Zementierte Ungleichheit

Zementierte Ungleichheit

Entwicklungshilfe, Kapitalismus und andere neokoloniale Abhängigkeiten

von Jasper A. Kiepe

Dieses Essay fasst Gedanken zur zementierten Ungleichheit in den neokolonialen Abhängigkeiten des Globalen Südens vom Globalen Norden zusammen, versucht ein kurzes, aber differenziertes Bild auf das System globaler Finanz- und Wirtschaftskontrolle und die sogenannte »Entwicklungszusammenarbeit« zu werfen und stellt die Frage, wer im postkolonialen Diskurs sprechen darf und wer gehört wird. Wie und von wem können Regierungen und Kreditgeber zur Rechenschaft gezogen werden und wie kann dies helfen, neokoloniale Verhältnisse zu verändern?

Neokolonialismus verstehe ich im Sinne von Kwame Nkrumahs Definition und nach Mark Langan als die Fortsetzung externer Kontrolle, insbesondere über Länder Afrikas, durch neue und subtilere Methoden (nach Langan 2018, S. 4; vgl. auch Weber in dieser Ausgabe, S. 28). Nkrumah warnt vor den potenziell regressiven Auswirkungen von unregulierten Formen der Hilfe, des Handels und ausländischer Direktinvestitionen auf die Armutsbekämpfung und das Wohlergehen in den afrikanischen Ländern. Langan stellt fest, dass dies nicht Korruption, Nepotismus oder Verstöße gegen die Menschenrechte von lokalen Eliten ausschließt. Im Gegenteil, wir müssen Fälle von schlechter Regierungsführung feststellen und kontextualisieren, um zu beleuchten, wie externe Geberorganisationen und Unternehmen solche Handlungen oft ermöglichen (und fördern), um lukrative wirtschaftliche Vereinbarungen zu erhalten. Nkrumah unterscheidet zwei Formen neokolonialer Intervention – bi- und multilaterale »Spenden« oder »Entwicklungshilfe« auf der einen und wirtschaftliche Investitionen auf der anderen Seite –, wobei ich mich in diesem Beitrag vor allem auf die sogenannte institutionelle Unterstützung durch supranationale Organisationen beziehe. So kommen die Systeme globaler Finanz- und Wirtschaftskontrolle in den Blick.

Entwicklung und Abhängigkeit in Theorie und Praxis

Internationale Organisationen der Finanz- und Geldpolitik, wie der Internationale Währungsfonds (IMF), sowie diverse kleinere und mittlere Entwicklungsbanken (u.a. KfW, EIB, EBRD) haben über Jahrzehnte hinweg Kredite an die Länder des Globalen Südens vergeben. Die schiere Summe lässt sich am Beispiel des IMF für einen Einjahreszeitraum gut illustrieren: Zwischen 2019 und 2020 flossen hier mehr als 165 Mrd. US$ an 83 Länder (IMF 2020, S. 28). Die Kreditvergaben der anderen Institutionen kommen hier noch ergänzend hinzu. Die Art der Kreditvergabe unterscheidet sich auch maßgeblich. Während beispielsweise die Weltbank vor allem spezifische Projekte finanziert, unterstützt der IMF Staaten direkt, die dann die lokale Kreditvergabe selbst verwalten und gestalten.

Spätestens seit dem Prozess der Paris-Declaration für Hilfsgelder und deren Vergabe (OECD 2005) werden diese Gelder beinahe ausschließlich an die jeweiligen nationalen Regierungen gegeben. Dies wurde entschieden, um dem Wortlaut nach einerseits Effizienz der Maßnahmen durch lokale Teilhabe zu erhöhen, und andererseits um rechtsstaatliche Rechenschaftsmechanismen, Transparenz und Kontrolle in den jeweiligen Ländern zu stärken. In der Praxis bedeutet dies, dass Kredite vergeben werden, um Regierungen bei einem Reformprozess, bei der Umsetzung nationaler Entwicklungspläne oder bei der Entwicklung von Infrastruktur zu unterstützen, für die die jeweilige Regierung anderweitig kein Budget zur Verfügung hätte.

Hieraus ergibt sich eine Vielzahl von Abhängigkeiten, die die »zementierte Ungleichheit« verdeutlichen. Diese beinhalten allem voran die Abhängigkeit mancher Staaten von Fördergeldern und Krediten und den daraus resultierenden Einfluss der Förderinstitutionen auf Regierungsführung und »Policy« (Langan 2015). Dieser Einfluss gibt Spendenorganisationen und Ländern eine enorme Hebelkraft auf die Exekutive eines souveränen Staates, die fundamentale Kontrollfunktionen außer Kraft setzen kann (siehe z. B. Oxfam 2021). Hierzu können Veruntreuung und Korruption kommen – oft auf der Seite der Empfängerstaaten –, die nur schwer zu verfolgen sind. Organisationen wie der IMF haben sich in den letzten Jahren angestrengt, Veruntreuung von Geldern vorzubeugen und dies wird zunehmend von unabhängigen Organisationen verfolgt (Transparency International 2018).

Eine Abhängigkeit eines Staates und seiner Institutionen von Investitionen ergibt sich, wenn anderweitig wenig Investitionskapital zur Verfügung steht. Hohe Staatsverschuldung ist dann eine natürliche Konsequenz dieser Wirtschaftsordnung. Nach Jahrzehnten des Kreditvergabewesens in die Staaten des Globalen Südens sind folglich wirtschaftliche Abhängigkeiten und Verschuldungen gegenüber Institutionen des Globalen Nordens entstanden, deren Politik und Handeln wiederum entgegen aller anderslautenden Neutralitätsbekundungen sehr wohl von der jeweiligen politischen Agenda der Geberländer dominiert wird. „In der Zwischenzeit haben sich die Veränderungen der relativen Preise, die im Mittelpunkt der […] Strukturanpassungsprogramme stehen, ungeachtet ihrer Vorzüge als unzureichend erwiesen, um nachhaltiges Wachstum und Entwicklung zu schaffen“, schrieb der südafrikanische Politologe Rod Alence schon 2004 (Ebd., S. 163). Seitdem diese Kritiken immer lauter wurden, haben sich die internationalen Organisationen des Bretton-Woods-Systems bemüht, ihre Programme durch stärkere lokale Teilhabe zu verändern, die Unabhängigkeit der Nationalbanken zu fördern und die Nachprüfung und Nachverfolgung der Mittelverwendungen zu verbessern, um dadurch die Effizienz der Entwicklungszusammenarbeit zu erhöhen (Reinsberg, Kern und Rau-Göhring 2021).

Wer spricht, wer wird gehört?

Gleichzeitig erübrigen diese Policy-Veränderungen und die Debatte über die Effektivität von Entwicklungszusammenarbeit nicht einen Dialog darüber, wer am Ende des Tages profitiert, und mehr noch, wer eigentlich darüber sprechen darf (und wer nicht, siehe Spivak 1988). So hart die Kritik an Strukturanpassungsprogrammen und finanzieller Unterstützung/Kreditvergabe aus einer theoretischen Betrachtung sein kann, die oftmals in den komfortablen Hörsälen der Universitäten des Globalen Nordens angestellt wird, so darf doch gleichzeitig nicht vergessen werden, dass manche dieser strukturellen Entwicklungsprogramme zumindest kurzfristig für viele Menschen etwas zum Positiven verändern können, insbesondere im Bereich der grundlegenden Menschenrechte und der »menschlichen Sicherheit«. Dies bedeutet nicht, den negativen Konsequenzen oder strukturellen, systemischen Problemen den Rücken zuzuwenden, aber es anerkennt die Realität einer kurzfristigen Situationsverbesserung. Deshalb ist eine kritische, postkoloniale Diskussion über diese »Zusammenarbeit« wichtig – ob sie effektiv ist oder nicht und wer am Ende daran profitiert. Dies beinhaltet eine kritische Betrachtung davon, wer in diesem Verhältnis Akteur und wer Statist ist und ob derartige »Unterstützung« perspektivisch weiter existieren sollte. Nicht zuletzt stellt es die Frage danach, wie Kreditvergabe und internationale »Hilfe« effektiver, mit stärkerer Teilhabe des Globalen Südens und funktionierenden Systemen der Rechenschaft gehandhabt werden könnte.

Was in der Behandlung dieser Herausforderungen als Problem sichtbar wird, ist, wessen Stimmen in den Debatten zu Wort kommen, Gehör finden und auch zu materiellen Konsequenzen führen. Werden denn die Stimmen der Menschen des Globalen Südens gehört, die eigentlich selbst über ihre Politik, Wirtschaft und Reformen entscheiden sollten?

Es muss kritisiert werden, dass dies traditionell ein Dialog ist, der im Globalen Norden von Menschen des Globalen Nordens über den Globalen Süden, oder mit wenig Teilhabe lokaler Eliten geführt wird. Dies ist an sich schon ein neokolonialer Akt und verwerflich, weil es bedrohliche Erinnerungen an die verbrecherischen Diskurse der europäischen Kolonialmächte weckt, die die Welt erst in Kolonialmächte und Kolonien aufgeteilt haben. Auch Entwicklungszusammenarbeit wirft Fragen auf – z. B. ob wirklich »zusammengearbeitet« wird, oder ob es sich nicht vielmehr um ein einseitiges Machtverhältnis handelt.

Gleichzeitig sind die Kritiken von Akademiker*innen und Practitioners aus allen Regionen nicht immer repräsentativ. Es gilt wieder einmal das Privileg, sprechen »zu dürfen« – und dies gibt vielleicht berechtigt kritischen Geistern viel Raum, wenngleich die eigentlichen Rezipient*innen entwicklungspolitischer Zusammenarbeit, die immer noch zu oft in den marginalisierten Randregionen des Globalen Südens leben, keine Stimme in diesem Diskurs haben. In Bezug auf Entwicklungszusammenarbeit, die sehr vielseitig, manchmal bestimmt nicht effektiv ist, und die viele negative Folgen haben kann, wird häufig vergessen, wie schlecht es vielen Menschen immer noch geht. Dies beinhaltet, wie wenig inklusiv das kapitalistische System auf globaler und lokaler Ebene ist und wie viele Katastrophen und Konflikte es zuzüglich der systembedingten globalen ökonomischen Ungerechtigkeiten gibt. Es bleibt die Frage, wie man die Stimme der Unterrepräsentierten hörbar machen könnte – Demokratisierung und eine erhöhte diskursive Teilhabe der Durchschnittsbevölkerung wären vielleicht Antworten, und eine, die von der Entwicklungsagenda des Globalen Nordens verfolgt wird, die aber zugleich eine normative, koloniale Zuschreibung bleibt.

Hier ergibt sich ein Dilemma, weil zwar Teilhabe durch Entscheidung und Kontrolle bei den kreditbegünstigten Ländern durch demokratische Ordnung erhöht würden, sich gleichzeitig die supranationalen Geberorganisationen jedoch der Kontrolle entziehen und „Zentren politischer Entscheidungsfindung weit weg von öffentlichem Einfluss jeglicher Art“ sind (Fischer 2019, S. 566), in denen Technokrat*innen die Entscheidungen treffen. Zugespitzt könnte argumentiert werden, dass diese Abhängigkeiten kapitalistische Kontrolle über lokale Märkte begünstigen und dies würde nicht funktionieren in Ländern mit starken eigenen Kontrollinstitutionen (vgl. Goldsmith, 2002).

Dieses System bedingt, dass es für Menschen des Globalen Südens oftmals eine Zwangssituation erzeugt, bei der die Frage am Ende nur »friss oder stirb« ist – und auch dies weckt beunruhigende Erinnerungen an koloniale Gewalt. Man könnte argumentieren, dass manche Staaten des Globalen Südens noch nicht bereit sind, ohne »Hilfe« des Globalen Nordens auszukommen. Dies beinhaltet einen subversiven und zutiefst anmaßenden Gewalt­akt, der zwangsläufig in antiquierten Parolen im Sinne von „die sind nicht bereit, wir müssen ihnen helfen“ mündet. Doch die Tatsache, dass Staaten unterschiedlich weit entwickelt sind, ist schon das Ergebnis kolonialer Gewalt und Ausbeutung.

Internationale Maßstäbe und die Realität

Organisationen zwingen Gelder nicht auf, auch wenn im postkolonialen Dialog argumentiert werden könnte, dass die Länder des Globalen Südens oft eigentlich keine Wahl haben. Es sind oftmals die Regierungen, die sich – nicht zuletzt aufgrund eigener Verdienstmöglichkeiten – gerne diese Gelder nehmen. Hier ist Vorsicht geboten: Es klingt das Klischee der kleptokratischen Eliten des Globalen Südens an, das zu oft (aber nicht immer) zutrifft. Gleichzeitig sind Regierungen die Hände gebunden, weil das benötigte Kapital für existentielle Reformen zuhause oft nicht zur Verfügung steht, und weil die Regierungen aufgrund der systemisch fehlenden Kontrolle über die eigene Volkswirtschaft und über die eigenen Ressourcen häufig wenig Spielraum haben. Hier liegt das eigentliche Problem der »kolonialen Geister« – dass sich eine Welt mit wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeiten verselbstständigt hat, die durch das koloniale Projekt geschaffen wurde und die dem Globalen Süden eine DNA der kapitalistischen (Selbst-)Ausbeutung bis heute zwangsverordnet. Internationale Währungs- und Handels­organisationen sind hierbei nicht die Ursache einer neokolonialen Wirtschaftsordnung im Globalen Süden, sondern ein Symptom davon.

Die Frage nach dem Neokolonialismus in Bezug auf internationale Organisationen ist eigentlich keine Frage nach diesen Organisationen, sondern eine Frage nach den Prämissen unserer Welt und unseres Lebens. Am Ende des Tages ist die Feststellung, dass bestimmte Institutionen »neokolonial« sind oder neokoloniale Politik verfolgen, nicht falsch – aber die Feststellung ist weder überraschend noch direkt verurteilbar.

Insgesamt geht es nicht darum, per se die Zuwendungen abzuschaffen, sondern darum, die (kapitalistischen) Prämissen zu verändern. Es geht darum, einen kritischen Diskurs zu führen, der zwei Ziele verfolgt: zunächst Rechenschaft zu stärken, bei Geber­ländern und Organisationen, aber auch in Empfängerländern. Menschen und Systeme müssen in ihrer Unabhängigkeit gestärkt werden, damit die eigenen Regierungen zur Rechenschaft gezogen werden können für Kredite und Reformen, und damit die Frage gestellt werden kann, ob vielleicht in der Zukunft weitere Kredite überhaupt noch nötig sind. Das zweite Ziel sollte sein, den Dialog zu stärken und Raum zu schaffen, um einem repräsentativeren Publikum des Globalen Südens die Entscheidung über seine eigene Politik zu überlassen. Dies würde auch beinhalten, bei den Entscheidungsträger*innen zu diversifizieren und dafür zu sorgen, dass der Globale Süden bei den Geldgebern hinreichend repräsentiert ist. Nur eine Veränderung dieser grundlegenden politischen Prämissen kann die zementierte Ungleichheit zu überwinden beginnen.

Literatur

Alence, R. (2004): Political institutions and developmental governance in Sub-Saharan Africa. The Journal of Modern African Studies 42(2), S. 163–187.

Ayogu, M. (2019): International trade and capital flight from Africa: Challenges for governance. PERI Working paper. Amherst: University of Massachusetts.

Fischer, A.M. (2019): On the origins and legacies of really existing capitalism: In conversation with Kari Polanyi Levitt. Development and Change 50(2), S. 542-572.

Goldsmith, E. (2002): Development as colonialism. World Affairs: The Journal of International Issues 6(2), S. 18-36.

IMF (2020): Annual Report 2020. A year like no other.imf.org/AR2020

Langan, M. (2015): Budget support and Africa–European Union relations: Free market reform and neo-colonialism? European Journal of International Relations 21(1), S. 101-121.

Langan, M. (2018): Neo-colonialism and the poverty of ‘development’ in Africa. London: Palgrave Macmillan.

McVeigh, K. (2017): World is plundering Africa’s wealth of ‘billions of dollars a year’. The Guardian, 24.07.2017.

OECD (2005): Paris declaration on aid effectiveness. Paris: OECD Publishing.

Oxfam (2021): Adding fuel to the fire. How IMF demands for austerity will drive up inequality worldwide. Oxfam briefing paper. August 2021.

Reinsberg, B., Kern, A. und Rau-Göhring, M. (2021): The political economy of IMF conditionality and central bank independence. European Journal of Political Economy, 68, 101987.

Spivak, G. C. (1988): Can the Subaltern speak? In: Nelson, C.; Grossberg, L. (Hrsg.), Marxism and the Interpretation of Culture. Champaign: University of Illinois Press, S. 271-313.

Transparency International (2018): The new IMF anti-corruption framework: 3 things we’ll be looking for a year from now. Transparency.org, 27.04.2018.

World Bank (o. J.): Sub-Saharan Africa trade statistics: exports, imports, products, tariffs, GDP and related development indicators.wits.worldbank.org/CountryProfile/en/SSF.

Jasper A. Kiepe arbeitet zu gesamtheitlichen, postkolonialen, lokalen und intersektionalen Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung.

Der Preis der Energiewende

Der Preis der Energiewende

Koloniale Machtgefüge und die Kohlemine »El Cerrejón« in Kolumbien

von Theresa Bachmann

Weltgeschichtlich betrachtet ist die Zeit der Kolonialreiche längst vorbei. De facto aber prägen neokoloniale Beziehungsmuster bis heute die Beziehungen zwischen Staaten und Konzernen aus dem sogenannten Globalen Norden und dem Globalen Süden. Ausgehend von Überlegungen kritischer Intellektueller des Globalen Südens zur Rolle von Kolonialität im globalen Machtgefüge, zeigt dieser Beitrag am Beispiel der Cerrejón-Mine auf, welch hohen Preis Kolumbien für Deutschlands Energiesicherheit bezahlt.

Der bereits eingeleitete Ausstieg aus Atom- und Kohlestrom ist ein zentraler Bestandteil von Deutschlands Energiewende. Während die stärkere Förderung erneuerbarer Energien alternativlos ist, muss gleichzeitig jedoch auch die Energiesicherheit gewährleistet werden. In der aktuellen Übergangsphase heißt das, dass eine geringe Stromproduktion durch deutsche Windkraftanlagen durch vermehrte Importe, beispielsweise von französischem Atom- oder polnischem Kohlestrom, kompensiert wird. In einer zunehmend globalisierten Welt bleibt Deutschlands Energiemix also nicht ohne Folgen für und in anderen Staaten. Diese Verflechtungen spielen zwar in der öffentlichen Debatte in Deutschland zumeist nur eine untergeordnete Rolle, sind aber zum Teil gerade deswegen sozial-ökologisch, ökonomisch wie politisch besonders problematisch. Der globale Abbau und Handel mit Kohle zu Stromgewinnungszwecken ist diesbezüglich ein Paradebeispiel.

Obwohl in Deutschland der Steinkohleabbau bereits beendet wurde, stammt ein signifikanter Anteil in Deutschland verbrauchten Stroms weiterhin aus Steinkohle. Angaben des Vereins der Kohlen­importeure (VDKi 2022) zufolge, betrug dieser 2021 ca. 8,6 % am gesamten Primärenergieverbrauch. Die dafür notwendigen Kohleimporte steigerten sich allein im letzten Jahr um 24,5 % – das entspricht einer Menge von 7,2 Mio. Tonnen – auf insgesamt 39 Mio. Tonnen (Ibid.). Während in Deutschland intensiviert über einen früheren Kohleausstieg diskutiert wird, wird dabei kaum thematisiert, dass dasselbe Deutschland seit Jahren mit großem Abstand größter Steinkohleimporteur Europas ist. Die Steinkohle wird dabei nicht nur aus Australien oder den USA eingekauft, sondern auch aus Südafrika und Kolumbien, wo niedrigere Förderstandards mit großen Umweltschäden sowie zum Teil schwersten Menschenrechtsverletzungen in direktem Zusammenhang mit dem Export von Kohle stehen. So werden in Förderregionen lebende Gemeinschaften vertrieben, von der Wasserversorgung abgeschnitten, Proteste kriminalisiert sowie Gegner*innen aktiv mundtot gemacht. Selektive Gewalt in Form von gezielten Tötungen von Umwelt- und Menschenrechtsaktivist*innen erreicht – global gesehen – derzeit einen traurigen Höchststand. Global Witness (2020) beschreibt die Lage in Kolumbien, Zentralamerika und den Philippinen, gerade für die indigene Bevölkerung, als besonders prekär. Nichtsdestotrotz beziehen Deutschlands fünf größte Stromversorger allesamt auch Kohle aus Kolumbien.

