W&F 2023/1

Der Russland-Ukraine-Krieg

Impulse für einen umfassenden und nachhaltigen Friedensprozess

von Karim P. Fathi

Der Russland-Ukraine-Krieg hält die Welt in Atem. Dabei findet sich in der emotionalisierenden Berichterstattung wenig über die Frage, was für einen nachhaltigen Frieden notwendig wäre. Beiträge aus der Friedensforschung und -arbeit wurden und werden in der aktuellen Diskussion unzureichend berücksichtigt, sind sogar Gegenstand von antipazifistischer Kritik. Letztlich gilt jedoch: Friedensforschung kann voraus- und über eine enge Debatte über Waffenlieferungen und militärische Erfolge hinausblicken. Wie kann ein nachhaltiger Frieden nach dem Ende des Russland-Ukraine-Kriegs gefunden werden, auch und gerade in Anbetracht seiner Tiefendimensionen? An welchen Stellschrauben könnte Friedenspolitik ansetzen?

Ein nachhaltiger Friedensprozess bedarf einer entsprechend komplexitätsangemessenen Analyse der Konfliktsituation und einer ebenso angemessenen Interventionsgestaltung. Die folgende Darstellung erhebt nicht den Anspruch einer vollständigen Analyse dieses Kriegs. Vielmehr geht es darum, mehrere Dimensionen und Ebenen der Konfliktanalyse und -intervention aufzuzeigen, bei denen Friedensforschung und -arbeit wichtige Beiträge leisten können und die in der aktuellen Diskussion sowie der internationalen Politik vernachlässigt werden.

Ebene 1 – Konstellation Russland vs. Ukraine

Vordergründig stellt sich der vorliegende Krieg in erster Linie als eine militärische Konfrontation zwischen der Ukraine und Russland dar. Dem müssen im Kontext einer vielschichtigen Analyse die psychische, strukturelle und kulturelle Dimension zur Seite gestellt werden. Nur so können inhärente Risikopotenziale jenseits des aktuellen Schlachtfelds umfassend berücksichtigt werden.

Die psychische Dimension betrifft unter anderem den erheblichen Stress und die seelischen Schäden in der Bevölkerung, die mit der Fortdauer des Kriegs zunehmen und im Sinne posttraumatischer Behandlungsbedarfe und einer „Jetzt erst recht“-Revanchehaltung den Konflikt verlängern können.

Strukturelle Gewalt prägt sich vor allem als systematische Diskriminierung aus, von der mehrere ethnische Gruppen betroffen waren und sind. So mahnte das EU-Parlament im Vorfeld des Kriegsausbruches „gravierende“ Fälle von Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung an. Die Ukraine, die nunmehr seit einigen Jahren durch ein Assoziierungsabkommen zunehmend enger mit der EU verbunden ist, verstoße mit ihrer Sprach‐ und Minderheitenpolitik immer wieder gegen internationale Minderheitenstandards. Unter anderem hob die Staatsanwaltschaft des Gebiets Donezk laut Medienberichten den Status des Russischen als regionale Amtssprache auf, obwohl dort ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung Russisch spricht (Europäisches Parlament 2018). Zugleich wird auch über ähnliche Formen struktureller und direkter Unterdrückung von Nicht-Russ*innen in den von Russland besetzten Gebieten berichtet (Dornblüth und Adler 2022). Strukturelle Gewalt trägt insgesamt erheblich zur Kriegspropaganda auf beiden Seiten bei und wird zugleich von ihr legitimiert.

Dies zeigt sich im Ausmaß kultureller Gewalt, die sich im Russland-Ukraine-Krieg vielfältig ausprägt. Kulturelle Gewalt umfasst Muster in verschiedenen Kulturbereichen und Medien, z.B. in der Kunst, Berichterstattung, Folklore, die direkte und strukturelle Gewalt legitimieren (Galtung 1998). Eine verbreitete Manifestation kultureller Gewalt besteht in der moralisierenden und polarisierenden Berichterstattung und entsprechenden Bildern, die Russland und die Ukraine voneinander zeichnen. „Faschismus“ (Kotsev 2022) oder „genozidales“ Verhalten (Tacke und Busche 2022) assoziieren beide Seiten miteinander. Kulturelle Gewalt erhält im sich abzeichnenden »Informationskrieg« und »Kampf der Narrative« besondere Bedeutung: Längst ist der Russland-Ukraine-Krieg auch ein Ringen um Deutungshoheit und moralische Legitimation geworden, das im digitalen Raum ausgefochten wird (Hate Aid 2022).

