 2017.

Kikassa, F. (1989): Le contentieux belgo-congolais de 1960 à 1966. Zaïre-Afrique 29(237), S. 371-395.

Lejeune, Ch. (1969): Le contentieux financier Belgo-Congolais. Revue Belge de Droit International 5(2), S. 535-564.

Lwanzo Kasongo, G. (2021): Is Immaterial Restitution Enough? A Belgian Approach to the Human Right of Access to Cultural Heritage. Völkerrechtsblog, 3.11.2021.

Mumbembele, P. (2021): Provenance research: What is at stake for ethnographic collections? Video. AfricaMuseum YouTube channel.

News Belgien (2021): Approche pour la restitution des objets dans le cadre du passé colonial. 28.01.2022.

Nyidiiku, K. (2021): Restitution des œuvres: le Bénin entre fierté, frustration et espoir. Le Point, 13.11.2021.

Philippe, N. (2021): Restituer? L‘Afrique en quête de ses chefs d‘œuvres. Arte-Dokumentarfilm.

Racine, A. (2020): Histoire de la restitution d‘œuvres traditionnelles au Zaïre. Afrique, en regards (Open Edition Hypothèses), 27.7.2020.

Rapport des Experts (2021): Commission spéciale chargée d‘examiner l‘état indépendant du Congo et le passé colonial de la Belgique au Congo, au Rwanda et au Burundi, ses conséquences et les suites qu‘il convient d‘y réserver, Belgian House of Representatives (dekamer.be), DOC 55 1462/002, 26.10.2021.

Rosoux, V. (2009): Passé colonial et politique étrangère de la Belgique. Studia diplomatica, LXII, S. 133-155.

Slit Sarr, F. ; Savoy, B. (2018): Rapport sur la restitution du patrimoine culturel africain. Vers une nouvelle éthique relationnelle. Frankreich : Ministère de la culture.

Singleton, M. (2020): Quand „restitution“ égale „destitution“. Journal des antropologues 164-165, S. 185-203.

Spitra, S. M. (2020): Civilisation, protection, restitution: A critical history of international cultural heritage law in the 19th and 20th century. Journal of the History of International Law 22(2-3), pp. 329-354.

Tuck, E. ;Yang, K. W. (2012): Decolonization is not a metaphor. Decolonization: Indigeneity, Education & Society 1(1), S. 1-40.

Van Beurden, S. (2015a): Authentically African. Arts and the transnational politics of Congolese culture. Athens: Ohio University Press.

Van Beurden, S. (2015b): Restitution or cooperation? Competing visions of post-colonial cultural development in Africa. Global Cooperation Research Papers 12. Duisburg: Käte Hamburger Kolleg.

Gracia Lwanzo Kasongo ist Doktorandin an der UCLouvain. Ihr Forschungsinteresse gilt der postkolonialen Versöhnung und der Verhandlung der Restitution in den kongolesisch-belgischen Beziehungen.

Aus dem Englischen übersetzt von ­David Scheuing.

Neokolonialer Frieden?!

Neokolonialer Frieden?!

Die koloniale Unterseite modern-liberaler Friedensvorstellungen

von Christina Pauls

»Frieden« ist kein neutraler Begriff. Der universalisierte Begriff des in Theorie und Praxis dominanten modern-liberalen Friedens1 sowie seine Fortführung in Form des neoliberalen Friedens sind eng mit kolonialen Praktiken verbunden. Die hier angebotene kritische Reflexion möchte dazu ermutigen, die eigene normative Ausrichtung gründlich zu hinterfragen. Dazu wird der modern-liberale Frieden mit post- und dekolonialen Theorien »gegen den Strich« gelesen, die historische Verwobenheit von (Neo-)Liberalismus mit (Neo-)Kolonialismus nachgezeichnet, und einige der neueren Ausprägungen des modern-liberalen Friedens einer kritischen Prüfung unterzogen.

Frieden steht in einem Spannungsverhältnis zwischen normativen Ansprüchen über Gewaltfreiheit und gesellschaftlichem Zusammenleben. Die angelegte Gewaltdefinition bestimmt maßgeblich Umfang und Grenzen möglicher normativer Ausrichtungen. Ein enger Gewaltbegriff wie auch Verständnisse von struktureller Gewalt sind meist eingebettet in die dominierende modern-liberale Werteordnung. Sie sind daher nicht in der Lage, die Gewaltförmigkeit dieser Werteordnung selbst zu identifizieren, oder gar anzugehen.

Modern-liberale Friedensverständnisse blenden die eigene Verstrickung in den Kolonialismus aus. Sie zeichnen ein vermeintlich universelles Bild, dessen historische Gewordenheit nicht thematisiert wird. Insbesondere der Beitrag der Kolonisierung zur Existenz gewaltvoller Strukturen in der Gegenwart, die bewaffneten Konflikten zugrunde liegen, wird in der Friedensforschung wenig beachtet. Das ist nicht nur friedenstheoretisch problematisch, sondern stabilisiert gewaltvolle und koloniale Verhältnisse, die der Frieden doch zu überwinden sucht. Neoliberale Varianten dieser Friedensverständnisse radikalisieren diese Verhältnisse in Form eines neokolonialen Friedens, wie im Folgenden ausgeführt wird. Dieser ist für Friedensforscher*innen und -Praktiker*innen umso gefährlicher, weil er schwerer zu identifizieren ist und aufgrund seiner Beschaffenheit Rechenschaftspflicht und transformative Gerechtigkeit auszuhöhlen droht. Um auf den kolonialen Schatten dieses Verständnisses aufmerksam zu machen, sollte Friedensforschung und -praxis in ihrer Selbstreflexion expliziter epistemische Gewalt in den Blick nehmen, also auch die in der Wissenspolitik und Genealogie des Friedens angelegten Formen von Gewalt aufdecken und problematisieren (vgl. Brunner 2018). Dieser Beitrag versucht, einige Anregungen zur Sichtbarmachung der kolonialen Unterseite neo-/liberaler Friedensverständnisse bereitzustellen.