Neokolonialismus und globale Machtgefüge

Auf dem Höhepunkt der »Dekolonisierung«, während immer mehr Staaten formal ihre Unabhängigkeit erlangten, wies Ghanas Unabhängigkeitsheld Kwame Nkrumah bereits auf die reale Möglichkeit des Neokolonialismus hin. In seinen Worten ist die „Essenz des Neokolonialismus, dass der Staat, der ihm unterworfen ist, theoretisch unabhängig ist und nach außen hin internationale Souveränität genießt. Praktisch jedoch ist sein ökonomisches System und damit einhergehend seine Politik von außen gesteuert“ (Nkrumah 1963: ix). Für Nkrumah sind die Regierungen neokolonial regierter Staaten dabei nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems, da sie „ihre Autorität zum Regieren von der Unterstützung ihrer neokolonialen Vorgesetzten ableiten. Sie haben daher nur wenig Interesse daran, […] Schritte jedweder Art einzuleiten, die koloniale Handelsbeziehungen herausfordern würden“ (Ibid., S. 1). Wenngleich die Hochphase der Kolonialreiche weltgeschichtlich passé ist, so setzen sich koloniale Beziehungsmuster – mit denselben, klar definierten Gewinner*innen und Verlierer*innen – demnach bis in die Gegenwart fort.

Die Auseinandersetzung mit dem Konzept des Neokolonialismus galt in akademischen Kreisen lange Zeit als marxistisch und nicht zeitgemäß. Manche assoziierten Neokolonialismus „mit modernen Tyrannen wie Robert Mugabe, die das Konzept in ihren politischen Diskurs eingebunden haben. Und für viele wird es zu Unrecht als dreistes polemisches Mittel angesehen, um den „Westen“ für die anhaltende Misswirtschaft afrikanischer Eliten verantwortlich zu machen“ (Langan 2018, S. 4). Nichtsdestotrotz erscheinen Überlegungen wie die oben dargelegten angesichts der politischen und ökonomischen Realität in weiten Teilen des Erdballs hoch relevant und haben daher in den letzten Jahren zu einem klaren Umschwung beigetragen.

In Anbetracht der Thematik dieses Beitrages1 ist dabei die intellektuelle Arbeit im sogenannten Globalen Süden besonders hervorzuheben: Lange bevor sich kritische Forschende in Universitäten des Globalen Nordens verstärkt post- und dekolonialen Theorien zuwandten, dekonstruierten zahlreiche Denker*innen weit über den afrikanischen Kontext hinaus anhaltende koloniale Kontinuitäten. An dependenztheoretische Arbeiten anknüpfend, ist für Lateinamerika in diesem Zusammenhang insbesondere die interdisziplinäre Forschungsgruppe »Modernität/Kolonialität« von Bedeutung. Den ihr angehörenden Autor*innen zufolge kann das Phänomen scheinbar universeller Formeln wie »Modernität« und »Fortschritt« nicht „ohne Bezugnahme auf die damit einhergehenden Kolonialität von Macht sowie die Marginalisierung von Kulturen und Wissen subalterner Gruppen“ (Escobar 2008, S. 181) verstanden werden. Das global aktuell dominierende Machtgefüge entsteht dem peruanischen Soziologen Aníbal Quijano (2019, S. 1) zufolge aus dem Zusammenspiel von: „1) der Kolonialität der Macht, d. h. die Idee von „Rasse“ als universeller Grundlage sozialer Klassifizierung und Herrschaft; 2) Kapitalismus als universelle[m] Muster sozialer Ausbeutung; 3) dem Staat als universeller, zentraler Kontrollinstanz kollektiver Autorität und dem modernen Nationalstaat als seiner hegemonialen Variante; 4) dem Eurozentrismus als besondere[r] Form der Wissensproduktion.“ Die im lateinamerikanischen Fall zumeist von europäischstämmigen, weißen Eliten vorangetriebenen Unabhängigkeitsbestrebungen von den Mutterländern ist dabei nicht als Bruch zu verstehen, da diese nicht mit einer „Dekolonisierung der Gesellschaft einhergingen (Quijano 2019, S. 34). Stattdessen veränderten diese lediglich die institutionellen Grundlagen, auf Basis derer sich Macht innerhalb und zwischen Staaten ungleich verteilt und Gesellschaften, Wirtschaften und Politik prägt.

Eine Einordnung am Beispiel von »El Cerrejón«

Die konkreten Wirkungsmechanismen und die Auswirkungen dieses Machtgefüges werden mit Blick auf Kolumbiens Kohlesektor im Allgemeinen und den Fall »El Cerrejón« im Besonderen schnell sichtbar. Seit Kolonialtagen ist der Abbau und Export von natürlichen Rohstoffen eine tragende Säule der kolumbianischen Wirtschaft. Bedingt durch stark ansteigende Weltmarktpreise, nahm der Abbau und die wirtschaftliche Relevanz von Rohstoffexporten Anfang des Jahrtausends weiter zu. Wurden zu Beginn der 1980er Jahre noch weniger als 5 Mio. Tonnen Kohle jährlich abgebaut, so stieg die Fördermenge zwischen 2010 und 2020 auf jährliche 80 bis 91 Mio. Tonnen (Urrego 2021). Der weitaus größte Teil wird dabei in den beiden nördlichen Bundesstaaten La Guajira und Cesar abgebaut, wo ausländische Bergbauunternehmen einige der größten Kohleminen weltweit betreiben und von dort aus in die ganze Welt verschiffen.2 Alle kolumbianischen Regierungen der letzten Jahrzehnte haben diese Entwicklung explizit gefördert. So wird in den nationalen Entwicklungsplänen das durch die sogenannte »Bergbau-Energie-Lokomotive« erzielte wirtschaftliche Wachstum und damit einhergehende Staatseinnahmen als zentral für die Reduzierung von Armut und Ungleichheit dargestellt.

Die Lebensrealität vieler Kolumbianer*innen widerspricht dieser Argumentation. Trotz konstantem ökonomischem Wachstum seit 2000 lebt mindestens ein Drittel der Bevölkerung in Armut, mit stark ansteigender Tendenz und verschärft durch die Effekte der Covid-19-Pandemie. Gerade die Regionen, in denen die meisten natürlichen Reichtümer liegen, sind besonders stark betroffen. Besonders extrem ist die Lage in dem bereits genannten La Guajira, wo 63 % der Bevölkerung in Armut lebt und rund ein Viertel in extremer Armut. Die Lage der indigenen Bevölkerung der Wayúu – die rund 45 % der Bevölkerung La Guajiras ausmacht – ist noch prekärer: Allein zwischen 2010 und 2018 verhungerten ca. 5.000 Kinder unter 5 Jahren, die meisten davon Wayúus (Guerrero 2018). Die an der Grenze zu Venezuela gelegenen Halbinsel La Guajira ist zu 97 % von Wüste bedeckt. Seit 1983 beherbergt sie den größten Kohletagebau Lateinamerikas. Bis zuletzt wurde die gemeinhin nur als »El Cerrejón« bekannte Mine vom schweizerischen Konzern Glencore, dem britischen BHP und dem US-Konzern Anglo American betrieben.3

Die Geschichte El Cerrejóns liest sich bis dato wie eine Chronologie der Gewalt und Straflosigkeit. Mehrere tausend Menschen und Gemeinden wurden aus dem »Kohlekorridor« zwangsumgesiedelt bzw. vertrieben. Den damit einhergehenden Verpflichtungen, beispielsweise für adäquaten Ersatz zu sorgen, kamen weder Betreiber noch staatliche Behörden nach. Während die Mine in einer der trockensten Regionen des Landes täglich 24 Mio. Liter Wasser verbraucht bzw. verschmutzt, wird der Zugang zu Wasser für die Bevölkerung immer schwieriger. Trotz gerichtlicher Verbote wurden seit 2016 Teile der letzten für die Bevölkerung noch zugänglichen Wasserzuflüsse zugunsten der Mine umgeleitet. Eine durch den Klimawandel begünstigte Dürre hat die humanitäre Krise in den letzten Jahren weiter verschärft und Befürchtungen eines Ethnozids sowie eines Ökozids an den Wayúus und mehreren afrokolumbianischen Gemeinschaften geweckt. Deren Rechte sind durch die kolumbianische Verfassung und die ILO-Konvention 169 eigentlich besonders gut geschützt, doch wurden diese seit Inbetriebnahme missachtet und entsprechende Gerichtsurteile nicht oder nur stark verzögert umgesetzt. Mittlerweile 14 Gerichtsurteile (Stand: 25. Januar 2022) bestätigen den Betroffenen allesamt, dass u.a. ihre territorialen Rechte, ihr Recht auf Wasser und auf Gesundheit durch El Cerrejón verletzt werden und damit drohen, ihren angestammten Lebensraum unbewohnbar zu machen.

Betroffene und ihre Unterstützer*innen leisten seit Jahren Widerstand. Angesichts miserabler Arbeitsbedingungen solidarisierten sich zuletzt auch Minenarbeiter*innen mit ihnen. Dennoch zieht sich die Kriminalisierung von Protest und Repression wie ein roter Faden durch die Geschichte El Cerrejóns. In Einklang mit Kwame Nkrumahs Befürchtungen, ist das Handeln des kolumbianischen Staates für die Betroffenen nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems, da dieser gemeinsame Sache mit den Betreibern macht. Häufig zeichnen Armee und Polizei für gewaltsame Räumungen und Vertreibungen verantwortlich. Lokale Armeeeinheiten werden durch die Minenbetreiber direkt mit Lebensmitteln und Logistik unterstützt. Anwohner*innen wurden in der Vergangenheit durch den Konzern zudem Subventionen aus staatlichen Kompensationsprogrammen angeboten, der behauptete, diese Mittel stammten aus seinen eigenen Entschädigungszahlungen an den kolumbianischen Staat. Die Vorzugsbehandlung der El Cerrejón-Betreiber durch den Staat wird auch durch eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung des australischen Centre for International Corporate Tax Accountability and Research (CICTAR) (2021) belegt, die aufdeckt, dass Glencore in Kolumbien so drastische Steuernachlässe gewährt bekommt, dass das Unternehmen nahezu zum Nulltarif die Reichtümer La Guajiras ausbeuten darf. Gleichzeitig müssen die Anführer*innen der Proteste mit Bedrohungen, Verschwindenlassen oder ihrer gezielten Ermordung rechnen. Oft genug sind dafür direkt Paramilitärs zu verantworten, zu denen sowohl Minenbetreiber als auch der Staat zweifelhafte Kontakte pfleg(t)en.

Fazit

Seit Jahrhunderten bestehende Machtgefälle und „weiße Privilegien“ (Escobar 2008, S. 38) werden im Namen von »Globalisierung« und »Fortschritt« weiter zementiert. Nicht nur in Kolumbien, weltweit wird diese neokoloniale Ordnung mithilfe von Gewalt durchgesetzt. Mitnichten eine veraltete, marxistische Debatte, beeinflussen in der Kolonialzeit entstandene Beziehungsgefüge weiterhin Politik, Wirtschaft und Gesellschaften und konsolidieren die dramatische Ungleichheit zwischen Gewinner*innen und Verlierer*innen dieses globalen Systems. Unwissenheit und/oder Ignoranz kann dieses System durchaus begünstigen, wie das El Cerrejón-Beispiel zeigt. Obwohl die Vorgänge in der Region sehr gut dokumentiert und international bekannt sind, gibt es in Deutschland, der Schweiz und anderen Staaten, wo die zu Strom verarbeitete kolumbianische Kohle verbraucht wird, nur wenig substantiellen öffentlichen Druck, diese Kohle nicht mehr zu importieren. Dies ermöglicht die aktuelle paradoxe Situation, in der in Deutschland im Rahmen der Energiewende möglicherweise der vorgezogene Kohleausstieg bis 2030 durchgesetzt wird, während durch die dadurch steigende Nachfrage nach Kohle in Kolumbien und anderswo mehr Umweltschäden, Treibhausgasemissionen und Menschenrechtsverletzungen verursacht werden: „Das ist globale Kolonialität in ihrem unmittelbarsten Sinne“ (Escobar 2008, S. 38).

Anmerkungen

1) Viele der hier zitierten Autor*innen weisen in ihrer Arbeit auch auf die geopolitische Dimension von Wissen und seiner Produktion hin (s. folgender Absatz). Die »Kolonialität des Wissens« drückt sich demnach u. a. darin aus, dass global als relevant betrachtetes Wissen sowie die Art, es zu produzieren, bis heute ausschließlich in Zentren des Weltsystems definiert und hervorgebracht wird, während die Peripherien des Globalen Südens lediglich Forschungsobjekt oder Empfänger*innen von Wissen sind.

2) Ungefähr 95 % der in Kolumbien geförderten Kohle wird exportiert.

3) Seit Januar 2022 ist Glencore der einzige Betreiber.

Literatur

CICTAR (2021) Broke: Coal mining giant games global tax system. 26.10.2021. cictar.org/glencore.

Escobar, A. (2008): Territories of difference: Place, movements, life, redes. Durham/ London: Duke University Press.

Global Witness (2020): Defending tomorrow: The climate crisis and threats against land and environmental defenders. London: Global Witness.

Guerrero, S. (2018): “4.770 niños muertos en La Guajira es una barbarie”: Corte. El Heraldo, 15.10.2018.

Langan, M. (2018): Neo-colonialism and the poverty of ‘development’ in Africa. Cham: Palgrave Macmillan.

Nkrumah, K. (1963): Neo-colonialism: The last stage of imperialism. New York: International Publishers.

Quijano, A. (2019): Colonialidad del poder, eurocentrismo y América Latina. Espacio abierto, Vol. 28, Nr. 1, S. 260-301.

Urrego, A. (2021): Colombia ya es el tercer exportador de carbón coque y metalúrgico a nivel mundial. La República, 26.08.2021.

Verein der Kohlenimporteure (2022): Pressemitteilung 1/2022. Berlin, 14.01.2022.

Theresa Bachmann ist Doktorandin der Friedens- und Konfliktforschung an der University of Kent (GB). Im Rahmen ihrer Dissertation forscht sie zu Räumen der Bürger*innenbeteiligung im Kontext des aktuellen kolumbianischen Friedensprozesses.

Neokolonialismus genau betrachtet

Neokolonialismus genau betrachtet

Versuch einer umfassenderen Begriffsbestimmung

von Nicki K. Weber

Von Kwame Nkrumahs berühmter Analyse als letzter Stufe des Imperialismus über den Begriff des Eurozentrismus bis hin zu postkolonialer Kritik und den dekolonialen Theorien von »Kolonialität/Modernität« haben Begrifflichkeiten und »Theorien« des Neokolonialismus einige Wandlungen durchlebt. Dieser Beitrag versucht sich an einer genaueren Begriffsbestimmung und bietet Möglichkeiten des Anschlusses an heutige Gewalt- und Herrschaftskritik an, um das Feld konkurrierender Begrifflichkeiten zu sortieren.

Der Begriff des Neokolonialismus im Sinne von »neuem Kolonialismus« ist ein politischer Begriff, der sich (unter anderem) als beschreibend, wertend und konfliktiv begreifen lässt. Er beschreibt politische Praktiken (Diallo 2017, S. 194), die auf den in der Kolonialzeit gewachsenen Macht- und Herrschaftsverhältnissen basieren und diese auf der ökonomischen, soziokulturellen, militärischen und technologischen Ebene (vgl. All-African Peoples‘ Conference 2005) reproduzieren.

Als wertend kann der Begriff des Neokolonialismus aufgefasst werden, weil er als Zustandsbeschreibung auf die aus kolonialen Beziehungen gewachsene strukturelle Gewalt hinweist, der Individuen oder Gruppen (un-)mittelbar durch Fremdbestimmung ausgesetzt sind (Diallo 2017, S. 195f.). Konfliktiv hingegen ist der Begriff, weil er es ermöglicht, neokoloniale Praktiken auch im Alltag zu kritisieren, und versucht, Verantwortlichkeiten zu benennen.

Zwischen Fronten

Erste Beschreibungen neokolonialer Praktiken finden sich in der Abhandlung »Neo-Colonialism: The Last Stage of Imperialism« (vgl. Nkrumah 1966) des antikolonialen Widerstandskämpfers und späteren Präsidenten der Republik Ghana Kwame Nkrumah (1909-1972). Er stellte fest, dass die »neuen« afrikanische Staaten trotz der formalen Unabhängigkeit weiterhin in Abhängigkeitsverhältnisse verstrickt sind, die sich maßgeblich im Weltsystem widerspiegeln, das von neuen Hegemonialmächten wie den USA geprägt sei (Ashcroft, Griffiths und Tiffin, S. 178).

Mit dem Ende formaler Kolonialherrschaft Mitte des 20. Jahrhunderts stellte sich zunächst die Frage, wie sich die Beziehungen zwischen Kolonisierten und Kolonisatoren nach der Unabhängigkeit gestalten lassen. Angehende Super- und ehemalige Kolonialmächte bemühten sich um globalen Einfluss.

Die Härte des westlichen Kampfs um seinen Gestaltungsanspruch in den neuen Staaten Afrikas wird besonders an der Ermordung des damaligen Premierministers der Demokratischen Republik Kongo Patrice Lumumba deutlich, die der Stabilisierung belgisch-kongolesischer Beziehungen dienen sollte, um eine Orientierung an sozialistischen politischen Systemen zu verhindern (Van Reybrouck 2013, S. 364).

Verantwortungsdiffusion

Nkrumah argumentierte in seiner Abhandlung, dass die Akteure in den neokolonialen Beziehungen diffuser geworden seien. Neokoloniale Beziehungen können demnach zwischen ehemaligen Kolonien und Kolonialmächten bestehen. Diese Verhältnisse können sich aber auch verändern: So war nach der Unabhängigkeit Vietnams vor allem die Beziehung zu den USA prägend für das Land und weniger die Beziehung zur ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. Die Machtverhältnisse in Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank tragen zur diffusen Verantwortungssituation bei. Anders als im Kolonialismus können Kolonialisierte in neokolonialen Verhältnissen oft nicht »ihren« Kolonialisten direkt verantwortlich machen. Das mache den Neokolonialismus gefährlicher als den traditionellen Kolonialismus (Nkrumah 1966, S. x-xi). Diese unklare Herrschafts- und Gewaltausübung, der sich die afrikanischen unabhängigen Staaten ausgesetzt sahen, wurde durch die Fronten des globalen Systemkonflikts zwischen dem sogenannten »Ostblock« und dem »Westen« noch verkompliziert.

Die zentrale Frage, die sich den jetzt unabhängigen Staaten Afrikas stellte, war, wie man sich im Nebel der Verantwortung gegenüber den Ansprüchen angehender Supermächte und ehemaliger Kolonialmächte behaupten könnte. Die Frage der Verantwortung war nicht zuletzt auch deshalb schwierig zu klären, weil nicht nur exterritoriale Kräfte die informelle Herrschaft des Neokolonialismus ermöglichten, sondern auch die Eliten in den afrikanischen Ländern eine entscheidende Rolle spielten (vgl. Afoumba in dieser Ausgabe, S. 38).

Obgleich Nkrumah in seinem Definitionsversuch Neokolonialismus in erster Linie in eine kapitalismuskritische Tradition stellte, behandelt seine Analyse die neokolonialen Konflikte vor allem zwischen Staaten, weniger klassentheoretisch. Dabei verkennt er die Rolle innerstaatlicher Eliten (Ziai 2020, S. 129). Afrikanische Feminist*innen machten wiederholt darauf aufmerksam, dass der Einfluss multilateraler Organisationen auch aufgrund patriarchaler Verbindungen zwischen den (alten und neuen) Eliten ehemaliger Kolonialstaaten und -mächten ermöglicht wurde – zumeist zu Lasten von politischen, sozialen und demokratischen Rechten für Frauen (McFadden 2007, S. 42).