Zusammengefasst sollten auf der hier vorgestellten Analyseebene »Russland vs. Ukraine« mindestens folgende Dimensionen im Rahmen einer ganzheitlich ausgerichteten Konfliktanalyse berücksichtigt werden: eine Dimension der qualitativen Analyse, die auf subjektive bzw. »softe« Faktoren wie z.B. Psyche, Kultur, Narrative und Traumata Bezug nimmt, und eine Dimension der quantitativen Analyse, die eher objektive und empirisch-beobachtbare Faktoren untersucht, wie z.B. Strukturen, Interaktionen, beobachtbare Fakten und Handlungen sowie juristische Rahmenbedingungen. Diese Kategorisierung ermöglicht, wie unten zu zeigen sein wird, eine ganzheitliche Berücksichtigung unterschiedlicher Konfliktdimensionen für die Konfliktintervention.

Um die unterschiedlichen Konfliktdimensionen etwas zu systematisieren dient die hier beigefügte Vier-Feld-Matrix (Tabelle 1). Ein solches Schema wird typischerweise in der Tradition der Konflikttransformation verwendet, z.B. von Norbert Ropers (1995) oder John Paul Lederach (2003).

Ebene 2 – Russland-Ukraine-NATO-Konflikt

Auf einer tieferen Analyse- und Interventionsebene werden nicht nur die Positionen der Konfliktparteien, sondern die tieferliegenden Bedürfnisse berücksichtigt. Unerfüllte Bedürfnisse, wie z.B. Identität, Frieden, Sicherheit, Gerechtigkeit, stellen die tiefere Antriebsfeder jedes Konflikts dar (Galtung 1998). Darüber hinaus beinhaltet dieser Konflikt eine weiter gefasste regionale Konstellation, aus der sich weitere Antriebskräfte und Themen ergeben.

Jeder bedürfnisbasierte Konfliktlösungsprozess erfordert eine differenzierte Betrachtung der betroffenen Bedürfnisse aller Konfliktparteien und damit ein Berücksichtigen von Mitverantwortung aller Beteiligten an der gemeinsamen Konfliktdynamik.

Auf Seiten der Ukraine sind Bedürfnisse nach Sicherheit, Überleben, Identität, Freiheit/Gerechtigkeit betroffen. Sie entsprechen auch den von Johan Galtung definierten vier Grundbedürfnissen. Demnach sieht sich die Ukraine in dieser asymmetrischen Konfliktkonstellation Gewalt auf allen nur denkbaren Dimensionen ausgesetzt. Auf Seiten Russlands scheinen vor allem die Bedürfnisse nach Sicherheit, Identität und Gerechtigkeit betroffen zu sein. Dies wird erst ersichtlich, wenn der Beitrag mittelbar beteiligter Akteure, wie z.B. der USA oder der NATO, in der Analyse miterfasst wird.

Diese Russland-Ukraine-NATO-Konfliktkonstellation zu betrachten ist für den Friedensprozess unerlässlich. Seit Jahren fordert Russland von der NATO und den USA Sicherheitsgarantien, eine Verringerung der Militärpräsenz an der NATO-Ostflanke und einen Stopp der Ausdehnung des westlichen Bündnisses in Richtung Russland. In der Vergangenheit forderte Putin von der NATO schriftliche Garantien, künftig keine weiteren osteuropäischen Staaten wie Georgien oder eben die Ukraine in die NATO aufzunehmen. Hinsichtlich der geografischen Reichweite der NATO, forderte Russland, sie solle wieder auf den Stand von 1997 zurückgeführt werden. Die USA und die NATO wiesen diese Forderungen als in weiten Teilen unannehmbar zurück. Daher sieht Putin den Krieg als einen Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und Russland an (lpb 2022).