Liberaler und neoliberaler Frieden

Modern-liberale Friedensvorstellungen2 gründen auf der Annahme, dass die wirtschaftliche Abhängigkeit zwischen Nationalstaaten, internationaler Handel sowie die Einbindung in die Weltwirtschaft alle Gewaltpotentiale einhegt.3 In Verschränkung mit diesen ökonomischen Bedingungen beziehen sich politisch liberale Werte auf den Schutz von Privateigentum und auf individuelle (Freiheits-)Rechte. Politische und ökonomische Aspekte des liberalen Friedens sind als komplementär zu verstehen, da sie von einer Korrelation zwischen Demokratisierung und wirtschaftlichem Wohlstand ausgehen.

Unter »Neoliberalismus« verstehe ich die Ablehnung aller regulierenden, sozialstaatlichen und überstaatlichen Eingriffe in die »Kräfte des Marktes«. In der Literatur zu »liberal peacebuilding« hat auch die Kritik am »neoliberalen Frieden« Einzug genommen – eine Variante des liberalen Friedens, die vor allem den Markt und das Wirtschaftswachstum als ausschlaggebend für die Konstitution von Frieden versteht. Der neoliberale Frieden radikalisiert und höhlt den liberalen Frieden insofern aus, als die Marktlogik und Wachstumsorientierung (ökonomische Liberalisierung) gegenüber dem Aufbau demokratischer Institutionen, der Stärkung individueller Rechte, Sicherheit und Stabilität (politische Liberalisierung) Priorität einnimmt. Dafür wird auf Privatisierung, Monetarisierung und Deregulierung sowie auf die Öffnung von Grenzen für ausländische Investitionen gesetzt, wie sich beispielhaft in Politiken der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds zeigt.

Historische Gewordenheit neo-/liberaler Friedensvorstellungen

Um auf die kolonialen Schattenseiten des liberalen wie neoliberalen Friedens hinzuweisen, ist es nötig, ihre historischen Bedingungen nachzuzeichnen, durch die sie sich mit kolonialer Gewalt verstrickt haben. Oft wird die formale Geburtsstunde liberaler Friedensverständnisse, wie auch der proto-institutionalisierten Friedens- und Konfliktforschung, in den politischen Bedingungen des frühen 20. Jahrhunderts lokalisiert. Primär vom Globalen Norden4 ausgehend wird seither systematisches Wissen über »Frieden«, seine philosophischen und theoretischen Grundlagen sowie politische und ökonomische Strategien zu seiner Umsetzung generiert. Die Gültigkeit dieser universalisierten Theorie des Friedens wird kontinuierlich am Globalen Süden in der Friedensarbeit im In- und Ausland, insbesondere durch »peacebuilding«, dargelegt und erprobt.

Allerdings identifizieren Theoretiker*innen aus dem Globalen Süden die Entstehungsbedingungen liberaler Friedensvorstellungen viel früher: in der Philosophie der Aufklärung und gar in der kolonialen Expansion selbst, die beide als miteinander verstrickt verstanden werden. So beschreibt Juan Daniel Cruz (2021, S. 2), wie die Idee der »Pazifizierung« (Befriedung), die in kaiserlichen Erlassen festgeschrieben wurde5, die territoriale, politische und ökonomische Kontrolle über Länder des Globalen Südens als fundamentalen Bestandteil kolonialer Expansion und Praxis legitimierte. Hier setzen auch dekoloniale Theorieansätze an, die mit dem Begriffspaar Modernität/Kolonialität auf die Untrennbarkeit der Moderne von kolonialen Zusammenhängen hingewiesen haben. Sie verstehen Kolonialität, die langanhaltenden Muster und Strukturen kolonialer Verhältnisse, als konstitutive Entstehungsbedingung von Moderne, wie wir sie heute kennen. Dies umfasst auch die (materielle) Grundlage des liberalen Werteverständnisses. Liberalismus, Kolonialismus und Moderne werden als verflochten betrachtet.

So liegt den Wurzeln europäischer und liberaler Friedensvorstellungen also der Glaube an eine weiße Überlegenheit zugrunde, der sich bis heute in der technokratischen Auffassung widerspiegelt, dass eine kleine Expert*innengruppe von Menschen »Frieden« entwerfen und implementieren könne – ein Frieden, der in Europa, insbesondere in kolonialer Begegnung mit den nicht-europäischen »Ver-Anderten«, konzipiert wurde. Der weiße, europäische, christliche, heteronormative, körperlich fähige, unverwundete Mann konstruiert sich selbst als ausgewählter Bringer des Friedens, indem er »die Anderen« zu anderen macht und in ihrem Wert herabsetzt.

Dieses Dominanzverhältnis der Über- und Unterordnung zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte kontinentale Geistesgeschichte, mal mehr, mal weniger sichtbar.6 Auch die Friedensforschung und -arbeit spiegelt sich darin wider, so einerseits durch ihren interventionistischen Charakter, der sich in der Bereitstellung externer Expert*innen zeigt, und andererseits durch ihre normative (Teil-)Ausrichtung an ökonomischer Entwicklung, die neue Abhängigkeitsverhältnisse schafft und alte zementiert.

Neo-/kolonialismus und neo-/liberaler Frieden

Der Begriff des Neokolonialismus wurde maßgeblich vom ghanaischen Präsidenten und antikolonialen Denker Kwame Nkrumah geprägt (Nkrumah 1965). Er wird seither vor allem zur polit-ökonomischen Kritik an Süd-Nord-Verhältnissen herangezogen. Im Zentrum steht die Einsicht, dass trotz formal-politischer Unabhängigkeit ehemalig kolonisierter Länder koloniale Zusammenhänge im Rahmen ökonomischer und monetärer Abhängigkeitsverhältnisse weiter bestehen. Diese werden mit dem Anspruch begründet, zur Überwindung von Dualismen wie entwickelt/unterentwickelt, arm/reich u.Ä. beizutragen. Sie verkennen jedoch, dass diese erst durch den Kolonialismus konstituiert wurden und tief in die Moderne eingeschrieben sind. Der peruanische Soziologe Anibal Quijano (2000) identifiziert beispielsweise, wie Rassismus und globale Arbeits»teilung« seit der Eroberung der Amerikas als fundamentale Achsen kolonialer Macht fungieren und so in ihrer Kombination als Entstehungsbedingung des heute globalisierten Kapitalismus dienten. Koloniale Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse nehmen also mit der anhaltenden Neoliberalisierung der Weltwirtschaft auch neue Formen (»neo«) auf, wenngleich sie auf denselben Logiken beruhen, durch die sie sich konstituiert haben.

