W&F 1996/1

Das europäische Satellitenprojekt

von Jürgen K. Bienlein

Am 20.und 21. September 1995 fand in Bonn ein Symposium „Satellite System for Security – a European Multi-User System“ statt. Die Tagung wurde organisiert von Eucosat (= European Control by Satellite), einer Interessenvertretung der Industrie. Tagungsort war das Gästehaus der Bundesregierung auf dem Petersberg. Vorliegender Bericht befaßt sich mit einem Symposium zum europäischen Satellitenprojekt. Diese Satellitenprojekt umfaßt im Endausbau zwei Satelliten mit optischen Sensoren, zwei mit Radar, zwei für Datenübertragung, dazu Leichtsatelliten für Sonderaufgaben und das zugehörige Bodensegment. Als Zweck wird Informationsbeschaffung für (militärische, humanitäre?) Einsätze in Krisengebieten genannt. Die Interessen der Industrie und der Militärs verschiedener Länder werden geschildert. Eine Bewertung aus der Sicht der Friedensbewegung sollte ein prinzipielles „Ja“ sein. Es soll der Hilfe für die Menschen in den Krisengebieten dienen. Zur Stärkung der begonnenen Vertrauensbildung müssen die Daten offen sein.

Vorbemerkung

Dieser Bericht ist keine Aufzählung der Vorträge. Die Sache ist stark interessengebunden. Diese werden aber nicht immer öffentlich geäußert. Man muß auf Zwischentöne hören. So ergibt sich ein Mosaik, das die Position des Autors widerspiegelt.

Das Projekt

Die Tagung beschäftigte sich nicht mit technischen Aspekten. Das (gegenwärtige) Projekt eines Systems von Aufklärungssatelliten in Europa wurde von Heinzmann (DASA) vorgestellt.

Die Architektur des Systems umfaßt folgende Satelliten und Zubehör:

  • Helios (opto-elektronische Sensoren),
  • Horus (Radar (SAR)),
  • DRS (data-relay satellite),
  • leichte Satelliten, die kurzfristig gestartet werden können, für besondere Aufgaben,
  • das zugehörige Bodensegment.

Die Grundlage des Entwurfs sind folgende Anforderungen:

  • globale Anwendung,
  • täglicher Update,
  • Fähigkeit zur Identifikation (d.h. 0.5m Auflösung),
  • Tag-Nacht und Allwetterfähigkeit,
  • Bildqualität nach Anforderung,
  • Lebensdauer acht Jahre,
  • Redundanz im Raum stationiert (d.h.: alle Komponenten doppelt),
  • Fertigstellung im Jahr 2005,
  • Datenübertragungsgeschwindigkeit 100 – 500 MHz.

Wer will dieses Projekt? Die treibende Kraft ist sicher Frankreich. Weitere Mitglieder werden gesucht. Deutschland will für den Radarteil die Systemführung. Wegen der erwarteten deutschen Anforderungen ist Allwetterfähigkeit vordringlich. Ferner hat die deutsche Industrie bereits Fähigkeiten dafür entwickelt.

Kosten: Darüber wurde auf der Tagung kein Wort verschwendet. Das ist wohl nur möglich wegen der alten Lebensweisheit: „Von Geld redet man nicht, Geld hat man.“ In den Medien werden Beträge zwischen 6 und 20 Mrd. DM genannt. Die Spannbreite rührt wohl daher, daß einmal ein Einstiegsprogramm, dann der Endausbau gemeint sind. Auf Deutschland dürften 30 bis 40% zukommen. Die Aufteilung auf die verschiedenen Ressorts ist noch nicht entschieden. Die Militärs haben betont, daß das System der Aufklärungssatelliten nicht nur für sie nützlich ist, d.h. sie wollen noch andere Finanzquellen heranziehen. In Frankreich bestehen auch finanzielle Engpässe.

Der Stand des Projekts

Im Mai 1994 hat die Bundesregierung entschieden, daß sich Deutschland prinzipiell an einem europäischen System von Aufklärungssatelliten beteiligen wird. Kanzler Kohl hatte Präsident Mitterand die Entscheidung für den deutsch-französischen Gipfel im Sommer 1995 versprochen. Der gegenwärtige Stand ist jedoch: noch keine Entscheidung.

Der vermutliche Grund für diesen Stillstand ist, daß die Firma Lockheed ein Angebot an Deutschland zu einem sehr günstigen Preis gemacht hat. Auf dem Korridor konnte man hören, daß das Angebot von massiven amerikanischen Werbemaßnahmen begleitet wird. In der Woche vorher ist der Präsident von Lockheed eingeflogen und der US-Botschafter hat ihm ein Essen gegeben. Ich weiß nicht, wer von deutscher Seite eingeladen war und wer gekommen ist. US-Politiker haben Briefe an Kanzler Kohl geschrieben. Die Sache ist also hochpolitischer als wir uns hatten denken können.