Sicherheitsinteressen sind konfliktrelevant

Russland sieht sich in seinen Sicherheits­interessen von der NATO-Osterweiterung bedroht. Tatsächlich hat dieser Prozess bis heute zu einer zunehmenden Einbindung ehemaliger Sowjetstaaten, wie Polen, Rumänien, Bulgarien oder den Baltischen Staaten geführt (Sarotte 2021). Selbst John Mearsheimer, einer der bekanntesten Vertreter der politischen Theorie des Realismus, interpretiert die russische Ablehnung dieser Situation als durchaus erwartbares Verhalten zur Sicherung der Interessensphäre (Mearsheimer 2022).1 Dies ist insofern bemerkenswert, da der Realismus weder eine Bedürfnisorientierung, noch eine friedenslogisch-pazifistische Ausrichtung aufweist. Doch selbst nach diesem Ansatz sind die geäußerten Sicherheitsinteressen Russlands klar als konfliktrelevante Dimension zu sehen – sie in einer zukünftigen Friedensfindung auszuschließen, kann fast nur zum Scheitern aller Verhandlungen führen. Dies bedürfte dann aufseiten dritter Konfliktparteien, wie den NATO-Staaten, einer Kernanforderung des Projektes der »Friedenslogik« (vgl. Jaberg 2014): Sicherheit dürfte nicht mit Frieden gleichgesetzt werden, Hochrüstung und Kriege nicht als normale Handlungsformen anerkannt und vor allem der eigene Beitrag zur Entstehung dessen, was als Bedrohung wahrgenommen wird, gesehen werden.

Konfliktdimension »Doppelmoral«

Eine weitere Ausprägung struktureller Konfliktpotenziale stellt die Kritik an der »Doppelmoral« des Westens dar, die mit dem aktuellen Propagandakrieg an Fahrt aufgenommen hat. Heute wird Russlands völkerrechtswidriger Angriffskrieg stärker verurteilt als andere illegale Kriege, die von westlichen Staaten in der jüngeren Zeit, wie z.B. Irak 2003 oder Libyen 2011, geführt wurden (Fischer 2022). Der Politikwissenschaftler Ivan Krastev sieht die wachsende Kritik an der westlichen Doppelmoral im Wesentlichen als Ausdruck der Krise der liberalen Hegemonie (Krastev 2019). Aus friedenslogischer Sicht erzeugt die „Hybris desjenigen Akteurs, der sich als Sieger des Kalten Kriegs begreift, ebenso wie die normative und praktische Selbstbevorzugung, gemäß derer sich der Westen dazu berechtigt sieht, sich selbst mehr zu erlauben, als er anderen zuzugestehen bereit ist“ (PZKB 2022, S. 12) eine weitere Dimension in diesem konkreten Krieg – etwas das für eine zu schaffende Friedensordnung beachtet werden müsste. Die Zusammenfassung der oben skizzierten Punkte ist in der begleitenden Vier-Feld-Matrix aufgeführt (Tabelle 1).

Subjektiv

Objektiv

Individuell

Psyche:

Tiefergehende Motivationen auf allen Seiten, insbesondere Sicherheitsbedürfnisse.

Ggf. tiefergehende Traumata bei Betei­ligten auf allen Seiten.

Verhalten, Interaktionen:

Historischer Verlauf und aktuelle Handlungen der Parteien (hier: zusätzlich NATO, EU, USA)

Juristische, vor allem völkerrechtliche Rahmenbedingungen: Russland, NATO, EU.

Weitere Rahmenbedingungen: ökono­misch, militärisch, geostrategisch.

Kollektiv

Kultur:

Kulturelle Gewalt, in Form konflikt­verschärfender Bedrohungsdarstellungen (z.B. Gegenseite als feindliche Großmacht).

Kulturelle Gewalt in Form historisch, ideologisch etc. begründeter Legitimierung von geokultureller Expan­sion.

Propagandakrieg, verschärfte Kritik an der Doppelmoral des Westens.

Struktur:

Strukturelle Konstellation: Liberale Hegemonie des Westens.

Great Game zwischen Russland und dem Westen auf dem Schachbrett Europas.

Innerstaatlich: Strukturelle Unterdrückung von Minderheiten (je nach Gebiet: Russ*innen und Nicht-Russ*­innen).

