W&F 2018/2

Nachgefragt: Was ist epistemische Gewalt?

Ein Interview mit Claudia Brunner

von Thomas Mickan

Claudia Brunner ist Assistenzprofessorin am Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Die Sozialwissenschaftlerin beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen politischer und epistemischer Gewalt, einem in der Friedens- und Konfliktforschung noch wenig bekannten Begriff. Worum geht es dabei?

Thomas Mickan für W&F: Was ist denn überhaupt epistemische Gewalt?

Der Begriff bezeichnet jene Gewaltförmigkeit, die mit unserem Wissen zu tun hat. Diese verortet er in einer globalen Dimension von Ungleichverhältnissen, die immer auch Gewaltverhältnisse sind. Das klingt paradox, erstens, weil Wissen – das Epistemische – ja geradezu als Gegenmittel zu Gewalt verstanden wird, und zweitens, weil sich Wissenschaft als universelle Sprache der Gewaltlosigkeit zu inszenieren weiß. Diese Selbstverständlichkeit in Frage zu stellen ist eine Stärke des Begriffs »epistemische Gewalt«.

TM: Wozu brauchen wir den?

Ich denke, dass wir generell wieder mehr mit weiten Gewaltkonzepten arbeiten sollten, um die unterschiedlichsten Facetten gewaltförmiger Verhältnisse besser problematisieren zu können. Strukturelle, kulturelle oder symbolische Gewalt sind als Begriffe lange bekannt, werden in tonangebender Forschung und Politik jedoch immer wieder zugunsten eines engen Verständnisses von Gewalt vernachlässigt.

Dass und wie unterschiedliche Gewaltphänomene zusammenhängen, können wir über eine Infragestellung dominanten und damit normalisierten Wissens besser erkennen. Nicht zuletzt geht es auch darum, die Metropolen von Wissen und Macht im Globalen Norden/Westen als für Gewalt relevante Orte zu markieren. Kritische Friedensforschung und weite Gewaltkonzepte tun das ja immer schon. Der Begriff »epistemische Gewalt« schärft diese Perspektive und fordert zugleich ein, die eigene Wissensproduktion zu hinterfragen.

TM: Was unterscheidet epistemische Gewalt von struktureller Gewalt?

Im Grunde sind die Konzepte eng verwandt, doch sie werden selten gemeinsam genannt. Beide kommen aus der Kritik am Kapitalismus, und beide haben die globale Dimension systemischer Ungleichheit im Blick – doch auf unterschiedliche Weise. Während strukturelle Gewalt in der Tradition Johan Galtungs vorrangig auf materielle Ressourcen, Institutionen und Ordnungen fokussiert, fragt epistemische Gewalt im Anschluss an Gayatri Spivak intensiver nach den Wissensbeständen, die diesen Ordnungen zugrunde liegen. Man könnte auch sagen, dass das Konzept strukturelle Gewalt am Erbe der Aufklärung festhält, wohingegen die Analyse epistemischer Gewalt dieses Erbe in die Gewaltkritik miteinschließt.

TM: Ist die/Deine Forschung zu epistemischer Gewalt einer bestimmten Theorietradition oder Forschungsströmung verpflichtet oder besonders nah?

Es sind insbesondere feministische, post- und dekoloniale Theoretiker*innen, die den Begriff prägen und benutzen. Wenig überraschend sind das kritische Wissen(schaft-)straditionen, die sich aus widerständigen sozialen Bewegungen entwickelt haben. Diese verlaufen als Ringen nicht nur um Anerkennung und Partizipation am Bestehenden, sondern auch um dessen substanziellen Wandel. Weil die herrschenden Ideen immer auch die Ideen der Herrschenden sind, bedeutet Kritik daher auch, diese Selbstverständlichkeiten herauszufordern.

Zentral für das Konzept epistemischer Gewalt ist die Analyse von Rassismus und Sexismus, weil diese die globale Arbeits- und Ressourcen(ver-)teilung eines globalisierten kapitalistischen Weltsystems organisieren und naturalisieren. Dessen Anfänge liegen in der kolonialen Expansion Europas seit dem so genannten »langen 16. Jahrhundert«. Die war nicht nur mit Geld und Waffen zu machen, sondern benötigte zunehmend universalisiertes Wissen und entsprechende Normen, um die Ausbeutung von Menschen und Ressourcen ebenso wie die Vernichtung von alternativen Wissens- und Seinsweisen zu rechtfertigen.

TM: Wie kann Friedensforschung (­epistemische) Gewalt sein?

Friedensforschung hat ein Bild von Wissen(schaft), Bildung und damit letztlich auch von sich selbst, das als Gegenpol zu Gewalt dient und auch zu deren Überwindung beitragen soll. Gewalt ist dabei meist anderswo, anderswer und anderswas – hat also mit Analyse, Theorie und Begriffen der Friedensforschung selbst scheinbar nichts zu tun. Mit diesem Wissen wird aber auch Politik für dieses Anderswo gemacht, sei es als »humanitäre Intervention« gegenüber »gescheiterten Staaten«, als »Entwicklungspolitik«, zur Herstellung von »innerer Sicherheit» oder zu »Peacebuilding«. Aber auch Friedenspädagogik ist weitgehend einem eurozentrischen Universalismus verpflichtet, der bisweilen mehr mit Befriedung als mit Befreiung zu tun hat.