Optimist*innen und Pessimist*innen

Innerhalb dieser Eliten wurde (und wird bis heute) der Vorwurf des Neokolonialismus unterschiedlich bewertet. Die Positionen lassen sich in Optimist*innen, Pessimist*innen und ein Kontinuum, die Neutralist*innen, unterteilen (vgl. Mabe 2005).

Während die einen nach der formalen Unabhängigkeit dem Westen optimistisch gegenüberstanden und eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Dominanz als Notwendigkeit für die »Entwicklung« auf dem afrikanischen Kontinent anerkannten, waren andere nicht bereit, »afrikanische Werte« und wiedergewonnene Unabhängigkeiten angesichts der vor allem wirtschaftlichen Übermacht aufzugeben. Sie standen dem westlichen Einfluss pessimistisch gegenüber und sahen keine Möglichkeit, der Zäsur von Kolonialismus und transatlantischem Sklavenhandel allzu Zukunftsträchtiges abzugewinnen. Die Behauptung, (neo-)koloniale Einflüsse hätten insbesondere auf den Gebieten der Bildung und Wissenschaft »positive Modernisierungseffekte«, lehnten sie als »neokolonialistische Mystifikationen«1 ab und strebten nach Reparationen und der Anerkennung des Kolonialismus als System der Ausbeutung. Aus diesen Bestrebungen gingen die Bewegungen des Panafrikanismus und der Négritude hervor. Stand die frankophone Bewegung der Négritude (Senghor 1967) dafür ein, dass es trotz Kolonialisierung ein explizit afrikanisches Kulturschaffen gebe, das in Differenz zu Europa bewertet werden will, so versuchte der Panafrikanismus, maßgeblich angetrieben vom US-Bürgerrechtler und Soziologen W. E. B. Du Bois, die Überwindung des Rassismus als globale Herausforderung des 20. Jahrhunderts zu benennen. Rassismus und die damit verwobene koloniale Kontinuität wurden in ihren jeweiligen Ausdrucksformen einer neokolonialen Dominanzkultur unter anderem in den soziokulturellen, wirtschaftlichen und rechtlichen Strukturen kritisiert (McEachraen 2020, S. 233f.). So wurde deutlich, dass Rassismus nicht nur den Kolonialismus ideologisch legitimierte, sondern in unterschiedlichen Formen – als Abgrenzung zu »fremden Kulturen«, Nationen oder Religionen – fortwirkt. Der Begriff des Neokolonialismus diente diesen Bewegungen dazu, diese auch soziokulturell fortwirkende Dimension des Kolonialismus zu adressieren.

Neokolonialismus, Neoimperialismus, Neoliberalismus

Drei Begrifflichkeiten werden immer wieder miteinander in Verbindung gebracht: Neokolonialismus, Neoimperialismus und Neoliberalismus. In der Fachliteratur fallen die Begriffe des Neokolonialismus und Neoimperialismus des Öfteren zusammen (Ashcroft, Griffiths und Tiffin 2013, S. 179). Nicht zuletzt die Definition des neuen Kolonialismus als letzte Stufe des Imperialismus formulierte Nkrumah in Rekurs auf Lenins marxistische Interpretation des Imperialismus als kapitalistischem Phänomen (Ziai 2020, S. 129) mit dem Ziel der Etablierung einer globalen hierarchischen Wirtschaftsstruktur. Im Allgemeinen lässt sich eine vorsichtige Differenz herausarbeiten: Kolonialismus definiert sich unter anderem über die territoriale Fremdherrschaft, während Imperialismus einen Herrschaftsanspruch ohne direkte Kontrolle über ein Staatsgebiet meint (Conrad 2012, S. 3). Wie der Neokolonialismus funktioniert der Neoimperialismus über die diffuse Ausbreitung staatlichen Einflusses mittels der internationalen Währungsordnung mit der Etablierung der Bretton-Woods-Institutionen nach dem zweiten Weltkrieg. Beide Begriffe beziehen sich auf die Bedingungen einer Weltordnung, die in großen Teilen die informelle Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker in Kauf nimmt.

In diesem Zusammenhang steht nun der Neoliberalismus für deregulierte, globale Marktkonkurrenz, in der allen Dingen und Lebewesen nur über ihren Marktpreis ein Wert zugemessen wird. Imperialistische und koloniale Praktiken prägen so die Konkurrenz am Weltmarkt, der wiederum zum Nachtteil der »Entwicklungsländer« eingerichtet ist. Auch nicht-staatliche Akteure entziehen sich diesem Vorwurf nicht, da sie zumindest als der neoliberalen Ordnung kompatibel angesehen werden und den Interessen der Großmächte (wenn auch unbeabsichtigt) dienen (Hardt und Negri 2002, S. 324). Wie oben schon erwähnt wurde, sind daher für die Analyse neokolonialer Beziehungen direkte koloniale Vorbedingungen nicht notwendig bzw. erschöpft sich eine Kritik des Neokolonialismus nicht in diesen Beziehungen. Die Einbeziehung des Begriffs des Eurozentrismus als weiterer analytischer Schritt kann helfen, die diffuse Verantwortungslage besser zu beschreiben. Kolonialismus und Imperialismus sind ideologisch miteinander verbunden, weil beide davon ausgehen, dass für bestimmte Bevölkerungs- oder Kulturgruppen – wohlgemerkt zu ihrem eigenen Vorteil – Herrschaft erforderlich ist (Said 1994, S. 44).

Unter dem Einfluss des gegenwärtigen Eurozentrismus

Eurozentrismus, die (un-)bewusste Bewertung alles »Fremden« ausgehend von der eigenen, vorrangig westeuropäischen Positionierung, und Neokolonialismus gemeinsam zu betrachten ist deshalb hilfreich, weil so das der wirtschaftlichen und institutionellen Dominanz zugrunde liegende Verständnis eines überlegenen Westens und dem daraus abgeleiteten Führungsanspruch unterstrichen wird. Diese Phänomene lassen sich mit Achille Mbembe (vgl. Mbembe 2021) als »gegenwärtiger Eurozentrismus« auf den Begriff bringen. Dieser entsteht zum einen aus den kolonialen und imperialen Projekten und ihrer ideologischen Fundierung ab dem 19. Jahrhundert, sowie auf der dargestellten neokolonialen Fortführung nach dem zweiten Weltkrieg durch kapitalistische Ausbeutung und die Landnahme in »Entwicklungsländern« mit der Hilfe von ausländischen, privaten und staatlichen Investoren. Ein Beispiel ist das Interesse Frankreichs an den Uranvorkommen im Niger und die damit verbundene Ausbeutung lokaler Arbeitskräfte oder die US-amerikanischen Sicherheits- und Rohstoffinteressen im Sahel (vgl. Afoumba 2021). Neokoloniale Praktiken wie die Landnahme beschränken sich nicht nur auf Afrika, sondern werden auch aus den Reihen der Europäischen Union im asiatischen und lateinamerikanischen Ausland unterstützt (Borras et al. 2016).

Die Kritik an der Verknüpfung von Neokolonialismus und Eurozentrismus entfaltet sich entlang der Frage, ob auch ehemals vom europäischen Kolonialismus betroffene Weltregionen neokoloniale Praktiken entwickeln können. Hier wird beispielweise die Ressourcensicherung und »Entwicklungsarbeit« der Volksrepublik China in afrikanischen Staaten diskutiert. Eine solche »Übersetzung« des Prinzips neokolonialen Handelns ist aber zumindest umstritten (vgl. Schüller und Asche 2007), nicht zuletzt weil die VR China zwar nicht in eurozentristische Ordnungsvorstellungen eingebunden ist, jedoch von einem globalen Kapitalismus profitiert.

Ein »enger« und ein »weiter« Begriff

Jean-Paul Sartre teilte seine Analyse des neokolonialen Systems in Algerien in drei Bereiche auf, die die politischen Erfolge der Unabhängigkeit gefährdeten und auf denen sich neokolonialer Verhältnisse offenbaren: Ökonomie und Soziales sowie (Sozial-)Psychologisches (vgl. Sartre 1988, S. 15). Im Anschluss daran lässt sich der Neokolonialismus zusammenfassend auf einen »engen« und einen »weiten« Begriff bringen. Im engeren Sinne verweist Neokolonialismus auf Konflikte um wirtschaftliche Abhängigkeiten in einer globalisierten Welt, die die staatliche Souveränität beeinträchtigen und soziale Probleme befeuern. Im weiteren Sinne verweist Neokolonialismus auf (sozial-)psychologische Herausforderungen, die mit dem Zeitalter der Dekolonisation auftreten. Rassistische Diskriminierung, Deprivation und Exklusion von Personengruppen mit begrenzten politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Zugängen (hierfür wurde der Begriff der Subalternen geprägt), sind die Ergebnisse von Konstruktionen eines »Anderen« in neokolonialen Verhältnissen (vgl. Spivak 1985). Die wirtschaftliche Abhängigkeit ist demnach nur eine Seite des Neokolonialismus. Die andere, schwerer nachweisbare Seite stellt die kulturelle und epistemische Gewalt von Wissensverhältnissen dar, die unter anderem durch Sprache, Literatur, Wissenschaft und Medien wirkt und neokolonialen Praktiken Vorschub leistet (Ngũgĩ wa Thiong’o 1995, S. 70).

Theoretische Anschlussfähigkeit?!

Auch wenn dem Begriff des Neokolonialismus attestiert wird, ihm fehle eine kohärente Theorie (Ziai 2020, S. 129), ist er durchaus anschlussfähig, nicht zuletzt an post- und dekoloniale Theorien und Kritiken.

Das im antikolonialen Widerstand verwurzelte und maßgeblich von akademischen Migrant*innen in den USA und in Indien interdisziplinär entwickelte Feld der Postkolonialen Theorien zielt auf die Analyse und Dekonstruktion der im weiten Begriff des Neokolonialismus formulierten Phänomene ab: die kolonialen Kontinuitäten, deren asymmetrische Macht- und Wissensverhältnisse in sozialen und politischen Verhältnissen reproduziert und so stabilisiert werden. Zwar gebe es, so eine häufige Kritik, in postkolonialen Theorien ein Interesse an den Verflechtungen von Kolonialismus und Kapitalismus, doch werde die Bedeutung des Kapitalismus für den Kolonialismus in postkolonialer Theorie zu Gunsten eines kulturellen Fokus vernachlässigt (Hall 2013, S. 198f.). Der Begriff des Neokolonialismus hat das Potenzial diese Lücke zu schließen (Diallo 2017, S. 196) und materielle, geistig-kulturelle wie sprachliche Abhängigkeiten gemeinsam zu betrachten.

Ein breiteres Verständnis von Kolonialismus versuchen Texte rund um das Projekt »Modernidad/Colonialidad« zu gewinnen, das vor allem stark von Forscher*innen aus Lateinamerika vorangetrieben wurde. Dieser dekoloniale Theorieansatz versucht, die koloniale Situation asymmetrischer Machtverhältnisse als ein Grundmoment der Epoche der eurozentrische Moderne zu begreifen, die es letztlich mit nicht-europäischen, lokalen Erkenntnismethoden zu dekolonialisieren gilt. Die Kritik an der Moderne innerhalb dekolonialer Theorien wurde Ende der 1960er Jahren innerhalb der lateinamerikanischen Dependenztheorie aufgegriffen (Castro Varela do Mar/Dhawan 2020, S. 336). Deren im Vergleich zur postkolonialen Theorie allgemein als breiter verstandener Gegenstand umfasst die informelle und ökonomische Abhängigkeit der Peripheriestaaten von den »entwickelten« Industriestaaten und reflektiert stark die unter dem Begriff des Neokolonialismus formulierten Vorwürfe. Der dekoloniale Theorieansatz kann als theoretisch fundierter Nachfolger der Debatte um Neokolonialismus verstanden werden (Ziai 2020, S. 129), weil er den engen und weiten Begriff des Neokolonialismus gebündelt behandelt, ohne einen Begriff gegen den anderen zu sehr auszuspielen (vgl. am Beispiel des Friedensbegriffs den Beitrag von Pauls in dieser Ausgabe, S. 42).

Beispiele neokolonialer Strukturen und Verhaltensweisen

Unter dem Begriff des Neokolonialismus bekommen also aktuelle Strukturen und Verhalten asymmetrischer Macht- und Herrschaftsverhältnisse einen Namen, die als Langzeitfolgen von Kolonialismus und Imperialismus weiter präsent sind und mittels radikaler Deregulierung der Weltmärkte im Zeitalter der Globalisierung fortgesetzt werden. Die Verwendung und Verwendbarkeit dieser Begriffsbildung kann an zwei Beispielen kurz illustriert werden. Während der globalen Covid-19-Pandemie der letzten beiden Jahre und bei der Verteilung der im Westen entwickelten Impfstoffe wurde immer wieder auf neokoloniale Strukturen aufmerksam gemacht. Im Konflikt zwischen der Konzeption geistigen Eigentums, besonders hinsichtlich der Bedeutung von Eigentum als Grundprinzip liberaler Marktwirtschaft, und dem Menschenrecht auf Gesundheit offenbart sich der Neokolonialismus in seiner ganzen Breite. Die Behauptungen, das Wissen über Impfstoffe könne aufgrund von Eigentumsrechten und der innovativen »Kraft« liberalisierter Märkte nicht global geteilt werden und Länder ohne einen gewissen Industriestandard wären nicht in der Lage, Impfstoffe eigenständig zu produzieren und zu verteilen, sprechen hier eine deutliche Sprache (vgl. ECCHR 2020). Gerade im Kontext der Medizin ist ein kritisches Verständnis für die Rolle traditionellen Wissens und dessen Weiterentwicklung in den kolonialen »Laboren der Moderne« (Stoler und Cooper 1997) hoch aktuell. Es ist schwer, dieses hybride Wissen, das Ergebnis der gewaltvollen Verflechtung von Nord und Süd, als »westliches Eigentum« zu begreifen, welches nur in einem Akt der Güte geteilt werden »darf«.

Auch die Institution des Museums wird seit längerem stärker kolonialismuskritisch beleuchtet. Die Entscheidung, die Rückgabe kolonialer Raubkunst zu verzögern, gleicht einer Verweigerung, die ein neokoloniales Verhalten offenbart, das Bénédicte Savoy als »institutionelle Abwehr« bezeichnet (Savoy 2021, S. 195-199). Nicht zuletzt hinsichtlich der postkolonialen Herausforderung der Selbstbestimmung afrikanischer Kulturen und der Bedeutung von Kunstobjekten für Selbstbestimmung, offenbaren die Rechtfertigungen einer Verweigerung der Rückgabe ein neokoloniales Verhalten. Aus kriegerischen und kolonialen Kontexten geraubte Exponate sollten in den ethnologischen Museen Europas zu Forschungszwecken einerseits und andererseits zum Erhalt für zukünftige Generation verwahrt werden, so ein bekanntes Argument. Die Debatte über Restitution ist längst auch eine Kritik an neokoloniale Beziehungen, in deren Zentrum auch Frage nach einer neuen Ethik des globalen Austauschs steht. Diese zielt auch drauf ab, neokoloniale Fremdbestimmung zu vermeiden (vgl. zu dieser Frage auch Lwanzo in dieser Ausgabe, S. 46).

Zusammenfassung

Neokoloniale Konflikte können heute nicht mehr ausschließlich auf der Ebene demokratischer Wirtschaftsreformen zu Gunsten der Peripheriestaaten bearbeitet werden. Unter dem Begriff des Neokolonialismus werden Effekte und Phänomene adressiert, die in unterschiedlicher Ausprägung von post- sowie dekolonialen Theorieschulen seit geraumer Zeit behandelt werden. Diese Erkenntnisse machen es erforderlich, das Analysefeld asymmetrischer Macht- und Herrschaftsverhältnisse breiter zu interpretieren, um die gegenwärtigen Gewaltformen und ihre vielseitigen kolonialen und imperialistischen Ursprünge zu begreifen. Sie bilden die »andere Seite« einer von ökonomischen und ethischen Handlungsempfehlungen unserer von »Good Governance« geprägten, globalisierten Weltordnung. Die Gestaltung von Beziehung zwischen Gleichberechtigten steht vor immensen Herausforderungen, denen es in ihrer Komplexität zu begegnen gilt. Der Begriff des Neokolonialismus hat nicht nur das Potenzial, Schieflagen für die Bearbeitung offenzulegen, sondern kann auch die notwendige Irritation aufbringen, die zur Reflexion über herrschende Verhältnisse einlädt.

Anmerkung

1) Der Begriff der »neokolonialistischen Mystifikation« stammt von Jean-Paul Sartre, der 1956 davor warnte, sich auf den Trugschluss einzulassen, es gäbe innerhalb des kolonialen Systems Beziehungen, die nicht von Abhängigkeits- und Unterdrückungsverhältnissen geprägt seien (Sartre 1988, S. 29). Der Modus kolonialer Unterdrückung bleibe erhalten, solange das koloniale System fortbesteht. Auch eine Verbesserung der politischen und sozialen Umstände kann für Sartre die Beziehungsgrundlage nicht maßgeblich verändern. Dieser Blick auf die Struktur des Kolonialismus macht eine Unterteilung in »gute« und »schlechte« Kolonisatoren unmöglich (Sartre 1988, S. 16).

Literatur

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Nicki K. Weber ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Augsburg. Er forscht zu Postkolonialer Theorie und Schwarzer Kritik. Sein Dissertationsprojekt behandelt politisch-philosophische Konzeptionen zwischen europäischem Existenzialismus und »Black existentialism«.

Rekolonisierung des Sahel


Rekolonisierung des Sahel

Kapitalistische Akkumulation und westliche Militärinterventionen

von Dolly Katiutia Alima Afoumba

Die Sahelregion wird in den Medien häufig als Pulverfass (»poudrière«) bezeichnet, ein im doppelten Sinne interessantes Sprachspiel: Es verweist einerseits auf die enorme Menge an Waffen und bewaffneten Akteuren in der Region und andererseits darauf, dass sich in diesem Risikogebiet jede Spannung schnell in einen allgemeinen Konflikt verwandeln kann (vgl. Chtatou 2019). Doch die Metapher vom Pulverfass sagt nichts darüber aus, wer das Pulverfass befüllt und wer an seiner Lunte zündelt. Im Folgenden soll der Hypothese nachgegangen werden, dass sich hinter der Hypermilitarisierung des Sahel eine Kampagne der Rekolonisierung verbirgt, vorangetrieben von der zunehmenden Präsenz ausländischer Armeen, erweitert und gefestigt von der darauf folgenden Ansiedlung multinationaler Firmen.

Im Rahmen dieses Artikels möchte ich mich mit einer Form der kolonialen Kontinuität beschäftigen, der westlichen Militärpräsenz in der Sahelzone und der im gleichen Zuge verstärkten Investition ausländischer Firmen eben dort. Mit Blick auf die Sicherheitslage im Sahel haben wir es mit einem sich selbst verstärkenden Teufelskreis zu tun: Westliche Staaten begründen ihr militärisches Engagement im Sahel damit, einer bestehenden Unsicherheit Einhalt gebieten zu wollen. Die neokolonialen Tendenzen der Militärpräsenz ausländischer Staaten auf dem afrikanischen Kontinent werden von terroristischen Gruppen wiederum als Argument genutzt, um ihre Handlungen zu legitimieren und Rekruten aus der Bevölkerung zu gewinnen. Es ist zu beachten, dass terroristische Gruppen in der Sahelzone auch deshalb so stark gewachsen sind, weil sie auf das Versagen der lokalen Regierungen hinweisen, die Sicherheit der Bevölkerung nicht gewährleisten zu können. In der ausländischen Militärpräsenz auf ihrem Boden sehen sie einen Beweis für die erzwungene Rekolonisierung des Gebiets. Dies lässt sich am Beispiel von Boko Haram (»Westliche Bildung ist eine Sünde«) oder der »Bewegung für die Einheit und Dschihad in Westafrika« (MUJAO) sehen, bekannt für ihren antiwestlichen Radikalismus: „Dies materialisierte sich in ihren unablässigen Feindseligkeiten gegen die Westler mit der beispiellosen Verun­glimpfung ihrer kulturellen und zivilisatorischen Werte“ (Sarambe 2018, S. 57).