Tabelle 1: Dimensionen zur Analyse des Russland-Ukraine-NATO-Konflikts in einer Vier-Feld-Matrix (nach Ropers und Lederach)

Impulse für den Friedensprozess

Auf Grundlage der oben skizzierten Reflexionen ergeben sich mehrere Hebelpunkte für nicht-militärische Interventionen im Russland-Ukraine-Krieg.

Maßnahmen für die Zivilbevölkerung

Die zivilgesellschaftliche Konfliktbearbeitung hält eine Vielzahl von Handlungsfeldern und Maßnahmen bereit, die bereits in internationalen Konflikten umgesetzt werden. Ein Großteil dieser Maßnahmen adressiert die Zivilbevölkerung(-en) der direkt betroffenen Konfliktparteien. Dies erscheint unumgänglich, um ein Wiederaufflammen von Gewalt, nachdem politische Vereinbarungen getroffen wurden, zu verhindern.

Ein wichtiges Handlungsfeld, das in der Ukraine durchaus abgedeckt wird, ist Leidmilderung und Opferschutz durch sofortigen Waffenstillstand und humanitäre Hilfe. Vom Angriffskrieg ist besonders die ukrainische Zivilbevölkerung betroffen. Humanitäre Hilfe von Staaten und NGOs oder UN-Hilfsorganisationen leistet Schadensbegrenzung (EU Kommission 2022). Neben materieller Versorgung muss diese Hilfe auch psychologische Unterstützung zur Behandlung von Depressionen, Angststörungen und posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) beinhalten.

Maßnahmen gegen kulturelle Gewalt

In einem weiteren Handlungsfeld geht es vor allem darum, den Unterbau kultureller Gewalt anzugehen, der sich in Form direkter Gewalt wie Hassrede, Verschwörungsmythen, Kriegsrhetorik ausdrückt. Denn kulturelle Gewalt befeuert maßgeblich den Konflikt und kann ihn vor allem über Generationen am Leben halten. Diese Dimension bedarf langfristiger Ansätze. Hierzu ein paar knappe Notizen:

  • Ein wichtiger und derzeit unterschätzter Ansatzpunkt wäre ein Sensibilisieren für kulturelle Gewalt beispielsweise durch die Förderung von »Friedensjournalismus«. Letzterer zielt darauf ab, den Konflikt differenziert darzustellen, die Hintergründe zu verdeutlichen und mögliche friedliche Lösungen aufzuzeigen und auf diese aktiv hinzuarbeiten (Kempf und Shinar 2014).
  • Ein zweites Handlungsfeld, das auf Eindämmung kultureller Gewalt und gleichzeitig Förderung von Verständigung abzielt, könnte das Einrichten von Plattformen für einen vermittelnden Dialog über umstrittene Narrative sein. Eine solche Plattform wurde bereits in der Vergangenheit anlässlich des Krim-Kriegs vom IMSD-Netzwerk ins Leben gerufen und erfolgreich umgesetzt (Inmedio o.J). Dabei ging es darum, umstrittene Narrative in der öffentlichen Berichterstattung Deutschlands (und im weitesten Sinne des Westens), der Ukraine und Russlands zu erkunden und einen Raum für Diskussionen zu schaffen, der auf ein tiefes Verständnis der Standpunkte ihrer Teilnehmer*innen abzielte. Dieser mediative Dialog fokussiert auf die Idee des Wertes aller Standpunkte und dem Recht eines jeden, zu sprechen und gehört zu werden (Inmedio o.J).
  • Eine dritte Dimension soziokultureller Interventionen, die in einer späteren Phase des Friedensprozesses an Bedeutung gewinnen dürfte, widmet sich der Frage nach einem friedlichen Zusammenleben russisch- und ukrainischsprachiger Bevölkerungsgruppen, insbesondere im Donbas. Hier wird es auf intra- und transnationaler Ebene darum gehen, das Etablieren einer Sprach- und Minderheitenpolitik zu ermöglichen, die internationalen Mindeststandards entspricht.
  • Auch die Schulbildung als Träger kulturell gewaltvoller Inhalte darf als Konfliktdimension nicht unterschätzt werden. Entsprechende Erfahrungswerte bestehen unter anderem im Israel-Palästina-Konflikt und dem Konzept der »parallelen Geschichten«. Diese Initiative trägt dem Umstand Rechnung, dass Konfliktgruppen historische Ereignisse sehr unterschiedlich wahrnehmen und erklären. Oft werden für diese Auseinandersetzungen Geschichtsbücher in Schulen instrumentalisiert. Das von Samir Adwan und Dan Bar-On ins Leben gerufene Schulbuchprojekt berücksichtigt die Sichtweisen beider Seiten und ermöglicht es den Schüler*innen, beide kennenzulernen (Adwan und Bar-On 2012). Dieser erfolgreiche Ansatz ließe sich auch auf die Ukraine, insbesondere im Donbas, anwenden.

