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W&F 1994/3

Dortmunder Erklärung: Wissenschaft in der Verantwortung – Politik in der Herausforderung

von Friedens- und KonfliktforscherInnen

I. Nachhaltige Entwicklung – das überragende Ziel

Die Leitlinien von Wissenschafts- und Forschungspolitik müssen sich orientieren an der Forderung, daß unsere wissenschaftlich-technische Zivilisation in die Bahnen nachhaltiger Entwicklung (substainable developement) gelenkt werden muß. Wissenschafts- und forschungspolitische Prioritäten haben sich primär auf die unterstützende Durchsetzung einer nachhaltigen Lebens- und Wirtschaftsweise im globalen Maßstab auszurichten. Ökonomische Rentabilitätskriterien sind diesen Prioritäten nicht über-, sondern in sie eingeordnet. Eine primär auf die hochtechnologische Wettbewerbsfähigkeit des »Standorts Deutschland« fixierte industriepolitische Diskussion verdrängt das Nachdenken über Bedingungen und Szenarien nachhaltiger Entwicklung. Sie wird gesellschaftlichen Erfordernissen einer langfristigen ökologischen und sozialen Zukunftsvorsorge nicht gerecht.

Nachhaltige Entwicklung ist zugleich der einzig erfolgversprechende Weg zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit, insbesondere mit Blick auf die Situation in den neuen Bundesländern. Beides ist ohne soziale, ökologische und ökonomische Innovationen nicht zu haben.

Die substantielle Umsteuerung von Wissenschafts- und Forschungspolitik soll entlang folgender Grundsätze erfolgen:

1. Wirtschaftlichkeit, Umwelt- und Sozialverträglichkeit müssen gleichrangige Ziele der F+T-Politik werden.

2. Volkswirtschaftliche Gesichtspunkte, die auch die gesellschaftlichen und ökologischen Folgeschäden berücksichtigen, müssen an die Stelle der rein betriebswirtschaftlichen Betrachtungsweise treten.

3. Anstelle des immer schärferen internationalen Konkurrenzkampfes um Weltmarktanteile müssen partnerschaftliche Alternativen gefunden werden.

4. Wissenschaft und Forschung als gesellschaftsgestaltende Faktoren brauchen den gesellschaftlichen Dialog. Demokratische Einfluß- und Kontrollmöglichkeiten müssen geschaffen werden.

5. Technikfolgenabschätzung muß integraler Bestandteil bei der Entwicklung neuer Techniken werden und durch Bereitstellung entsprechender Mittel abgesichert werden.

II. Forschungs- und Technologiepolitik. Substantiell umsteuern!

Die staatliche Forschungspolitik bedarf neuer Prioritäten und Entscheidungsstrukturen. Gerade weil sie eine Initialfunktion für langfristige Entwicklungen hat, kommt ihr eine spezifische Bedeutung zu. Deshalb kann sich staatliche F+T-Politik nicht damit begnügen, lediglich als »Moderator« zu fungieren, sie muß auch Rahmenbedingungen festlegen.

In der gegenwärtigen F+T-Politik sind große Mittel an Raumfahrt-, Fusions- und Kernenergieforschung gebunden, die in anderen Bereichen dringend benötigt werden. Die wesentlichen Bereiche sind: Ökologie, Klima und Landwirtschaft, Energie, Verkehr, Abfall, Beschäftigung und soziale Sicherheit, Arbeits- und Gesundheitsschutz, Friedens- und Konfliktforschung, Feministische Forschung in Sozial-, Natur- und Technikwissenschaften.

Eine Neuorientierung in der F+T-Politik setzt eine Verbesserung des Dialogs und der interdisziplinären Kooperation aller Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen, z.B. in Verbundprojekten, voraus.

In den letzten Jahren weisen die öffentlichen Forschungshaushalte eine real rückläufige Tendenz auf. Mit der deutsch-deutschen Vereinigung wurde nicht proportional der BMFT-Haushalt aufgestockt. Angesichts der bereits heute erkennbaren nationalen und globalen Probleme sind die Haushaltsmittel zu erhöhen. Die Mittel für den Bereich Vorsorgeforschung sind trotz der Steigerung auf 18<0> <>% am BMFT-Haushalt zu gering. Vorsorgeforschung ist zudem bisher zu einseitig auf Reparaturforschung, Entsorgungswissen und technische Lösungen ausgerichtet (z.B. Gewässerreinigung statt Reduzierung des Schadstoffeintrags in der Landwirtschaft).

Der katastrophale Verlust der Industrieforschung in den neuen Bundesländern kann nicht hingenommen werden. Dort sollen, wie auch in den alten Bundesländern, – u.a. über ökologische Optionen – neue Möglichkeiten geschaffen werden, Wissenschaft mit arbeitsplatzschaffender Infrastrukturpolitik zu verbinden.

Der Abbau von Rüstungsforschung ist von zentraler Bedeutung auch für die Erfüllung der gesellschaftlichen Aufgaben der zivilen Forschung.