Charakteristisch für die Neoliberalisierung von Frieden ist eine zunehmende Komplexität von Aktivitäten und Akteur*innen sowie die Externalisierung von Verantwortlichkeiten. Mit der Ero­sion von klar identifizierbaren Akteur*innen verschwimmen – um erneut Kwame Nkrumahs Beitrag zur Debatte aufzugreifen – auch im Neokolonialismus die Grenzen der Verantwortung in Kontrast zu der formalen Phase des Kolonialismus, wo Herrschaft und Verantwortung eindeutiger zuzuordnen waren. Damit verlieren auch Ansprüche auf Wiedergutmachung und Reparationen ihre potenziellen Adressat*innen. So radikalisiert der Neokolonialismus die Mechanismen der epistemischen Gewalt, die sich in der Unsichtbarmachung der eigenen Beiträge zu kolonialen Strukturen manifestieren, beispielsweise durch Verleugnungs- und Verdrängungsmechanismen.

Liberalismus und ihre neoliberalen Varianten stehen als politökonomische Ideologien also weiterhin im Dienst von Modernität/Kolonialität, denn sie dienen der „Akzelerierung der Moderne […], ohne aber wahrzunehmen, dass dies zugleich mit dem Fortbestehen und der Verstärkung von Kolonialität einher geht“ (Maldonado-Torres 2016, S. 5). Unter dem Deckmantel des Friedens werden koloniale Herrschaftsverhältnisse als nicht-intendierte Folgen eines am Frieden ausgerichteten Handelns stabilisiert. So sind der liberale wie auch der neoliberale Frieden untrennbar mit ihrer kolonialen Unter- oder Schattenseite, dem neo-/kolonialen Frieden, verbunden.

Neo-/koloniale Schattenseiten

Alle Friedensbemühungen stehen zunächst vor der Herausforderung eines fait accompli globaler Ordnung – eine kapitalistische, neoliberale Ordnung, die über Jahrhunderte gewachsen ist und in ihrer Genese wie anhaltender Beschaffenheit mit kolonialen Gewaltverhältnissen verwoben ist. Diese Ordnung erfordert von allen Subjekten eine Unterordnung in ihre Logik, um zu funktionieren. Friedensbemühungen aller Art sehen sich so teilweise dazu genötigt, sich an der globalisierten Marktlogik auszurichten und die (Post-)Konfliktgesellschaften durch entsprechende politische, pädagogische und ökonomische Maßnahmen auf eine Reintegration in den neoliberalen Weltmarkt vorzubereiten. Damit laufen sie Gefahr, zu einer Fortführung neokolonialer Ausbeutung durch Niedriglohnarbeit, moderne Sklaverei7 sowie der Vergrößerung von Ungleichheiten, beispielsweise durch illegale Finanzabflüsse vom Globalen Süden in den Globalen Norden, beizutragen und so neokolonialen Frieden zu perpetuieren.

Während sich der modern-liberale Frieden zunächst primär an den Entwicklungsdiskurs angeschlossen hat, setzt er sich in der gegenwärtigen Ausrichtung an psychologischen und psychosozialen Aspekten der Konflikttransformation fort und führt so zu einer Pathologisierung von Postkonflikt-Gesellschaften“ (Castro Varela und Dhawan 2017, S. 245). Denn die eurozentrische Psychologie tendiert dazu, Trauma zu individualisieren (beispielsweise mit der Diagnose Posttraumatischer Belastungsstörung), wodurch strukturelle und relationale Faktoren aus dem Blick geraten. Es schwingt die Konnotation mit, dass Menschen »gebrochen« und unvollständig sind, von einem als ideal konstru­ierten »gesunden« Menschen abweichen und durch bestimmte Praktiken wieder hergestellt werden können. Diese Menschen erfahren laut Tuck und Yang Anerkennung, die primär auf schmerzbasierter Forschung beruht, also der Sammlung und Nacherzählung ihrer Leidensgeschichten. Nicht nur Forschung, sondern auch Praxis läuft so Gefahr, rassistische Hierarchien in Form von politisch vertretbareren Entwicklungshierarchien fortzuführen (Tuck und Yang 2014, S. 231).

In der Ausgestaltung, Legitimation und Umsetzung von neo-/liberaler Friedens»schaffung« nimmt »eurozentrisches Wissen« auch auf die Vorstellungen von »Frieden« Einfluss und lässt keinen oder nur wenig Raum für alternative Deutungen von Frieden. Diese Universalisierung von Frieden geht einher mit der Unsichtbarmachung entsprechender alternativer Verständnisse solcher Weltbilder, die meist als »unterentwickelt« und »unmodern« abgetan werden. Denn viele solcher Weltbilder beruhen – im Gegensatz zum liberalen Verständnis – auf ausgedehnten Zeitvorstellungen, in denen nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit vor uns liegt und eine aktive Beziehung zu den Vorfahren gepflegt wird. Etymologische Explorationen von alternativen Friedensbegriffen, oder dem Frieden ähnlichen Begriffen in anderen Weltbildern, ermöglichen Zugang zur realen Vielfalt von Friedensverständnissen. Solche Einsichten sollten aber nicht davon ablenken, dass der konkrete politische Friedensdiskurs im Kontext globaler Machtasymmetrien entstanden ist und sich verstetigt hat. Daher ist es nicht ausreichend, auf die epistemische Vielfalt von Friedensvorstellungen hinzuweisen, sondern auch ihre Dominanzverhältnisse anzuerkennen und dort anzusetzen, wo diese unterbrochen oder sogar transformiert werden können.

Gibt es Handlungsoptionen?

Was hieße es dann konkret, sich dem neo-/liberalen Frieden in Bezug auf die hier aufgeführten kolonialen Schattenseiten zu widersetzen?