Zum Verständnis dessen, was in der aktuellen Krise in der Sahelzone wirklich auf dem Spiel steht, sollte man sich folgendes Zitat von Kwame Nkrumah aus seiner Rede vor dem Plenum der OUA am 24. Mai 1963 vor Augen halten: „Dies ist der große Plan der imperialistischen Interessen, die den Kolonialismus und Neokolonialismus stärken, und wir werden uns selbst auf die grausamste Weise täuschen, wenn wir ihre individuellen Handlungen als getrennt und nicht miteinander verbunden betrachten.“ (Nkrumah 1963) Wie Chems Eddine Chitour genauer ergänzte: Die westliche Welt und selbst die Schwellenländer haben keine Bedenken, die alten Länder wieder zu kolonisieren.“ (Chitour 2013) Die starke ausländische Militärpräsenz in der Sahelzone und die gehäufte Ansiedlung von Firmen sprechen eine deutliche Sprache.

Ursachen und alternative Lösungen

Die Staaten in der Sahelregion haben ihren Teil der Verantwortung für den Anstieg der Unsicherheit zu tragen, insbesondere durch die Verbreitung von Waffen als Folge von Bürgerkriegen und Militärputschen. In Mali zum Beispiel haben terroristische und widerständige Gruppen vom Militärputsch gegen Präsident Touré 2012 profitiert, um den Norden des Landes zu besetzen (Sarambe 2018, S. 62). Die politische Instabilität und die dadurch resultierende Militarisierung des Sahel förderte die Verbreitung von terroristischen Gruppen wie Ansar Dine, MUJAO und Al Mourabitoun.

Häufige Dürren und Nahrungsmittelkrisen, staatliche Korruption und Diktatur tragen zur Unsicherheit in der Region erschwerend bei. Wie Achille Mbembe es zusammenfasste, haben diese Länder auch immer noch Schwierigkeiten, „die Kunst der Politik von der Kunst des Kriegs zu trennen“ (Mbembe 2011). Ihre Systeme sind stark durch militärisch-autokratische Parteien beeinflusst.

Trotz dieser Probleme ist jedoch darauf hinzuweisen, dass sich die Staaten der Region insofern von westlichen Akteuren unterscheiden, als sie versucht haben, die Sicherheitskrisen auch auf diplomatischen Wegen zu lösen. Allerdings torpedieren westliche Mächte diese Wege immer wieder und halten die Staaten des Sahel so in militärischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit.

Am Beispiel Nigers lässt sich dies gut illustrieren: Im Jahr 2016 beschloss die Regierung Nigers, ihren militärischen Kampf gegen »Boko Haram« zu verändern und den »Reumütigen« unter ihren Kämpfern »die Hand entgegenzustrecken«, indem sie ihnen Amnestie anbot (vgl. Abba 2017). Ein Jahr später, im März 2017, öffnete das Land auch den rechtlichen Weg der Terrorismusbekämpfung, indem es fast 1.200 ehemalige Rebellen vor Gericht stellte. Die militärische Lösung wird gerne damit gerechtfertigt, dass „man mit Terroristen nicht verhandeln kann“. Allerdings, durch regelmäßige Entführungen und Geiselnahmen zeigen die Rebellengruppen eher, dass ein Dialog nicht ausgeschlossen wird. Auf diese Entführungen folgen denn auch Verhandlungen mit ausländischen Mächten, um die Freilassung von inhaftierten Rebellen zu fordern. Hier lässt das Vorgehen westlicher Mächte die Anstrengungen lokaler Regierungen wirkungslos werden, denn „viele europäische, südamerikanische und asiatische Regierungen zahlen Millionen Euro für die Befreiung ihrer Bürger. Bestimmte Mächte, wie Frankreich betreiben Lobbyarbeit bei den Sahelstaaten, um die Freilassung ihrer Bürger im Austausch gegen inhaftierte Terroristen zu erreichen“ (Sarambe 2018, S. 69). So kommt es oft zu drastisch ungleichen Verhältnissen. Das jüngste Beispiel hierfür ist die Freilassung von 200 verdächtigten Terroristen in Mali im Austausch für die Befreiung von vier westlichen Geiseln (vgl. DW 2020).

Ein großer Teil der Refinanzierung und Verstärkung von Terrorgruppen stammt daher aus der Leichtigkeit, mit der einige Staaten in der Lage sind, Millionen für die Freilassung ihrer Geiseln zu zahlen und auch aus dieser Art von unverhältnismäßigem Gefangenenaustausch. Die Verhandlungsbereitschaft allerdings zeigt, dass es durchaus möglich ist, dialogorientierte Mechanismen zur Lösung der Sicherheitskrise im Sahel zu entwickeln. Der vom Westen favorisierte militärische Ansatz kann nicht die einzige Lösung sein, er verfestigt viel eher den Teufelskreis der Unsicherheit im Sahel.

Was den bewaffneten Einsatz betrifft, so hat sich die G5 Sahel (Tschad, Mali, Niger, Burkina Faso, Mauretanien) verpflichtet, eine afrikanische Armee zur Bekämpfung des Terrorismus zu bilden. Diese Initiative wird allerdings nicht von den westlichen Mächten unterstützt. Insbesondere die USA und Großbritannien scheinen die Initiative abzulehnen, da sie den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen aufforderten, die Finanzierung dieser Armee abzulehnen. Dies bringt die herablassende Haltung der Vormundschaft der westlichen Mächte gut zum Ausdruck, die es vorziehen, afrikanische Regierungen durch ihre Finanzen und ihre eigenen Armeen zu kontrollieren. Das führt uns zu der Frage, welche Interessen der Westen im Sahel verfolgt.

Ausländische Militärpräsenz in der Sahelregion

Der westliche Interventionismus, auch wenn er offiziell mit dem Schutz der Menschen(rechte) legitimiert wird, wird dennoch von Zielen der geopolitischen Einflussnahme und der »Sicherung« von Rohstoffen geleitet. Das gilt auch für die militärische Präsenz ausländischer Mächte in der Sahelzone.

Angesichts der Schwierigkeiten der westlichen Staaten, im Nahen Osten im Wettlauf um Rohstoffe mithalten zu können, kann die ausländische Militärpräsenz im Sahel als Ausweichbewegung des Westens hin zu »neuen Ressourcenquellen« gesehen werden. Laut Mahdi Taje, besteht das Ziel der ausländischen Mächte in der Sahelzone darin, „sich innerhalb dieses strategischen Korridors zu positionieren, um ihre Versorgung mit […] energetischen und mineralischen Stoffen zu sichern; in Richtung des Golfs von Guinea für Amerika, der Sahara und des Mittelmeers für Europa und schließlich des Roten Meeres für Asien.“ (Algeria-Watch 2012). Ein Bericht des US-Rats für Auslandsbeziehungen aus dem Jahr 2005 weist bereits auf die Chance hin, die Afrika zukünftig für die Energieversorgung des Landes darstellen wird: „Bis zum Ende des Jahrzehnts (2000) wird Afrika südlich der Sahara wahrscheinlich eine ebenso wichtige Quelle für US-Energieimporte werden wie der Nahe Osten. In Westafrika gäbe es etwa 60 Milliarden Barrel an nachgewiesenen Ölreserven.“ (Fodé 2010) Im Jahr 2013, dem Jahr der Militäroperation »Serval« in Mali, legte der französische Senat dann auch einen Bericht vor, der von der Arbeitsgruppe „Frankreichs Präsenz in einem begehrten Afrika“ erstellt wurde. In ihrem Bericht forderte sie „einen sicheren Zugang zu Energie- und Bergbauressourcen zu gewährleisten“ (Rigouste 2017).

Die Sahelzone bietet dafür enorme Kapazitäten. Sie ist ein Glücksfall für die Goldindustrie, die die Goldvorkommen in Burkina Faso und vor allem in Mali (die drittgrößte Reserve Afrikas) ausgiebig nutzen kann. Mit neu entdeckten Ölvorkommen im Tschad und in Mauretanien (z.B. im Taoudéni-Becken) bietet der Sahel zudem einen großen Spielraum bei der Extraktion von Gasvorkommen und Öl. Ebenso bestehen enorme Kapazitäten in Bezug auf Uran, Diamanten, Phosphat, Bauxit, Plutonium, Mangan und Kobalt. All diese natürlichen Ressourcen machen die Region zu einem Ort der Begierde.

Frankreichs Interessen im Sahel

Nachdem die französischen Militärinterventionen der frühen 2000er Jahre in Afrika, insbesondere in der Elfenbeinküste, in Zentralafrika und in Libyen, enorme Kritik auf sich gezogen hatten, erklärte das Land, es wolle mit seiner Vergangenheit in Afrika und vor allem mit seinem Ruf als Neokolonisator brechen. François Hollande sagte im Oktober 2012 in Dakar vor dem Nationalrat Senegals, er wolle „rompre avec la Françafrique“ („mit der Idee von Françafrique brechen“).

Die Ankündigung des französischen Präsidenten im Januar 2013, militärisch im Kampf gegen den Terrorismus in Mali zu intervenieren, wurde daher von der Öffentlichkeit mit großer Überraschung und Kritik aufgenommen. Diese Intervention wurde deswegen als imperialistisch bezeichnet, weil es sich nicht um einen indirekten Eingriff handelte (z.B. Versorgung malischer bzw. sahelischer Truppen mit Kampflogistik), sondern vielmehr direkt Tatsachen schaffte mit der Entsendung französischer Truppen vor Ort. Dies nachdem Hollande nicht einmal ein halbes Jahr zuvor versprochen hatte, dass „es niemals französische Truppen vor Ort geben würde“.

Ein weiteres kompromittierendes Moment ist die Tatsache, dass Frankreich nicht auf die Zustimmung der Vereinten Nationen wartete, um zunächst die Militärmission »Serval« (2013) und dann »Barkhane« (2014) zu entsenden. Laut der malischen Aktivistin Amina Traoré nutze Frankreich den Anti-Terror-Kampf aus, um sich an dem Land zu rächen, nachdem die französische Armee am 20. Januar 1961 vom damaligen Präsident Modibo Keita vertrieben wurde (Tchangari 2017, S. 21). Die Aktivistin prangert eine exzessive Ausweitung der militärischen Präsenz des ehemaligen Kolonisators in dem Gebiet an.

Laut Michel Galy war die französische Intervention in Mali „geopolitischer Natur: Es geht darum, dass Frankreich einen Einflussbereich in Afrika aufrechterhält, auch wenn dies bedeutet, Staaten unter Vormundschaft zu stellen und illegitime Regierungen zu unterstützen“ (Galy 2013, S. 89). Es ist daher nicht überraschend, dass seit der Operation »Serval« die französischen Militäraktionen in andere Länder der Sahelzone (Niger, Burkina Faso) ausgeweitet wurden.

Der französische Präsident Macron sagte gar zu, dass „die Operation Barkhane erst an dem Tag enden wird, an dem es keine islamistischen Terroristen mehr in der Region geben wird“ (Granvaud 2017). Laurent Bigot, ehemaliger Diplomat, wird mit der Antwort zitiert, dass man: „mit einer solchen Ankündigung (…) einen 100-Jahres-Pachtvertrag für Barkhane“ unterschreibe (ebd.). Seit der Stationierung französischer Truppen setzen aber weiterhin terroristische Gruppen die sicherheitspolitische Agenda und sind noch einflussreicher als zuvor.

Die US-amerikanischen Interessen im Sahel

Die Stationierung amerikanischer Soldat*innen in der Sahelzone folgt ebenso der Logik des Schutzes strategischer Interessen: Sicherung des Zugriffs auf Energieressourcen und der Kampf gegen terroristische Gruppen. Der Einsatz der USA kombiniert finanzielle Hilfe, fokussiert auf die Sicherheitsprogramme afrikanischer Länder, mit der militärischen Präsenz vor Ort. Dazu zählen eine Militärbasis in Ouagadougou, Burkina Faso; Trainingslager für ausländische Söldner in Libyen; je eine Basis für Überwachungsdrohnen im nördlichen und südlichen Afrika in Niamey, Niger; sowie im erweiterten Sinne Militärflugzeuge, Mitglieder der US Navy Special Forces, AFRICOM und sogar CIA-Geheimdienstler in Europa, die jederzeit bereit sind, in der Sahelzone zu intervenieren.

Es ist nur ein scheinbares Paradox, wie sich die US-Regierung verhält mit ihrem militärischen und finanziellen Einsatz für den Anti-Terror-Kampf und dem gleichzeitigen Veto im UN-Sicherheitsrat gegen die Gründung einer unabhängigen afrikanischen Armee, die die Führung im Kampf gegen Terrorismus im Sahel hätte übernehmen sollen. Denn in diesem scheinbaren Paradox steckt der Wunsch, diese Länder unter westlicher Vormundschaft zu halten und ihnen eine externe militärische Präsenz und finanzielle Hilfe aufzuzwingen. Darin liegt der neokoloniale Aspekt der amerikanischen Militärpräsenz in der Sahelzone.

Neokolonialismus im Sahel: Rohstoffsicherung und Firmenexpansionen

Wie im Nahen Osten scheint der Krieg seit der militärischen Stationierung des Westens in der Sahelzone endlos zu werden. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass diese Hypermilitarisierung der Region von der Ansiedlung multinationaler Firmen begleitet wird.

Wie in der Kolonialzeit ist die Eroberung von Land nicht nur von der Suche nach Rohstoffen motiviert, sondern auch von der Suche nach neuen Märkten. Die Länder des Sahel bieten nicht nur Möglichkeiten zur Ausbeutung ihres Naturreichtums, sondern auch menschlicher (Arbeitskraft) und finanzieller (Markt) Ressourcen. Wie Nkrumah es voraussagte, sind die kolonialen Mechanismen unverändert geblieben.

An einigen exemplarischen Beispielen im Falle von Frankreich lässt sich das verdeutlichen: Frankreich hat beispielsweise den zweithöchsten Uranverbrauch der Welt, aber seit einigen Jahren gar keine eigene Produktion mehr im Lande. Allerdings kann Frankreich dank seines Unternehmens »Areva« (heute: »Orano«) seit 2012 seine Position als zweitgrößter Uranproduzent der Welt halten (vgl. World Nuclear Association 2020). Das französische Unternehmen sieht sich einer starken ausländischen Konkurrenz gegenüber (Kazatomprom, Kasachstan; Cameco, Kanada) und unternimmt daher große Anstrengungen, um Märkte zu besetzen oder sein Interesse zu schützen.

Der französische Konzern fördert vor allem Uranabbau in den Arlit-Minen in Niger. So wundert es nicht, dass der Schutz seiner wirtschaftlichen Interessen und seiner Energieversorgung eine der Motivationen für die militärische Intervention des Landes in der Sahelzone war. General Vincent Desportes gab dies auch offen zu: „Wenn Frankreich am 11. Januar 2013 (in Mali) keine Verpflichtung eingegangen wäre, hätten die größten Risiken […] für die sehr wichtigen Uranvorkommen in Niger bestanden“ (Chitour 2018). Trotz seines Urans bleibt der Niger am Ende der Rangliste der ärmsten Länder der Welt. Es handelt sich also um einen Reichtum, der nicht der Staatskasse zugutekommt, sondern den Firmen, die ihn ausbeuten.

Frankreich ist durch das Unternehmen »Total« auch an der Erdölförderung und der Förderung der Solarenergie in Mauretanien und Burkina Faso beteiligt. Im Jahr 2012 hatte »Total« angekündigt, „zwei Genehmigungen zur Erdölförderung mit den mauretanischen Behörden im Becken von Taoudéni unterzeichnet zu haben“ (Algeria-Watch 2012). Nicht wenige Analyst*innen sehen auch in diesem Engagement einen weiteren Grund für die französischen Interventionen der letzten Jahre.

Auch die Konsument*innen haben französische Konzerne im Blick, wie beispielsweise der Telekommunikationsanbieter »Orange«, der 2017 schon 110 Millionen Kund*innen in Afrika gegenüber 6,4 Millionen im Jahr 2004 vorweisen konnte (Piot 2017) oder erst kürzlich die Supermarktkette »Carrefour«, die sich allmählich in Ländern niederlässt, in denen eine entstehende Mittelschicht und eine beschleunigte Urbanisierung genügend potenzielle Kund*innen versprechen.

Die gehäufte Ansiedlung ausländischer Firmen auf afrikanischem Boden wird nicht immer wohlwollend betrachtet, weil sie keinen Platz für lokale Firmen lassen, die ebenfalls in diese Sektoren einsteigen möchten. Die multinationalen Konzerne dagegen profitieren von den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die Frankreich den afrikanischen Ländern aufgezwungen hat, und von der Verwendung der Kolonialwährung, dem Franc-CFA.

In der Tat gewähren die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen den multinationalen Konzernen eine Steuerbefreiung von fast 80 %; so können sie mit viel Freiheit in den westafrikanischen Markt expandieren, während die Einheimischen gezwungen sind, Steuern an den Staat zu zahlen und wegen Franc-CFA Beschränkungen kaum Subventionen von den Banken erhalten, um ihre Produktionskapazitäten zu erhöhen.

Die externalisierte Ausbeutung von Arbeitskräften durch den Imperialismus lässt sich am Beispiel von »Orano« in Niger gut illustrieren, denn diese ruft in der afrikanischen Öffentlichkeit viel Kritik hervor. Im Gespräch mit Matteo Maillard (2018) porträtiert die Regisseurin eines Films über die Arbeits- und Lebensbedingungen in den Uranminen Nigers, Amina Weira, eine übermächtige »Orano«, gegen die aus Angst vor Repressionen nichts gesagt werden darf. Im Interview erzählt sie vom vergifteten Trinkwasser, den Häusern, die mit der Erde aus den Minen gebaut wurden, der verseuchten Nahrung und dem sterbenden Vieh. Sie schildert die unerträglichen Arbeitsbedingungen, das Schicksal der Mitarbeiter, die an den Folgen der Radioaktivität erkranken und sterben, das Leid der durch die Verschmutzung der Fabrik kontaminierten Frauen, die keine Kinder bekommen können oder Kinder mit Missbildungen haben. Sie spricht auch über den politischen Einfluss des staatlich geschützten Konzerns, der ohne Rücksicht auf internationale Gesundheitsforderungen produziert. Neben Amina Weira beklagen auch einige Nichtregierungsorganisationen wie »Aghir In‘man« und die »Kommission für unabhängige Forschung und Information über Radioaktivität« (CRIIRAD), dass die lokale Bevölkerung in den Uranabbaugebieten den schädlichen Auswirkungen der Radioaktivität ausgesetzt ist.

Diese Beispiele verdeutlichen eindrücklich, warum die Stationierung ausländischer Firmen und die westliche Militärpräsenz in der Sahelregion Misstrauen bei der Bevölkerung und den Rebellengruppen erzeugt, die darin die Rekolonisierung der Region sehen. Angesichts dieses imperialistischen Raubzugs können wir nur für ein vereintes Afrika eintreten, denn, wie Nkrumah weiter sagte, „der Kampf gegen den Kolonialismus endet nicht, wenn die nationale Unabhängigkeit erreicht ist. Diese Unabhängigkeit ist nur das Vorspiel zu einem neuen und komplexeren Kampf … für die Rückgewinnung des Rechts, unsere wirtschaftlichen und sozialen Angelegenheiten selbst zu regeln, frei von den überwältigenden und demütigenden Fesseln neokolonialer Herrschaft und Intervention“ (Nkrumah 1963).

Literatur

Abba, S. (2017): Niger: La victoire sur Boko Haram ne sera pas que militaire. LeMonde, 16.04.2017.

Algeria-Watch (2012): Instabilité dans la région du Sahel. Les ressources minières et énergétique attisent les convoitises. 30.04.2012.

Chitour, Ch. E. (2013): Les huit plaies de l‘Afrique. Cinquante ans d‘errance. L‘Expression, 11.06.2013.

Chitour, Ch. E. (2018): Grande bouffe du Sommet de l’Afrique: Un coup d’épée dans l’eau. Mondialisation.ca, 23.11.2018.

Chtatou, M. (2019): Sahel, poudrière internationale. Article 19.ma, 02.12.2019.

