W&F 2023/1

»Zeitenwende« – Ein Dechiffrierungsversuch

Sicherheitspolitische Konferenz, Evangelische Akademie Loccum, 26.-27. Oktober 2022.

Als unmittelbare Reaktion auf den Ukraine-Krieg wurde – beginnend mit der Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz – Ende Februar 2022 ein verteidigungspolitischer Reformprozess angestoßen, der unter dem Schlagwort »Zeitenwende« diskutiert wird und der in Umfang und Zielsetzung eine sicherheitspolitische Zäsur markiert. Die »Zeitenwende« ist nicht unumstritten. Es konkurrieren unterschiedliche Sichtweisen und Einschätzungen hinsichtlich Reichweite, Dauer, Gegenstand, Auslöser und Intensität der Reformbemühungen.

Ende Oktober 2022 war es das Ziel dieser Loccumer Tagung, ein erstes Zwischenfazit zu diesen verteidigungspolitischen Reform­anstrengungen zu ziehen. Besonders im Fokus stand dabei die Frage, welche Auswirkung die »Zeitenwende« auf benachbarte Politikfelder haben wird und wie sich das etablierte Arrangement der bisherigen deutschen Außen-, Bündnis-, Friedens- und Entwicklungspolitik verändern könnte. In diesem Lichte geht der vorliegende Tagungsbericht im Folgenden auf drei zentrale Frage ein, die intensiv diskutiert wurden:

(1) An den Rand gedrängt?

  • Welche Auswirkungen hat »Zeitenwende« für die zivile Konfliktbearbeitung und die Entwicklungszusammenarbeit?

In der Debatte über die Auswirkung der »Zeitenwende« auf benachbarte Politikfelder – insbesondere der zivilen Konfliktbearbeitung, der humanitären Hilfe und der Entwicklungszusammenarbeit – wurde die Beobachtung unterstrichen, dass derzeit alle außen-, sicherheits- und friedenspolitischen Debatten vom Militärischen geprägt seien. Die Diskutierenden, die der thematischen Ausrichtung dieses Parts der Tagung entsprechend vorangig aus der Entwicklungshilfe, der Friedensforschung und der zivilen Konfliktbearbeitung kamen, erwarten vorerst hierbei keine Änderung. Zwar würde in vielen politischen Wortbeiträgen derzeit die Notwendigkeit eines umfassenden Sicherheitsbegriffs betont, der über die rein militärische Gefahrenabwehr hinausgehe. Allerdings sei dieser breite Ansatz trotz aller Rhetorik weder mit ausreichenden Mitteln noch mit neuen politischen Initiativen unterlegt. Vielmehr zeichneten sich gar finanzielle Kürzungen ab. Auch wenn die ursprünglich für die Haushaltsberatung vorgesehenen drastischen Kürzungen des Entwicklungshilfeetats zurückgenommen wurden und weitere 1,7 Mrd. Euro aus der Krisenreserve des Finanzministeriums bereitgestellt wurden, sinken im kommenden Jahr (2023) die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit dennoch um neun Prozent im Vergleich zum laufenden Haushaltsjahr – so die Beobachtung der Diskutant*innen.

Zwar gab es großes Verständnis für die verstärkte finanzielle Unterstützung der Bundeswehr, um sicherzustellen, dass diese die Aufgaben, die ihr von Gesellschaft und Politik zugewiesen wurden, erfüllen kann. Dennoch wurde auf der Konferenz kritisch angemerkt, dass die Regierung und das Parlament 100 Mrd. Euro Sondervermögen an die Streitkräfte gegeben hätten, ohne eine breite Debatte zu führen, was von der Bundeswehr in Zukunft eigentlich erwartet würde und was sie in den kommenden Jahren zu leisten habe. Es sei insbesondere dieses aktionistische und überstürzte Vorgehen, das den Eindruck bei den Akteuren der Entwicklungshilfe und der zivilen Konfliktbearbeitung nähre, an den Rand gedrängt worden zu sein.