In Anbetracht der epistemischen Dominanz weißer (europäischer) Wissenschaftler*innen im Feld der Friedensforschung müssen andere Zugänge und Perspektiven auf Frieden gefunden werden. Dafür lohnt es sich, sich den lebendigen Wissenssystemen jener zuzuwenden, die von kolonialer Gewalt betroffen sind und aufgrund ihrer Position mehr »sehen« können als wir, die wir uns im kolonialen Zentrum dieser Wissensproduktion bewegen. Von Friedensforscher*innen und -praktiker*innen erfordert dies, sich den komplexen Verstrickungen zuzuwenden, in die der Friedensbegriff aber auch sie selbst als Menschen eingebettet sind. Es gibt keine einfachen und schnellen Lösungen für den Umgang mit kolonialen Schattenseiten modern/liberaler Frieden.

Ein Ansatz könnte darin liegen, an einigen der Grundannahmen neo-/liberaler Friedensverständnisse zu rütteln. Der radikale Individualismus, der sowohl wirtschaftliche als auch politische Grundvoraussetzung für Liberalismus ist, sollte entthront und in Balance mit kollektiven Rechten und kollektivem Wohlstand, auch in Beziehung zur Natur, gebracht werden. Dies kann jedoch kein Unterfangen sein, das selbstbezogen und selbstreflexiv im eigenen Kopf stattfindet. Im Gegenteil sind es zutiefst relationale, gemeinschaftliche Prozesse, die das Potential bergen, sich selbst als verbunden und als Teil größerer Zusammenhänge zu verstehen. Anstatt ausschließlich zukunftsgeleitetes Handeln zu propagieren, sollte auch der Bezug zur Vergangenheit (wieder-)belebt werden, ohne sie zu romantisieren oder verändern zu wollen, sondern in reale Beziehung mit ihr und ihren Beiträgen zur Schaffung der Gegenwart zu treten.

Der dominante Friedensbegriff bedarf also insofern einer »Entnaturalisierung«, aber auch einer Kontextualisierung in koloniale Verhältnisse, und sollte so auch selbst zum Objekt politischer Aushandlung avancieren, damit eine selbstbestimmte und emanzipatorische Ausrichtung der Arbeit am Konflikt sowie am Umgang mit Gewaltverhältnissen eine reale Möglichkeit wird. Die hier angebotene Kritik am universalen Friedensbegriff birgt durchaus „die Gefahr einer kulturrelativistischen Legitimierung von Menschenrechtsverletzungen und Unrechtssystemen“ (Castro Varela und Dhawan 2017, S. 245). Auf der anderen Seite könnte sie eine Befreiungsbewegung von einem kolonial aufgeladenen und ausgenutzten Konzept darstellen, das ansonsten stillschweigend und unsichtbar geworden zur Aufrechterhaltung und Verstärkung von Kolonialität beiträgt.

Es geht also darum, die Schatten kennen und verstehen zu lernen, den Blick zu schärfen für neue, nicht direkt sichtbare Formen der Verstetigung kolonialer Beziehungen – und darum, gemeinsam nach Wegen zu suchen, diese zu überwinden.

Anmerkungen

1) Dieser modern-liberale Friedensbegriff basiert auf sog. »modernen« Prinzipien wie Rationalität, Aufklärung und »Zivilisierung« und ist zudem eng mit liberalen Grundwerten verwoben, wie unter anderem individuellen Rechten, einem spezifischen Demokratieverständnis sowie dem Vertrauen in Handelsbeziehungen und unregulierte Märkte.

2) Ich spreche hier von Friedensvorstellungen im Plural, weil selbst der modern-liberale Überbegriff von Frieden zahlreiche Spielarten ermöglicht und die hier angebotene Kritik nicht alle dieser Spielarten abdecken kann.

3) Ein prominentes Beispiel, das sich in den Internationalen Beziehungen großer Anerkennung erfreut, ist der sog. (Doppel-)Befund des demokratischen Friedens.

4) »Globaler Süden« und »Globaler Norden« bezeichnen nicht nur geographische Kategorien, sondern primär unterschiedlich privilegierte und deprivilegierte Positionen im globalen System, die durch Kolonialismus konstituiert wurden. So lässt sich auch ein »Norden im Süden« und ein »Süden im Norden« identifizieren, also Menschen(-gruppen), die kontextual über- oder unterprivilegiert sind.

5) Zum Beispiel im Asiento – dem Generalvertrag vom 27. März 1528, in dem Kaiser Karl V. der Augsburger Handelsfamilie der Welser Gebiete im heutigen Venezuela und Kolumbien zur kolonialen »Befriedung« zur Verfügung stellte.

6) Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann zeichnet in »Undienlichkeit« (2020) nach, wie das Wirken und Handeln politischer Philosophen mit der Versklavung und Kolonisierung verwoben ist.

7) Laut Global Slavery Index leben 40 Mio. Menschen in »moderner Slaverei«, die sich beispielsweise in Menschenhandel und Zwangsarbeit manifestiert (globalslaveryindex.org).

Literatur

Brunner, C. (2018): Nachgefragt: Was ist epistemische Gewalt? Ein Interview. W&F 2/2018, S. 42-43.

Castro Varela, M. do Mar; Dhawan, N. (2017): Postkoloniale Studien in den Internationalen Beziehungen. Die IB dekolonisieren. In: Sauer, F.; Masala, C. (Hrsg.): Handbuch Internationale Beziehungen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 233-256.

Cruz, J. D. (2021): Colonial Power and decolonial peace. Peacebuilding 9(3), S. 274-288.

Därmann, I. (2020): Undienlichkeit. Gewaltgeschichte und politische Phoilosophie. Berlin: Matthes & Seitz.

Maldonado-Torres, N. (2016): Outline of ten theses on coloniality and decoloniality. Online bei Fondation Frantz Fanon, 23.10.2016.

Nkrumah, K. (1965): Neo-colonialism, the last stage of imperialism. London: Thomas Nelson & Sons.

Quijano, A. (2000): Coloniality of power, eurocentrism, and Latin America. Nepantla. Views from South 1(3), S. 533-580.

Tuck, E.; Yang, K.W. (2014): R-Words. Refusing research. In: Paris, D.; Will, M.T. (Hrsg): Humanizing research: decolonizing qualitative inquiry with youth and communities. Thousand Oaks: Sage, S. 223-248

Christina Pauls, M.A. Peace Studies, promoviert zur Kolonialität des Friedens. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im BMBF-Projekt »Bayerisches Zentrum für Friedens- und Konfliktforschung: Deutungskämpfe im Übergang« am Standort Augsburg und außerdem in der politischen Bildung aktiv.

