Das hybride Bündnis
Das hybride Bündnis
NATO-Osterweiterung zwischen Integration und Konfrontation
von August Pradetto
2008 war die NATO in der Frage gespalten, ob der Ukraine und Georgien ein Membership Action Plan angeboten werden und damit der Beitrittsprozess zum Bündnis eingeleitet werden soll. Das vor allem von den USA betriebene Vorhaben fand zumal in Paris und Berlin keine Zustimmung. Gleichzeitig wurde beiden Ländern aber erneut versichert, dass sie der Allianz eines Tages beitreten könnten. Da nicht abzusehen ist, dass Moskau eine ukrainische Mitgliedschaft akzeptiert, bleiben die Spannungen zwischen dem Bündnis und Russland auf der Tagesordnung – und damit die Debatte darüber, welche Funktion und welchen Stellenwert die NATO-Osterweiterung bei der Gestaltung der post-bipolaren Weltordnung einnimmt.
Artikel 5 des NATO-Vertrags vom 4.4.1949 sieht vor, „dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere [der Vertragsparteien] in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen wird“. Darauf bezogen ist die NATO eine wirksame Organisation. Sie bildet ein kollektives Verteidigungssystem, das seine Mitglieder vor äußeren Angriffen schützt. Und sie stellt ein kollektives Sicherheitssystem dar, das zwischen seinen Mitgliedern Frieden gewährleistet. Damit ist sie auch unter Kostenaspekten reizvoll: In der NATO zu sein bedeutet nicht nur mehr (oder überhaupt) Sicherheit, sondern spart prinzipiell auch Verteidigungsausgaben, weil sowohl nach außen wie nach innen Vertrauen in die kollektive Sicherheitsproduktion der Organisation besteht.
Die NATO ist aber zugleich ein Militärbündnis, das ein Sicherheitsdilemma erzeugt. Die massive Aufrüstung im Kalten Krieg war für ein historisch präzedenzloses Wettrüsten mitverantwortlich. De facto wirkte und wirkt das Bündnis auch als militärische Absicherung für eine imperiale oder expansive Politik einzelner Mitglieder, vor allem der USA, Frankreichs und Großbritanniens.
Die Bewertung der NATO-Osterweiterung, die seit dem Ende des Kalten Krieges erfolgte, bewegt sich in diesem Spannungsfeld. Zwei Fragen stehen im Folgenden im Mittelpunkt: 1. Welche Rolle spielte die Aufnahme neuer Mitglieder in diesem ambivalenten Kontext? Und 2. Gibt es benennbare Parameter, die die friedenspolitische Funktion der NATO gegenüber der spannungsverstärkenden Dimension stärken können?
Diese Fragen werden vor dem Hintergrund eines pragmatischen Befunds gestellt: Ein von relevanten Kräften getragenes Interesse an der Auflösung der Organisation ist so wenig sichtbar wie der Wille oder die Fähigkeit, eine alternative Sicherheitsstruktur im europäischen oder globalen Maßstab zu etablieren.
Osterweiterung und »realistische« Logik
Die Osterweiterung der NATO nach dem 1991 erfolgten Kollaps von Warschauer Pakt und Sowjetunion hatte für die beteiligten Akteure vorrangig drei miteinander verbundene Dimensionen. Die erste bestand in der »realistischen« Interessenpolitik der Allianzmitglieder in militärischer, politischer und ökonomischer Hinsicht. Es ging um die Ausweitung des strategischen Raums und neuer ökonomischer und politischer Einflusssphären.
Die zweite Dimension betraf die andere Seite derselben Medaille: die Transformation der vom Kommunismus befreiten Systeme, also die post-kommunistische Schaffung von Identität. Die zuvor unter sowjetischer Herrschaft stehenden Länder in Mitteleuropa wurden in ein institutionelles System einbezogen, das den Rahmen für eine gewünschte sicherheitspolitische, wirtschaftliche und politische Entwicklung vorgab und absicherte. Solcherart kreierten die neuen Eliten dieser Länder im Zusammenspiel mit westlichen Akteuren eine neue Identität und ein neues Rollenverhalten.