Staatliche Ebene: Verhandlungen möglich machen

Angesichts der fortgeschrittenen Eskalation und Verhärtung dürfte es sich als sinnvoll erweisen, wenn die unterschiedlichen internationalen Unterstützer*innen die Konfliktparteien dazu bewegen, die Waffen niederzulegen und sich konstruktiv an einer Friedenslösung zu beteiligen. Nach klassischer Konflikteskalationslogik sind die Akteure in diesem Zustand kaum mehr in der Lage, aus eigenen Kräften aus der Verhärtung auszubrechen. Im Falle der Ukraine hätten die USA entsprechenden Einfluss, auf russischer Seite eventuell China.

Grundsätzlich erweist es sich als friedensförderlich, Dialogkanäle zwischen den Beteiligten aufrechtzuerhalten und den Raum für Verhandlungen offen zu lassen (Purkarthofer 2000). Die Mediator*innen vom IMSD empfehlen dabei für den Prozess, keine hohen Erwartungen an inhaltliche Kompromissbereitschaft zu stellen, da ein Drängen von Drittparteien zu weiterer Verhärtung führen könnte. Vielmehr gehe es darum, auf niedrigschwellige Zwischenziele, etwa als „Identifikation der Bedingungen zur Co-Existenz“, hinzuarbeiten (IMSD 2022). Tatsächlich bestanden im ersten Kriegsmonat durchaus Chancen auf eine Verhandlungslösung. Nach Beratungen in Istanbul Ende März bot die Ukraine ihre Neutralität und den Verzicht auf einen NATO-Beitritt an. Die Verhandlungen kamen zu keinem Ergebnis (ZEIT 2022). In den späteren Monaten wurden zumindest Teilerfolge in Form von Abkommen zu Gefangenenaustauschen und Getreide realisiert (Apelt 2022). Darauf ließe sich aufbauen. Letztlich gilt: Das Ende des Krieges kann nur in Form von Verhandlungen erfolgen, in denen strittige Punkte, wie z.B. die Territorialfrage, geklärt werden müssen. So stellt sich aufgrund der steigenden Kriegskosten auf beiden Seiten und der geringen Wahrscheinlichkeit eines schnellen militärischen Sieges „weniger die (…) Frage, ob es weitere Verhandlungen geben wird, sondern eher wann und unter welchen Bedingungen“ (IMSD 2022).

Bei der Frage nach geeigneten Mediator*innen eignen sich von allen Beteiligten gleichermaßen akzeptierte Staaten, wie z.B. die Türkei oder die Schweiz, oder spezialisierte NGOs, wie z.B. die Berghof Stiftung, inmedio oder das IMSD-Netzwerk. Dabei wird in der zivilen Konfliktbearbeitung betont, alle »Tracks« mit einzubeziehen – die der politischen Entscheidungsträger*innen (Track 1), gesellschaftlicher (Track 2) und zivilgesellschaftlicher Führungspersönlichkeiten (Track 3) (Lederach 1997) – was im Falle der Ukraine vor allem auch aufgrund ihrer innerstaatlichen Konfliktdimensionen sinnvoll erscheint (Herrberg 2017). Insgesamt, so betonen die Expert*innen des IMSD-Netzwerks, empfiehlt sich das Einrichten unterschiedlich zusammengesetzter Akteursforen. Um z.B. den Ursachen für die Außeneinmischungen in diesem Konflikt auf den Grund zu gehen und den übergeordneten russischen Sicherheits- und Anerkennungsinteressen begegnen zu können, ist eine Einbindung relevanter westlicher Mächte, insbesondere der USA und NATO, auf der Track 1-Ebene erforderlich (IMSD 2022).