»Freiwillige« Kolonialisierung?

»Freiwillige« Kolonialisierung?

Franc CFA, Frankophonie und Militärabkommen in Westafrika

von Dolly Afoumba

Wie ist die Existenz dominanter Wirtschafts-, Kultur- und Militärinstitutionen in Westafrika nach dem Ende des formellen Kolonialismus zu verstehen? Weshalb scheint ein »freiwilliger« Kolonialismus fortzubestehen? Was genau ist darunter zu verstehen? Der Beitrag versucht sich an der Analyse der neokolonialen Herrschaftsmuster, die sich im Franc CFA, der Frankophonie und militärischen Abkommen mit ehemals kolonisierten Staaten widerspiegeln, und diskutiert kritisch deren Rolle und Einfluss.

In diesem Artikel setze ich mich mit der Idee des »freiwilligen« Kolonialismus auseinander. Was ist »freiwilliger Kolonialismus«? Wie drückt sich die Freiwilligkeit in den heutigen Beziehungen zwischen Frankreich oder auch Deutschland und ihren ehemaligen Kolonien aus? Es gilt herauszufinden, inwiefern die Institutionen oder Abkommen, die beide Seiten sowohl wirtschaftlich, kulturell als auch militärisch verknüpfen, zur Aufrechterhaltung des (neo-)kolonialen Systems beitragen.

»Freiwillige Kolonisierung«?

Die Idee des Willens, beherrscht oder unterworfen werden zu wollen, wurde von Kaku Nubukpo und anderen zumindest für den frankophonen Raum popularisiert (Nubukpo et al. 2016). Der togolesische Ökonom Nubukpo ist der Ansicht, dass die Länder unter dem Franc-CFA-Regime freiwillig oder absichtlich dortgeblieben sind, da einige beschlossen hatten, die Franc-Zone zu verlassen. Er spricht daher von »freiwilliger Knechtschaft«. Ein gänzlich anderes Konzept »freiwilliger Kolonisierung« brachte US-Ökonom Paul Romer mit der Idee der »Charter Cities« ins Spiel. Die Idee war, dass neue afrikanische Städte geschaffen werden sollen, die mindestens 50 Jahre ausschließlich von westlichen Länder verwalten werden sollen. Hier würde ein Kolonialsystem freiwillig und im Vordergrund des Machtverhältnisses gesetzt werden.

Die Bezeichnung »freiwilliger Kolonialismus« hängt dabei von dem Bild ab, das man dem ehemaligen Kolonisierten zuschreibt, und wie er sich selbst sieht. Franz Fanon (2001 [1959], S. 12) schrieb schon 1959: „Der Kolonialismus kämpft, um seine Herrschaft und die menschliche und wirtschaftliche Ausbeutung zu stärken. Er kämpft auch, um das Bild, das er von den Algeriern hat, und das abgewertete Bild, das die Algerier von sich selbst hatten, identisch zu bewahren“. Dieses Zitat zeigt zu Recht, dass das Kolonialsystem von einem gewissen Minderwertigkeitskomplex genährt wird, den die Kolonisierten zu einem bestimmten Zeitpunkt gegenüber den Kolonialherren haben: der Wunsch, geliebt zu werden. Die Freiwilligkeit könnte also von Menschen kommen, die ihres Selbstwertgefühls beraubt wurden. Sie glauben daher, der Dienst für ihre Herren würde ihnen mehr Selbstwertgefühl und Selbstliebe einbringen, als der eigenen Heimat zu dienen. Es scheint aber auch heute noch in der Forschung nicht klar zu sein, wie diese Freiwilligkeit zu verstehen ist. Es müsste noch mehr dazu geforscht werden, wann es gewollte und bewusste Handlungen sind und wann es sich eher um Handlungen unter Zwang handelt. Im weiteren Verlauf des Beitrags will ich dieser Idee der Freiwilligkeit auf drei Ebenen nachspüren und zu verstehen versuchen.

Wirtschaftliche Dimension: Der Fall »Franc CFA«

Mit der Idee von Kaku Nubukpo konnten die ganzen antikolonialen Proteste gegen die Währung Franc CFA in Afrika infrage gestellt werden. Die Proteste der afrikanischen Zivilgesellschaft gegen den Franc CFA begannen im Jahr 2016, genau dem Jahr der Erscheinung seines Werkes. So bot er den Medien den geeigneten und auch attraktivsten Slogan, um all diesen Bewegungen entgegenzuwirken. Es ging nicht mehr um Neo-Kolonialismus oder koloniale Kontinuität, sondern um die freiwillige Kolonisierung, an denen afrikanische Eliten profitieren. Für ihn galt es festzuhalten: „[D]ie lokalen Regierungen in Afrika sind diejenigen, die den Franc CFA wollen“ (Nubukpo 2016). Doch stimmt das?

Die Abkommen für die Gründung der kolonialen Währung Franc CFA wurden auf Initiative General De Gaulles im Jahr 1945 unterschrieben. Dies geschah in einem kolonialen Kontext, in dem Frankreich der einzige Entscheidungsträger war. Das erklärte Ziel bestand darin, Frankreich nach dem Krieg wieder die Kontrolle über seine verschiedenen Kolonien zu verschaffen. Nach einer Rezension des Buches von Soumaïla Cissé (2013) sollte diese Währung auch dazu dienen, „die Integration der ehemaligen französischen Kolonien in den internationalen Handel zu erleichtern“ (Haïdara 2016). Dies sollte durch zwei der vier Kernprinzipien des Franc CFA geschehen: die feste Parität und die freie Konvertierbarkeit des Franc CFA mit dem französischen Franc. Es ging also um die garantierte Konvertibilität der Kolonialwährung mit einer starken Währung, die auf dem internationalen Markt als solche anerkannt war. Eine Währung, die zugleich stark und stabil war und alle französischen Kolonien in sich vereinte. Alle Zutaten waren damit vorhanden, um die Kolonien davon zu überzeugen, dieses System nach der Unabhängigkeit beizubehalten. Dennoch traten 1955 mehrere Staaten wie Kambodscha, Laos und Vietnam aus dem System aus, die nordafrikanischen Länder folgten ebenfalls. Es blieben nur die französischsprachigen Länder südlich der Sahara. Sind sie denn angesichts dieses scheinbaren Altruismus Frankreichs aus reiner Freiwilligkeit geblieben?