Die dritte Dimension bezog sich auf die Beziehung des erweiterten Raums zur Umwelt. Diesbezüglich gab es vor allem in sicherheitspolitisch-militärischer Hinsicht weniger Übereinstimmung als bei den beiden vorgenannten Aspekten. Dies betraf abweichende Wahrnehmungen sowohl zwischen westlichen und integrationswilligen östlichen Akteuren als auch zwischen den östlichen neuen Eliten untereinander. Für die polnischen, aus der Oppositionsbewegung »Solidarnosc« hervorgegangenen Führungspersönlichkeiten und Parteien beispielsweise hatte das Motiv der Abgrenzung gegenüber der Sowjetunion bzw. Russland und einer militärischen Position der Stärke gegenüber dem weiter im Osten gelegenen Nachbarn von Anfang an Priorität. Andere post-kommunistische Eliten und vor allem westliche Akteure hatten, zumal nach der Auflösung der Sowjetunion und der Liberalisierung und Demokratisierung Russlands infolge der Politik des Generalsekretärs bzw. Staatspräsidenten Michail Gorbatschow, ein anderes Bild von Russland wie von den künftigen Beziehungen zu Moskau.
Zwischen diesen Polen spielte sich ein wesentlicher Teil des Diskurses über das Verhältnis von NATO-Osterweiterung und den Beziehungen der NATO zu Russland ab. Um es kurz zu machen: Der abgrenzende »Realismus« setzte sich gegenüber der Politik eines inklusiven Institutionalismus in dem Maße durch, wie die Aufnahme neuer Mitglieder im Osten voranschritt. Die damit verbundene Entfremdung zwischen der NATO und Russland wurde durch zwei Entwicklungen intensiviert: einerseits die nach den Terrorattentaten vom 11.9.2001 (»9/11«) zunehmend »pro-aktive«, interventionistische Politik westlicher Mitglieder der NATO, andererseits die nach dem Gewinn der Präsidentschaftswahl durch Wladimir Putin (2000) immer stärker auf die Wiedererringung einer internationalen Machtposition orientierte Außen-, Sicherheits- und Militärpolitik Moskaus.
Polen, Tschechien und Ungarn traten der NATO zum 50. Gründungsjubiläum des Bündnisses im April 1999 bei. Die im darauf folgenden Jahr in den USA gewählte Administration G.W. Bush jun. schlug 2002 vor, in einem »big bang« eine ganze Reihe weiterer ehemaliger Warschauer-Pakt-Mitglieder in die NATO zu integrieren. Im Diskurs in den Vereinigten Staaten spielten die Erweiterung der eigenen Machtbasis in Europa und die Einschränkung realer und möglicher außenpolitischer und militärischer Spielräume Moskaus eine wesentliche Rolle. Moskau hatte nicht nur die Intervention in Jugoslawien 1999 strikt abgelehnt, sondern auch den seit Frühjahr 2002 vorbereiteten Krieg gegen Irak. Dagegen signalisierten die meisten osteuropäischen Allianzmitglieder und Aufnahmekandidaten Zustimmung und unterstützten die Intervention auch militärisch.
In diesem Umfeld war der weiteren Osterweiterung die Tendenz zu konfrontativem Denken und Handeln inhärent. Die Integration in die NATO bedeutete die Modernisierung der Armeen der neuen Mitglieder und ihre Einbeziehung in militärische Strukturen, die Russland geografisch zugleich näher rückten. Der Kern der NATO, die kollektive Verteidigung nach Artikel 5 des Vertrags, war nur glaubhaft, wenn die Neumitglieder im Fall des Falles auch verteidigt werden konnten. Zwar gab es Beteuerungen, dies alles richte sich nicht gegen Russland, und den Versuch, Moskau durch eine »eigenständige« institutionelle Verklammerung, den NATO-Russland-Rat, zu beruhigen und einzubinden. Es wurde aber schnell deutlich, dass diese Einbindung im Falle gegensätzlicher Auffassungen – wie von westlicher Seite immer wieder betont – »Moskau kein Vetorecht einräumt«.