Deutsche Welle (DW) (2020): Mali. 4 hostages released in ‚prisoner swap‘. 08.10.2020.

Fondé, D.R. (2010): Otages, Areva, Total, Africom: Les enjeux cachés d’une occupation militaire du Sahel. Mondialisation.ca, 15.12.2010.

Galy, M. (2013): Pourquoi la France est-elle intervenue au Mali? In: (Ders.) (Hrsg.): La Guerre au Mali. Comprendre la crise au Sahel et au Sahara. Enjeux et Zones d’Ombre. Paris: La Découverte, S. 76-90.

Granvaud, R. (2017): Barkhane.Chronique d’un naufrage annoncé. Survie, Billets d‘Afrique No. 268, 05.06.2017.

Maillard, M. (2018): Niger. „A Arlit, les gens boivent de l’eau contaminée par la radioactivité“ Le Monde Afrique, 26.02.2018.

Mbembe, A. (2011): „En Côte d’Ivoire, c’est une démocratie sans éthique qui se construit“, Interview mit Sabine Cessou, Slate Afrique, 22.06.2011.

Nkrumah, K. (1963): Speech at the inaugural ceremony of the OAU Conference in Addis Ababa, Ethiopia, »We must unite now or perish«, 24.05.1963.

Piot, O. (2017): Les entreprises françaises défiées dans leur pré carré. Le monde diplomatique, April 2017, S. 22f.

Rigouste. M. (2017): Que fait l’armée française au Sahel? OrientXXI, 13.10.2017.

Sarambe, L. A. (2018): Les Mécanismes De Lutte Contre Le Terrorisme En Afrique De L’ouest: Quel Impact? Masterarbeit an der Universität von Ottawa.

Tchangari, M. (2017): Sahel. Aux origines de la crise sécuritaire. Conflits armés, crise de la démocratie et convoitises extérieures, Niamey.

World Nuclear Association (2020): World Uranium Mining Production. www.world-nuclear.org, Dezember 2020.

Dolly Katiutia Alima Afoumba hat einen Master in Geschichte und Friedens- und Konfliktforschung. Derzeit promoviert sie an der Philipps-Universität Marburg im Fachbereich Neue Geschichte. Als Aktivistin und Journalistin gibt sie Workshops und schreibt über (Neo-)Kolonialismus in der afrikanischen Wirtschafts- und Währungspolitik.

Der Fluch des »Ressourcenfluchs«


Der Fluch des »Ressourcenfluchs«

Postkoloniale Bedenken zu ökonomischem Determinismus

von Jasper A. Kiepe

Bewaffnete Konflikte im Globalen Süden, insbesondere in Afrika, werden oft mit einem angeblichen »Ressourcenfluch« in Verbindung gebracht. Dieser Begriff ist problematisch, da er in einer rassistischen Tradition steht und vorgibt, das Problem sei im afrikanischen Boden verwurzelt. Zudem macht der Wortgebrauch die kapitalistische Ausbeutung, auf der die Ressourcenausbeutung basiert, sowie die damit verbundene koloniale und neokoloniale Gewalt unsichtbar. Der Begriff steht so einer holistischen Betrachtung von Konflikt, die auch Kritik an den Prämissen des weltweiten Marktes beinhaltet, im Weg.

Bewaffnete Konflikte im Globalen Süden, und damit auch in Subsahara-Afrika, werden oft unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet. Die unter dem Stichwort »Ressourcenfluch« bekannt gewordene Theorie wurde geprägt von Autor*innen wie Humphreys, Sachs und Stiglitz (2007) sowie Collier (z.B. in Bannon und Collier 2003; Collier und Hoeffler 2004). Sie besagt, in aller Kürze, dass das Vorkommen von Rohstoffen, insbesondere Mineralien und Erdöl, die Entwicklung in Ländern des Globalen Südens hemmt und Konflikte begünstigt.

Kritische Wissenschaftler*innen verweisen dagegen auf die Überbewertung wirtschaftlicher Faktoren und die mangelnde Komplexität der Theorie, die insbesondere wenig Raum für nuancierte Erklärungen multidimensionaler Konflikte lässt (Vogel und Havenith 2014). Andere Autor*innen hinterfragen die Beziehung zwischen der Hypothese des »Fluchs« und den verwendeten empirischen Daten, sowie die Übertragbarkeit der Theorie auf beliebige Staaten (Di John 2011).

Das Bild vom »Ressourcenfluch« hält sich allerdings in der journalistischen Berichterstattung und den Populärwissenschaften – z. B. im Artikel »Der Afrikanische Fluch« in der ZEIT (Berbner, Henk und Uchatius 2018). Hier werden zunächst bedeutungsschwere Fragen aufgeworfen: u.a. „Was ist geschehen, das Afrika so verlassenswert macht?“. Diese werden dann (voller Klischees) in direkten Zusammenhang mit dem Ressourcenfluch gestellt. Auch in der populären Kultur, z.B. im Theaterstück »Das Kongo-Tribunal« (2017) und spätestens seit den Hollywood-Filmen »Blood Diamond« (2006) oder »Lord of War« (2005), hat sich das Bild von den »Blutdiamanten« beim europäischen Publikum verfestigt und sogar die Terminologie des Kimberley-Prozesses, dem internationalen Abkommen über die Ausweisung der Herkunft von Diamanten, geprägt (Vogel und Havenith 2014).

Der Mythos des »Ressourcenfluchs«

Der Begriff »Ressourcenfluch« ist zwar eingängig, aber dennoch aus einer Vielzahl von Gründen problematisch, nicht zuletzt aufgrund der Sprache: »Fluch« (engl. curse) behauptet hier einen von außen zugeschriebenen, pseudo-spirituellen Determinismus, der an eine lange Tradition orientalisierender, rassistischer Außenbezeichnungen anknüpft (Mazrui 2005) und Afrika als einen dunklen, bedrohlichen Ort portraitiert, an dem selbst Reichtum zum Fluch wird.

Die vermeintliche Schicksalshaftigkeit des »Fluchs« verlegt die Verantwortung nach Afrika und macht ihn zu einem Phänomen des Globalen Südens – die Folgen kolonialer und neo-kolonialer Praktiken werden zu einem afrikanischen Problem. Dabei wird nur gelegentlich das Augenmerk auf die Rolle früherer Kolonialmächte oder ihrer Unternehmen gerichtet und dies, ohne die Problematik der damit verbundenen Ausbreitung der globalen Weltwirtschaft anzusprechen. Diese Verschiebung spiegelt eine koloniale Fantasie: dass die Gründe für Krieg, Korruption und Elend quasi im afrikanischen (oder generell tropischen) Boden liegen. Dies ist eine Reproduktion rassistischer, kolonialer Stereotype, die die Menschen Afrikas als »brutale Wilde« darstellten. Gleichzeitig untermauert diese Sicht das problematische – und widerlegte – Klischee vom verarmten, chancenlosen, homogenen Kontinent Afrika.

Ökonomische Kritik des Begriffes

Neben der sprachlichen Problematik des Begriffes, gilt es auch die ökonomische Analyse hinter dem Begriff zu kritisieren. Die gewaltsame Kolonialisierung Afrikas war vor allem ein kapitalistisches Projekt, und dieses hat tiefe Wurzeln geschlagen. Diesen Ursprüngen wird allerdings in vielen Forschungsprojekten und Literatur über die Situation Afrikas keine Aufmerksamkeit entgegengebracht und wenn, dann in einer anderen Verpackung (z.B. Armut; siehe Wiegratz 2018). Die Verantwortung für die Auswirkungen des »Ressourcenfluchs« wird »Afrika« zugeschoben.

Ein solcher Fluch muss aber dazu einladen, über Kapitalismus und Ausbeutung zu sprechen, genauer: über Neokolonialismus. Schon 1965 kritisierte der erste Präsident Ghanas, Kwame Nkrumah (1965, S. IX), „dass das wirtschaftliche System und dadurch die Politik eines Staates von außerhalb kontrolliert sind“.

Somit müssten auch die Triebkräfte des Marktes, die Verantwortung der (nicht nur) europäischen Konsument*innen oder die Verantwortung ehemaliger Kolonialmächte in den Fokus der Analyse gestellt werden. Beispielhaft berechnete ein Bericht einiger Nichtregierungsorganisationen für das Jahr 2014 einen jährlichen Finanzzufluss von 134 Mrd. US$ nach Afrika, vor allem in Form von Krediten, Investitionen und Entwicklungshilfe, bei einem gleichzeitigen Abfluss von 192 Mrd. US$ in Form von Profiten (Health Poverty Action et al. 2014). Dies deutet auf etwas anderes als einen »Ressourcenfluch« hin.

Überdies wird Afrika immer noch als europäisches Privileg verstanden. Die zeitgenössische Sorge über die »chinesische Expansionspolitik«, die sich häufig in populären Debatten findet, ist besonders interessant, scheint sie doch oft nicht Sorge über die Selbstbestimmtheit moderner afrikanischer Staaten zu sein, sondern vielmehr Sorge in Bezug auf »europäische Interessen« in Afrika. Die problematische Rolle europäischer Unternehmen und europäischer Entwicklungshilfe, die oft Hand in Hand mit politischen Forderungen kommt, wird dagegen verharmlost. Häufig wird auch unterschlagen, dass vielerorts Menschen von chinesischen Investitionen profitieren (van Mead 2018). Es scheint sich vielmehr um eine »Gefahr-im-Osten-Rhetorik« zu handeln, die der des »Kalten Krieges« ähnelt; eines Krieges der in den oft vergessenen Stellvertreterkriegen in Angola, in der Demokratischen Republik Kongo oder in Mosambik erschreckend heiß wurde (de Souza 2016).

Der Fluch der Armut: (k)ein Problem Afrikas

Die Bezeichnung »Ressourcenfluch« vernachlässigt außerdem, dass nicht die Ressourcen selbst das Problem darstellen, sondern dass in Regionen, die von struktureller Ungleichheit geprägt sind, Konflikte durch die Dynamik des Marktes (z. B. die Nachfrage nach wertvollen, seltenen Ressourcen) angefacht werden können.

Die Beteiligung am globalen Weltmarkt wurde Afrika in kolonialer Zeit zwangsverordnet. Moderne strukturelle Probleme resultieren aus dieser Zwangsverordnung und sind in der postkolonialen Epoche institutionell verankert in Form von internationalen Organisationen, transnationalen Handelsregimen und auch der Entwicklungshilfe. Zudem werden die Internationalen Organisationen Weltbank und Internationaler Währungsfonds seit Langem heftig kritisiert, u.a. wegen der Untergrabung demokratischer Strukturen in Förderländern oder wegen Menschenrechts- und Nachhaltigkeitsbedenken bei Projekten, und das nicht nur in Subsahara-Afrika (für einen Überblick vgl. Bretton Woods Project 2019).

Der Anschluss postkolonialer Staaten Afrikas an internationale Märkte ist für diese prägend und, so schreibt der Ökonom Kenneth Amaeshi (2015), „stimmt nicht immer mit den Bedürfnissen von Menschen in Afrika überein. Es bleibt übermäßig beeinflusst und wird von Agenden außerhalb des Kontinents bestimmt – ob das nun Europa oder die neuen Weltmächte (zum Beispiel China) sind. Auch wenn die früheren Kolonialmächte sich auf dem Papier verabschiedet haben: Kapitalismus in seiner heutigen, institutionalisierten Form ist ein Exportgut der Kolonialzeit und in modernen Institutionen (politischen Systemen, Regierungen, Bildungssystemen etc.) fest verankert. Die Theorie des »Ressourcenfluchs« lässt außer Acht, dass die Prämissen für Konflikt nicht endogen sind, sondern erst durch ein kapitalistisches System erzeugt wurden.

Diese Kritik ernst zu nehmen hieße, Armut und Chancenlosigkeit als eine problematische Folge des globalen Kapitalismus zu benennen, und diese nicht als ein »Problem Afrikas« zu sehen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Afrika ist nicht per se arm oder chancenlos und war es nie. Weder in einer, in Europa oft vergessenen und als ahistorisch jeder ernsthaften Analyse entzogenen, vorkolonialen Zeit noch seit Beginn des von Anfang an auf Widerstand stoßenden Kolonialismus. Auch die postkoloniale Gegenwart des 21. Jahrhunderts unterliegt der Dynamik von Jahrhunderten systematischer Ausbeutung, Gewalt und kolonialer Vernichtungspolitik, die schwer zu überkommen sind und z. B. in der Demokratischen Republik Kongo in den Tagen nach der Unabhängigkeit durch kleptokratische Eliten fortgeführt wurden (Stearns 2012, S. 338).

Die fragile Gegenwart

Nun bedarf es nicht unbedingt »­großer« Armut und Chancenlosigkeit, um Konflikte zu begünstigen. Es reicht, dass einige Menschen sehr wenig haben – es handelt sich eher um ein Klassen- und Stratifizierungsproblem mit hohem Konfliktpotential. Armut und Chancenlosigkeit sind nicht primär Ursache von bewaffnetem Konflikt, sondern zunächst Symptom des Kapitalismus.

Die Kivu-Region in der Demokratischen Republik Kongo wird oft zitiert als Beispiel für den »Ressourcenfluch« und tatsächlich spielen ökonomische Dimensionen in den Konflikten, die die Region erschüttern, eine große Rolle: Das Land leidet in manchen Teilen unter strukturellen Ungleichheiten, Armut und dem Fehlen kritischer Infrastruktur. Hinzu kommen jedoch auch allerhand weitere Faktoren: mehrere Ebola-Epidemien (die von einigen Autor*innen auch eng mit dem Ressourcenfluch in Zusammenhang gebracht werden; Garrett 2019), Naturkatastrophen, koloniale Geister und ein eingeschränkter zivilgesellschaftlicher Raum. Klar ist, dass die Ursachen von Konflikten in dieser Region extrem komplex sind und sich häufig einer schematischen Betrachtung entziehen (vgl. Kalyvas 2003). Die Fluch-Terminologie dagegen simplifiziert komplexe Konfliktursachen, reproduziert antiquierte »Finsternis«-Metaphern und objektifiziert Menschen als »Verfluchte«, anstatt einer differenzierten Analyse struktureller Probleme – und damit auch einer differenzierten Betrachtung von Konflikt selbst Raum zu geben.

Hinzu kommt die mit dem Fluch verbundene Kurzsichtigkeit, die Menschen ihre Handlungsfähigkeit abspricht. Der Anfang einer differenzierten Betrachtung müsste sein, die DR Kongo insgesamt als fragiles, konfliktanfälliges politisches System zu verstehen, in dem »Political Space« noch verhandelt wird (Vogel et al. 2019), anstatt den Staat einfach als »verflucht« abzutun. Denn genau dieses fragile System und den politischen Handlungsraum seiner Bürger*innen zu stabilisieren ist auch ohne »Fluch« schwierig genug. Umso mehr in einem autokratisch regierten, qua Verfassung vermeintlich hochgradig zentralisierten Land, das, in den Wirren internationaler Politik gefangen, nie richtig die Chance hatte, sich von den kolonialen Zerstörungen zu erholen. Verschiedene bewaffnete Gruppen mit unterschiedlichen Interessen und regionalen oder internationalen Allianzen tragen zur Instabilität in einer Region bei, in der eine fundamentale Infrastruktur und ein staatliches Gewaltmonopol fehlen (Vogel und Stearns 2018). Eine simplifizierte Konfliktursache (»der Kampf um Konfliktmineralien«) lädt dann schnell zu eurozentrischen, die oben genannten komplexen Zusammenhänge ignorierenden, vereinfachenden Lösungen ein, die ebenfalls zu kurz greifen: z.B. die Forderung, unspezifisch »Governance« nach europäischem Vorbild zu schaffen (Vircoulon 2011).

Fazit: Sprache und Forschung dekolonisieren

Politikwissenschaftler*innen und auch Journalist*innen, Politiker*innen und Künstler*innen müssen sich von einer passiven, mystifizierenden, die Problematik verschiebenden Terminologie lösen. Stattdessen sollte, unter Einbeziehung postkolonialer Kritik und mit kritischem Blick auf die liberale Weltordnung, die Debatte um Konfliktursachen erweitert werden. Dies muss eine Kritik an den institutionellen kapitalistischen Prämissen und an der begrifflichen Verschiebung der Ursachen »nach Afrika« beinhalten. Ein kleiner, jedoch entscheidender Schritt hierzu wäre eine sensiblere Sprache, die nicht länger suggeriert, dass der Konflikt um Rohstoffe ein »afrikanischer Fluch« sei. Gleichzeitig dürfen wirtschaftliche Interpretationen bewaffneter Konflikte nicht länger eine fundamentale Kritik an der internationalen politischen Ökonomie ausblenden.

Literatur

Amaeshi, K. (2015): Why Africa needs capitalism that is aligned with its development needs. The Conversation. 20.10.2015.

Bannon, I.; Collier, P. (2003): Natural resources and conflict. What can we do. In: Bannon, I.; Collier, P. (Hrsg.): Natural Resources and Violent Conflict. Washington, D. C.: The World Bank, S. 1-16.

Berbner, B.; Henk, M.; Uchatius, W. (2018): Der afrikanische Fluch. DIE ZEIT, 20.6.2018.

Bretton Woods Project (2019): What are the main criticisms of the World Bank and the IMF? 4.6.2019.

Collier, P.; Hoeffler, A. (2004): Greed and grievance in civil war. Oxford Economic Papers, Vol. 56, Nr. 4, S. 563-595.

de Souza, A. N. (2016): Between East and West. The cold war‘s legacy in Africa. Al Jazeera. 22.2.2016.

Di John, J. (2011): Is there really a resource curse? A critical survey of theory and evidence. Global Governance, Vol. 17, Nr. 2, S. 167-184.

Garrett, L. (2019): Your cellphone is spreading Ebola. Foreign Policy, 17.4.2019.

Health Poverty Action et al. (2014): Honest Accounts? The true story of Africa’s billion dollar losses. London.

Humphreys, M.; Sachs, J.; Stiglitz, J. (Hrsg.) (2007): Escaping the Resource Curse. New York: Columbia University Press.

Kalyvas, S. (2003): The ontology of »Political Violence«. Action and identity in civil wars. Perspectives on Politics, Vol. 1, Nr. 3, S. 475-494.

Mazrui, A. (2005): The Re-Invention of Africa: Edward Said, V. Y. Mudimbe, and beyond. Research in African Literatures, Vol. 36, Nr. 3, S. 68-82.

Nkrumah, K. (1965): Neo-Colonialism. New York: International Publishers.

Stearns, J. (2012): Dancing in the glory of monsters. The collapse of the congo and the great war of Africa. New York: Public Affairs.

The Fund for Peace (2020): Fragile States Index – Measuring Fragility: Risk and Vulnerability in 178 Countries. Fragility in the World 2020. fragilestatesindex.org.

Van Mead, N. (2018): China in Africa. Win-win development, or a new colonialism? The Guardian, 31.7.2018.

Vircoulon, T. (2019): Behind the problem of ­conflict minerals in DR Congo governance. International Crisis Group, 19.4.2011.

Vogel, C.; Havenith, J. (2014): Beyond greed or grievance: understanding conflict in resource-rich states. African Arguments, 17.4.2014.

Vogel, C.; Stearns, J. (2018): Kivu’s intractable security conundrum, revisited. African Affairs, Vol. 117, Nr. 469, S. 695-707.

Vogel, C.; et al. (2019): Cliches can kill in Congo. Foreign Policy, 30.4.2019.

Wiegratz, J. (2018): The silences in academia about capitalism in Africa. africasacountry.com, 13.12.2018.

Jasper A. Kiepe hat einen Master in Politikwissenschaften mit Schwerpunkt Konflikte und Menschenrechte von der SOAS University of London, arbeitet bei einer humanitären Hilfsorganisation und beschäftigt sich mit gesamtheitlichen, postkolonialen und intersektionalen Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung.