Kako Nubukpo zufolge waren sie unter keinerlei Zwang, vielmehr stellte er die konkreten Erfahrungen einzelner Staaten in den Vordergrund. Er sagte in einem Interview, dass „die Erfahrung des Scheiterns von Guinea Conakry, das Ende der 1950er Jahre auf den Franc CFA verzichtete, den Eifer der afrikanischen Länder, die diesem Land hatten folgen wollen, abkühlte“ (Nubukpo 2016b). Er umging es jedoch, die Gründe für das Scheitern von Guinea Conakry unter der Regierung von Sékou Touré zu erklären. Frankreich nutzte vier Mittel, um die afrikanischen Staaten dazu zu zwingen, unter dem kolonialen Regime des Franc CFA zu bleiben.

Zunächst musste der Unabhängigkeitsdrang diesen Ländern durch die Sabotage der neu geschaffenen Währungen gebremst werden. So geschah es mit Guinea Conakry. Constantin Melnik erklärte, wie die französische Regierung den Wiederaufbauplan von Sékou Touré sabotierte, nachdem sein Land den Franc CFA verlassen hatte: „Der französische Geheimdienst würde Falschgeld herstellen, Guinea damit überschwemmen und so seine Wirtschaft schwächen sowie die Unzufriedenheit der Bevölkerung verstärken. Die Fallschirmjäger des Service Action wurden mobilisiert. Im benachbarten Senegal wurden die sogenannten Maquisards ausgebildet, die bereit waren, alles zu tun, was der große weiße Zauberer, der Macht und Lohn verteilte, wollte. Es wurden Waffen und gefälschte Banknoten verschickt“ (Melnik 1994, S. 363).

Die Umsetzung dieses Projekts wird als »Operation Persil« bezeichnet. Dies erfahren wir in den Schriften von Maurice Robert (2014), damaliger Leiter der Afrika-Abteilung des SDECE (Service de Documentation Extérieure et de Contre-Espionnage). Diese Operation trug maßgeblich zur Schwächung der guineischen Wirtschaft bei. Heute wird Guinea missbräuchlich als Beispiel angezeigt, um jeden anderen Staat abzuschrecken, der aus dem Franc-CFA-System aussteigen möchte. Die Einführung von Falschgeld im zweiten Schritt führte zu Inflation und zu einem monetären Chaos auf dem Binnenmarkt Guineas. Der Staat war nicht mehr in der Lage, die Menge des Geldes im Land sowie die Kapitalzuflüsse und -abflüsse zu kontrollieren; die Unternehmen und die Bevölkerung wussten nicht genau, ob sie legitimes Geld oder Falschgeld in ihren Kassen hatten. Der Vertrauensverlust in die Währung führte zu weiterer Destabilisierung des Landes.

Frankreich nutzte auch die Strategie der Isolierung. Im Jahr 1965 war Guinea, wie heute beispielsweise Mali, durch Frankreich und seine Verbündeten in Westafrika isoliert. Die Elfenbeinküste, Niger, Senegal und Burkina Faso brachen ihre wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen zu Guinea ab (Société Générale Guinée o.J.). Zwischen der Sabotage seiner Währung, Putschversuchen (wie 1961) und wirtschaftlicher Isolation konnte die Wirtschaft Guineas keinerlei Fortschritt erzielen.

Andere Länder versuchten ebenfalls, aus diesem System auszusteigen, wie z. B. Togo unter Sylvanius Olympio im Jahr 1960. Nach dessen Ermordung 1963 stieg Togo wieder in das Franc-CFA-System ein. Mali unter Modibo Keita kann ebenso als ein Beispiel gelten. Mali wurde ebenso wie Guinea Conakry isoliert und trat am 01. Juni 1984 nach dem Sturz und Tod von Keita wieder dem Franc-CFA-System bei (Tambour 2021).

Die französische Regierung ist die oberste Instanz bei der Verwaltung des Franc CFA. Zu den Prinzipien des Franc CFA gehört auch die Fixierung der Parität. Eine solche Garantie wäre für Investoren attraktiv, da sie sich keine Sorgen um die Volatilität der Währung machen müssten. Seit seiner Einführung hat der Franc CFA jedoch mehrere Abwertungen erfahren, die einseitig von Frankreich beschlossen wurden. Dies lernen wir von der Forschung des ivorischen Ökonom Nicola Agbohou. Nach der Abwertung des Franc CFA im Jahr 1994 sagte Édouard Balladur, der damalige französische Premierminister, der Franc CFA wurde 1994 auf Betreiben Frankreichs abgewertet, weil es uns schien, dass dies die beste Formel war, um diesen Ländern (den Afrikanern) bei ihrer Entwicklung zu helfen“ (Jeune Afrique Economique 1994, zitiert von Agbohou 1999). Später erinnert er daran, dass „die Währung kein technisches, sondern ein politisches Thema ist, das die Souveränität und Unabhängigkeit der Nationen berührt“. Ein Ausbruch des französischen Ministers, der viel über die wahren Entscheidungsträger der Währungspolitik in den Ländern des Franc CFA aussagt. Mit dieser Währung besetzt Frankreich nicht nur die wirtschaftliche und finanzielle Führung dieser Länder, sondern auch ihre Souveränität. Zudem wurde diese Abwertung deutlich von afrikanischen Führern verweigert. Agbohou (1999) berichtet, dass Omar Bongo, Präsident von Gabun, und Gnassingbé Eyadema, Präsident von Togo, diese Entscheidung anprangerten: „Wir wurden in denselben Korb geworfen“, bedauerte Bongo. „Frankreich […] hat […] entschieden. Die afrikanischen Stimmen zählten nicht viel“, sagte Gnassingbé. Die Stimme der westafrikanischen Zivilgesellschaften war erst recht weder gefragt noch wurde sie berücksichtigt. Ein ähnlich koloniales Verhältnis zur Währung Franc CFA wurde im Jahr 2019 sichtbar, als im französischen Parlament über »das Ende des CFA Franc« debattiert wurde. Die westafrikanischen Bevölkerungen, geschweige denn ihre Regierungen, die diese Währung benutzen, waren nicht gefragt und nicht eingeladen. Institutionell drückt sich das neokoloniale Verhältnis des Franc CFA darin aus, dass die Debatten auf den außerplanmäßigen Gipfeltreffen der Staatsoberhäupter der CEMAC (Central African Economic and Monetary Community) und WAEMU (West African Economic and Monetary Union) immer unter der Aufsicht des französischen Finanzministers und der Direktorin des IMF (International Monetary Fund) stattfinden.