Die Grundlagen dieser konzeptionellen Zugriffe auf Ungleichheits- und Gewaltverhältnisse sind wie alle Wissenschaften tief verwurzelt in der euro- und androzentrischen Tradition der Moderne, deren »dunkle Unterseite«, die anhaltende Kolonialität von Macht, Wissen und Sein, dabei nicht zur Sprache kommt. Gerade dorthin richtet der Begriff »epistemische Gewalt« den Blick, um nach angemesseneren Wegen zu einem »positiven Frieden« zu suchen.

TM: Muss die FuK mehr Selbstreflexivität üben, um dieser »Gefahr« zu entgehen, oder wie kann gute Praxis im Umgang mit epistemischer Gewalt aussehen?

Ich spreche mit Gaby Dietze lieber von Hegemonieselbstkritik als von Selbstreflexivität. Friedensforschung muss ihren eigenen Anteil an der Normalisierung von Gewaltverhältnissen an weiten Gewaltbegriffen messen, anstatt implizit die Annahme der eigenen Gewaltfreiheit zu verabsolutieren. Dabei kann sie weiterhin von feministischen, post- und dekolonialen Stimmen sowie von sozialen Bewegungen lernen, die in täglichen Auseinandersetzungen um Würde, Gerechtigkeit und eine weniger von Gewalt durchdrungene Zukunft ringen.

Weiterführende Literatur von Claudia Brunner

2013: Situiert und seinsverbunden in der »Geopolitik des Wissens« – Politisch-epistemische Überlegungen zur Zukunft der Wissenssoziologie. Zeitschrift für Diskursforschung, Jg. 1, Nr. 3, S. 226-45.

2016: Das Konzept epistemische Gewalt als Element einer transdisziplinären Friedens- und Konflikttheorie. In: Wintersteiner, W.; Wolf, L. (Hrsg): Friedensforschung in Österreich – Bilanz und Perspektiven. Klagenfurt: Drava, S. 38-53.

2016: Gewalt weiter denken in der Kolonialität des Wissens. In: Ziai, A. (Hrsg.): Postkoloniale Politikwissenschaft – Theoretische und empirische Zugänge. Bielefeld: transcript, S. 90-108.

2017: Friedensforschung und (De-)Kolonialität. ZeFKo – Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung, Jg. 6, Nr. 1, S. 149-63.

2017: Von Selbstreflexion zu Hegemonieselbstkritik. Sicherheit und Frieden, Jg. 35, Nr. 4, S. 196-201.

2018: Epistemische Gewalt – Konturierung eines Begriffs für die Friedens- und Konfliktforschung. In: Dittmer, C. (Hrsg.): Dekoloniale und Postkoloniale Perspektiven in der Friedensforschung – Verortungen in einem ambivalenten Diskursraum. Baden-Baden: Nomos (ZeFKo – Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung, Sonderband 2), S. 25-59.

Eine Projektbeschreibung und Publikationen zum Thema finden sich unter epistemicviolence.info.

Thomas Mickan ist Politikwissenschaftler, Beirat der Informationsstelle Militarisierung und Mitglied der W&F-Redaktion.

Wissenschaft im Dienste des Militärs

In den verschiedensten Facetten war das Thema »Wissenschaft im Dienste des Militärs« bereits in der Schwerpunktsetzung früherer W&F-Ausgaben und Dossiers präsent. Zum Beispiel:

3-2005: Verantwortung der Wissenschaft

4-2006: Zivil-militärische Zusammenarbeit

3-2009: Okkupation des Zivilen

4-2012: Rüstung – Forschung und Industrie

1-2016: Forschen für den Frieden

Dossier 50: Einstein weiterdenken – Sein Einsatz für Frieden und Abrüstung und die Verantwortung der Wissenschaft.

Dossier 78: Zivilklauseln – Lernen und Forschen für den Frieden

Dossier 79: Kriegführung im Cyberspace

Dossier 85: Transhumanismus und Militär

Die Verantwortung der Wissenschaft, zivil-militärische Zusammenarbeit, Dual-use – das sind Themen, die in W&F immer wieder außerhalb der Schwerpunktthemen berücksichtigt werden, auch mit Blick zurück in die Geschichte und über Europa hinaus. Eine kleine Auswahl aus den letzten zehn Jahren:

2-2007: Nanotechnologieforschung in Lateinamerika – Der Einfluss des US-Militärs

3-2009: Hochschulen und Militärforschung

1-2010: Wissenschaftler, Verantwortung und der Krieg

1-2010: Der Bau der ersten Atombomben und die Motive der beteiligten ­Wissenschaftler

3-2010: Zivilklauseln für alle Hochschulen

1-2011: Militarisierung der Hochschulen verhindern

2-2011: Militärisch-industrieller Komplex im Wandel

4-2012: Der MIK der Europäischen Union

4-2012: Zivil-militärische Sicherheitsforschung

1-2013: Forschen für den Krieg. Psychologische Aspekte der Rüstungsforschung im Nationalsozialismus

3-2014: Physiker im Ersten Weltkrieg – Die Verlobung von moderner Wissenschaft, Industrie und Militärforschung

2-2015: Drohnen – Eine unaufhaltsame Entwicklung?

2-2015: Militarisierung des Cyberspace

3-2016: Kooperation zwischen Hochschule Bremen und Bundeswehr

2-2017: Zivilklausel auf Japanisch. Japanische Universitäten ächten Militär­forschung

Zusammengestellt von Jürgen Nieth

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2018/2 Wissenschaft im Dienste des Militärs?, Seite 42–43