Zwar sei durch die Gestaltung des Sondervermögens als Sonderneuverschuldung aktuell eine direkte Konkurrenzsituation um finanzielle Ressourcen vermieden worden. Mittelfristig könnte sich diese jedoch einstellen und zu harten politischen Verteilungskämpfen führen, so die auf der Tagung geäußerte Befürchtung. Zum einen, weil die 100 Mrd. Euro Sondervermögen aller

Wahrscheinlichkeit nach nicht ausreichen werden, um das im NATO-Rahmen vereinbarte 2 %-Ziel zu erreichen. Zum anderen, weil auch der Bedarf an humanitärer Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und Friedensförderung aufgrund von Klimawandel, den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie, der aktuellen Nahrungsmittelkrise sowie der Zunahme des globalen Gewaltgeschehens der letzten zehn Jahre stark angestiegen sei.

(2) Blick über den Tellerrand

  • Welche Perspektiven und Fragen entstehen durch die »Zeitenwende« bei europäischen Nachbarstaaten und Bündnispartnern?

Im Sinne eines Blicks über den sprichwörtlichen »Tellerrand« widmete sich die Loccumer Tagung auch der Frage, wie europäische Nachbarländer die deutsche »Zeitenwende« wahrnehmen. Die Diskussion, an der Expert*innen aus verschiedenen europäischen Ländern teilnahmen, ergab, dass die aktuellen verteidigungspolitischen Reformbemühungen Deutschlands in Europa überwiegend positiv aufgenommen werden und weitestgehend begrüßt werden. Selbst kleine europäische Staaten, die in der derzeitigen Konfrontation mit Russland geografisch eher randständig sind, wie beispielsweise Portugal, haben die »Zeitenwende« wie auch die Debatte, die hierzulande dazu geführt wird, sehr genau verfolgt.

Auf der Tagung wurde herausgearbeitet, dass in den Nachbarländern vor allem drei zentrale Forderungen an Deutschland formuliert werden: Die Neuausrichtung der deutschen Verteidigungspolitik solle dauerhaft, berechenbar und europäisch sein.

Im europäischen Ausland gäbe es einige Zweifel an der Dauerhaftigkeit der »Zeitenwende«, so die Einschätzung der Diskutierenden. Häufig würde diese als „verspätete Hausaufgabe“ wahrgenommen, die im Grunde schon 2014 mit der Annexion der Krim und dem Kriegsbeginn in der Ostukraine hätte angestoßen werden sollen – so wie dies viele andere europäische Staaten getan haben. In puncto Dauerhaftigkeit sei besonders fraglich, ob Deutschland tatsächlich einen tiefgründigen außen- und sicherheitspolitischen Mentalitätswandel vollziehe oder ob die jetzige »Zeitenwende« ein eher vorübergehendes Phänomen sei und nur in begrenztem Ausmaß zu Änderungen führe. Schließlich habe man in den vergangenen Jahrzehnten aus Deutschland häufig vergleichbare »Wende-Rhetorik« gehört (»Energiewende«, »Verkehrswende«, »Agrarwende« etc.), die zwar einen großen gesellschaftspolitischen Diskurs und viel mediales Getöse losgetreten, das Versprechen eines substanziellen Politikschwenks jedoch kaum eingelöst habe. Daher bestehe begründeter Zweifel, ob die »Zeitenwende« der Verteidigungspolitik nicht ein ähnliches Schicksal ereile.

Neben dem Aspekt der Dauerhaftigkeit sei Berechenbarkeit eine weitere zentrale Forderung, die häufig von außenpolitischen Expert*innen aus europäischen Nachbarländern zu hören sei. Wichtig sei, dass Deutschland im Zuge der derzeitigen verteidigungspolitischen Reformanstrengungen keine unvorhersehbaren Politikwechsel vollziehe und sich daher mit Bündnispartnern abstimme, so die Einschätzung der Diskutierenden. Die »Zeitenwende« aber auch Folgevorhaben, wie die jüngst verkündete Initiative zur europäischen Luftverteidigung (»European Sky Shield«), seien für zahlreiche Bündnispartner überraschend gekommen. In diesem Lichte sei eine enge Kommunikation notwendig, um zu vermeiden, dass Nachbarländer von verteidigungspolitischen Vorhaben überrumpelt würden.

