Das hybride Bündnis


Das hybride Bündnis

NATO-Osterweiterung zwischen Integration und Konfrontation

von August Pradetto

2008 war die NATO in der Frage gespalten, ob der Ukraine und Georgien ein Membership Action Plan angeboten werden und damit der Beitrittsprozess zum Bündnis eingeleitet werden soll. Das vor allem von den USA betriebene Vorhaben fand zumal in Paris und Berlin keine Zustimmung. Gleichzeitig wurde beiden Ländern aber erneut versichert, dass sie der Allianz eines Tages beitreten könnten. Da nicht abzusehen ist, dass Moskau eine ukrainische Mitgliedschaft akzeptiert, bleiben die Spannungen zwischen dem Bündnis und Russland auf der Tagesordnung – und damit die Debatte darüber, welche Funktion und welchen Stellenwert die NATO-Osterweiterung bei der Gestaltung der post-bipolaren Weltordnung einnimmt.

Artikel 5 des NATO-Vertrags vom 4.4.1949 sieht vor, „dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere [der Vertragsparteien] in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen wird“. Darauf bezogen ist die NATO eine wirksame Organisation. Sie bildet ein kollektives Verteidigungssystem, das seine Mitglieder vor äußeren Angriffen schützt. Und sie stellt ein kollektives Sicherheitssystem dar, das zwischen seinen Mitgliedern Frieden gewährleistet. Damit ist sie auch unter Kostenaspekten reizvoll: In der NATO zu sein bedeutet nicht nur mehr (oder überhaupt) Sicherheit, sondern spart prinzipiell auch Verteidigungsausgaben, weil sowohl nach außen wie nach innen Vertrauen in die kollektive Sicherheitsproduktion der Organisation besteht.

Die NATO ist aber zugleich ein Militärbündnis, das ein Sicherheitsdilemma erzeugt. Die massive Aufrüstung im Kalten Krieg war für ein historisch präzedenzloses Wettrüsten mitverantwortlich. De facto wirkte und wirkt das Bündnis auch als militärische Absicherung für eine imperiale oder expansive Politik einzelner Mitglieder, vor allem der USA, Frankreichs und Großbritanniens.

Die Bewertung der NATO-Osterweiterung, die seit dem Ende des Kalten Krieges erfolgte, bewegt sich in diesem Spannungsfeld. Zwei Fragen stehen im Folgenden im Mittelpunkt: 1. Welche Rolle spielte die Aufnahme neuer Mitglieder in diesem ambivalenten Kontext? Und 2. Gibt es benennbare Parameter, die die friedenspolitische Funktion der NATO gegenüber der spannungsverstärkenden Dimension stärken können?

Diese Fragen werden vor dem Hintergrund eines pragmatischen Befunds gestellt: Ein von relevanten Kräften getragenes Interesse an der Auflösung der Organisation ist so wenig sichtbar wie der Wille oder die Fähigkeit, eine alternative Sicherheitsstruktur im europäischen oder globalen Maßstab zu etablieren.

Osterweiterung und »realistische« Logik

Die Osterweiterung der NATO nach dem 1991 erfolgten Kollaps von Warschauer Pakt und Sowjetunion hatte für die beteiligten Akteure vorrangig drei miteinander verbundene Dimensionen. Die erste bestand in der »realistischen« Interessenpolitik der Allianzmitglieder in militärischer, politischer und ökonomischer Hinsicht. Es ging um die Ausweitung des strategischen Raums und neuer ökonomischer und politischer Einflusssphären.

Die zweite Dimension betraf die andere Seite derselben Medaille: die Transformation der vom Kommunismus befreiten Systeme, also die post-kommunistische Schaffung von Identität. Die zuvor unter sowjetischer Herrschaft stehenden Länder in Mitteleuropa wurden in ein institutionelles System einbezogen, das den Rahmen für eine gewünschte sicherheitspolitische, wirtschaftliche und politische Entwicklung vorgab und absicherte. Solcherart kreierten die neuen Eliten dieser Länder im Zusammenspiel mit westlichen Akteuren eine neue Identität und ein neues Rollenverhalten.