Macht und Erinnerung


Macht und Erinnerung

Post-koloniale Perspektiven auf die Erinnerungskultur des Kolonialismus

von Pia Falschebner

In den letzten Jahren ist die Frage der Dekolonisierung und des Umgangs mit der deutschen Kolonialvergangenheit zunehmend in den Fokus gerückt. Obwohl sich ein langsamer Wandel feststellen lässt, bleibt die deutsche Kolonialgeschichte ein blinder Fleck in der deutschen Erinnerungskultur. Gleichzeitig ist die Erinnerung an die Kolonialzeit für viele Betroffene weiterhin präsent und schreiben sich koloniale Kontinuitäten ungebrochen fort. Wie tief struktureller Rassismus auch in Deutschland gesellschaftlich immer noch verankert ist, zeigt die aktuelle Debatte zur »Black Lives Matter«-Bewegung. Der nachfolgende Artikel erläutert die Ergebnisse eines Forschungsprojektes, das sich mit den Folgen und Veränderungspotentialen der momentanen Erinnerungskultur des Kolonialismus befasste.

Mit der kolonialen Vergangenheit Deutschlands und kolonialen Kontinuitäten setzt sich eine zunehmende Anzahl von Arbeiten auseinander. Stark unterrepräsentiert bleiben in der akademischen Debatte allerdings die Perspektiven von Betroffenen. Zudem fehlt es an Arbeiten, welche die verschiedenen theoretischen Ansätze – insbesondere post-koloniale Theorie, Trauma- und Erinnerungsforschung – sowie Empirie und Theorie miteinander in Bezug setzen.

Daher stellt sich die Frage, wie Betroffene selbst die Erinnerungskultur der Kolonialvergangenheit wahrnehmen und sich zu Dekolonisierung positionieren. Die nachfolgenden Ergebnisse basieren auf einer qualitativen Forschung zum Thema. Die Daten wurden im Rahmen von qualitativen Interviews mit in Deutschland lebenden People of Colour erhoben, die eine Verbindung zu den ehemaligen deutschen Kolonien Tansania und Namibia haben und sich selbst als vom Kolonialismus betroffen begreifen.1 Im Mittelpunkt der Forschung standen zwei aufeinander aufbauende Fragen: Erstens, wie nimmt diese Gruppe die momentane Erinnerungskultur des deutschen Kolonialismus wahr und welche Bedeutung und Effekte schreibt sie dieser zu? Und zweitens, wie stellen sich die Betroffenen eine Dekolonisierung dieser Erinnerungskultur vor und welche Transformationspotentiale identifizieren sie in diesem Zusammenhang auf individueller und gesellschaftlicher Ebene?

Deutschland als Kolonialmacht

Entgegen der gängigen Meinung hat Deutschland eine lange Geschichte kolonialer Bestrebungen. Ab 1884 nahm Deutschland Kolonien für sich in Anspruch, darunter Deutsch-Ostafrika (heute Tansania, Burundi und Ruanda) und Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia). Neben Rassismus und Zwangsarbeit sorgten auch militärische Auseinandersetzungen, Enteignung, Vertreibung und Unterdrückung dafür, dass Gewalt vielerorts den Alltag der Kolonisierten bestimmte und zu massiven Opfern sowie sozialer und wirtschaftlicher Zerrüttung führte (Muschalek 2016).

In vielen Kolonien regte sich als Reaktion bald heftiger und anhaltender Widerstand, so auch im heutigen Namibia und Tansania – Widerstand, der von der Kolonialmacht mit äußerster Brutalität niedergeschlagen wurde. Zentrale Bezugspunkte meines Forschungsprojekts sind zum einen der Deutsch-Herero-Krieg im heutigen Namibia und zum anderen der Maji-Maji-Krieg im heutigen Tansania. Ersterer gipfelte in einem Genozid an den Herero und Nama. Die systematische Strategie der verbrannten Erde von deutscher Seite in Tansania forderte bis zu 300.000 afrikanische Opfer. Beide Ereignisse hatten auch darüber hinaus für die betroffenen Gruppen langfristig verheerende ökonomische, soziale und kulturelle Folgen (Becker 2005; Krüger 1999, S. 136f., 142-144).

Lange gab es keine Vergangenheitsaufarbeitung der deutschen Kolonialzeit. Kolonialvergangenheit und Rassismus galten nicht als deutsches Problem. Erst seit 2004 lässt sich in Öffentlichkeit und Politik zunehmend eine kritische Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe feststellen. Dennoch spielt die Kolonialgeschichte bis heute lediglich eine marginale Rolle in der deutschen Erinnerungskultur, sind Reparations- und Restitutionsfragen größtenteils ungeklärt und umstritten und gibt es keine offizielle Entschuldigung für Kolonialverbrechen.

Von Post-Kolonialismus, Erinnerung und Trauma

Um den Forschungsgegenstand in seiner Komplexität zu verstehen, bedarf es der Verknüpfung verschiedenster theoretischer Perspektiven aus dem Feld der post-kolonialen Theorie, der Erinnerungs- und Traumaforschung und der Friedens- und Konfliktforschung.

Theoretischer Ausgangspunkt der Forschung sind post-koloniale Theorien, wobei insbesondere drei Annahmen von zentraler Bedeutung sind: Erstens muss Kolonialismus als eine rassistische Politik der Unterwerfung und Zerstörung verstanden werden, welche zentral auf der Entmenschlichung der Kolonisierten basiert (Fanon 2017, S. 13f.). Zweitens stellt Kolonialismus ein bis heute fortwirkendes Macht- und Herrschaftssystem dar (Wienand und Brandes 2016, S. 9, 11). Drittens gilt die Annahme transnationaler Verflechtungsgeschichten: Kolonialismus war nicht nur konstitutiv für die kolonisierten Gesellschaften, sondern auch für die europäische »Moderne« (Conrad 2002, S. 147, 150).

Das Konzept des kollektiven Gedächtnisses in der Erinnerungsforschung beruht auf der Annahme, dass Erinnerung immer sozial, kollektiv und wandelbar ist. Das kollektive Gedächtnis bildet sich im Einklang mit gegenwärtigen Interessen aus und ist entscheidend für die geteilte Identität des Kollektivs (Assmann 2013, S. 17f.; Halbwachs 1967, S. 55, 71, 73-75). Erinnerung fungiert als verbindendes Element zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Darüber hinaus ist die Verwobenheit von Erinnerung und Macht zentral (Ibreck 2009, S. 15). Daraus ergeben sich zwei Pole: Zum einen beinhalten kollektive Erinnerung und Erinnerungskultur stets den Ausschluss und die Unterdrückung bestimmter Erinnerungen, sind also Instrumente der Machtausübung (vgl. Bhabha 1994, S. 145f., 160f.). Zum anderen aber hat Erinnerung aufgrund ihrer Dynamik und Vielschichtigkeit immer auch ein transformatives, machtumkehrendes Potential (Rothberg 2009, S. 5, 11, 16). Was und wer gesellschaftlich sichtbar ist und erinnert wird, ist eine Frage der Machtverteilung (vgl. Eyerman 2001, S. 9). Judith Butler (2005, 2010) schließt hier mit dem Konzept der Hierarchien der Betrauerbarkeit und Erinnerungswürdigkeit an. Bestimmte Gruppen, die in der politischen Ordnung als »wertlos« oder »nicht-menschlich« gelten, etwa Kolonisierte, werden aus der kollektiven Erinnerung ausgeklammert (Butler 2010, S. 9, 22f., 36, 54-56; Butler 2005, S. 50f.).

Zuletzt sind auch Erkenntnisse aus der Traumaforschung von Bedeutung. Ganz grundlegend ist Trauma eine Erfahrung der Dislokation und Zerstörung – von Subjekten, Geschichten, Gemeinschaft, Zeit (Bell 2006, S. 8; Rothberg 2014, S. xii). Trauma kann dabei sowohl aus direkter als auch aus struktureller Gewalt resultieren (ibid., S. xiii-xv). Von besonderem Interesse ist dabei das Konzept des kulturellen Traumas: Dieses prägt sich als Resultat der Erfahrung dramatischer sozialer Erschütterung aus (Eyerman 2001, S. 2). Das traumatische Ereignis wird in diesem Fall als zentraler Teil der kollektiven Identität verstanden und als solches über Generationen hinweg weitergeben (Alexander 2004, S. 1, 22f.). Kolonialismus als eine Erfahrung der Entmenschlichung, der Zerstörung von Gemeinschaft, Kultur, und Geschichte (Fanon 2017, S. 178) ist ein kulturelles Trauma, das sich bis heute fortschreibt: sowohl durch die Erinnerung kollektiver Gewalterfahrungen als auch durch gegenwärtige koloniale Kontinuitäten. Auch indem der weiße, koloniale Blick als Resultat des Kolonialismus zum bestimmenden Blick des Kolonisierten auf sich selbst wird, hält das koloniale Trauma bis heute an (Ashcroft et al. 2013, S. 51, 267; Fanon 1980, S. 71-76, 120-122).

Zur Überwindung vergangener Gewaltverhältnisse und Traumata ist Vergangenheitsaufarbeitung zentral. Sie ist entscheidend für Heilungsprozesse (Danieli 2006, S. 345), für die Erzeugung von Zugehörigkeit (Kühner 2003, S. 57) und für die Schaffung neuer Werte und Handlungsräume (Assmann und Shortt 2012, S. 4).

Kolonialismus, Identität und Erinnerung

Die Mehrheit der Interviewpartner*innen erinnerte koloniale Gewalt als traumatischen Teil der eigenen Familiengeschichte und Identität und hatte ein entsprechend ausgeprägtes Betroffenheitsgefühl. Letzteres ließ sich – wenngleich in abgeschwächter Form – auch für diejenigen, die keine familiär oder kollektiv tradierten Erinnerungen an den Kolonialismus hatten, feststellen. Auch in diesem Fall wurde die Kolonialgeschichte als bestimmend für den Blick auf die Welt und das Selbst wahrgenommen. Gleichzeitig berichtete die Mehrheit der Interviewpartner*innen von der Konfrontation mit kolonialen Kontinuitäten und Rassismus im Alltag. Zusammengenommen kann Kolonialismus so als kulturelles Trauma verstanden werden.

Auswirkungen der Erinnerungskultur

Mein Forschungsprojekt zeigte, dass insbesondere vier Punkte eine Rolle in der Wahrnehmung der momentanen Erinnerungskultur spielten: Erstens wurde sie als Ausdruck anhaltender kolonialer Machtverhältnisse verstanden. Zweitens wurde sie als marginal in der deutschen Öffentlichkeit und im kollektiven nationalen Gedächtnis erlebt, insbesondere im Vergleich zu anderen, weiß dominierten Erinnerungskulturen. Drittens beschrieben die Interviewpartner*innen eine rassistisch geprägte Kultur des Nicht-Wissens, der Ignoranz und der Verleugnung in Gesellschaft und Politik. Und viertens wiesen sie auf das ungebrochene Wirken kolonialer Bilder in der Alltagskultur und im Stadtbild hin. Zusammengenommen entstand so das Bild einer von Exklusion und Hierarchien der Betrauerbarkeit und Erinnerungswürdigkeit bestimmten Erinnerungskultur, welche koloniale Logiken (re-) produziert.

Daraus ergaben sich die folgenden Effekte für die Selbstwahrnehmung und Verortung der Interviewpartner*innen in der deutschen Gesellschaft: Einerseits resultierte aus der einseitigen Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur ein Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit und Entfremdung von der Gesellschaft und dem Selbst. Andererseits wurde die momentane Erinnerungskultur als Fortschreiben der kolonialen Politik des Rassismus, der Entmenschlichung und Entwürdigung verstanden, als Ausdruck der anhaltenden niedrigeren Wertigkeit Schwarzer Leben in den Augen der weißen Mehrheitsgesellschaft. So erklärt beispielsweise Emmanuel:

„Und wie viele Leute sind […] gestorben an Einheimischen […], wie viel Verlust, das interessiert keinen! […] Das ist die Frage. Warum sie [die Deutschen] rennen nach Frankreich zu Verdun, erinnern an [den] Ersten Weltkrieg, aber zu uns kommt keiner. […] Wir sind keine Leute. […] Afrikaner, sie werden genommen wie wilde Tiere, nicht Menschen. […] die Weißen sind Mitmenschen. Die Afrikaner sind keine Mitmenschen. […] Das ist emotional, es geht um Rassismus. […] Da schwingt der Kolonialismus noch weiter.“

Visionen und Potentiale

Gleichzeitig jedoch zu ihrer Rolle als Teil eines rassistischen Systems des anhaltenden Ausschlusses und der Entmenschlichung hat Erinnerung(skultur) auch ein transformatives Potential. Ausgehend von den identifizierten Missständen stellt sich die Frage nach einer alternativen Erinnerungskultur, welche die Bedürfnisse und Visionen der Betroffenen in den Mittelpunkt stellt. Dabei wurden folgende Aspekte als zentral für einen erfolgreichen Dekolonisierungsprozess identifiziert: eine erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema, ein anderes öffentliches Opfergedenken, ein »Neuschreiben« der Kolonialgeschichte, das auch die Perspektiven der Kolonisierten miteinschließt, die Etablierung einer Kultur des Zuhörens und der Empathie, Entschuldigung und Anerkennung und nicht zuletzt Restitution und Reparationen.

Eine solche dekolonisierte Erinnerungskultur hat potentiell nicht nur weitreichende Effekte auf individueller Ebene, sondern eröffnet auch gesellschaftliche Veränderungspotentiale: Zunächst kann sich ein neues Geschichtsverständnis und gesellschaftliches Bewusstsein ergeben, das als Element der Wahrheitsfindung und Korrektur und als Ausgangspunkt eines empathischeren Miteinanders dient. Darüber hinaus kann die Anerkennung und Sichtbarmachung der bislang ausgeschlossenen Geschichte und Stimmen der Kolonisierten, ein »rewriting«, zur Überwindung des kolonialen kulturellen Traumas beitragen. Denn im Moment des Neu- und Dagegen-an-Erzählens und Gegen-Erinnerns werden hegemoniale Machtverhältnisse angefochten. Die Verhandlung der Vergangenheit ist dabei gleichzeitig die Verhandlung der Gegenwart (Förster 2010, S. 170, 181, 332). Rewriting kann so zugleich einen Beitrag zur Rehumanisierung der Toten und der Lebenden leisten. So erläutert Uatavi:

„Ich denke, es hilft uns als People of Colour, unsere Vorfahr*innen als würdevolle Menschen zu verstehen. Denn wir stammen von diesen Menschen ab und wenn wir sie als weniger als das sehen, als was sehen wir dann uns selbst? Darum ist es wichtig, diese Geschichten zu erzählen und […] die Vergangenheit in der Gegenwart zu ermächtigen.“

Zudem kann eine andere Erinnerungskultur, die auf Respekt, Anerkennung und Schuldeingeständnis beruht, einen Abschluss mit der Vergangenheit und Heilung fördern. Wer nicht erinnert wird, der existiert – zumindest in den Augen der Erinnernden – nicht. Durch die Anerkennung der Gleichwertigkeit der Kolonisierten bricht die dekolonisierte Erinnerungskultur mit der kolonialen Machtstruktur und der ihr zugrunde liegenden Logik der Unterscheidung zwischen erinnerungswürdigen und wertlosen Leben. Sie hat somit ein machtumkehrendes Potential.

Die kritische Auseinandersetzung mit der Erinnerungskultur des deutschen Kolonialismus birgt dabei auch für die Friedens- und Konfliktforschung Lernpotentiale: Wissen über die Auswirkungen exkludierender Erinnerungskulturen auf kollektive Identität und die (Re-) Produktion gesellschaftlicher Spannungen einerseits und die Potentiale eines anderen Erinnerns für Zugehörigkeit, Heilung und Frieden andererseits ist zentral, um mehr darüber zu lernen, wie Erinnerungskultur nachhaltig gestaltet werden und Vergangenheitsaufarbeitung gelingen kann.

Nicht zuletzt bietet eine andere Erinnerungskultur nicht nur das Potential zur Überwindung gesellschaftlicher Gräben und langfristig für Versöhnung, sondern auch für die Erzeugung von Zugehörigkeit. Sie wird damit zum Ausgangspunkt neuer Formen der geteilten Identität sowie gemeinsamer Visionen des Zusammenlebens, wie Joshua erklärt:

„Und wir sind dann als eins in dieser Geschichte […] und jetzt stehen wir als eins und wir sagen: Zusammen kommen wir weiter. Und wir blicken in die Zukunft und beide wollen nicht die Geschichte wiederholen. […] wenn wir als eins sind, sind wir auch in Augenhöhe im Sinne von: jeder hört dem anderen zu. Jeder hat dieselbe zukünftige Vorstellung für Frieden und für mehr Zusammenarbeit.“

Die Dekolonisierung von Erinnerungskultur bietet damit nicht nur Potentiale für das Neudenken der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart und Zukunft.

Anmerkung

1) Der Zugang zu und die Suche nach Interview­partner*innen erfolgte durch im Bereich Postkolonialismus arbeitende Organisationen, verschiedene Mailverteiler und Online-Plattformen sowie »snowball sampling«. Insgesamt wurden so neun Interviews in fünf verschiedenen deutschen Städten geführt.

Literaturverzeichnis

Alexander, J.C. (2004): Toward a Theory of Cultural Trauma. In: Alexander, J.C.; Eyerman, R.; Giesen, B.; Smelser, N.J.; Sztompka, P. (eds.): Cultural Trauma and Collective Identity. Berke­ley: University of California Press, S. 1-30.

Ashcroft, B; Griffiths, G.;Tiffin, H. (2013): Postcolonial Studies – The Key Concepts. Abingdon: Routledge.

Assmann, A. (2013): Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur – Eine Intervention. München: C.H. Beck.

Assmann, A.; Shortt, L. (2012): Memory and Political Change – Introduction. In: dieselben (eds.): Memory and Political Change. Hamp­shire: Palgrave Macmillan, S. 1-14.

Becker, F. (2005): Südost-Tansania nach dem Maji-Maji-Krieg – Unterentwicklung als Kriegsfolge? In: Becker, F.; Beez, J. (Hrsg.): Der Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika, 1905-1907. Berlin: Ch. Links Verlag, S. 184-195.

Bell, D. (2006): Introduction – Memory, Trauma and World Politics. In: derselbe (Hrsg.): Mem­ory, Trauma and World Politics – Reflections on the Relationship between Past and Present. Basingstoke: Palgrave Macmillan, S. 1-29.

Bhabha, H.K. (1994): The Location of Culture. London: Routledge.

Butler, J. (2010): Raster des Krieges – Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt a.M.: Campus.

Butler, J. (2005): Gefährdetes Leben – Politische Essays. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Danieli, Y. (2006): Essential Elements of Healing after Massive Trauma – Complex Needs Voiced by Victims/Survivors. In: Sullivan, D.; Tifft, L. (eds.): Handbook of Restorative Justice. A Global Perspective. London: Routledge, S. 343-354.

Eyerman, R. (2001): Cultural Trauma – Slavery and the Formation of African American Identity. Cambridge: Cambridge University Press.

Fanon, F. (2017) [1961]: Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Fanon, F. (1980) [1952]: Schwarze Haut, weiße Masken. Frankfurt a.M.: Syndikat.

Förster, L. (2010): Post-koloniale Erinnerungslandschaften – Wie Deutsche und Herero in Namibia des Kriegs von 1904 gedenken. Frankfurt a.M.: Campus.

Halbwachs, M. (1967) [1939]: Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag.

Ibreck, R. C. (2009): Remembering humanity – The politics of genocide memoralisation in Rwanda. Dissertation submitted to the University of Bristol, Faculty of Social Sciences, Department of Politics.

Krüger, G. (1999): Kriegsbewältigung und Geschichtsbewußtsein – Realität, Deutung und Verarbeitung des deutschen Kolonialkriegs in Namibia. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Kühner, A. (2003): Kollektive Traumata – Eine Bestandsaufnahme. Annahmen, Argumente, Konzepte nach dem 11. September. Berghof Report Nr. 9. Berlin: Berghof Forschungszentrum für konstruktive Konfliktbearbeitung.

Muschalek, M. (2016): Von der Ohrfeige bis zum Völkermord – Koloniale Gewalt. In: Stiftung Deutsches Historisches Museum (Hrsg.): Deutscher Kolonialismus – Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart. Darmstadt: WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) Darmstadt, S. 42-49.