Unmittelbar mit dem Aspekt der Berechenbarkeit sei die Forderung nach einer stärkeren Europäisierung der deutschen »Zeitenwende« verbunden. In der Wahrnehmung vieler europäischer Bündnispartner betreibe Deutschland seine derzeitigen verteidigungspolitischen Reformanstrengungen vorrangig als ein nationales Projekt, so die Bewertung der Diskussionsteilnehmenden auf der Loccumer Konferenz. Auch wenn viele europäische Bündnispartner sich schon ab 2014 auf eine neue militärische Lage eingestellt haben, markiere der Februar 2022 doch für ganz Europa eine »Zeitenwende«. In fast allen Nachbarländern gäbe es eine verteidigungspolitische Neuausrichtung mit zum Teil tiefen historischen Einschnitten – wie beispielsweise dem Abschied von der Bündnisneutralität und der Hinwendung zur NATO in Finnland und Schweden.

Es sei daher sinnvoll, wenn Deutschland die verteidigungspolitische »Zeitenwende« als einen gesamteuropäischen Prozess begreifen würde. Zwar habe Berlin insbesondere in Skandinavien und Osteuropa aufgrund seiner zögernden Haltung im Ukraine-Krieg viel Vertrauen verspielt und erfahre derzeit außen- und sicherheitspolitisch einen erheblichen Ansehensverlust. Dennoch bleibe Deutschland de facto eine wichtige Führungsmacht in Europa – allein schon aufgrund seiner schieren Größe. Der Wunsch, dass Berlin diese Führungsrolle übernehmen und vor allem eingebettet in europäische Kontexte und Prozesse transparent ausgestalten soll, bleibe aber trotz aller deutschen Zögerlichkeit weiterhin in europäischen Nachbarländern bestehen.

(3) Bevölkerung mitnehmen

  • Wie kann ein breiter gesellschaftlicher Dialog über die zukünftige Außen- und Sicherheitspolitik sinnvoll bewerkstelligt werden?

Der Bedeutungszuwachs fürs Militärische, der mit der »Zeitenwende« einhergeht, hat auch Auswirkungen auf den Nexus »Bundeswehr-Gesellschaft-Politik« und erfordert einen breiten Dialog über die zukünftige Außen- und Sicherheitspolitik. Auf der Tagung wurde intensiv diskutiert, wie sich dies bewerkstelligen lässt. An diesem Diskussionsstrang wirkten vor allem Akteure mit, die in der Vergangenheit – entweder von Forschungsseite oder aus der Perspektive der politischen Praxis – die Beteiligungsprozesse im Auswärtigen Amt intensiv begleitet haben.

Während partizipative Prozesse mit Bürger*innen in vielen Politikfeldern bereits seit einiger Zeit zum normalen Repertoire gehörten und im Grunde auf allen Ebenen stattfänden – von der Kommunal- bis zur Bundespolitik – hinke das Feld der Außen- und Sicherheitspolitik als ein Bereich, der traditionell überwiegend von exekutivem Handeln geprägt ist, hier hinterher. Spätestens seit 2014 könne jedoch beobachtet werden, so die Diskutierenden in diesem Teil der Tagung, dass es zunehmend Versuche von Seiten der politischen Eliten gäbe, stärker mit der Bevölkerung ins Gespräch zu kommen.

Zu nennen sei hier beispielsweise der Review Prozess über die Bemühungen einer Reform des Auswärtigen Amts (2014) oder die Leitlinien über Zivile Konfliktbearbeitung (2017). Zuletzt gab es 2022 im Rahmen der Entwicklung einer Nationalen Sicherheitsstrategie, die derzeit federführend im Auswärtigen Amt geschrieben wird, einen intensiven Beteiligungsprozess, bei dem eine ganze Palette unterschiedlicher Partizipationsformate zur Anwendung kam (Town Hall Meetings, vertiefende Bürger*innendialoge und Szenarien-Workshops).