All dies zeigt, dass es eine wahrhaft töricht wäre, im Fall des Franc CFA von freiwilliger Knechtschaft zu sprechen.

Auf kultureller Ebene: die Frankophonie

Zunächst einmal ist es schwierig, eine kulturelle Institution als kolonial zu bezeichnen. Aber die Mittel der Herrschaft sind zahlreich und die Sprache ist eine furchtbare Waffe bei der Unterwerfung von Völkern. Die Geschichte, in die sich die Gründung der Frankophonie einreiht, ist die Geschichte des Verbots der lokalen Sprachen in Behörden, Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen zugunsten des Französischen, das die Sprache der Zivilisation sein sollte. Kolonialgesetze und Gesetze zur Klassifizierung von »Rassen« wie der »Code de l’indigénat« in Algerien wurden in französischer Sprache verfasst. Die Schule in den französischen Kolonien und Protektoraten wurde auf Französisch abgehalten. Es wird sogar berichtet, dass während dieser ganzen Zeit Kinder, die in der Schule nicht Französisch sprachen, streng bestraft werden konnten. Afrikanische Soldaten, die während der europäischen und der Weltkriege an der Seite der französischen Armee gekämpft hatten, sangen das sogenannte »Lied der Afrikaner«, eine spezielle französische Hymne der afrikanischen Soldaten. Es ist also nicht nur die Sprache, sondern auch die Kultur, die sich auf Kosten der lokalen Kulturen durchsetzt.

Es gab eine administrative und soziopolitische Auferlegung der Sprache, die es im Sinne der Kolonialisten ermöglichen sollte, die Afrikaner*innen zu »zivilisieren«, um sie aus ihrer »Primitivität« herauszuholen. Gleichzeitig wurden die lokalen Sprachen einer Kategorisierung und Hierarchisierung unterworfen. Sie wurden als Sprachen »ohne« betrachtet, d.h. Sprachen ohne Geschichte, ohne Kulturen usw. Diese Logik der Hierarchisierung und Kategorisierung der afrikanischen Sprachen existiert heute noch. So erklärten die beiden Linguistinnen Cécile Canut und Mariem Guellouz, dass Strafen, die von Frankreich während der Kolonialzeit angewandt wurden, um Schüler*innen zu verbieten, ihre lokalen Sprachen in der Schule zu sprechen, auch heute noch angewandt werden (Canut und Guellouz 2019). Ihre Behauptungen wurden von Zeug*innen aus Burkina Faso, Senegal und Mali bestätigt. Es geht zum Beispiel darum, dass die zu bestrafende Schüler*in den ganzen Tag vom Unterricht bis nach Hause einen »verfaulten« Eselsschädel auf dem Kopf tragen musste. Zu Hause führen sogar einige Eltern diese Unterdrückung fort, indem sie als Folge dieser Strafe ihren Kindern das Sprechen der Heimatsprachen verbieten. In den Ländern des Franc CFA ist Französisch nach wie vor die offizielle Landessprache. Obwohl Französisch mittlerweile eine globale Sprache mit mehr afrikanischen Sprecher*innen als französischen Staatsbürger*innen ist, bleibt Frankreich der führende Staat in der Frankophonie selbst. Wie die Politikwissenschaftlerin Françoise Vergès (2018) treffend erklärte: „Es ist nicht so, nur weil ich Französisch spreche, dass ich Ideen einbringen muss, die unbedingt Ideen der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte sind. Ich kann entgegen auf Französisch Ideen einbringen, die Ideen der Mandeng-Erklärung (Erklärung der Menschenrechte in Afrika aus dem 19. Jahrhundert) sind.“ Anders gesagt, die französische Sprache muss nicht nur benutzt werden, um über die Werte und die Geschichte Frankreichs zu berichten. Frankophone Sprecher*innen müssen die Freiheit haben, auf Französisch über ihre Kultur, Werte und Geschichte zu berichten.

Es wäre daher für die Dekolonisierung der Frankophonie wichtig, dass Französisch auf die spezifischen Werte und Identitäten der Völker hört, die diese Sprache nun auch sprechen, aber nicht die gleiche kulturelle Geschichte wie die Französ*innen haben. Um dies zu erreichen, muss Französisch zu einer Sprache des geteilten Ausdrucks werden und nicht zu einer Sprache, die eine bestimmte Kultur aufzwingt. Franz Fanon sagte zu Recht: „Der Kolonialismus zwingt die Wiederholung des kulturell Identischen als ein Schicksal auf, das für seine eigene Stabilität funktional ist. Als Folge davon schließt sich die Kultur der Kolonisierten, ‚einst lebendig und offen für die Zukunft‘, erdrückt von der militärischen, wirtschaftlichen und symbolischen Unterdrückung durch den Kolonisator, erstarrt im kolonialen Status, gefangen im Korsett der Unterdrückung. Zugleich präsent und mumifiziert attestiert sie gegen ihre Mitglieder. Sie definiert sie in der Tat unwiderruflich“ (Fanon 2001 [1959], S. 41). Die afrikanischen Staaten, die sich von dieser kolonialen Bindung nach der Unabhängigkeit trennen wollten, wählten die lokalen Sprachen als erste Amtssprachen. Dies war beispielsweise in Ruanda der Fall, das Swahili zur Amtssprache erklärte. In jüngerer Zeit war diese Entsagung in Mali der Fall, das Bambara als offizielle Sprache gegen die ehemalige Amtssprache Französisch wählte. Allein diese sprechen dafür, dass die Entfernung von Französisch als erster Amtssprache in ehemaligen Kolonien in Afrika auch ein Märtyrerakt der Unabhängigkeitserklärung ist. Dies beweist, dass die Spitzenposition des Französischen auf Kosten lokaler Sprachen nicht das Ergebnis einer kreativen Aneignung der kolonialen Sprache ist, sondern vielmehr das der Dominanz Frankreichs über diese Länder darstellt.