Die dritte Dimension bezog sich auf die Beziehung des erweiterten Raums zur Umwelt. Diesbezüglich gab es vor allem in sicherheitspolitisch-militärischer Hinsicht weniger Übereinstimmung als bei den beiden vorgenannten Aspekten. Dies betraf abweichende Wahrnehmungen sowohl zwischen westlichen und integrationswilligen östlichen Akteuren als auch zwischen den östlichen neuen Eliten untereinander. Für die polnischen, aus der Oppositionsbewegung »Solidarnosc« hervorgegangenen Führungspersönlichkeiten und Parteien beispielsweise hatte das Motiv der Abgrenzung gegenüber der Sowjetunion bzw. Russland und einer militärischen Position der Stärke gegenüber dem weiter im Osten gelegenen Nachbarn von Anfang an Priorität. Andere post-kommunistische Eliten und vor allem westliche Akteure hatten, zumal nach der Auflösung der Sowjetunion und der Liberalisierung und Demokratisierung Russlands infolge der Politik des Generalsekretärs bzw. Staatspräsidenten Michail Gorbatschow, ein anderes Bild von Russland wie von den künftigen Beziehungen zu Moskau.

Zwischen diesen Polen spielte sich ein wesentlicher Teil des Diskurses über das Verhältnis von NATO-Osterweiterung und den Beziehungen der NATO zu Russland ab. Um es kurz zu machen: Der abgrenzende »Realismus« setzte sich gegenüber der Politik eines inklusiven Institutionalismus in dem Maße durch, wie die Aufnahme neuer Mitglieder im Osten voranschritt. Die damit verbundene Entfremdung zwischen der NATO und Russland wurde durch zwei Entwicklungen intensiviert: einerseits die nach den Terrorattentaten vom 11.9.2001 (»9/11«) zunehmend »pro-aktive«, interventionistische Politik westlicher Mitglieder der NATO, andererseits die nach dem Gewinn der Präsidentschaftswahl durch Wladimir Putin (2000) immer stärker auf die Wiedererringung einer internationalen Machtposition orientierte Außen-, Sicherheits- und Militärpolitik Moskaus.

Polen, Tschechien und Ungarn traten der NATO zum 50. Gründungsjubiläum des Bündnisses im April 1999 bei. Die im darauf folgenden Jahr in den USA gewählte Administration G.W. Bush jun. schlug 2002 vor, in einem »big bang« eine ganze Reihe weiterer ehemaliger Warschauer-Pakt-Mitglieder in die NATO zu integrieren. Im Diskurs in den Vereinigten Staaten spielten die Erweiterung der eigenen Machtbasis in Europa und die Einschränkung realer und möglicher außenpolitischer und militärischer Spielräume Moskaus eine wesentliche Rolle. Moskau hatte nicht nur die Intervention in Jugoslawien 1999 strikt abgelehnt, sondern auch den seit Frühjahr 2002 vorbereiteten Krieg gegen Irak. Dagegen signalisierten die meisten osteuropäischen Allianzmitglieder und Aufnahmekandidaten Zustimmung und unterstützten die Intervention auch militärisch.

In diesem Umfeld war der weiteren Osterweiterung die Tendenz zu konfrontativem Denken und Handeln inhärent. Die Integration in die NATO bedeutete die Modernisierung der Armeen der neuen Mitglieder und ihre Einbeziehung in militärische Strukturen, die Russland geografisch zugleich näher rückten. Der Kern der NATO, die kollektive Verteidigung nach Artikel 5 des Vertrags, war nur glaubhaft, wenn die Neumitglieder im Fall des Falles auch verteidigt werden konnten. Zwar gab es Beteuerungen, dies alles richte sich nicht gegen Russland, und den Versuch, Moskau durch eine »eigenständige« institutionelle Verklammerung, den NATO-Russland-Rat, zu beruhigen und einzubinden. Es wurde aber schnell deutlich, dass diese Einbindung im Falle gegensätzlicher Auffassungen – wie von westlicher Seite immer wieder betont – »Moskau kein Vetorecht einräumt«.

Außerdem stellte sich die Frage, gegen wen, wenn nicht gegen Russland, insbesondere die an der russischen Grenze liegenden Staaten gegebenenfalls glaubhaft verteidigt werden sollten. Die Frage der Glaubhaftigkeit wurde umso virulenter, je stärker die teilweise großen russischen Minderheiten in diesen Ländern als ein Instrument möglicher Destabilisierung erschienen.

Als Washington 2008 die Ukraine (und Georgien) zur Aufnahme in die NATO vorschlug, verhärteten sich die Fronten. Die Westgrenze der Ukraine und von Belarus wurden und werden in Moskau als »rote Linie« erachtet. Unter völkerrechtsbezogenen Souveränitätsaspekten ist diese Haltung inakzeptabel, unter dem Aspekt politischer und sicherheitspolitischer Sensibilität ist sie westlicherseits in Rechnung zu stellen. Dieser neue Vorstoß bis an die russischen Grenzen (nach der Aufnahme der baltischen Staaten sowie der Slowakei, Sloweniens, Bulgariens und Rumäniens im Jahre 2004, Kroatiens und Albaniens 2009)1 spielte bis 2013 nur eine hypothetische Rolle, weil es weder in der NATO (vor allem Berlin und Paris waren dagegen) noch in der Ukraine eine Mehrheit für einen Beitritt gab.