Das selbstkritische Reflektieren des eigenen Beitrags beinhaltet, wie die Expert*innen der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung (PZKB) in ihrer Stellungnahme vom 11.05.2022 betonen, nicht die moralische Schuldfrage. Vielmehr gilt es, die eigenen Anteile an der Zuspitzung der letzten Jahre zu thematisieren und die Sichtweise der jeweils anderen Konfliktparteien nachzuvollziehen, ohne sie deshalb gutheißen zu müssen. So ist im westlichen Diskurs weitgehend tabuisiert, dass die aktuelle Herrschafts- und Sicherheitsordnung nicht auf Grundlage eines gleichberechtigten Mitwirkens aller Beteiligten entstand. Schon früh geäußerte Einwände und Sicherheitsbedenken Moskaus wurden ignoriert und seine Initiativen – wie beispielsweise der Entwurf für einen Sicherheitsvertrag im Jahre 2009 – wurden nicht aufgegriffen (PZKB 2022). Selbstkritisches Reflektieren des Eigenanteils bedeutet für den Westen auch eine Auseinandersetzung mit dem vermehrt geäußerten Vorwurf der Doppelmoral. Ein solcher, vom Westen selbst angestoßener Diskurs über eigene Fehler und Versäumnisse könnte wesentlich dazu beitragen, Größe zu zeigen und verlorengegangenes Vertrauen in der internationalen Staatengemeinschaft zurückzugewinnen.

Pufferzonen und Demilitarisierung

Aus einer lösungsfokussierten Perspektive nehmen im Russland-Ukraine-Krieg vor allem Sicherheitsbedürfnisse und die Frage nach dem Status der Ukraine, zumindest der Ostukraine, einen zentralen Wert ein. Einige Beobachter*innen aus der zivilen Konfliktbearbeitung, wie z.B. Johan Galtung oder Antje Herrberg, empfehlen das Etablieren einer neutralen bzw. demilitarisierten Pufferzone, im Sinne eines oder mehrerer autonomer Gebiete entlang der westrussischen Grenze (Herrberg 2017; Galtung 2014). Aus friedenspolitischer Sicht läge es im nationalen Interesse der Ukraine, die Multiethnizität der Region zu sichern und die russische Kultur als koexistierende Kultur zu begreifen. Als Inspirationsbeispiele ließen sich z.B. das Föderalismuskonzept der Schweiz (Wolffsohn 2019) oder das Modell der Autonomen Provinz Bozen (2022) heranziehen.

Die Expert*innen der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung sehen vor allem die OSZE als am besten geeigneten Ort für solche Verhandlungen, als Projekt so genannter „gemeinsamer Sicherheit wider Willen“, weil sie den erforderlichen gesamteuropäischen Rahmen zur Verfügung stellt (PZKB 2022).

All die oben skizzierten vielfältigen Beiträge und Überlegungen für einen nachhaltigen Friedensprozess lassen sich erneut in einer Vier-Feld-Matrix zuordnen (Tabelle 2).

Subjektiv

Objektiv

Individuell

Psyche:

Leidmilderung der Opfer durch humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerungen durch Nichtregierungsorganisationen oder UN-Organisationen. Fokus: PTBS und weitere psychische Verletzungen.

Friedensgespräche auf politischer Ebene (Track 1) sollten inoffiziell und gesichtswahrend laufen.

Verhalten, Interaktionen:

Opferschutz durch sofortigen Waffenstillstand auf allen Seiten.

Durchführung von Friedensgesprächen unter Einbindung mehrerer Ebenen (Multi-Track) und lokaler Vermittler.

Bestehende Abkommen (wie z.B. Minsk-Abkommen) als Ausgangsbasis für den weiteren Prozess, ggf. im Rahmen eines Projekts „Gemeinsame Sicherheit wider Willen“, moderiert über die OSZE.