Die Eucosat-Tagung begann an einem Mittwoch. Am Montag vorher hatte MdB Dr. Rose (CDU, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses) zu einer Anhörung in Sachen Satelliten-Aufklärung in das »Wasserwerk« (ehem. Plenarsaal des Bundestages) geladen.

Der Stand der Dinge hatte Folgen für das Eucosat-Symposium auf dem Petersberg. Als Redner kamen statt der ursprünglich angekündigten Minister die Staatssekretäre (Außenamt: von Plötz, BMVg: Schönbohm, BMWi: Lammert (Koordinator der Luft- und Raumfahrt)). Bundestagsabgeordnete waren nur vier angekündigt. Der After-dinner-speaker war der Präsident des BDLI. Das Gerücht besagte, daß ursprünglich Kanzler Kohl diese Rede übernehmen wollte.

Wann wird die Entscheidung fallen? Deutschland sagt: in absehbarer Zeit; Frankreich: eventuell auch ohne Deutschland anfangen. Die Probleme liegen klar auf der Hand: a) Finanzierung in Deutschland und Frankreich, und b) muß mit den USA ein Deal gefunden werden.

Die Interessen der Industrie

Die Industrie macht alles, was Geld bringt (wir sollten das nicht in Pausch und Bogen verdammen): Aufklärung für Militärs, Verifikation für Abrüster, Beobachtung von Naturkatastrophen für den Zivilschutz. Man hört, daß ein US Satellitensystem ein „Geschäftsvolumen von 4 Mrd.$“ hat. Und die Industrie weiß, daß nur der Wehretat groß genug ist, um ein solches Projekt zu ermöglichen.

Die Interessen des französischen Militärs

Sie nennen als Grund die Unabhängigkeit von den USA. Diese haben nie die volle Information herausgegeben. Diese Klage ist auch von deutschen Militärs bekannt.

Nicht zu überhören war im September 1995 der französische Stolz auf den erfolgreichen Start des Helios-1a Satelliten am 7. Juli 1995, „der erstmals die Vorherrschaft der USA und Rußlands gebrochen hat“.

Die Interessen des deutschen Militärs

Hier halte ich mich eng an den Vortrag von Staatssekretär Schönbohm. Deutschland spiele seit der Vereinigung eine neue Rolle. Es hätte eine neue Handlungsfreiheit. Die Bundeswehr müsse sich an Friedensmissionen beteiligen, vornehmlich in Europa und seiner Peripherie. Auch wenn es im Moment keine existenzgefährdende Bedrohung Deutschlands und Europas gibt, beobachteten wir ein breites Spektrum potentieller Krisen und Konflikte. Die entscheidende Frage wäre der Zeitpunkt des Einsatzes. Die Streitkräfte werden strukturell diesem neuen Aufgabenspektrum angepaßt. Krisenreaktionskräfte sollen verlegbar sein in 3 bis 7 Tagen zum kleinen Teil und in 15 bis 30 Tagen in der Masse.

Wir müßten die Voraussetzungen für nationale Handlungs- und -entscheidungsfähigkeit schaffen. Die Führung der Krisenreaktionskräfte sollte in nationaler Zuständigkeit erfolgen. (Das ist konfliktträchtig. Die USA wollen Streitkräfte nur schicken, wenn sie den Oberbefehl haben. Und überhaupt: wie soll ein multinationaler Einsatz funktionieren, wenn jede Nation in eigener Zuständigkeit führt? d.Verf.). Indikatoren krisenhafter Entwicklungen müßten rechtzeitig gewonnen werden. Insgesamt bestehe ein erheblicher Informationsbedarf zur Lagefeststellung, zur lageangemessenen Entscheidung und zur Führung von Operationen in einem entfernten Einsatzraum. Die Deckung dieses Informationsbedarfs sei nur durch ein System aufeinander abgestimmter Teilsysteme möglich. Raumgestützte Aufklärung sei dabei von herausragender Bedeutung.

Es handele sich nur zum Teil um Informationsbedarf der Streitkräfte und des BMVg. Die deutschen Interessen ergeben sich aus einer ganzheitlichen Betrachtung politischer, wirtschaftlicher und militärischer Faktoren, d.h. sie sind ressortübergreifend. Neben den sicherheitspolitischen Interessen sind die wirtschaftspolitischen zu nennen: Spitzentechnologie, Strukturbereinigung in der europäischen Raumfahrtindustrie sowie Kommerzialisierung der europäischen Satelliten. Aus den operativen Interessen ergeben sich die Anforderungen an das Satellitensystem, u.a. der gesicherte Zugriff auf die Rohdaten, und an eine zwischenstaatliche Realisierung.