Das änderte sich, als im Herbst 2013 nach der Nichtunterzeichnung des geplanten Assoziationsabkommens mit der EU durch die ukrainische Führung eine politische Krise ausbrach und im Februar 2014 die Opposition die Macht ergriff. Diese suchte westliche Unterstützung nicht zuletzt mit der Forderung nach einer Aufnahme in die NATO, und westliche – vor allem US-amerikanische und polnische – Politiker sahen eine Chance, die Ukraine aus dem Einfluss Moskaus zu lösen und ins westliche Bündnis zu ziehen.

Die weiteren Ereignisse und die Eskalation der rhetorischen, diplomatischen, politischen, ökonomischen und auch militärischen Auseinandersetzungen sind bekannt: völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Moskau, Stellvertreterkrieg im Südosten der Ukraine um die von Russland unterstützten Separatistengebiete Luhansk und Donezk bis hin zu Zusammenstößen zwischen ukrainischen und russischen Marineschiffen in der Straße von Kertsch im November 2018.

Die Osterweiterung im Kontext

Sieht man die Bemühungen um eine Einbeziehung der Ukraine in die NATO als logische Folge vorhergehender Schritte, dann erscheint die Osterweiterung der Allianz insgesamt problematisch. Eine solche Sichtweise lässt allerdings außer Acht, dass nicht abstrakte Strukturen oder Gesetzmäßigkeiten eine solche Entwicklung determinierten. Vielmehr trafen verantwortliche Politiker an jedem Punkt des Verlaufs Entscheidungen, die auf ein Mehr an Kooperation oder ein Mehr an Konfrontation hinausliefen. Die Forderung nach Aufnahme der Ukraine in die NATO war umstritten: Washington und Warschau dafür, Berlin und Paris dagegen. Ohne die Krise in der Ukraine 2013/14 hätte es also auf absehbare Zeit keine Konfrontation in dieser Frage gegeben, weil keine Mehrheit für die Aufnahme existierte und damit auch keine Aggression Moskaus gegen die Ukraine.

Die Annexion der Krim war ebenso eine bewusste politische Entscheidung. Das gleiche gilt für die Entscheidung Moskaus nach der Auflösung der Sowjetunion Ende 1991, trotz der Bemühungen vieler Krim-Bewohner um eine Reintegration und Zugehörigkeit der Halbinsel zu Russland die Souveränität der Ukraine nicht anzutasten, was bis 2013 galt.

Anfangs trug also die Einbeziehung post-kommunistischer Staaten in das westliche Verteidigungssystem, wie in die EU, durchaus zur Stabilisierung der Verhältnisse sowohl in den respektiven Ländern als auch in ganz Europa bei. Die Integration in funktionierende Institutionen konsolidierte die durch den Kollaps des Kommunismus und der internationalen Ordnung ausgelösten Transformationsprozesse. Das gilt auch mit Blick auf Teile russischer Eliten, die nach der Auflösung der Sowjetunion mit der Figur eines »nahen Auslands« und einer »natürlichen Einflusszone« spielten und entsprechende Befürchtungen weckten.

Die Osterweiterung wurde richtigerweise flankiert von Bemühungen, auch Russland institutionell einzubinden. Die mit Blick auf Sicherheit, Wohlfahrt und Demokratie in Europa positiven Wirkungen wurden allerdings – bezogen nun auf das Verhältnis zwischen der NATO und Russland, aber auch gegenüber anderen Akteuren in der internationalen Sphäre, ebenso wie NATO-intern – zunehmend konterkariert durch konfrontative Entscheidungen.

Dazu gehörten neben den schon genannten Maßnahmen u.a. die Instrumentalisierung terroristischer Anschläge für eine Politik der Aufrüstung und eine aggressive Interventionspolitik gegen islamische Staaten bei gleichzeitiger massiver politischer wie militärischer Unterstützung extremistisch-gewalttätiger islamistischer Oppositionsgruppen; die faktische Außerkraftsetzung von Rüstungskontrolle und Abrüstung; die sinnlose und kontraproduktive Überreizung der NATO-Osterweiterungspolitik mit der Ukraine und Georgien; die kontraproduktive Unterstützung einer ukrainischen Opposition, die ihrerseits eine Konfrontations- und Eskalationsstrategie verfolgte, um an die Macht zu kommen, und dieses Interesse vor die Interessen und die Sicherheit des eigenen Landes stellte.