Kollektiv

Kultur:

Behebung kultureller Gewalt, z.B. in Form moralisierender Berichterstattung, durch Friedensjournalismus. Entwicklung einer differenzierteren Diskurs­kultur.

Bekämpfung von Desinformation durch unabhängige Organisationen, z.B. der UN.

Anti-diskriminierende Integrationspolitik in der Ukraine.

Empathie: Sensibilisierung für eigene Anteile am Konfliktsystem.

Schulbuchprojekte der „zwei Seiten“, inspiriert am Erfolgsbeispiel Israel-­Palästina.

Einrichtung von „Plattformen für einen vermittelnden Dialog über umstrittene Narrative“.

Struktur:

Behebung struktureller Gewalt, z.B. in Form von Diskriminierungen russischsprachiger Minderheiten in der Ukraine. Denkbar wäre ein föderales Konzept (z.B. Schweizer oder Südtiroler Modell).

Kritische Berücksichtigung der Sicherheitsbedürfnisse aller Seiten, die sich aus der geostrategischen Konstellation ergeben.

Aushandlung weiterer Win-Win-Lösungen zur Territorialfrage: UN-überwachte Sicherheitsgarantien; Einrichtung eines demilitarisierten Puffers an der Ostgrenze zu Russland.

Tabelle 2: Ansatzpunkte und Interventionen für den Friedensprozess im Russland-Ukraine-­NATO-Konflikt in einer Vier-Feld-Matrix (nach Ropers und Lederach)

»Nadelstiche« nicht unterschätzen

Einige der oben skizzierten Punkte mögen utopisch erscheinen, weil sie zur Durchsetzung idealerweise durchsetzungsfähige transnationale Institutionen, im Idealfall eine handlungsfähige UN und entsprechende Weltinnenpolitik voraussetzen würden. Nicht zu unterschätzen ist jedoch, dass in nahezu all diesen Bereichen NGOs aus der Zivilgesellschaft tätig sind und in der Lage sind und wären, »Nadelstiche« für den Frieden zu setzen.

Der Russland-Ukraine-Krieg ist von erheblicher globaler Tragweite, seine Befriedung in seiner Bedeutung und den Herausforderungen nicht zu unterschätzen. Die primär diskutierten Dimensionen der Durchsetzbarkeit internationalen Rechts sowie die Fragen der aktiven Kriegsführung müssen durch die hier angesetzte Betrachtung erweitert werden. Hier gilt es für Friedensforschung und -arbeit vorauszudenken und immer wieder zu betonen, dass Dimensionen psychischer und kultureller Gewalt, struktureller Gewalt sowie größerer Auseinandersetzungen über die Kritik an der westlich-dominierten liberalen Hegemonie ebenso eine Rolle spielen und im Rahmen der Konflikttransformation berücksichtigt werden müssen.

Anmerkung

1) Ganz ähnlich schätzen dies weitere prominente Vertreter*innen geostrategischer Denkschulen ein. Beispiele seien hier u.a. die Einschätzung des Geostrategen des Beratungsinstituts Stratfor, George Friedman. In einem Vortrag am »Chicago Council on Global Affairs« von 2015 bestätigte er Russlands Befürchtungen eines geostrategischen Plans des »Sicherheitsgürtels« entlang der Westgrenze zu Russland. Hier käme der Ukraine und der Frage, ob das Land pro-westlich oder pro-russisch ausgerichtet sei, eine besondere strategische Bedeutung zu (Friedman 2015). Diese Einschätzung wird vom Geogstrategiker Zbigniew Brzezinski geteilt (siehe Brzezinski 2001).

Literatur

Adwan, S.; Bar-On (2012): Side by side: Parallel histories of Israel-Palestine. The New Press, New York

Apelt, B. (2022): Diplomatischer Erfolg für ukrainischen Getreidekorridor. Friedrich Naumann Stiftung, 05.09.2022.

Autonome Provinz Bozen (2022): Eine Autonomie für drei Sprachgruppen. URL: provinz.bz.it/autonomietag/autonomie.asp

Brzezinski, Z. (2001): Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M.

Dornblüth, G.; Adler, S. (2022): Russlands Besatzungspolitik in der Ukraine. Deutschlandfunk, 05.04.2022.