Außerdem stellte sich die Frage, gegen wen, wenn nicht gegen Russland, insbesondere die an der russischen Grenze liegenden Staaten gegebenenfalls glaubhaft verteidigt werden sollten. Die Frage der Glaubhaftigkeit wurde umso virulenter, je stärker die teilweise großen russischen Minderheiten in diesen Ländern als ein Instrument möglicher Destabilisierung erschienen.
Als Washington 2008 die Ukraine (und Georgien) zur Aufnahme in die NATO vorschlug, verhärteten sich die Fronten. Die Westgrenze der Ukraine und von Belarus wurden und werden in Moskau als »rote Linie« erachtet. Unter völkerrechtsbezogenen Souveränitätsaspekten ist diese Haltung inakzeptabel, unter dem Aspekt politischer und sicherheitspolitischer Sensibilität ist sie westlicherseits in Rechnung zu stellen. Dieser neue Vorstoß bis an die russischen Grenzen (nach der Aufnahme der baltischen Staaten sowie der Slowakei, Sloweniens, Bulgariens und Rumäniens im Jahre 2004, Kroatiens und Albaniens 2009)1 spielte bis 2013 nur eine hypothetische Rolle, weil es weder in der NATO (vor allem Berlin und Paris waren dagegen) noch in der Ukraine eine Mehrheit für einen Beitritt gab.
Das änderte sich, als im Herbst 2013 nach der Nichtunterzeichnung des geplanten Assoziationsabkommens mit der EU durch die ukrainische Führung eine politische Krise ausbrach und im Februar 2014 die Opposition die Macht ergriff. Diese suchte westliche Unterstützung nicht zuletzt mit der Forderung nach einer Aufnahme in die NATO, und westliche – vor allem US-amerikanische und polnische – Politiker sahen eine Chance, die Ukraine aus dem Einfluss Moskaus zu lösen und ins westliche Bündnis zu ziehen.
Die weiteren Ereignisse und die Eskalation der rhetorischen, diplomatischen, politischen, ökonomischen und auch militärischen Auseinandersetzungen sind bekannt: völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Moskau, Stellvertreterkrieg im Südosten der Ukraine um die von Russland unterstützten Separatistengebiete Luhansk und Donezk bis hin zu Zusammenstößen zwischen ukrainischen und russischen Marineschiffen in der Straße von Kertsch im November 2018.
Die Osterweiterung im Kontext
Sieht man die Bemühungen um eine Einbeziehung der Ukraine in die NATO als logische Folge vorhergehender Schritte, dann erscheint die Osterweiterung der Allianz insgesamt problematisch. Eine solche Sichtweise lässt allerdings außer Acht, dass nicht abstrakte Strukturen oder Gesetzmäßigkeiten eine solche Entwicklung determinierten. Vielmehr trafen verantwortliche Politiker an jedem Punkt des Verlaufs Entscheidungen, die auf ein Mehr an Kooperation oder ein Mehr an Konfrontation hinausliefen. Die Forderung nach Aufnahme der Ukraine in die NATO war umstritten: Washington und Warschau dafür, Berlin und Paris dagegen. Ohne die Krise in der Ukraine 2013/14 hätte es also auf absehbare Zeit keine Konfrontation in dieser Frage gegeben, weil keine Mehrheit für die Aufnahme existierte und damit auch keine Aggression Moskaus gegen die Ukraine.
