W&F 2005/3

Der Fall Mordechai Vanunu

von Daniel Ellsberg

Am 11. Mai 2005 würdigte Daniel Ellsberg in einer Rede vor der Überprüfungskonferenz zum nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (Atomwaffensperrvertrag) in den Vereinten Nationen in New York das Engagement Mordechai Vanunus für den Frieden:

Vor 19 Jahren tat Mordechai Vanunu, der als Techniker in der geheimen Atomwaffenanlage von Dimona in Israel arbeitete, etwas, wozu er alles Recht hatte. Er tat etwas, was andere, die über dasselbe Wissen über Israels nukleare Aktivitäten und deren Folgen für die Sicherheit und Demokratie in Israel sowie für die Weltordnung verfügten wie er, früher oder später auch hätten tun müssen. Er enthüllte gegenüber seinen Mitbürgern und der Welt die Wahrheit über diese Aktivitäten, die von seiner Regierung seit langem zu Unrecht verheimlicht und abgeleugnet wurden.

Er enthüllte nicht nur, dass Israel ein Atomwaffenstaat ist. Das war aufgrund von undichten Stellen im US-amerikanischen Geheimdienst schon seit mehr als einem Jahrzehnt bekannt und breit publiziert. Die Photos von Vanunu und seine Interviews mit der Londoner Sunday Times enthüllten aber, dass die Amerikaner und alle übrigen Geheimdienste das Tempo und den Umfang der geheimen, keinerlei Kontrollen unterliegenden Produktion von Nuklearmaterialien und -sprengköpfen durch Israel, insbesondere seit den frühen 1970er Jahren, erheblich unterschätzt hatten. Auf Grund seiner Enthüllungen wurde das israelische Atomwaffenarsenal 1986 auf etwa 200 Sprengköpfe geschätzt (bis dahin war man lediglich von 20 ausgegangen). Damit wurde Israel plötzlich zum fünft- oder möglicherweise sogar zum viertgrößten Atomwaffenstaat, noch vor Großbritannien und möglicherweise vor Frankreich. Nach 19 weiteren Jahren der Produktion ist diese Rangfolge vermutlich heute noch gültig.

Hatten es die Israelis, Bürger einer Demokratie, und andere Nationen der Welt etwa nicht verdient, das zu wissen? War seine Tat nicht ein Beispiel für den Umgang mit der Wahrheit, unter großem persönlichem Risiko, für das er Dank und Nachahmung verdiente? Seit einer Generation vertritt der Kernpyhsiker Joseph Rotblat, ein Mitbegründer der Pugwash-Bewegung, für die er mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, die Auffassung, dass sich bei der nuklearen Abrüstung das Vertrauen in Inspektionen und Umsetzungsvereinbarungen teilweise auf »soziale Verifikation« stützen muss: Auf den Mut und das Gewissen von Wissenschaftlern, Technikern und Behördenmitarbeitern, die gegenüber Abrüstungsinspektoren vertragswidrige Aktivitäten enthüllen können. Unseligerweise gab es in den 35 Jahren, seitdem der nukleare Nichtverbreitungsvertrag in Kraft getreten ist, außer Mordechai Vanunu kein weiteres Beispiel für eine solche Initiative. Und dennoch ist deutlicher denn je, welches Potential darin liegt, wenn jemand wie Vanunu bereit ist, auch die schwersten persönlichen Konsequenzen für solche Enthüllungen zu tragen.

Stellen Sie sich zum Beispiel vor, ein Inder hätte von den heimlichen Vorbereitungen für nukleare Tests in seinem Land gewusst und wäre sich im Klaren gewesen über die verheerenden Folgen für die regionale und internationale Sicherheit. Stellen sie sich vor, er wäre mit seinem Wissen unmissverständlich und rechtzeitig an die Öffentlichkeit gegangen, so dass dieser tragische Fehler und somit die pakistanischen Tests, die ja als Folge absehbar waren, hätten vermieden werden können. Dieser Mensch wäre wohl zu vielen Jahren Gefängnis verurteilt worden, wie das bei Vanunu der Fall war. Aber er hätte doch sicherlich den Friedensnobelpreis verdient, für den Joseph Rotblat – sein Vorrecht als Nobelpreisträger nutzend – Mordechai Vanunu schon wiederholt vorgeschlagen hat.