Es gab keinen Automatismus, sondern einen Mechanismus der Eskalation, der von den beteiligten Seiten bedient wurde. Und diese Eskalation verdichtete sich zu jenem Trend, der seit Ende der 1990er Jahre um sich griff: die Erosion des Rechts im Kontext konfrontativer Politik.

Das zentrale Problem bestand darin, dass die notwendige Bedingung für eine positive Gestaltung des Erweiterungsprozesses, nämlich eine weitergehende sicherheitspolitische Kooperation zwischen dem Westen und Russland, immer weniger erfüllt wurde. US-Präsident G.W. Bush sen. hatte im Ende des Kalten Krieges keinen Anlass zu Triumphgeheul gesehen, keine willkommene Gelegenheit, um »auf der Mauer zu tanzen«. Ähnlich Bill Clinton. Danach aber gingen Respekt, Sensibilität und die Berücksichtigung der Wahrnehmungen Moskaus ziemlich schnell verloren, wie auch umgekehrt die Sensibilität Moskaus gegenüber den Wahrnehmungen ehemaliger »Satelliten«. Washingtons Radikalität hinsichtlich einer auf wenige Jahre terminierte Transformation des Nahen und Mittleren Ostens, die mit den Kriegen in Afghanistan und Irak in die Wege geleitet werden sollte, entsprach die Rücksichtslosigkeit, mit der Moskauer Einwände beiseite gewischt wurden, und das Tempo, mit der die NATO-Osterweiterung vorangetrieben wurde.

Die NATO wird sich im April als das erfolgreichste Militärbündnis der Weltgeschichte feiern. Dass dies auch intern nicht auf ungeteilte Zustimmung stößt, zeigen die seit Jahrzehnten andauernden Anstrengungen, eigenständigere europäische Verteidigungs- und Sicherheitsstrukturen zu schaffen. Seit Donald Trump US-Präsident ist, populistische Kräfte in Europa stärker werden und in diversen Fragen gegensätzliche Auffassungen zwischen Allianz-Mitgliedern hervortreten, schwellen diese Stimmen wieder an. Insofern kann der Ruf nach »Europäisierung« auch als Abgesang auf die NATO interpretiert werden.

Selbst wenn Politiker wie Trump, Salvini, Kaczynski und Orban scheitern, abgewählt und durch »normale« Politiker ersetzt werden sollten: Gewissheiten wie noch vor einigen Jahren wird es nicht mehr geben. Und diese fehlende Gewissheit lässt auch eine Einigung Europas in außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen noch schwieriger werden. Gemeinsame Streitkräfte sind eine Vertrauensinvestition in die Zukunft, nämlich dass man auch morgen gemeinsame Werte, Überzeugungen und Interessen teilt und verteidigt. Darauf wird nur mehr bedingt gesetzt.

Eine Paradoxie besteht darin, dass unter diesen Umständen nicht die Europäische Union bzw. die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) oder die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU gestärkt wird, sondern die NATO jene Klammer bleibt, die als kollektive Verteidigungsorganisation nach außen und als kollektive Sicherheitsorganisation nach innen in einem bestimmten Maße wirksam ist – wenn auch weniger als früher. Ohne NATO wäre es aber um die Lage in Europa noch schlechter bestellt.

Fazit: Was ist zu tun?

Weitgehende Einigkeit besteht in der Zielsetzung, dass die Rückkehr zu einem regelbasierten Verhalten der Akteure die Voraussetzung für eine Stabilisierung der Verhältnisse im internationalen Raum ist. Wie soll die Abkehr von konfrontativer Gewaltpolitik und die Beachtung von allgemein verbindlichen Rechtsgrundsätzen bewerkstelligt werden? Aufforderungen an andere, sich an Regeln zu halten, die NATO-Mitglieder selbst nicht achten, nützen nichts. Nur wer Rechtsgrundsätze glaubhaft vertritt, kann legitim und mit Erfolgsaussichten ihre Einhaltung von anderen verlangen.

Hierfür tragen die machtvollsten Akteure auch die größte Verantwortung. Die programmatische Grundlage der NATO ist nach wie vor der Nordatlantikvertrag, und die darin festgelegten Prinzipien sind simultan die Basis für das Handeln einer »verantwortungsbewussten Macht«. Die NATO wird sich nicht neu erfinden. Aber die 70-Jahr-Feier im April 2019 könnte wenigstens von einigen Mitgliedern genutzt werden, um diese Grundsätze als Selbstverpflichtung zu bekräftigen.