Die Annexion der Krim war ebenso eine bewusste politische Entscheidung. Das gleiche gilt für die Entscheidung Moskaus nach der Auflösung der Sowjetunion Ende 1991, trotz der Bemühungen vieler Krim-Bewohner um eine Reintegration und Zugehörigkeit der Halbinsel zu Russland die Souveränität der Ukraine nicht anzutasten, was bis 2013 galt.
Anfangs trug also die Einbeziehung post-kommunistischer Staaten in das westliche Verteidigungssystem, wie in die EU, durchaus zur Stabilisierung der Verhältnisse sowohl in den respektiven Ländern als auch in ganz Europa bei. Die Integration in funktionierende Institutionen konsolidierte die durch den Kollaps des Kommunismus und der internationalen Ordnung ausgelösten Transformationsprozesse. Das gilt auch mit Blick auf Teile russischer Eliten, die nach der Auflösung der Sowjetunion mit der Figur eines »nahen Auslands« und einer »natürlichen Einflusszone« spielten und entsprechende Befürchtungen weckten.
Die Osterweiterung wurde richtigerweise flankiert von Bemühungen, auch Russland institutionell einzubinden. Die mit Blick auf Sicherheit, Wohlfahrt und Demokratie in Europa positiven Wirkungen wurden allerdings – bezogen nun auf das Verhältnis zwischen der NATO und Russland, aber auch gegenüber anderen Akteuren in der internationalen Sphäre, ebenso wie NATO-intern – zunehmend konterkariert durch konfrontative Entscheidungen.
Dazu gehörten neben den schon genannten Maßnahmen u.a. die Instrumentalisierung terroristischer Anschläge für eine Politik der Aufrüstung und eine aggressive Interventionspolitik gegen islamische Staaten bei gleichzeitiger massiver politischer wie militärischer Unterstützung extremistisch-gewalttätiger islamistischer Oppositionsgruppen; die faktische Außerkraftsetzung von Rüstungskontrolle und Abrüstung; die sinnlose und kontraproduktive Überreizung der NATO-Osterweiterungspolitik mit der Ukraine und Georgien; die kontraproduktive Unterstützung einer ukrainischen Opposition, die ihrerseits eine Konfrontations- und Eskalationsstrategie verfolgte, um an die Macht zu kommen, und dieses Interesse vor die Interessen und die Sicherheit des eigenen Landes stellte.
Es gab keinen Automatismus, sondern einen Mechanismus der Eskalation, der von den beteiligten Seiten bedient wurde. Und diese Eskalation verdichtete sich zu jenem Trend, der seit Ende der 1990er Jahre um sich griff: die Erosion des Rechts im Kontext konfrontativer Politik.
Das zentrale Problem bestand darin, dass die notwendige Bedingung für eine positive Gestaltung des Erweiterungsprozesses, nämlich eine weitergehende sicherheitspolitische Kooperation zwischen dem Westen und Russland, immer weniger erfüllt wurde. US-Präsident G.W. Bush sen. hatte im Ende des Kalten Krieges keinen Anlass zu Triumphgeheul gesehen, keine willkommene Gelegenheit, um »auf der Mauer zu tanzen«. Ähnlich Bill Clinton. Danach aber gingen Respekt, Sensibilität und die Berücksichtigung der Wahrnehmungen Moskaus ziemlich schnell verloren, wie auch umgekehrt die Sensibilität Moskaus gegenüber den Wahrnehmungen ehemaliger »Satelliten«. Washingtons Radikalität hinsichtlich einer auf wenige Jahre terminierte Transformation des Nahen und Mittleren Ostens, die mit den Kriegen in Afghanistan und Irak in die Wege geleitet werden sollte, entsprach die Rücksichtslosigkeit, mit der Moskauer Einwände beiseite gewischt wurden, und das Tempo, mit der die NATO-Osterweiterung vorangetrieben wurde.