Vor einem Jahr konnte Vanunu – nachdem er seine 18-jährige Gefängnisstrafe bis zum letzten Tag abgesessen hatte, mit fast 12 Jahren in vollständiger Einzelhaft in einer 2x3 Meter großen Zelle – das Gefängnis verlassen, steht jetzt aber erneut unter Anklage und muss möglicherweise ins Gefängnis zurück, weil er die Einschränkung seiner Redefreiheit nicht hinnahm, die eindeutig seine grundlegenden Menschenrechte verletzt. Er hat sich in der Vergangenheit für eine atomwaffenfreie Zone im Nahen Osten und die weltweite Abschaffung von Atomwaffen ausgesprochen und wird dies auch weiterhin tun. Er wird weiterhin alles Wissen preisgeben, das zur Förderung dieser Ziele beitragen kann. Es ist aber absurd zu behaupten, wie dies der Leiter des israelischen Sicherheitsapparates tut, dass die Enthüllung weiterer Einzelheiten aus seiner Zeit in Dimona vor 19 Jahren durch Vanunu heute noch die nationale Sicherheit Israels untergraben könnte. Ist doch noch nicht einmal nach Vanunus Enthüllungen von 1986 ein Schaden für Israels Sicherheit nachzuweisen. Vielmehr soll mit dem Verbot, mit Ausländern und ausländischen Journalisten überhaupt bzw. mit israelischen Mitbürgern über nukleare Themen zu reden, lediglich seine Gefängnisstrafe auf unbegrenzte Zeit verlängert werden, die Strafe, die er dafür erhielt, dass er unerlaubt die Wahrheit aussprach.

Das abschreckende Signal an andere potentielle Vanunus – in Israel oder sonst wo – könnte nicht klarer ausfallen. In einer Welt, die dringlichst mehr Vanunus braucht – insbesondere mein eigenes Land, die Vereinigten Staaten, und auch die anderen Atomwaffenstaaten, die ihre Verpflichtungen aus Artikel VI des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (zur vollständigen Abrüstung ihrer Atomwaffen; d.Ü.) verletzen –, sollte der Rest der Welt ein solches Signal einfach unangefochten hinnehmen? Im Interesse vitaler Transparenz und künftiger sozialer Verifikation muss die neue Anklage gegen Vanunu und die Einschränkung seiner Rede- und Reisefreiheit unbedingt auf internationalen Protest stoßen.

Es ist höchste Zeit, dass der Rest der Welt zusammen mit Mordechai Vanunu fordert, dass Israel seinen Status als Atomwaffenstaat mit einem großen und wachsenden Arsenal zugibt und dass alle Atomwaffenstaaten – einschließlich Israel, Indien und Pakistan, vor allem aber die USA und Russland – konkrete und zeitgebundene Schritte hin zur globalen, verifizierbaren Abrüstung von Atomwaffen verhandeln.

Daniel Ellsberg arbeitete als Wirtschaftswissenschaftler einige Jahre in der Forschung, dann an der US-Botschaft in Saigon und ab 1967 bei RAND an der streng geheimen McNamara-Studie zu Vietnam. Ellsberg kopierte heimlich die Studie, die später unter dem Namen Pentagon Papers bekannt wurde, und spielte sie zunächst dem Auswärtigen Ausschuss des US-Kongresses und schließlich, im Jahr 1971, der New York Times, der Washington Post und anderen Zeitungen zu. Die Anklage gegen Ellsberg mit einer Strafandrohung von bis zu 15 Jahren Haft wurde 1973 fallen gelassen, weil die US-Regierung versucht hatte, ihn zum Schweigen zu bringen. In der Folge wurden etliche Offizielle des Weißen Hauses verurteilt. US-Präsident Nixon musste letztlich zurücktreten.
Aus dem Englischen übersetzt von Regina Hagen

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2005/3 Verantwortung der Wissenschaft, Seite