Vier Prinzipien des Nordatlantikvertrags sind entscheidend:

1. Die Vorrangigkeit der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen: Die Parteien dieses Vertrags bekräftigen erneut ihren Glauben an die Ziele und Grundsätze der Satzung der Vereinten Nationen und ihren Wunsch, mit allen Völkern und Regierungen in Frieden zu leben.“ (Präambel)

2. Die Vorrangigkeit friedlicher Konfliktschlichtung und die Absage an Gewaltandrohung und -ausübung: „Die Parteien verpflichten sich, in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen, jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege so zu regeln, dass der internationale Friede, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden, und sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewalt­androhung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar sind.“ (Art. 1)

3. Kollektive militärische Maßnahmen im Verteidigungsfall nur gemäß Art. 51 der VN-Charta: Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.“ (Art. 5)

4. Und schließlich die vorrangige Zuständigkeit des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen für die Erhaltung des Friedens: „Dieser Vertrag berührt weder die Rechte und Pflichten, welche sich für die Parteien, die Mitglieder der Vereinten Nationen sind, aus deren Satzung ergeben, oder die in erster Linie bestehende Verantwortlichkeit des Sicherheitsrats für die Erhaltung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit, noch kann er in solcher Weise ausgelegt werden.“ (Art. 7)

Es wäre illusionär zu glauben, dass sich die NATO oder einzelne ihrer Mitglieder einer tiefgreifenden Selbstkritik unterziehen. Für die anderen Akteure im internationalen Raum kommt es auch weniger auf vergangenes als auf gegenwärtiges Denken und Handeln an. Es wäre auch illusionär zu glauben, mit einer solchen Bekräftigung würden Alleingänge einzelner Mitglieder nicht mehr stattfinden. Worum es geht, ist ein kontinuierliches Bemühen um eine Stärkung des Rechtsbewusstseins und eines regelbasierten Agierens im internationalen Raum und um ein Höhersetzen der mentalen Schwellen für nicht regelkonformes Verhalten.

Nach den negativen Erfahrungen mit Gewaltentwicklungen, Rechtsbrüchen und ihren Folgen in den vergangenen zwei Jahrzehnten sowie mit der Unberechenbarkeit einzelner Führungspersönlichkeiten ist ein verstärktes Interesse diverser NATO-Mitglieder erkennbar, in diese Richtung zu gehen. Das Eigeninteresse an einer Stabilisierung der Lage in verschiedenen Regionen der Welt – für die Europäer vor allem im Mittleren und Nahen Osten sowie in Nordafrika – gibt dieser Tendenz Auftrieb.

Was also kann die deutsche Politik tun? Eine kontinuierliche Debatte über die Einhaltung des Rechts in der Außenpolitik, eine ständige Arbeit an der Verbreiterung institutioneller Strukturen für ein multilaterales Konfliktmanagement, Bemühungen um die Ausweitung internationaler Gerichtsbarkeit sowie eine Verbesserung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse in der Welt, um Konfliktursachen einzudämmen, sind ein wesentliches Element verantwortungsbewusster Außen- und Sicherheitspolitik. Ein anderer vorrangiger Aspekt, ohne den ein großer Teil der vorgenannten Anstrengungen ins Leere laufen, ist die Eindämmung des Auf- und Wettrüstens, das eingesetzt hat. Das betrifft nicht zuletzt die NATO.

Hypothetisch könnte die Allianz einen wesentlichen friedenspolitischen Beitrag leisten, würde sie sich, wie ausgeführt, in ihrer eigenen Politik auf ihre Grundsätze besinnen und diese Prinzipien gemeinsam gegenüber anderen vertreten. Ein Schritt in die richtige Richtung wäre ein Vorstoß in Richtung globale Sicherheitspolitik anlässlich ihres 70-jährigen Bestehens, nämlich eine Einladung an China, Russland und weitere Akteure, in einem fixierten und auf Dauer angelegten Format die Probleme zu erörtern, die die Sicherheit auf regionaler und globaler Ebene betreffen.

Als Ziel einer solchen Bemühung könnte formuliert werden, dass die NATO, China und Russland mit anderen dazu beitragen wollen, Vertrauensbildung zu betreiben, gemeinsam Sicherheitskonzepte zu entwickeln und ihre Ressourcen für mehr Frieden und Sicherheit in der Welt zu bündeln. Die NATO könnte sich sogar auf Donald Trump berufen. Dieser hatte im Dezember 2018 vorgeschlagen, mit China und Russland Rüstungskontrollgespräche zu führen, weil es, wie der Präsident völlig richtig feststellte, „verrückt“ ist, dass die USA in 2018 716 Mrd. Dollar (und, kann hinzugefügt werden, die NATO weit mehr als 1.000 Mrd. Dollar) für Verteidigung ausgaben.

