W&F 2017/1

Das Schweigen der Soziologen

von Ina Wiesner

Die Art, wie Kriege und gewaltförmige Konflikte ausgetragen werden, hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich geändert. Die Kriegsführung in anderen Akteurskonstellationen und mit neuen Technologien hat Rückwirkungen auf die einzelnen Soldat*innen, das Militär als Organisation und die Gesellschaft als Ganzes. Wissenschaftler*innen und Forscher*innen ganz unterschiedlicher Disziplinen befassen sich mit diesem Themenkomplex, von einer Disziplin ist diesbezüglich in Deutschland aber wenig zu hören: von der Soziologie. Dabei könnten Soziolog*innen mit ihrem spezifischen Zugang zum Thema das Wissen erweitern und die Debatte befruchten. Die Autorin klopft mögliche Themenbereiche ab und plädiert dafür, dass sich die Soziologie des Themas (wieder) annimmt.

Hybride Kriege, Cyber-Krieg und Drohnenschläge – es scheint, dass in den letzten Jahren, besonders auf Grund technologischer Entwicklungen, eine Reihe neuer Formen von Konfliktaustragung auftreten, die das Potenzial haben, sowohl die Funktionslogiken des internationalen Systems als auch den Umgang von Staaten und Gesellschaften mit zwischenstaatlichen oder gesellschaftlichen Konflikten nachhaltig zu verändern.

Viel wird geschrieben und diskutiert über diese Entwicklungen. Völkerrechtler und Philosophen debattieren über die Rechtmäßigkeit und ethische Vertretbarkeit von gezielten Tötungen durch Drohnen. IT-Experten starten Appelle, in denen sie vor der Weiterentwicklung heutiger Kampfdrohnen zu autonomen Offensivwaffen warnen.

Ebenso wird in Völkerrechtskreisen darüber diskutiert, ob Hacker-Angriffe auf kritische Infrastrukturen unter bestimmten Umständen als Angriffe im Sinne des Völkerrechts gewertet werden können, die Gegenreaktionen mit militärischen Mitteln rechtfertigen. Und Militärs, Journalisten und Politikwissenschaftler verwenden immer häufiger den Begriff des hybriden Krieges, der trotz asymmetrischer Konfliktformen eine staatliche Steuerung annimmt, zum Beispiel im Fall der Ukraine durch den russischen Nachbarn.

Viel geschieht auch politisch: Mehr und mehr Staaten investieren in die Beschaffung von bewaffnungsfähigen Drohnen. Militärische Organisationen weltweit stellen Cyber-Kommandos auf. Und der hybride Krieg findet Eingang nicht nur in Strategiedokumente, er wird zu einer realen Bestimmungsgröße strategischer Planung.

Völkerrechtler, Ingenieure und IT-Experten, Politikwissenschaftler, Journalisten, Politiker, Philosophen und Militärs, sie alle konzipieren und begutachten, nehmen Stellung und debattieren über diese aktuellen Entwicklungen. Doch eine Gruppe bleibt still: die Gruppe der Soziologen. Das verwundert, denn Soziologinnen und Soziologen nehmen durchaus zu anderen gesellschaftspolitischen Fragen Stellung. Sozialwissenschaftliche Forschungsbeiträge zeichnen mitunter sogar den Weg der Debatte vor. Man mag hier zum Beispiel an das empirische Entkräften jener Stammtischargumente denken, die ethnische Abstammung und Bildungsniveau in einen kausalen Zusammenhang gebracht hatten. Sicherheitspolitik ist eine Domäne, die Soziologen nicht verschlossen bleiben sollte, denn auch in diesem Feld könnten sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse wichtige Impulse geben.

Soziologie erforscht soziales Handeln. Sie erforscht die Handlungsdynamik in sozialen Zusammenhängen, die so klein wie die Familie und so groß wie ganze Gesellschaften sein können. Sie erforscht die Voraussetzungen sozialen Handels auf der einen und dessen Konsequenzen auf der anderen Seite. Und soziales Handeln, das reicht von Arbeits- und Produktionsprozessen bis hin zu Bräuchen, Riten und Institutionen, wie das Heiraten oder Sich-die-Hand-Geben. Soziales Handeln umfasst aber eigentlich auch die Art und Weise, wie Menschen, Organisationen und Gesellschaften Konflikte verstehen und austragen. Eigentlich.