DW (2022): China und Russland kritisieren Westen. Deutsche Welle, 23.06.2022.

Europäisches Parlament (2018): Diskriminierung der russischen Sprache in der Ukraine — was tut die Europäische Union? Parlamentarische Anfrage – E-005731/2018, 12.11.2018.

EU Kommission (2022): European Civil Protection and Humanitarian Aid Operations. Factsheet Ukraine. Homepage der Europäischen Kommission.

Fischer, L. (2022): Der Imperialismus war nie weg. Jacobin, 25.03.2022.

Friedman, G. (2015): George Friedman, “Europe: Destined for Conflict?”. Rede im Chicago Council on Global Affairs. veröffentlicht auf Youtube am 04.02.2015.

Galtung, J. (2014): Ukraine-Crimea – The solution is a federation with high autonomy. Inter Press Service, 01.04.2014.

Galtung, J. (1998): Frieden mit friedlichen Mitteln. Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur. Opladen: Leske+Budrich

Hate Aid (2022): Report: Desinformation und digitale Gewalt im Ukraine-Krieg. Hate Aid.

Herrberg, A. (2017): Is peace mediation in Ukraine possible, and how? Conciliation Ressources, Februar 2017.

IMSD (2022): Krieg in der Ukraine: Haben Verhandlungen eine Chance? 10 Punkte der Initiative Mediation Support Deutschland (IMSD). April 2022.

Inmedio (o.J.): Platform for mediative dialogue on contested narratives. URL: contested-narratives-dialogue.org

Jaberg, S. (2014): Sicherheitslogik: Eine historisch-genetische Analyse und mögliche Konsequenzen. W&F 02/2014, Dossier 75, S. 8-11.

Kempf, W.; Shinar, D. (2014): The Israeli-Palestinian conflict: War coverage and peace journalism. Berlin: regener.

Kempf, W. (2004): Friedensjournalismus. In:Sommer, G; Fuchs, A. (Hrsg.): Krieg und Frieden. Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie. Weinberg: Beltz, S. 439-451.

Kotsev, M. (2022): Fast 5.000 Artikel mit Nazi-Vorwürfen: Wie Russland seine Bürger zum Kriegsbeginn auf Kurs brachte. Tagesspiegel, 07.07.2022.

Krastev, I. (2019): The missionary who has to become a monastery. Center for Liberal Studies, Sofia.

Lederach, J. P. (2003): Conflict Transformation. Auszüge aus Lederachs Buch „The Little Book of Conflict Transformation“, zusammengestellt von Maiese, M. Stand: Oktober 2003.

Lederach, J. P. (1997): Building peace. Sustainable reconciliation in divided societies. Washington D.C.: USIP.

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Mearsheimer, J. (2022): Why John Mearsheimer blames the U.S. for the crisis inUkraine. Interview durchgeführt von Chotiner, I. The New Yorker, 01.03.2022.

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PZKB (2022): Friedenslogik statt Kriegslogik: Zur Begründung friedenslogischen Denkens und Handelns im Ukrainekrieg. Stellungnahme aus der AG Friedenslogik der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung. 11.05.2022.

Ropers, N. (1995): Friedliche Einmischung. Berlin: Berghof Foundation (früher: Berghof Forschungszentrum für konstruktive Konfliktbearbeitung).

Sarotte, M. E. (2021): Not one inch. America, Russia, and the making of post-Cold War stalemate. New Haven: Yale University Press.

Tacke, S.; Busche, L. (2022): Genozid-Vorwurf im Ukraine-Krieg: Wann spricht man von Völkermord? ZDF heute, 07.04.2022.

Wolffsohn, M. (2019): Zum Weltfrieden. Ein politischer Entwurf. München: dtv Verlag.

ZEIT (2022): Ukraine bietet Neutralität an – Moskau sieht „alles streng nach Plan“. DIE ZEIT, 29.03.2022.

Karim P. Fathi ist Friedens- und Resilienzforscher und Partner diverser Beratungsorganisationen. Schwerpunktmäßig forscht er zu gesellschaftlicher Multiresilienz und integrierter Konfliktbearbeitung.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2023/1 Jenseits der Eskalation, Seite 26–30