Anmerkung

1) 2017 kam Montenegro dazu.

August Pradetto ist Professor emeritus für Politikwissenschaft an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

Abschreckungoder Offensive?


Abschreckung
oder Offensive?

von Jürgen Nieth

Kommentierte Presseschau zum Warschauer NATO-Gipfel

„Vor knapp 20 Jahren wollten Russland und die Nato den Kalten Krieg endgültig hinter sich lassen. Feierlich unterzeichneten beide Seiten im Mai 1997 in Paris die Nato-Russland-Grundakte. »Die Nato und Russland betrachten einander nicht als Gegner«, hielten sie darin fest […] Von diesem Geist ist heute nichts mehr zu spüren […] die Gräben zwischen Russland und der Nato so tief wie seit dem Fall des Eisernen Vorhangs nicht mehr“, schreibt Johanna Metz im Parlament (11.7.16, S. 1). Und mit den Beschlüssen des Warschauer NATO-Gipfels vom 8./9. Juli 2016 scheinen sich diese Gräben weiter zu vertiefen.

NATO-Truppen an russischer Grenze

„Als wichtigster Beschluss wurde die Entsendung von vier Nato-Bataillonen nach Polen und in die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen gepriesen. 4.000 Soldaten sind faktisch nicht viel […], dennoch jubelte sogar die linksliberale polnische Tageszeitung Gazeta Wyborcza in ihrer Gipfelbilanz: »Zum ersten Mal seit Jahren hat sich das Bündnis wieder ernsthaft einer Politik der Abschreckung verpflichtet.«“ (Ulrich Krökel in Badische Zeitung, 11.7.16, S. 5)

Und Paul Flückiger schreibt: „Es ist diese Art von Sicherheitsgarantie […], von der alle ehemals sowjetisch dominierten Länder Osteuropas seit Jahren träumen. Abschreckung ist für sie wichtiger als Dialog.“ (NZZ, 12.07.16, S. 5)

„Aus Sicht Russlands ist die geplante Stationierung der Nato-Soldaten allerdings ein Verstoß gegen die Nato-Russland-Grundakte. Darin betont das Bündnis, es wolle zu seiner Verteidigung nicht dadurch beitragen, dass es »zusätzlich substanzielle Kampftruppen dauerhaft stationiert«. Die Nato argumentiert dagegen, es sei keine dauerhafte, sondern eine rotierende Stationierung von Truppen in Osteuropa beabsichtigt, und es handele sich nicht um ein substanzielles Truppenkontingent.“ (Paul Flückiger/Claudia von Salzen in Tagespiegel, 9.7.16, S. 4)

Die vier Bataillone sind allerdings nur ein Teil der weiteren NATO-Truppenverlegung Richtung Osten. „Polen wird von 2017 an auch Hauptstützpunkt einer 4.000 Mann starken, durch Ost- und Südosteuropa rotierenden US-Brigade sein. Dazu kommen US-Piloten auf dem Flughafen Lask oder als Marines auf der im Bau befindlichen Radar- und Raketenbasis Redzikowo an der Ostsee. Weitere US-Basen sollen in Polen schweres Militärgerät beherbergen.“ (Florian Hassel in SZ, 11.7.16, S. 6) Der polnische Außenminister Waszcykowski landet in seiner Rechnung sogar „stolz bei »mehr als 10.000 Nato-Soldaten«, die künftig auf polnischem Boden stationiert seien“ (Johannes Leithäuser/Michael Stabenow in FAZ, 9.7.16, S. 4).

Hinzu kommt, dass die NATO auch im Südosten „ihre multinationale »Voraus-Präsens« […] »maßgeschneidert« entwickeln“ will. „Dies gilt für die rumänische Initiative für eine multinationale Brigade, nicht zuletzt unter bulgarischer Beteiligung. Außerdem sollen für die Region, zu der die Nato auch das Schwarze Meer zählt, Optionen für eine verstärkte Präsenz in der Luft und zur See geprüft werden.“ (Michael Stabenow in FAZ, 11.7.16, S. 5)