In klarer Absetzung von Fach- und Expert*innen-Gremien, die im außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungsfindungsprozess ebenfalls eine relevante Rolle spielen, bestehe der gemeinsame Kern all dieser Beteiligungsprozesse darin, dass der Fokus auf »normalen« Bürger*innen liege, die über Losverfahren und mithilfe methodischer Auswahlprozesse in der Zusammensetzung ein möglichst repräsentatives Abbild der deutschen Bevölkerung darstellen sollen und somit hinsichtlich zentraler Kriterien wie Bildungsniveau, Wohnort, Herkunft, Alter, etc. möglichst divers zusammengesetzt sind.

Impulse zu außenpolitischen Sachthemen zum Teil in klarer Absetzung von Fach- und Expert*innen-Debatten direkt aus der Bevölkerung zu beziehen, sei ein zentraler Mehrwert dieser Beteiligungsformen, so die Einschätzung der Diskutierenden. Die bisherige Erfahrung mit Bürger*innenbeteiligung im Feld der Außen- und Sicherheitspolitik zeige aber, dass bei diesen Formaten noch einige Hürden bestehen. Denn um sinnvoll über außen- und sicherheitspolitische Fragen diskutieren zu können, bedürfe es sehr viel Wissens und viel Verständnisses über komplexe Zusammenhänge. Trotz dem allgemein großen öffentlichen Interesse an und der hohen medialen Aufmerksamkeit auf diese Fragen, haben in Deutschland die allermeisten Bürger*innen in ihrem Alltag kaum praktische Berührungspunkte mit Außenpolitik und sind von sicherheitspolitischen Prozessen in der Regel nur mittelbar betroffen. Dies unterscheide die Außen- und Sicherheitspolitik deutlich von anderen Themenfeldern, wie bspw. der Bildungs- oder der Verkehrspolitik.

Bezüglich partizipativer Formate befinde sich deshalb die deutsche Außenpolitik weiterhin in einer Probier- und Sondierungsphase. In den partizipativen Formaten würde noch viel Aufwand darauf verwendet, zu erklären, was eigentlich internationale Politik sei und welche Rolle Deutschland darin spiele. Gleichzeitig würde von den außenpolitischen Entscheidungsträger*innen durchaus die Erfahrung gemacht, dass die Prozesse der Bürger*innenbeteiligung interessante und durchaus ernstzunehmende Impulse für auswärtiges Handeln liefern würden. Klar sei aber auch, dass diese Formate Gegensätzlichkeiten zwischen außenpolitischen Eliten und Sichtweisen der Bevölkerung in besonderer Deutlichkeit zutage treten lassen. Mit Bezug auf das Loccumer Tagungsthema werde beispielsweise deutlich, dass das Konzept der militärischen Führungsrolle in Europa von den Bürger*innen mehrheitlich nicht favorisiert werde. Zwar empfehlen diese Formate regelmäßig, dass sich Deutschland international stärker engagieren solle, der Fokus liege aber deutlich auf einem kooperativen, zivilen und dezidiert nicht-militärischen Ansatz.

Mit dieser Herausforderung für die Gestaltung der »Zeitenwende« kamen die Tage gemeinsamer Diskussion zu einem gemischten vorläufigen Fazit: Die »Zeitenwende« sein ein langwieriges Vorhaben zu dem bestenfalls die ersten Schritte gegangen sein und in dessen weiteren Verlauf noch erhebliche politische Sprengkraft schlummere. Neben der eigentlichen Umsetzung der verteidigungspolitischen Reform, stelle vor allem die gesellschaftspolitische wie auch die europäische Einbettung vermutlich die größte Herausforderung der kommenden Jahre dar.

Thomas Müller-Färber

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2023/1 Jenseits der Eskalation, Seite 59–60