Rothberg, M. (2014): Preface. Beyond Tancred and Clorinda – trauma studies for implicated subjects. In: Buelens, G.; Durrant, S.; Eaglestone, R. (eds.): The Future of Trauma Theory – Contemporary Literary and Cultural Criticism. London: Routledge, S. xi-xviii.

Rothberg, M. (2009): Multidirectional Memory – Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Stanford: Stanford University Press.

Wienand, K.; Brandes, K. (2016): Deutschland (post)kolonial? Visuelle Erinnerungskulturen und verwobene Geschichte(n) – Eine Einleitung. Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur, Nr. 59, S. 5-23.

Pia Falschebner studierte den Bachelor Angewandte Afrikawissenschaften an der Universität Bayreuth und den Master Friedens- und Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg. Für Ihre Masterarbeit »Dekolonisierung. Macht. Erinnerung. Perspektiven von Betroffenen auf die Erinnerungskultur des deutschen Kolonialismus und post-koloniale Transformationspotentiale« erhielt sie den Christiane-Rajewski-Preis 2020 der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK). Ab Herbst 2020 wird sie am Zentrum für Konfliktforschung in Marburg promovieren.

Wir können auch hier nicht atmen

Wir können auch hier nicht atmen

von Tarek Shukrallah

Die in den vergangenen Wochen im Globalen Norden wie ein Lauffeuer um sich greifenden Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt brachten auch in Deutschland die Frage auf das Tapet der weißen Allgemeinbevölkerung, ob diese Gesellschaft, ob der Staat und seine Mitarbeiter*innen ein Rassismusproblem haben. Von Minneapolis nach Mittelhessen diskutiert mit einem Mal die Mittelklasse strukturellen Rassismus. Für Schwarze Menschen und People of Color ist die Debatte ein zweischneidiges Schwert. Endlich, sagen einige. Andere mahnen zu Misstrauen. Denn: Während Horst
Seehofer eine Studie zu rassistischen Polizeikontrollen, dem »racial profiling«, ablehnt, möchte er nun Gewalt gegen Polizist*innen erforschen lassen. Nach Ausschreitungen in Stuttgart betreibt die ermittelnde Behörde Stammbaumforschung – bei den migrantisierten Tatverdächtigen, versteht sich. Man könnte sagen: Auch das ist ein Debattenergebnis. Und es deutet darauf hin, warum trotz der besonderen Herausforderungen in Zeiten der Pandemie auch in Deutschland in unzähligen Groß- und Kleinstädten Zehntausende betroffene Menschen gegen Rassismus und Polizeigewalt auf die Straße gegangen
sind.

Rassistische Polizeigewalt ist Alltag für Schwarze Menschen und People of Color. Tagtäglich werden an Bahnhöfen und an anderen öffentlichen Plätzen in der Bundesrepublik nicht-weiße Menschen von Polizei und Sicherheitsdiensten systematisch kontrolliert und schikaniert. Die Initiative »Death in Custody« konstatiert: Seit 1990 gab es 139 Todesfälle von Schwarzen Menschen und People of Color in Gewahrsam, zehn davon alleine im vergangenen Jahr. 2018 verbrannte Amad Ahmad in einer Zelle der JVA Kleve, nachdem er zwei Monate fälschlich in Polizeigewahrsam gehalten wurde. Man hatte ihn mit einer
völlig anderen Person mit gänzlich anderem Namen und Aussehen verwechselt. Doch für den Innenminister und seine Mitarbeiter*innen ist die Migration die Mutter aller Probleme. In Hanau wurden am 19. Februar zehn Menschen in einer Shisha-Bar von einem Rechtsterroristen ermordet. Der Vorfall wäre nicht denkbar ohne die Kriminalisierung von solchen überwiegend migrantisch geprägten Orten. So sorgte etwa das Nordrhein-westfälische Innenministerium unter Herbert Reul in den vergangenen Jahren systematisch für Razzien in Shisha-Bars, ohne je belastbares Material zu finden. Für viele Schwarze
Menschen und People of Color in Deutschland gehören Shisha-Bars zu den wenigen Orten, an denen sie sich ohne Angst vor Fremdheits- und Diskriminierungserfahrungen aufhalten können. Es sind Orte, an deren Pforte das überwiegend jugendliche Publikum nicht gescheitert ist. Indes werden sie an den Türen der Clubs und Kneipen der Allgemeinbevölkerung abgewiesen.

Im Zusammenhang mit der in den letzten Monaten wieder lauter gewordenen Kritik an Rassismus bei Sicherheitskräften und insbesondere bei der Polizei wurden Kritiker*innen immer wieder hämisch gefragt, ob sie denn nicht im Notfall oder bei Gefahr für Leib und Leben die Polizei riefen. Dieses Argument ist so zynisch wie dumm, denn tatsächlich rufen viele Schwarze Menschen und People of Color die Polizei nicht. Das Risiko einer Kriminalisierung, Inhaftierung oder gar des Todes in Polizeigewahrsam ist zu hoch. Für Menschen mit Rassismuserfahrungen in Deutschland sind Sicherheitskräfte oftmals
einfach Sicherheitsrisiken. Die Polizei wird zur Gefahr für Leib und Leben. Als Alternative entwickelten ebenjene Gruppen Ansätze wie die »community accountability«, um selbst mit Gewalt und Kriminalität, auch und insbesondere innerhalb der eigenen Lebenswelten, umgehen zu können, ohne sich der Gefährdung durch Polizeibehörden aussetzen zu müssen.

Gewalt bei Sicherheitskräften ist nicht durch Sensibilisierung und Reflexion innerhalb der Sicherheitsapparate lösbar. Sie ist ein systemisches Problem. Es ist jene Gewalt, die wesentlich dazu beiträgt, eine bestehende Ordnung zu reproduzieren, indem sie durch systematische Marginalisierung Widerstand gegen strukturellen und direkt vermittelten Rassismus verhindert. Auf diese Weise trägt sie dazu bei, dass rassifizierte Ausbeutungsverhältnisse aufrecht erhalten werden können. Es ist nur konsequent, dass sich heute Menschen mit Rassismuserfahrungen zusammentun und politisch organisieren,
sich dem Integrationsethos widersetzen und einen Platz im Diskurs einfordern – und mit ihm radikale Veränderungen.

Tarek Shukrallah ist Politikwissenschaftler*in, politische*r Referent*in und Aktivist*in in sozialen, migrantischen bzw. ­antirassistischen sowie queeren Bewegungen und betreibt die digitale Skill-­sharing-Plattform partizipieren.org.

Debating Postcolonialism

Debating Postcolonialism

Workshop des AK Theorie der AFK, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, 1.-2.2.2019

von Hartwig Hummel, Lotta Mayer und Frank A. Stengel

Was können de- und postkoloniale Perspektiven zur Friedens- und Konfliktforschung (FKF) beitragen? Was bedeutet de- und postkoloniale Kritik für bestehende Ansätze und zentrale Analysebegriffe der FKF?

Mit diesen Fragen beschäftigte sich aus der Perspektive der deutschsprachigen, in der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK) organisierten FKF der zweitägige Workshop des AK Theorie der AFK, der am 1. und 2. Februar 2019 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf stattfand und durch die Deutsche Stiftung Friedensforschung gefördert wurde. Der Ausgangspunkt des Workshops »Debating Postcolonialism – Eine kritische Auseinandersetzung mit postkolonialen Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung« war die Beobachtung, dass die international in sehr vielen
Disziplinen sehr lebhafte Debatte um de- und postkoloniale Perspektiven in der deutschsprachigen FKF – im Unterschied zur englischsprachigen – wenig rezipiert wird. Zwar fanden die genannten Ansätze mittlerweile in Form von Publikationen Eingang in die deutschsprachige FKF (vgl. etwa den von Cordula Dittmer 2018 herausgegebenen ZeFKo-Sonderband »Dekoloniale und Postkoloniale Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung«), doch ihre Rezeption ist nach wie vor sehr begrenzt. Erstens ist die Anzahl von de- und postkolonialen Beiträgen bislang noch sehr überschaubar; zweitens
ist zu beobachten, dass eine systematische – ob nun affirmative oder kritische – inhaltliche Auseinandersetzung mit solchen Perspektiven bisher, wenn überhaupt, in nur sehr geringem Maß stattfindet.

Dies ist insofern überraschend, als de- und postkoloniale Perspektiven zum einen mit ihrer Kritik an der Fortschreibung kolonialer Hierarchien zwischen dem „Westen“ und dem „Rest“ (Stuart Hall) durch westliche »Friedens-« und »Entwicklungs-« Politik – einschließlich ihrer teilweise sehr gewalt­reichen Folgen, welche ihre Bezeichnung konterkarieren – einen zentralen Analysegegenstand der FKF ins Visier nehmen. Mehr noch: Teils stellen die genannten Politikbereiche auch ein Betätigungsfeld der FKF dar, insofern diese sich auch als praktische Wissenschaft
versteht. Gerade vor diesem Hintergrund wäre zum anderen zu erwarten, dass die FKF (und zwar auch die deutsche) darüber diskutiert, ob die von Vertreter*innen post- und dekolonialer Ansätze konstatierte Verstrickung akademischer Wissensproduktion in die Reproduktion von Eurozentrismus und Kolonialität auch in der FKF vorzufinden bzw. in manche ihrer zentralen Begriffe eingeschrieben ist. Dies wäre umso mehr zu erwarten, als die FKF, wie Christoph Weller argumentiert, eine „reflexive Wissenschaft“ ist, d.h. eine Wissenschaft, die kritisch ihre eigene Wissensproduktion hinterfragt.
Jedoch finden diese Auseinandersetzungen, soweit wir das überblicken, bislang allenfalls sehr randständig statt.

Vor diesem Hintergrund war es das Ziel des Workshops, Vertreter*innen de- und postkolonialer Ansätze mit Friedensforscher*innen zusammenzubringen, die sich bislang nicht oder nicht primär mit solchen Ansätzen befasst haben, um die theorieübergreifende Debatte über de- und postkoloniale Perspektiven voranzutreiben – aber nicht über die Köpfe von deren Vertreter*innen hinweg, sondern im Dialog mit ihnen. Gemeinsam sollte der Beitrag de- und postkolonialer Ansätze zur FKF, aber auch deren Grenzen, ausgelotet werden. Nachfolgend fassen wir zentrale Diskussionspunkte, Schlussfolgerungen
und offene Fragen zusammen, die unserer Ansicht nach von übergreifendem Interesse für die FKF sind.

Zentrale Diskussionspunkte waren (1) die Frage nach dem Verhältnis von kritischen und postkolonialen Ansätzen in der FKF, (2) die Vor- und Nachteile eines um den Begriff der »epistemischen Gewalt« erweiterten Gewaltbegriffs, womit auch die Frage nach der Möglichkeit gewaltfreier Wissenschaft überhaupt angesprochen war, und (3) die wiederum damit verbundene Frage der Bewertung von westlicher Moderne und Rationalität überhaupt.

Kritische und postkoloniale Ansätze in der FKF

Da die meisten, wenn nicht sogar alle, Workshop-Teilnehmer*innen sich explizit selbst als Vertreter*innen einer kritischen FKF verstanden, waren die miteinander verbundenen Fragen, worin post- und dekoloniale Ansätze mit anderen kritischen Ansätzen übereinstimmen, wo zentrale Unterschiede liegen und was erstere entsprechend einer kritischen FKF noch hinzufügen, von wesentlichem Interesse. Übereinstimmung bestand dahingehend, dass die FKF in zwei Dimensionen kritisch sein müsse: zu den sozial hergestellten Gegebenheiten, die sie in ihrem Feld vorfindet (also zum empirischen Gegenstand), als
auch zu sich selbst. In beiden Dimensionen, auch hier waren die Diskutierenden sich einig, leisten post- und dekoloniale Ansätze einen wichtigen Beitrag.

Besonders lebhaft entwickelte sich die Debatte im Hinblick auf die spezifischen forschungsethischen Folgerungen, die sich aus einer post- bzw. dekolonialen Sichtweise ergeben. Konsensuell war die Forderung, vorab das persönliche Erkenntnisinteresse und den eigenen Standpunkt zu reflektieren und nicht bloß den jeweiligen Fall weiterhin aus einer distanzierten Perspektive zu analysieren. Kontrovers diskutiert wurde dagegen der Versuch, sich vermeintlich authentischer, vorkolonialer Begriffe und Bewertungen zu bedienen. Allerdings verwiesen die anwesenden Vertreter*innen postkolonialer
Perspektiven darauf, dass auch die Orientierung an universalistischen, global geltenden Werten, wie z.B. den Menschenrechten, angesichts von deren Entstehungszusammenhang in der mit dem Kolonialismus eng verwobenen westlichen Aufklärung keinesfalls unproblematisch sei.

Michaela Zöhrer wies in ihrem Papier einige Punkte zurück, die sehr häufig aus der Perspektive anderer kritischer Ansätze an postkolonialen Studien vorgebracht werden (insbesondere den einer Ausblendung materieller Ungleichheiten durch einen bloßen Fokus auf symbolische Ungleichheit). Auf der anderen Seite warf Hartwig Hummel die grundsätzliche Frage nach dem Standpunkt postkolonialer Kritik auf: Wo verorteten sich denn de- und postkoloniale Ansätze selbst in der Wissenschaft, wenn sie doch gleichzeitig behaupteten, dass die Wissenschaft als Teil der Moderne durch und durch kolonial
durchdrungen sei?

Die Diskussion nach dem Standpunkt de- und postkolonialer Ansätze führte zum grundlegenden epistemologischen bzw. metaethischen Problem aller »kritischen« (auch z.B. feministischen oder kapitalismuskritischen) Ansätze, nämlich der Frage, inwieweit Wissenschaftler*innen es vermögen, einen Diskurs kritisch zu reflektieren und ihm widersprechende Positionen zu formulieren, wenn sie doch im Foucault’schen Sinne durch ihn erst objektiviert (zu Subjekten gemacht) werden. Denn bei aller Heterogenität teilen kritische Ansätze ja die Annahme, dass es eben keinen Archimedischen Punkt außerhalb von
Gesellschaft gibt, von dem aus letztere objektiv beobachtet werden könnte.

Epistemische Gewalt: Kann Wissenschaft gewaltfrei sein?

Ein weiterer Gegenstand intensiver Diskussion war der Begriff der »epistemischen Gewalt« in Claudia Brunners Beitrag. Brunner versteht darunter den „Beitrag zu gewaltförmigen gesellschaftlichen Verhältnissen, der im Wissen selbst, in seiner Genese, Ausformung, Organisation und Wirkmächtigkeit angelegt ist“ (Brunner 2015: Das Konzept epistemische Gewalt als Element einer transdisziplinären Friedens- und Konflikttheorie. In: Friedensforschung in Österreich, hrsg. von Wintersteiner und Wolf; S. 39). Diese Debatte verweist zunächst auf die (für die FKF nicht ganz neue) Frage der
Vor- und Nachteile einer Erweiterung des Gewaltbegriffs. Einerseits geht es dabei um das Bemühen, die Rolle von Wissen bzw. Diskursen, Kultur usw. beim Entstehen und dem Fortbestand von physischer Gewalt ernst zu nehmen; andererseits führt dies zum Problem der Unterscheidbarkeit von angrenzenden Phänomenen, wie sozialer Ungleichheit, und zur Sorge, ob eine Erweiterung des Gewaltbegriffs möglicherweise auch für Delegitimierungsstrategien genutzt werden könnte, wie in der Diskussion insbesondere Klaus Ebeling hervorhob. Allerdings gingen Brunners Beitrag und die an ihn anschließende Diskussion
in mehreren zentralen Aspekten über die in der FKF etablierten erweiterten Gewaltbegriffe hinaus. Erstens kritisierte Brunner Johan Galtungs Konzept der kulturellen Gewalt als ein Beispiel für Eurozentrismus. Zweitens wurde heftig diskutiert, inwieweit Galtung vorgeworfen werden könne, selbst Wissen unsichtbar gemacht zu haben, indem er zwar de- und postkoloniale Argumente aufgenommen habe, dies allerdings nur in relativ holzschnittartiger Weise und ohne die Quellen derart zu nennen, dass die Herkunft der Argumente nachvollzogen werden könne. Drittens stellte Brunner die grundsätzlichere
Frage, inwieweit epistemische Gewalt überhaupt jemals vollkommen vermieden werden könne und, damit verbunden, ob gewaltfreie Wissenschaft überhaupt möglich sei. In seinem Kommentar bezweifelte Christoph Weller jedoch, dass die Dekonstruktion wissenschaftlicher Autorität durch die Offenlegung impliziter Annahmen und inhärenter Widersprüche – ein zentraler Anspruch vieler »kritischer« Analysen – aus methodologischer Sicht überhaupt möglich sei und wenn doch, ob diese automatisch zu einer Reduktion epistemischer Gewalt führe.

Die hier aufgeworfene Frage der (Mit-) Verantwortung von Wissenschaft zog sich als eine zentrale Diskussionslinie durch die gesamte Tagung. Alke Jenss und Ruth Streicher erinnerten an die Verquickung der Entstehungsprozesse von moderner Wissenschaft, Kolonialismus und Kapitalismus. Ebenso wurde darauf verwiesen, dass Wissenschaft dazu genutzt wurde und wird, andere Wissensformen und -bestände insbesondere in den Ländern des Globalen Südens zu delegitimieren. Während in diesem Punkt weitgehend Einigkeit unter den Tagungsteilnehmer*innen bestand, blieb jedoch die Frage nach den Konsequenzen
einer inhärenten Gewaltsamkeit von Wissenschaft für den von ihr erhobenen Wahrheitsanspruch und für ihr emanzipatorisches Potential offen. Soll Wissenschaft ihren Wahrheitsanspruch – der, hier bestand Einigkeit, nur kontingenterweise auch eingelöst werden kann – aufgeben? Oder ist der Wahrheitsanspruch im Gegenteil konstitutiv auch für die Möglichkeit von Emanzipation im Sinne der Überwindung bestehender Abhängigkeiten und Machtungleichgewichte und als solcher gerade auch in emanzipatorischer Absicht aufrechtzuerhalten, trotz aller Uneinlösbarkeit und aller Ambivalenz infolge der
Instrumentalisierbarkeit von Wissenschaft und ihrer Ergebnisse? Hier wurden sehr unterschiedliche wissenschaftstheoretische Positionen erkennbar, die eine vertiefende Diskussion lohnen würden.

Zur Bewertung der Moderne

In einem engen Zusammenhang mit dieser wissenschaftstheoretischen Frage stand die noch grundlegendere Auseinandersetzung über die Definition und Bewertung moderner Rationalität. Hier wurden sehr grundlegende Differenzen zwischen einigen der Tagungsteilnehmer*innen sichtbar – wobei, dies soll hier ausdrücklich betont werden, die Trennlinie keinesfalls einfach zwischen Vertreter*innen postkolonialer Ansätze und »dem Rest« verlief. Die zentrale und in sehr unterschiedlicher Weise beantwortete Frage lautete letztlich – in Anlehnung an Jürgen Habermas reformuliert –, ob die
westliche Rationalität mit der instrumentellen Rationalität, die konstitutiv für Kapitalismus und Kolonialismus war, zusammenfalle oder ob dies nicht der Fall sei, weil auch noch andere Formen der Rationalität bestünden. Klaus Ebeling argumentierte, dass die westliche Moderne nicht nur von einem Zugewinn an Verfügungswissen getragen sei, sondern auch von einem Zugewinn an Reflexionswissen. Der Zugewinn an Reflexionswissen, von dem die moderne Wissenschaft ein Teil sei, bedeute auch ein Potential für Emanzipation.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Auseinandersetzung mit de- und postkolonialen Perspektiven von den Teilnehmenden als notwendig und gleichzeitig nutzbringend für die eigene Arbeit gesehen wurde – insbesondere hinsichtlich der Sensibilisierung für Selbstreflektion, die zwar in der FKF durchaus thematisiert wird, aber nicht notwendig in Forschung und Lehre ausreichend Beachtung findet. Gleichzeitig muss ebenso festgehalten werden, dass der Workshop mehr Fragen, auch sehr grundlegender wissenschafts- und gesellschaftstheoretischer Art, aufgeworfen als beantwortet hat. Er kann
nur Anfangspunkt eines ungleich breiteren Verständigungsprozesses innerhalb der FKF sein, den es noch anzustoßen gilt. Denn auch wenn durchaus kontrovers über einzelne Aspekte diskutiert wurde, bestand grundsätzliche Einigkeit darin, dass die FKF gut daran täte, de- und postkoloniale Argumente ernst zu nehmen. Insbesondere die Kritik des Eurozentrismus und der nachdrückliche Hinweis auf eine mögliche unbeabsichtigte Fortschreibung von Kolonialität auch in Forschung und Lehre sind für eine FKF wichtig, die sich dem Ideal der Gewaltfreiheit verschrieben hat, denn eine unzureichende Reflexion
birgt letztlich das Risiko, dass die FKF durch die unbeabsichtigte Legitimierung gewaltsamer Verhältnisse ihre eigenen Bemühungen untergräbt.