Die NATO wird sich im April als das erfolgreichste Militärbündnis der Weltgeschichte feiern. Dass dies auch intern nicht auf ungeteilte Zustimmung stößt, zeigen die seit Jahrzehnten andauernden Anstrengungen, eigenständigere europäische Verteidigungs- und Sicherheitsstrukturen zu schaffen. Seit Donald Trump US-Präsident ist, populistische Kräfte in Europa stärker werden und in diversen Fragen gegensätzliche Auffassungen zwischen Allianz-Mitgliedern hervortreten, schwellen diese Stimmen wieder an. Insofern kann der Ruf nach »Europäisierung« auch als Abgesang auf die NATO interpretiert werden.
Selbst wenn Politiker wie Trump, Salvini, Kaczynski und Orban scheitern, abgewählt und durch »normale« Politiker ersetzt werden sollten: Gewissheiten wie noch vor einigen Jahren wird es nicht mehr geben. Und diese fehlende Gewissheit lässt auch eine Einigung Europas in außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen noch schwieriger werden. Gemeinsame Streitkräfte sind eine Vertrauensinvestition in die Zukunft, nämlich dass man auch morgen gemeinsame Werte, Überzeugungen und Interessen teilt und verteidigt. Darauf wird nur mehr bedingt gesetzt.
Eine Paradoxie besteht darin, dass unter diesen Umständen nicht die Europäische Union bzw. die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) oder die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU gestärkt wird, sondern die NATO jene Klammer bleibt, die als kollektive Verteidigungsorganisation nach außen und als kollektive Sicherheitsorganisation nach innen in einem bestimmten Maße wirksam ist – wenn auch weniger als früher. Ohne NATO wäre es aber um die Lage in Europa noch schlechter bestellt.
Fazit: Was ist zu tun?
Weitgehende Einigkeit besteht in der Zielsetzung, dass die Rückkehr zu einem regelbasierten Verhalten der Akteure die Voraussetzung für eine Stabilisierung der Verhältnisse im internationalen Raum ist. Wie soll die Abkehr von konfrontativer Gewaltpolitik und die Beachtung von allgemein verbindlichen Rechtsgrundsätzen bewerkstelligt werden? Aufforderungen an andere, sich an Regeln zu halten, die NATO-Mitglieder selbst nicht achten, nützen nichts. Nur wer Rechtsgrundsätze glaubhaft vertritt, kann legitim und mit Erfolgsaussichten ihre Einhaltung von anderen verlangen.
Hierfür tragen die machtvollsten Akteure auch die größte Verantwortung. Die programmatische Grundlage der NATO ist nach wie vor der Nordatlantikvertrag, und die darin festgelegten Prinzipien sind simultan die Basis für das Handeln einer »verantwortungsbewussten Macht«. Die NATO wird sich nicht neu erfinden. Aber die 70-Jahr-Feier im April 2019 könnte wenigstens von einigen Mitgliedern genutzt werden, um diese Grundsätze als Selbstverpflichtung zu bekräftigen.
Vier Prinzipien des Nordatlantikvertrags sind entscheidend:
1. Die Vorrangigkeit der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen: „Die Parteien dieses Vertrags bekräftigen erneut ihren Glauben an die Ziele und Grundsätze der Satzung der Vereinten Nationen und ihren Wunsch, mit allen Völkern und Regierungen in Frieden zu leben.“ (Präambel)
2. Die Vorrangigkeit friedlicher Konfliktschlichtung und die Absage an Gewaltandrohung und -ausübung: „Die Parteien verpflichten sich, in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen, jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege so zu regeln, dass der internationale Friede, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden, und sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar sind.“ (Art. 1)
3. Kollektive militärische Maßnahmen im Verteidigungsfall nur gemäß Art. 51 der VN-Charta: „Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.“ (Art. 5)
4. Und schließlich die vorrangige Zuständigkeit des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen für die Erhaltung des Friedens: „Dieser Vertrag berührt weder die Rechte und Pflichten, welche sich für die Parteien, die Mitglieder der Vereinten Nationen sind, aus deren Satzung ergeben, oder die in erster Linie bestehende Verantwortlichkeit des Sicherheitsrats für die Erhaltung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit, noch kann er in solcher Weise ausgelegt werden.“ (Art. 7)
Es wäre illusionär zu glauben, dass sich die NATO oder einzelne ihrer Mitglieder einer tiefgreifenden Selbstkritik unterziehen. Für die anderen Akteure im internationalen Raum kommt es auch weniger auf vergangenes als auf gegenwärtiges Denken und Handeln an. Es wäre auch illusionär zu glauben, mit einer solchen Bekräftigung würden Alleingänge einzelner Mitglieder nicht mehr stattfinden. Worum es geht, ist ein kontinuierliches Bemühen um eine Stärkung des Rechtsbewusstseins und eines regelbasierten Agierens im internationalen Raum und um ein Höhersetzen der mentalen Schwellen für nicht regelkonformes Verhalten.