In dieses Bild passt, dass am NATO-Gipfel nicht nur 28 Staats- und Regierungschefs der Bündnisstaaten teilnahmen, sondern auch Vertreter des Balkanstaates Montenegro, „der 2017 Nato-Mitglied werden soll. Außerdem gab es intensive Gespräche mit den ehemaligen Sowjetrepubliken Georgien und Ukraine.“ (Ulrich Krökel in Badische Zeitung, 11.7.16, S. 5)

Hubert Thielicke stellt im ND (13.7.16, S. 3) dazu fest: „Die Warschauer Nato-Beschlüsse lassen erkennen, dass sich jene Kräfte durchsetzten, welche die Ukrainekrise zum Vorwand nehmen, um die Militärorganisation kräftig auszubauen und ihr Potenzial bis an die Grenzen Russlands vorzuschieben.“ Für ihn handelt es sich um „das größte Aufrüstungsprogramm der Allianz seit dem Ende des Kalten Krieges“.

Säbelrasseln

Und es mehren sich die Stimmen, die immer noch mehr wollen. „Derzeit geben die Scharfmacher den Ton an. Russland sei eine »existenzielle Bedrohung«, tönte vor wenigen Wochen der Nato-Oberbefehlshaber Philip Breedlove […]. Russland sei für Europa eine größere Gefahr als der IS, trommelte kürzlich auch Polens Außenminister Witold Waszcykowski. Und Anfang Juni forderte der dänische Nato-Offizier Jakob Larsen gar öffentlich: »Wir müssen wieder lernen, den totalen Krieg zu führen. « Larsen kommandiert den neuen Nato-Vorposten in Litauen und weiß offenbar nicht, dass in Deutschland ein Aufruf zum totalen Krieg zuletzt 1943 in der Sportpalast-Rede von Propagandaminister Joseph Göbbels zu vernehmen war.“ (Klaus Wiegräfe in DER SPIEGEL, 9.7.16, S. 36)

Auch Deutschland mischt da mit. Zwar hat der deutsche Außenminister, Frank Walter Steinmeier, vor dem NATO-Gipfel Dialog angemahnt und vor einem Säbbelrasseln gewarnt, die konkrete Regierungspolitik sendet allerdings andere Signale. Von einem „neuen sicherheitspolitischen Selbstverständnis“ spricht Johannes Leithäuser in der FAZ (8.7.16, S. 2). „In der Regierungserklärung, die Merkel vor ihrem Aufbruch nach Warschau im Bundestag abgab, machte sie den Wandel deutlich: Deutschland unterstütze »nachdrücklich« das Ziel der Nato, dass alle Mitglieder der Allianz zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigungsausgaben zur Verfügung stellen“, das wäre für Deutschland „ein Volumen von mehr als 50 Milliarden Euro […] und mithin mit weitem Abstand der größte europäische Wehretat“.

Wie aus einer Grafik der FAZ (9.7.16, S. 4) hervorgeht, waren die Rüstungsausgaben der NATO 2015 aber bereits 13 Mal größer als die Russlands: 861Mrd. Dollar zu 66 Mrd. Dollar.

Reaktionen

DIE WELT (11.7.16, S. 1) zitiert Stimmen zum NATO-Gipfel und kommt zu dem Schluss: „Die schärfste Reaktion kam von Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow: »Die Nato hat angefangen, sich auf den Übergang vom Kalten Krieg zu einem heißen Krieg vorzubereiten. Sie reden nur über Verteidigung und bereiten sich faktisch auf die Offensive vor«.“

Zitierte Zeitschriften:

Badische Zeitung, FAZ – Frankfurter Allgemeine, ND – neues deutschland, NZZ – Neue Zürcher Zeitung, Das Parlament, DER SPIEGEL, SZ – Süddeutsche Zeitung, Der Tagespiegel, DIE WELT

Verschärfte Konfrontation oder Entspannung?

Verschärfte Konfrontation oder Entspannung?

von Andreas Zumach

Abbau, Fortsetzung oder gar Verschärfung der Konfrontationspolitik mit Russland – vor dieser Alternative steht der NATO-Gipfel Anfang Juli in Warschau. Die polnischen Gastgeber rufen am lautesten nach einer Verschärfung der Konfrontation, die noch über die bereits beschlossenen Maßnahmen sowie die von den USA angekündigten unilateralen Schritte hinaus gehen soll, bis hin zu einer dauerhaften Stationierung von NATO-Truppenverbänden und Waffen in den osteuropäischen Mitgliedsstaaten. Das wäre ein klarer Verstoß nicht nur gegen den Geist, sondern auch gegen die Buchstaben der 1997 zwischen der damals noch rein westlichen Militärallianz und Russland vereinbarten Grundakte, in deren praktischen Umsetzung 2002 der NATO-Russland-Rat etabliert wurde. Mit der Grundakte wollte die NATO Moskaus Bedenken gegen die Osterweiterung der Allianz beschwichtigen, die beschlossen und vollzogen wurde unter Bruch des Versprechens, mit dem die Regierungen Kohl/Genscher und Bush/Baker im Februar 1990 die Zustimmung Gorbatschows zur deutschen Wiedervereinigung erlangt hatten.