Nur scheint es, dass die Soziologie, zumindest die deutsche Soziologie, die Themen Krieg und Sicherheit derzeit zu großen Teilen meidet. Die klugen, auch soziologischen Einlassungen zu Nuklearwaffen in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren haben nicht zu einer Verstetigung der Beschäftigung mit militärtechnologischen oder doktrinären Themen geführt. Den vielen Forschungsprojekten, Qualifizierungsarbeiten und Zeitschriftenbeiträgen zu klassisch soziologischen Themen, wie Alterung der Gesellschaft, Generationenkonflikte, soziale Inklusion und Exklusion in der Bildung, stehen daher heute kaum Beiträge zu Krieg, Sicherheit und Modi der Konfliktbearbeitung gegenüber.

Schaut man zum Beispiel auf die Veröffentlichungen im »Berliner Journal für Soziologie«, so sind in den letzten zehn Jahren fast 400 Beiträge zum Thema Arbeit, jedoch nur 90 zum Thema Krieg erschienen. Aktuelle Entwicklungen wie Cyber-Sicherheit oder Drohnentechnologie finden gar keine Beachtung. Zu diesen letztgenannten Themen sind auch in der »Zeitschrift für Soziologie« keine Beiträge erschienen. Das Desinteresse, vielleicht auch das Unbehagen der Soziologen gegenüber Themen, die in den Bereich Krieg und Konflikt fallen, spiegelt sich nicht nur in der geringen Publikationshäufigkeit wider. Auch die Nichtexistenz fachspezifischer Sektionen innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) ist aufschlussreich. So gibt es keine militärsoziologische Sektion innerhalb der DGS, und auch die Techniksoziologie steht nicht für sich allein als Sektion, sondern ist vereint mit der Wissenschaftssoziologie.

Hinzu kommt der Umstand, dass sich die ohnehin wenigen Militärsoziologen in Deutschland kaum mit Kriegsformen und Waffentechnologien auseinandersetzen. Sie fokussieren stattdessen – oft anwendungsorientiert – auf Themen wie Minderheiten im Militär, Vereinbarkeit von Dienst und Familie oder auf die Einstellung der Bevölkerung zu sicherheitspolitischen Fragen. Bestimmte Themen finden dagegen selten Beachtung:

  • die Auswirkungen neuer Technologien auf Soldaten und deren Selbstverständnis,
  • ihre Auswirkungen auf das Militär und dessen Einsatz,
  • ihre Auswirkungen auf Gesellschaften und deren Bereitschaft, Militäreinsätze zu unterstützen,
  • die sozialen Entstehungszusammenhänge neuer Militärtechnologien und -konzepte.

Die Techniksoziologie auf der anderen Seite beschäftigt sich zwar strukturell grundsätzlich genau mit jenen Perspektiven auf Technik – deren Entstehungsbedingungen und deren Auswirkungen auf Menschen, Organisationen und Gesellschaften –, sie scheut aber vor der inhaltlichen Beschäftigung mit dem Militärischen zurück und bearbeitet vorrangig andere Felder, wie zum Beispiel Produktion, Medizin, und Kommunikation.

Der blinde Fleck

Die Gründe für diese Nichtbeschäftigung sind mannigfaltig. Der Forschungszugang zu den Feldern Militär und Sicherheit ist erschwert, Forschungsinterviews sind leichter in anderen gesellschaftlichen Bereichen zu organisieren. Zudem ist die Nachfrageseite für angewandte Forschung in diesem Bereich eingeschränkt und verteilt sich auf die wenigen Friedens- und Konfliktforschungsinstitute in Deutschland sowie den Bund als Auftraggeber. Wissenschaftler müssen fürchten, dass eine Beschäftigung mit diesen Fragen von einer kritischen Fachöffentlichkeit pauschal als kriegslegitimierend angesehen würde. Letztlich haben all diese Gründe in den letzten Jahrzehnten in Deutschland zu einer Differenzierung der Forschungslandschaft geführt, in der solche Themen kaum Platz haben. Hinzu kommt die Logik der Pfadabhängigkeit: Jeder Versuch, soziologische Forschung über Entstehungsursachen und Auswirkungen von militärischen Technologien und -konzepten institutionell zu etablieren, wäre mit immensen Kosten verbunden.