Nach den negativen Erfahrungen mit Gewaltentwicklungen, Rechtsbrüchen und ihren Folgen in den vergangenen zwei Jahrzehnten sowie mit der Unberechenbarkeit einzelner Führungspersönlichkeiten ist ein verstärktes Interesse diverser NATO-Mitglieder erkennbar, in diese Richtung zu gehen. Das Eigeninteresse an einer Stabilisierung der Lage in verschiedenen Regionen der Welt – für die Europäer vor allem im Mittleren und Nahen Osten sowie in Nordafrika – gibt dieser Tendenz Auftrieb.
Was also kann die deutsche Politik tun? Eine kontinuierliche Debatte über die Einhaltung des Rechts in der Außenpolitik, eine ständige Arbeit an der Verbreiterung institutioneller Strukturen für ein multilaterales Konfliktmanagement, Bemühungen um die Ausweitung internationaler Gerichtsbarkeit sowie eine Verbesserung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse in der Welt, um Konfliktursachen einzudämmen, sind ein wesentliches Element verantwortungsbewusster Außen- und Sicherheitspolitik. Ein anderer vorrangiger Aspekt, ohne den ein großer Teil der vorgenannten Anstrengungen ins Leere laufen, ist die Eindämmung des Auf- und Wettrüstens, das eingesetzt hat. Das betrifft nicht zuletzt die NATO.
Hypothetisch könnte die Allianz einen wesentlichen friedenspolitischen Beitrag leisten, würde sie sich, wie ausgeführt, in ihrer eigenen Politik auf ihre Grundsätze besinnen und diese Prinzipien gemeinsam gegenüber anderen vertreten. Ein Schritt in die richtige Richtung wäre ein Vorstoß in Richtung globale Sicherheitspolitik anlässlich ihres 70-jährigen Bestehens, nämlich eine Einladung an China, Russland und weitere Akteure, in einem fixierten und auf Dauer angelegten Format die Probleme zu erörtern, die die Sicherheit auf regionaler und globaler Ebene betreffen.
Als Ziel einer solchen Bemühung könnte formuliert werden, dass die NATO, China und Russland mit anderen dazu beitragen wollen, Vertrauensbildung zu betreiben, gemeinsam Sicherheitskonzepte zu entwickeln und ihre Ressourcen für mehr Frieden und Sicherheit in der Welt zu bündeln. Die NATO könnte sich sogar auf Donald Trump berufen. Dieser hatte im Dezember 2018 vorgeschlagen, mit China und Russland Rüstungskontrollgespräche zu führen, weil es, wie der Präsident völlig richtig feststellte, „verrückt“ ist, dass die USA in 2018 716 Mrd. Dollar (und, kann hinzugefügt werden, die NATO weit mehr als 1.000 Mrd. Dollar) für Verteidigung ausgaben.
Anmerkung
1) 2017 kam Montenegro dazu.
August Pradetto ist Professor emeritus für Politikwissenschaft an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.