Die Regierung Merkel/Steinmeier gehört unter den 28 NATO-Mitgliedern zu den stärksten Befürwortern einer Wiederannäherung an Moskau und des Abbaus statt einer Verschärfung der Konfrontationspolitik. Allerdings wird diese Linie manchmal von den Aufrüstungsankündigungen der profilneurotischen Militärministerin und Kanzleramtsaspirantin von der Leyen torpediert.

Doch von ihr und einigen antirussischen Ideologen sowie Lobbyisten der Rüstungsindustrie abgesehen hat sich in Berlin inzwischen die Einsicht durchgesetzt, dass der im Frühsommer 2014 von der NATO eingeschlagene Konfrontationskurs gegenüber Moskau gescheitert ist: Weder die Suspendierung des NATO-Russland-Rates und der russischen Mitgliedschaft in der G8 noch die von den USA und der EU verhängten Wirtschaftssanktionen gegen Moskau konnten die Regierung Putin zur Korrektur ihrer Ukrainepolitik bewegen. Deshalb war es ein richtiger erster Schritt, dass die NATO im April erstmals seit zwei Jahren wieder Beratungen mit Russland im Rahmen des NATO-Russland-Rates führte.

Doch dieser erste Schritt reicht nicht aus, um die Eskalationsdynamik der letzten zwei Jahre wirklich zu beenden und umzukehren. Diese hat inzwischen ein gefährliches Niveau und eine Eigenlogik erreicht, die immer mehr an den Kalten Krieg erinnern. Das gilt für die operativen Maßnahmen im militärischen Bereich (Manöver, Truppenverlegungen, gezielte Provokationen, z.B. durch Luftraumverletzungen, sowie konventionelle wie atomare Aufrüstungsprojekte) ebenso wie für die Sprachmuster der gegenseitigen Vorwürfe und Bedrohungsbehauptungen, mit denen die eigenen militärischen Eskalationsmaßnahmen begründet werden.

Die NATO könnte auf ihrem Warschauer Gipfel einiges tun, um die negative Eskalationsspirale im Verhältnis zu Russland zu beenden. Eine eindeutige Entscheidung, dass die vom Gipfeltreffen 2008 beschlossene Option für einen Beitritt der Ukraine, Georgiens und Moldawiens nicht mehr besteht, wäre ein sehr wichtiges Entspannungssignal, das Moskau zu einem Ende der hybriden Kriegsführung in der Ukraine bewegen könnte. Um die seit zwei Jahren ständig wachsende Gefahr ungewollter militärischer Zusammenstöße zu verringern, sollte die NATO Moskau ein Moratorium für Manöver beider Seiten in der Ostsee und im Schwarzen Meer sowie im grenznahen Luftraum vorschlagen.

Hilfreich für einen Entspannungsprozess wären auch Moratoriums- oder Verhandlungsvorschläge für die geplanten oder bereits angelaufenen Aufrüstungsprojekte beider Seiten im atomaren und konventionellen Bereich sowie über die Vereinbarung dauerhaft militärfreier Zonen beiderseits der Landgrenzen zwischen Russland und den osteuropäischen NATO-Staaten. Auf diese Weise ließe sich auch das Abkommen über die Begrenzung konventioneller Streitkräfte (KSE) von 1990 noch retten.

Mit derartigen Initiativen könnte der NATO-Gipfel den russischen Präsidenten Putin, der in der eigenen Bevölkerung eine viel größere Unterstützung für seine bisherige Ukrainepolitik erfährt als die Regierungen der NATO-Staaten, zu Schritten der Deeskalation unter Wahrung des eigenen Gesichts bewegen. In der längerfristigen Perspektive eines solchen Entspannungsprozesses läge dann auch ein neues, diesmal von der OSZE oder den Vereinten Nationen durchgeführtes Referendum über die Zukunft der Krim, mit dem die völkerrechtswidrige Annexion der Halbinsel durch Russland korrigiert würde.

Andreas Zumach ist seit 1988 Korrespondent am Genfer Sitz der Vereinten Nationen für die taz und andere Zeitungen und Radiostationen im deutschsprachigem Raum. Er ist Mitglied im Beirat von W&F.