Auf der militärischen Ebene

Auf militärischer Ebene ist die Redewendung »mit Zustimmung der Regierung« das meistgenutzte Argument der europäischen Mächte, die sich auf afrikanischem Boden niedergelassen haben. Am Beispiel Malis lässt sich zeigen, wie neokoloniale Tendenzen immer noch alltägliche Praxis vieler Staaten darstellen. Am 13. Januar 2022 verbot die neue militärische Übergangsregierung Malis sowohl französischen Truppen als auch den weiteren Kräften der europäischen Task Force Takuba den Zugang zu seinem Territorium. Noch am selben Tag beschuldigte Mali die französische Armee, seinen Luftraum verletzt zu haben (France24 2022). Am 14. Januar erklärte Frankreich wiederum, es handle legitim, da Mali 2013 und 2020 zwei Abkommen in Form von Briefwechseln unterzeichnet habe, die den Einsatz seiner Armee vor Ort rechtfertigten (Houmfa 2022). Durch diese Antwort bestätigte Frankreich, dass es mit seiner Präsenz in Mali eher ein imperialistisches Ziel als den Kampf gegen Terroristen verfolgte. Bei diesem Verbot bezog sich die malische Regierung auf das »Prinzip der Gegenseitigkeit«, und betrachtete es als Antwort auf Sanktionen Frankreichs und seiner westafrikanischen Verbündeten, die diese aufgrund des gewaltlosen Putsches im Mai 2021 verhängt hatten. Mali ist ein souveräner Staat und seine Regierung hat das Recht, sich seine Partnerländer beim Kampf gegen den Terrorismus selbst auszuwählen. Frankreich sieht die »Abkommen« aber als Beweis der freiwilligen Kolonisierung. Gemäß diesem Abkommen gelte: „Das Personal der französischen Truppe bewegt sich ohne Einschränkung auf dem Hoheitsgebiet der Republik Mali einschließlich ihres Luftraums unter Verwendung der ihm zur Verfügung stehenden Mittel und ohne dass es eine Begleitung durch die Kräfte der malischen Seite beantragen muss“ (zitiert nach: Accord 1901 vom 7.3.2013 und Zusatzprotokoll). Kurz gesagt geht es hierbei um eine bewusste Selbstaufgabe der eigenen Souveränität an die Armee der ehemaligen Kolonialmacht. In diesem Zusammenhang wurde Deutschland auch beschuldigt, den malischen Luftraum verletzt zu haben. Im Januar 2022 wurde ein deutsches Militärflugzeug von der malischen Regierung zurückgewiesen (Tognon 2022), doch das Land schloss sich Frankreich an und weigerte sich, die Souveränität Malis in diesen Fragen zu respektieren. Am 18. Februar 2022 forderte die Regierung Malis dann den unverzüglichen Abzug der Militäroperationen »Barkhane« und »Takuba« aus Mali. Eine Entscheidung, die Frankreich nicht mehr dazu zwang, einen Abzug in Erwägung zu ziehen, sondern zu gehen.

Diese Analyse zeigt, dass es auf wirtschaftlicher, kultureller und sogar militärischer Ebene nicht sinnvoll ist, von einer »freiwilligen Kolonisierung« in der Zone der westafrikanischen Frankophonie bzw. der Länder des Franc CFA zu sprechen, da diese Staaten in den meisten Fälle in kolonialen Kontinuitäten gebunden ihre Souveränität über Geldpolitik, Kultur oder Militärpolitik aufgeben. Der Fall Mali zeigt auch, dass dies Neo-Kolonisierung von einem Staatsoberhaupt gewollt werden kann, der gegen das Interesse seines Volkes zugunsten der Kolonialmacht handelt. Im Fall der Länder der Frankophonie ist es klar, dass sie in vielen Fragen immer noch unter dem Einfluss der kolonialen Ideologie ihrer Gründungszeit stehen.

Literatur

Agbohou, N. (1999): La France et l’Euro contre l’Afrique. Pour une monnaie africaine et la coopération Sud-Sud. Paris: Editions Solidarite Mondiale.

Canut, C.; Guellouz, M. (2019): Les Africains ont-ils été dépossédés de leurs langues au cours de l’histoire ? Interview bei RFI, 28.01.2019.

Cissé, S. (2013): De belles années au service de l’intégration régionale. Abidjan: Edition Eburnie.

Fanon, F. (2001[1959]): L’An V de la révolution algérienne (1959). Paris: Éditions La Découverte.

France 24 (2022): Le Mali dénonce une «violation» de son espace aérien par un avion militaire français. 13.01.2022.

Haïdara, B. (2016): Le franc CFA, véritable élément d’intégration africaine ou instrument d’une dépendance perpétuelle vis-à-vis de la France? Lamenparle, Hypotheses.org, 27.6.2016.

Houmfa, M. (2022): Violation de l’espace aérien malien: la France se dit protégée par des accords existants. Voa Afrique, 14.1.2022.

Melnik, C. (1994): Un espion dans le Ciecle. La diagonale du double (Non Fiction). Paris: Ed. Plon.

Nubukpo, K. (2016): Le Franc CFA est un outil de la servitude volontaire. Videointerview mit France24.

Nubukpo, K. et al. (Hrsg.) (2016): Sortir l’Afrique de la servitude monétaire. À qui profite le franc CFA? Paris: La Dispute.

Robert, M. (2014): Ministre de l’Afrique. Entretiens avec André Renault. Roubaix: Seuil.

Société Générale Guinée (o.J.): Histoire de la Guinée. Webseite.

Tambour (2021): 1 juillet 1962. Le 1er président Malien Modibo Keita retire de facto le Mali de la zone franc en créant le franc malien. Website, 1.7.2021.

Tognon, A. (2022): Mali. Un avion militaire allemand refoulé par le régime Goïta. La Nouvelle Tribune, 20.01.2022.

Vergès, F. (2018): Il faut décoloniser la francophonie. Interview bei France 24, 11.10.2018.

Dolly Afoumba ist Bildungsreferentin und Doktorandin im Fachbereich Neueste Geschichte an der Universität Marburg. Sie schreibt regelmäßig über (Neo-)Kolonialismus in der afrikanischen Wirtschafts-, Militär- und Währungspolitik.