Die Interessen der anderen europäischen Länder

Die kleineren europäischen Länder nehmen, soweit erkennbar, eine abwartende Haltung ein. Vielleicht besteht ein Interesse in Italien und in Spanien, die beide schon bei Helios-1 mitarbeiten. Großbritannien scheint z.Z. kein Interesse an einem euroäischen Aufklärungssatelliten zu haben. Die Briten haben wohl ausreichenden Zugang zu den amerikanischen Informationen.

Bewertung

Wie können wir, die wir aus der Friedensbewegung kommen und die Erfolge der Satellitenaufklärung für die Verifikation von Rüstungskontrollverträgen gesehen haben, das geplante System bewerten?

  • Ein Satellitensystem ist, wie jedes technische Gerät, ambivalent. Erst beim Gebrauch durch den Menschen kann es zum Nutzen dienen oder aber zum Verderben. Die Ambivalenz wird sichtbar in unterschiedlichen Merkmalen (z.B. Genauigkeit, Redundanz, Übertragungsrate, Verschlüsselung, Manövrierbarkeit, Überlebensfähigkeit, Anordnung der Bodenstationen und den Kosten) militärischer und ziviler Systeme.
  • Eine europäische Eigenständigkeit bei einer Schlüsseltechnologie, Satellitenbau und Erdbeobachtung, scheint mir unerläßlich. Europa ist ein Wirtschafts- und Lebensraum, größer als die USA und Rußland, selbst als die ehemalige Sowjetunion. Wir möchten unsere kulturelle Vielfalt und unseren Lebensstandard halten. Eine auf dem Petersberg geäußerte Befürchtung war, daß die USA Einfluß nicht mehr über militärische Präsenz, sondern durch technologische Überlegenheit ausüben.

Die beiden Grundfragen:

  • Soll man sich um alle Probleme irgendwo in der Welt kümmern? Meine Meinung ist: Ja. Wir erleben seit einigen Jahren die rasche Globalisierung. Sie wird ermöglicht durch Fortschritte in der Transport- und Kommunikationstechnologie. Im Tourismus erfreuen wir uns ihrer, in der Wirtschaft spüren wir sie durch zunehmende Verlagerung von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer. Die Folgen der Globalisierung werden damit nicht zu Ende sein. Das prinzipielle Ja muß natürlich mit unseren Möglichkeiten gewichtet werden.

Wenn man sich um weltweite Probleme kümmern soll und will, braucht man die nötigen Informationen. Ein satellitengestütztes Aufklärungssystem ist heute eine wichtige Komponente. Aber: Zu allen gegenwärtigen Krisengebieten habe ich Vorträge gehört, wonach das Geschehen voraussehbar war, und zwar ohne Satelliten, nur aus der Kenntnis des Landes. In Pausengesprächen erfuhr ich dann, daß Sachbearbeiter die Möglichkeiten von Satelliten realistischer einschätzen.

  • Wie soll man sich kümmern? Die Krisen sind sehr unterschiedlicher Art. Um helfend einzugreifen, stehen Militäreinsätze und humanitäre Hilfe zur Verfügung. Inzwischen haben wir leider genügend Erfahrung, um die Grenzen beider Methoden zu erkennen. Die Diskussion, wie hier vorzugehen ist, darf nicht den Militärs alleine überlassen werden. Die Friedensbewegung muß sie aktiv und jetzt führen. Die Art des Vorgehens bestimmt natürlich auch viele technische Einzelheiten (und den Preis!). Ein Vortrag über die Arbeit des WEU Bildauswertezentrums in Torrejon/Spanien hat nützliche Anwendungen aufgezeigt.

Wie ist die Lage?

Frankreich scheint mir eindeutig auf militärische Lösungen zu setzen. Ich persönlich habe eine existentielle Angst vor den »neuen deutschen Aufgaben«. Der 2. Weltkrieg steckt mir noch zu sehr in den Knochen (um ein Wort der Umgangssprache zu benutzen, das aber den Sachverhalt richtig beschreibt). Das deutsche Vorpreschen in der Anerkennung von Slowenien und von Kroatien war ein unguter Anfang für die Wahrnehmung der »neuen Verantwortung«.

Unser Ziel sollte sein, die beginnende Vertrauensbildung in Europa zu festigen und auszudehnen. Geheime Datensammlung und -auswertung läuft dem zuwider. Es nutzt nichts, wenn wir dann drei statt bisher zwei (Informations-)Supermächte haben. Deshalb meine klare Forderung: Das europäische Satellitensystem arbeitet nur mit offenen Daten.

Dr. Jürgen K. Bienlein ist Professor am DESY in Hamburg und Mitglied der Arbeitsgruppe CENSIS in der Universität Hamburg

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1996/1 Am Tag als der Regen kam, Seite