Hartwig Hummel, Lotta Mayer und Frank A. Stengel

Nachgefragt: Was ist epistemische Gewalt?


Nachgefragt: Was ist epistemische Gewalt?

Ein Interview mit Claudia Brunner

von Thomas Mickan

Claudia Brunner ist Assistenzprofessorin am Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Die Sozialwissenschaftlerin beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen politischer und epistemischer Gewalt, einem in der Friedens- und Konfliktforschung noch wenig bekannten Begriff. Worum geht es dabei?

Thomas Mickan für W&F: Was ist denn überhaupt epistemische Gewalt?

Der Begriff bezeichnet jene Gewaltförmigkeit, die mit unserem Wissen zu tun hat. Diese verortet er in einer globalen Dimension von Ungleichverhältnissen, die immer auch Gewaltverhältnisse sind. Das klingt paradox, erstens, weil Wissen – das Epistemische – ja geradezu als Gegenmittel zu Gewalt verstanden wird, und zweitens, weil sich Wissenschaft als universelle Sprache der Gewaltlosigkeit zu inszenieren weiß. Diese Selbstverständlichkeit in Frage zu stellen ist eine Stärke des Begriffs »epistemische Gewalt«.

TM: Wozu brauchen wir den?

Ich denke, dass wir generell wieder mehr mit weiten Gewaltkonzepten arbeiten sollten, um die unterschiedlichsten Facetten gewaltförmiger Verhältnisse besser problematisieren zu können. Strukturelle, kulturelle oder symbolische Gewalt sind als Begriffe lange bekannt, werden in tonangebender Forschung und Politik jedoch immer wieder zugunsten eines engen Verständnisses von Gewalt vernachlässigt.

Dass und wie unterschiedliche Gewaltphänomene zusammenhängen, können wir über eine Infragestellung dominanten und damit normalisierten Wissens besser erkennen. Nicht zuletzt geht es auch darum, die Metropolen von Wissen und Macht im Globalen Norden/Westen als für Gewalt relevante Orte zu markieren. Kritische Friedensforschung und weite Gewaltkonzepte tun das ja immer schon. Der Begriff »epistemische Gewalt« schärft diese Perspektive und fordert zugleich ein, die eigene Wissensproduktion zu hinterfragen.

TM: Was unterscheidet epistemische Gewalt von struktureller Gewalt?

Im Grunde sind die Konzepte eng verwandt, doch sie werden selten gemeinsam genannt. Beide kommen aus der Kritik am Kapitalismus, und beide haben die globale Dimension systemischer Ungleichheit im Blick – doch auf unterschiedliche Weise. Während strukturelle Gewalt in der Tradition Johan Galtungs vorrangig auf materielle Ressourcen, Institutionen und Ordnungen fokussiert, fragt epistemische Gewalt im Anschluss an Gayatri Spivak intensiver nach den Wissensbeständen, die diesen Ordnungen zugrunde liegen. Man könnte auch sagen, dass das Konzept strukturelle Gewalt am Erbe der Aufklärung festhält, wohingegen die Analyse epistemischer Gewalt dieses Erbe in die Gewaltkritik miteinschließt.

TM: Ist die/Deine Forschung zu epistemischer Gewalt einer bestimmten Theorietradition oder Forschungsströmung verpflichtet oder besonders nah?

Es sind insbesondere feministische, post- und dekoloniale Theoretiker*innen, die den Begriff prägen und benutzen. Wenig überraschend sind das kritische Wissen(schaft-)straditionen, die sich aus widerständigen sozialen Bewegungen entwickelt haben. Diese verlaufen als Ringen nicht nur um Anerkennung und Partizipation am Bestehenden, sondern auch um dessen substanziellen Wandel. Weil die herrschenden Ideen immer auch die Ideen der Herrschenden sind, bedeutet Kritik daher auch, diese Selbstverständlichkeiten herauszufordern.

Zentral für das Konzept epistemischer Gewalt ist die Analyse von Rassismus und Sexismus, weil diese die globale Arbeits- und Ressourcen(ver-)teilung eines globalisierten kapitalistischen Weltsystems organisieren und naturalisieren. Dessen Anfänge liegen in der kolonialen Expansion Europas seit dem so genannten »langen 16. Jahrhundert«. Die war nicht nur mit Geld und Waffen zu machen, sondern benötigte zunehmend universalisiertes Wissen und entsprechende Normen, um die Ausbeutung von Menschen und Ressourcen ebenso wie die Vernichtung von alternativen Wissens- und Seinsweisen zu rechtfertigen.

TM: Wie kann Friedensforschung (­epistemische) Gewalt sein?

Friedensforschung hat ein Bild von Wissen(schaft), Bildung und damit letztlich auch von sich selbst, das als Gegenpol zu Gewalt dient und auch zu deren Überwindung beitragen soll. Gewalt ist dabei meist anderswo, anderswer und anderswas – hat also mit Analyse, Theorie und Begriffen der Friedensforschung selbst scheinbar nichts zu tun. Mit diesem Wissen wird aber auch Politik für dieses Anderswo gemacht, sei es als »humanitäre Intervention« gegenüber »gescheiterten Staaten«, als »Entwicklungspolitik«, zur Herstellung von »innerer Sicherheit» oder zu »Peacebuilding«. Aber auch Friedenspädagogik ist weitgehend einem eurozentrischen Universalismus verpflichtet, der bisweilen mehr mit Befriedung als mit Befreiung zu tun hat.

Die Grundlagen dieser konzeptionellen Zugriffe auf Ungleichheits- und Gewaltverhältnisse sind wie alle Wissenschaften tief verwurzelt in der euro- und androzentrischen Tradition der Moderne, deren »dunkle Unterseite«, die anhaltende Kolonialität von Macht, Wissen und Sein, dabei nicht zur Sprache kommt. Gerade dorthin richtet der Begriff »epistemische Gewalt« den Blick, um nach angemesseneren Wegen zu einem »positiven Frieden« zu suchen.

TM: Muss die FuK mehr Selbstreflexivität üben, um dieser »Gefahr« zu entgehen, oder wie kann gute Praxis im Umgang mit epistemischer Gewalt aussehen?

Ich spreche mit Gaby Dietze lieber von Hegemonieselbstkritik als von Selbstreflexivität. Friedensforschung muss ihren eigenen Anteil an der Normalisierung von Gewaltverhältnissen an weiten Gewaltbegriffen messen, anstatt implizit die Annahme der eigenen Gewaltfreiheit zu verabsolutieren. Dabei kann sie weiterhin von feministischen, post- und dekolonialen Stimmen sowie von sozialen Bewegungen lernen, die in täglichen Auseinandersetzungen um Würde, Gerechtigkeit und eine weniger von Gewalt durchdrungene Zukunft ringen.

Weiterführende Literatur von Claudia Brunner

2013: Situiert und seinsverbunden in der »Geopolitik des Wissens« – Politisch-epistemische Überlegungen zur Zukunft der Wissenssoziologie. Zeitschrift für Diskursforschung, Jg. 1, Nr. 3, S. 226-45.

2016: Das Konzept epistemische Gewalt als Element einer transdisziplinären Friedens- und Konflikttheorie. In: Wintersteiner, W.; Wolf, L. (Hrsg): Friedensforschung in Österreich – Bilanz und Perspektiven. Klagenfurt: Drava, S. 38-53.

2016: Gewalt weiter denken in der Kolonialität des Wissens. In: Ziai, A. (Hrsg.): Postkoloniale Politikwissenschaft – Theoretische und empirische Zugänge. Bielefeld: transcript, S. 90-108.

2017: Friedensforschung und (De-)Kolonialität. ZeFKo – Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung, Jg. 6, Nr. 1, S. 149-63.

2017: Von Selbstreflexion zu Hegemonieselbstkritik. Sicherheit und Frieden, Jg. 35, Nr. 4, S. 196-201.

2018: Epistemische Gewalt – Konturierung eines Begriffs für die Friedens- und Konfliktforschung. In: Dittmer, C. (Hrsg.): Dekoloniale und Postkoloniale Perspektiven in der Friedensforschung – Verortungen in einem ambivalenten Diskursraum. Baden-Baden: Nomos (ZeFKo – Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung, Sonderband 2), S. 25-59.

Eine Projektbeschreibung und Publikationen zum Thema finden sich unter epistemicviolence.info.

Thomas Mickan ist Politikwissenschaftler, Beirat der Informationsstelle Militarisierung und Mitglied der W&F-Redaktion.

Wissenschaft im Dienste des Militärs

In den verschiedensten Facetten war das Thema »Wissenschaft im Dienste des Militärs« bereits in der Schwerpunktsetzung früherer W&F-Ausgaben und Dossiers präsent. Zum Beispiel:

3-2005: Verantwortung der Wissenschaft

4-2006: Zivil-militärische Zusammenarbeit

3-2009: Okkupation des Zivilen

4-2012: Rüstung – Forschung und Industrie

1-2016: Forschen für den Frieden

Dossier 50: Einstein weiterdenken – Sein Einsatz für Frieden und Abrüstung und die Verantwortung der Wissenschaft.

Dossier 78: Zivilklauseln – Lernen und Forschen für den Frieden

Dossier 79: Kriegführung im Cyberspace

Dossier 85: Transhumanismus und Militär

Die Verantwortung der Wissenschaft, zivil-militärische Zusammenarbeit, Dual-use – das sind Themen, die in W&F immer wieder außerhalb der Schwerpunktthemen berücksichtigt werden, auch mit Blick zurück in die Geschichte und über Europa hinaus. Eine kleine Auswahl aus den letzten zehn Jahren:

2-2007: Nanotechnologieforschung in Lateinamerika – Der Einfluss des US-Militärs

3-2009: Hochschulen und Militärforschung

1-2010: Wissenschaftler, Verantwortung und der Krieg

1-2010: Der Bau der ersten Atombomben und die Motive der beteiligten ­Wissenschaftler

3-2010: Zivilklauseln für alle Hochschulen

1-2011: Militarisierung der Hochschulen verhindern

2-2011: Militärisch-industrieller Komplex im Wandel

4-2012: Der MIK der Europäischen Union

4-2012: Zivil-militärische Sicherheitsforschung

1-2013: Forschen für den Krieg. Psychologische Aspekte der Rüstungsforschung im Nationalsozialismus

3-2014: Physiker im Ersten Weltkrieg – Die Verlobung von moderner Wissenschaft, Industrie und Militärforschung

2-2015: Drohnen – Eine unaufhaltsame Entwicklung?

2-2015: Militarisierung des Cyberspace

3-2016: Kooperation zwischen Hochschule Bremen und Bundeswehr

2-2017: Zivilklausel auf Japanisch. Japanische Universitäten ächten Militär­forschung

Zusammengestellt von Jürgen Nieth

Friedensforschung und (De)Kolonialität

Friedensforschung und (De)Kolonialität

Workshop des Arbeitskreises Herrschaftskritische Friedens- und Konfliktforschung innerhalb der AFK, 7.-9. Dezember 2016, Wien

von Mechthild Exo

Anfang Dezember 2016 fand der Workshop »Friedensforschung und (De)Kolonialität« statt, organisiert vom noch jungen Arbeitskreis Herrschaftskritische Friedens- und Konfliktforschung innerhalb der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK). Bereits der Ort des Workshops war mit zwei kleinen Besonderheiten verbunden: Wir waren in Wien und gleichzeitig an der Universität Klagenfurt, von der aus dieser Workshop in Kooperation mit der Goethe-Universität Frankfurt am Main organisiert wurde. Claudia Brunner vom Zentrum für Friedensforschung und Friedenspädagogik der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, die uns gemeinsam mit Viktorija Ratkovi? als Organisatorinnenteam begrüßte, erklärte zu Beginn diese Besonderheit der Klagenfurter Uni, die Räume in Wien ihr eigen nennt. Erstmalig hat zudem die Deutsche Stiftung Friedensforschung (DSF) mit diesem Workshop ein Projekt finanziell gefördert, das nicht in Deutschland, sondern in Österreich durchgeführt wurde.

Als wir zwei Tage später den Workshop beenden, ist auf großen Plakaten Inspirierendes und Nachdenkliches gesammelt: „Friedensforschung ist ein guter Ort, um von hier aus intensiver an kognitiver und materieller Dekolonialisierung zu arbeiten – aber realistisch bleiben“ versus „utopische Ziele als befreiende, dekolonialisierende Prozesse JETZT verwirklichen“; „Dekolonialisierung bedeutet … explizites Ein- und Auftreten für Frieden und Gerechtigkeit“ und „Dekolonialisierung ist keine Metapher: Unordnungen & Umbrüche sind radikal … – aushalten?!“. Es werden auch offene Fragen festgehalten: „Unter welchen Bedingungen verlieren de-/postkoloniale Ansätze ihr emanzipatorisches Ziel?“, „Dekolonialität ? Frieden ? Gerechtigkeit – Konflikte benennen – zuspitzen?“, „Wissenschaftliche Praxis kaputthandeln – hä? – JAAA!“.

Vorausgegangen waren zweieinhalb Tage intensiver gemeinsamer Arbeit und bereits vor Beginn die Ausarbeitung von elf Aufsätzen. Diese Aufsätze wurden in einem eher selten praktizierten Format nicht von den Autor*innen selbst, sondern von einer anderen Person vorgestellt und gemeinsam ausführlich kommentiert und diskutiert. Das war für die meisten neu. Eine noch aktivere Beteiligung als gewöhnlich war von allen Teilnehmenden gefordert, und es zeigte sich, dass wir schnell in intensive Diskussionen kamen, angeregt durch die vorangegangene Lektüre der Aufsätze.

Am Anfang stand eine Auseinandersetzung um die Frage, ob epistemische Gewalt nicht besser als epistemische Macht bezeichnet werden sollte. Die tatsächliche Gewaltform, die durch Episteme wirksam wird und sich besonders deutlich in den kolonialen Wurzeln und Verwicklungen der eurozentrischen Wissensform zeigt, die als die universell gültige Wissenschaft verbreitet Anerkennung findet – angefangen mit der historischen Kategorisierung der Bewohner*innen der Kolonien als Nicht-Menschen – wurde so gemeinsam erinnert. Weitere Grundbegriffe dekolonialer Theorie standen im Fokus, etwa mit der Frage, wann es sinnvoll ist, von Okzidentalismus und wann von Orientalismus zu sprechen. Ein anderes Beispiel war die Verdeutlichung des Denkens in bestimmten Temporalitäten, die mit der globalen Struktur der Kolonialität und ihrer spezifischen Rationalität der Moderne verbunden sind und alternative Zeitlichkeiten unsichtbar machen.

Diese gemeinsame Vertiefung des theoretischen Verständnisses erfolgte nicht in einer losgelösten Abstraktion, sondern immer wieder angebunden an konkrete Anwendungen. Das reichte von der dekolonialen Reflexion der Praxis von Asylentscheidungen und von Zeugenvernehmungen für den Internationalen Strafgerichtshof bis zur dekolonialen Differenzierung des Opferbegriffs in Prozessen der Transitional Justice. Für die Veränderung von Präsentationsformen wurden hilfreiche Brückenschläge zu künstlerischer Forschung aufgezeigt. Die Gestaltung von Ausstellungsformaten, die mehreren Perspektiven, einschließlich Stimmen aus dem alltäglichen Leben in Kriegsgebieten, partizipativ Raum verschaffen, wurde nicht nur theoretisch reflektiert; die betreffende Ausstellung zum Jemen war während der Workshoptage aufgebaut und konnte in den freien Zeiten besucht werden. Besonders spannend war es, im Rahmen des Workshops auch an einer postkolonialen Führung durch das Heeresgeschichtliche Museum in Wien teilnehmen zu können. So konnten direkte Vergleiche zur unterschiedlichen Präsentation bzw. Produktion von Wissen in beiden Ausstellungen gezogen werden.

Eine andere Ebene der Anwendung drückte sich in der Frage aus, ob eine Dekolonialisierung innerhalb der bestehenden akademischen Institutionen/Universitäten überhaupt und, wenn ja, wie möglich ist, oder ob es neue Orte für dekoloniale Forschung und Bildung braucht, die nach anderen Kriterien und in andersförmigen Strukturen organisiert werden. Diese Frage begleitete uns mehr oder weniger durch den gesamten Workshop sehr intensiv. Die Forderung unter anderem von Walter Mignolo nach dekolonialem Delinking (Abkoppelung) wurde dementsprechend unterschiedlich beantwortet: zum einen – Gayatri Spivaks Kritik der Hochschule als „colonial teaching machine“ aufgreifend – bezüglich der Möglichkeiten und Probleme einer „decolonial teaching machine“, die Risse in Institutionen treibt, in die wir eingebettet sind; zum anderen als Notwendigkeit einer Herauslösung aus dem beständigen Druck der Anpassung und Rechtfertigung gegenüber einem Karrieresystem, dessen Grundlagen als kolonial, patriarchal und auf Konkurrenz, Leistung und Marktverwertung orientiert abgelehnt werden. Ein Teilnehmer formulierte in seinem Paper sehr treffend das, was die Workshopteilnehmer*innen während der zwei Tage am stärksten beunruhigte: „Dekoloniale Theoretisierungen, welche dem Ziel verschrieben sind, emanzipatorisches/befreienden Wissen zu produzieren und somit einen Beitrag zur epistemischen Dekolonialisierung liefern, […] müssen sich den Fragen stellen: Wer profitiert von den kolonialen Theoretisierungen? In welche Verwertungslogiken ist diese Wissensproduktion eingebettet? Wie trägt das eigene Handeln zur Reproduktion kolonialistischer Verhältnisse bei?“ (Johannes Korak) Wie verhindern wir, dass die radikale Herrschaftskritik dekolonialer Forschung absorbiert und dekoloniale Theorie in harmloser Form integriert wird? Zum Ende des zweiten Tages ist somit auch niemand irritiert, als Bezug nehmend auf Richard Jackson und Herman Schmid Argumente für eine „Konflikte schärfende Friedensforschung“ vorgetragen werden. Das Managen von Konflikten für den Erhalt bzw. die Wiederherstellung der gegenwärtigen Ordnung(-svorstellung) wird als Problem verstanden, die Aufgabe von wissenschaftlicher Arbeit im Erhalt der Menschheit und Menschlichkeit gesehen, damit als Teil des Widerstandes, hin zur radikalen Veränderung des bestehenden Systems und zu einer neuen Gesellschaftlichkeit. Nicht nur für dieses Argument bekam die Diskussion (der Überwindung) struktureller und kultureller Gewalt in diesem Workshop viel Beachtung.

Während die Etablierung anderer Wissensformen und Forschungsmethodologien bereits zur Praxis zahlreicher globaler anti-kolonialer, indigener und feministischer Bewegungen gehört, sind wir in Europa bzw. in Deutschland und Österreich gerade dabei, die noch vereinzelten, aber bereits auf hohem Niveau bestehenden Suchbewegungen der dekolonialen Hinterfragung und Veränderung wissenschaftlicher Praxis in Verbindung miteinander zu bringen und deren Vertreter*innen in handlungsfähigen Netzwerken zu verbünden. Für das Gebiet der Friedens- und Konfliktforschung war der Workshop in Wien dafür ein gut fundierter Anfang. Dieses Ziel der Vernetzung und gestärkten Handlungsfähigkeit war neben der theoretischen und methodologischen Vertiefung sehr präsent und wurde in der abschließenden Phase des Workshops aktiv bearbeitet.

Mechthild Exo