Was bleibt, ist eine Lücke, ein blinder Fleck gleichsam. Das Schweigen der Soziologen verkürzt wichtige gesellschaftliche Debatten über die Entstehung und Anwendung neuer Militärkonzepte und -technologien auf das Recht und Unrecht der Völkerrechtler, das Gerecht und Ungerecht der Philosophen, das Opportun und Inopportun der Politiker sowie das Wichtig und Unwichtig der Journalisten. Es fehlt die soziologische Sicht, nämlich das Offenlegen von institutionellen Interessen sowie nicht hinterfragten soziokulturellen Prägungen bei der Entwicklung von sowie der Entscheidung für bestimmte Militärtechnologien. Es fehlen also das Angemessen und das Unangemessen der Soziologen in der Debatte sowie soziologische Perspektiven auf die Auswirkungen militär- und sicherheitspolitischer Beschaffungs- und Richtungsentscheidungen.

Fragen an die Techniksoziologie

Was könnte eine technikorientierte Militärsoziologie beziehungsweise eine Militärtechnologien einbeziehende Techniksoziologie leisten? Die Antwort: sichtbar machen und einordnen. Und, wo angebracht, auch kritisieren. Soziologen können die Diskurse um hybride Kriegsführung, um Cyber-Krieg und Drohneneinsätze zunächst einmal bereichern um empirisch abgesicherte Erkenntnisse über die Auswirkungen dieser neuen Technologien und Konzepte auf unsere Gesellschaften, auf Organisationen und Individuen. Wer, wenn nicht Soziologen mit ihren speziellen Forschungsperspektiven, kann Fragen beantworten wie:

  • Welche Bedeutungsverschiebung – oder gar welchen Bedeutungsverlust – erfährt aus Sicht der Drohnenanwender die Lokalbevölkerung in einem Gebiet, in dem bewaffnete Drohnen eingesetzt werden?
  • Welche Auswirkungen haben bewaffnete Drohnen im Arsenal eines Staats auf die Bereitschaft politischer Eliten, Konflikte mit ihrer Hilfe zu lösen?
  • Wie wirkt sich die Verwendung des Begriffs hybrider Krieg auf die Eliten aus und auf ihre Bereitschaft, militärische Gegenmaßnahmen zu legitimieren? Der Begriff definiert vormals kriegsvölkerrechtlich irrelevante Handlungen nun in ihrer Gesamtheit als kriegerische Handlung.
  • Welche Auswirkungen hat der Begriff Cyber-Krieg auf die Bedeutungszuschreibung von IT-Sicherheitsaspekten durch die Gesellschaft?

Diese Fragen ähneln in ihrer Struktur klassisch soziologischen Fragestellungen in anderen Bereichen wie Bildung, Arbeit oder Gesundheit. Nur dass sie derzeit nicht oder kaum in Bezug auf die Bereiche Krieg, Verteidigung, Sicherheit und Militär gestellt werden.

Soziologen haben aber nicht nur das Rüstzeug, die oft unbeabsichtigten Auswirkungen von Technologien oder Konzepten offenzulegen. Sie können mit ihrem speziellen Erkenntnisinteresse auch die Macht- und Interessensstrukturen bei der Entwicklung jener Konzepte aufzeigen. Und dies scheint unabdingbar für eine aufgeklärte Diskussion über die scheinbar technikgetriebenen Veränderungen in Militär und Sicherheitspolitik.

In Deutschland ist die Militärsoziologie aus historischen Gründen marginalisiert. Wenn wir also eine über die tiefgreifenden gesellschaftlichen Konsequenzen von Waffentechnologien aufgeklärte öffentliche Debatte wünschen, sollte sich die potente und international vernetzte deutsche Techniksoziologie jener technologischen und doktrinären Themen annehmen und sich zu Waffentechnologien und militärischen Konzepten äußern. Denn aus kritisch-theoretischer Sicht sollten das Unbehagen gegenüber militärischen Themen sowie die durchaus vorhandenen forschungspraktischen Schwierigkeiten nicht zum Wegsehen und Schweigen, sondern gerade zum Hinsehen und Forschen, zum Kritisieren und Debattieren führen.

Dr. Ina Wiesner wurde 2011 am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz promoviert und forscht zu militär- und techniksoziologischen Themen. Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Meinung der Autorin wieder.

Dieser Text erschien in der Zeitschrift FIfF-Kommunikation 3/2016. Wir danken für die Nachdruckrechte.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2017/1 Facetten des Pazifismus, Seite 38–39