Wir wollen eine konsequente Umsteuerung von militärischer hin zu ziviler Forschung. Bestrebungen zum Ausbau des »dual use«, der Ausdehnung der Forschung auf militärische Anwendungen, lehnen wir ab.

Konkret fordern wir:

  • drastische Reduzierung der Ausgaben für Rüstungsforschung, unter anderem durch Verzicht auf den »Eurofighter 2000«;
  • erhebliche Verringerung der Kernenergieforschung und Verzicht auf die Entwicklung des »inhärent sicheren Reaktors«;
  • die sofortige Einstellung ökonomisch und verkehrspolitisch unsinniger und ökologisch bedenklicher Verkehrsprojekte (z.B. Transrapid);
  • die Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips in der Industrieforschungsförderung.

III. Bildung und Hochschule

Für die Wahrnehmung von Verantwortung der Hochschulen selbst und vor allem durch die künftige WissenschaftlerInnengeneration ist eine grundlegende Hochschulreform überfällig. Sie muß sich an der Öffnung der Hochschulen für die Gesellschaft und ihre Probleme, an verstärkter Gewährleistung sozialer Chancengleichheit, am Abbau geschlechtsspezifischer Diskriminierungen, einer Neuordnung der Personalstruktur an Hochschulen, der Entwicklung problemorientierter, leistungsfähiger, disziplinärer wie interdisziplinärer Arbeitszusammenhänge in Studium, Lehre und Forschung orientieren. Dabei sind Erfahrungen wie Ansprüche an Lehre und Betreuung Studierender der Hochschulen der neuen Bundesländer stärker zu berücksichtigen.

Für den Hochschulzugang gilt das Prinzip »Fördern statt Auslesen«; maßgeblich sind das soziale Recht (z.B. bedarfsgerechte Studienfinanzierung) auf und die gesellschaftliche Verantwortung für Bildung, für den Hochschulzugang erforderlich ist eine Gleichstellung beruflicher und allgemeiner Bildung; alle Beschäftigungsverhältnisse im Wissenschaftsbereich sollen tarifvertraglich geregelt werden.

Zur Sicherung der elementaren Funktionsfähigkeit der Hochschulen bilden personelle, institutionelle und finanzielle Stabilität unabdingbare Voraussetzungen. Bis zum Jahre 2000 ist – auch angesichts der prognostizierten 2 Millionen Studierenden – ein Mindestausbau der flächenbezogenen Studienplätze auf 1,4 Millionen und eine dem angemessene Hochschulbauförderung des Bundes erforderlich.

Fachhochschulen als stärker praxisbezogener Hochschultyp bedürfen des Ausbaus und eigener Entwicklungsmöglichkeiten, dazu zählen Durchlässigkeit, Forschungs- und erweiterte Qualifikationsmöglichkeiten für Lehrende und Studierende. Weiterhin ist die Integration verschiedener Hochschultypen eine wichtige Option für die Hochschulentwicklung.

Die in der Hochschulpolitik von Bund und Ländern vorhandene Tendenz, Hochschulreform auf die Einführung von Sanktionsinstrumenten und die Durchsetzung rein quantitativer Kriterien, die Reduktion wissenschaftlicher Qualifikationsstandards auf marktbezogene berufliche Verwertbarkeit zu beschränken, Personalstrukturen weitgehend zu »flexibilisieren« und Frauen dabei nach wie vor auszugrenzen reproduziert diese Verhältnisse struktureller Verantwortungslosigkeit.

Dagegen bedarf es der Demokratisierung der Hochschulen, die nach innen nach dem Grundsatz, daß keine Statusgruppe alle anderen überstimmen können darf sowie mit einer (auch juristischen) Stärkung der Position der Frauen an der Hochschule, nach außen durch einen Ausbau von Beteiligungsformen gesellschaftlicher Gruppen (Kuratorien, Foren, Beiräte) verwirklicht werden kann.

IV. Abbau geschlechtsspezifischer Diskriminierungen im Wissenschaftsbereich

Ein Neuanlauf in der Gleichstellungspolitik ist unabdingbar. Solange die bisherigen, politisch anerkannten Mechanismen der »Frauenförderung« lediglich auf die Verbesserung individueller Konkurrenzfähigkeit von Frauen innerhalb der bestehenden Strukturen hinauslaufen, werden in Zeiten von Krisen und finanziellen Engpässen erreichte Standards immer wieder infrage gestellt, ist der Frauenanteil in einzelnen Bereichen der Wissenschaft (z.B. Informatik) sogar dramatisch rückläufig.

Wir halten folgendes für notwendig:

  • Für alle personenbezogenen staatlichen Förderprogramme ist die Quotierung vorzuschreiben.
  • Die Erstellung von Frauenförderplänen zur Erhöhung des Frauenanteils soll durch Novellierungen des HRG und der Landeshochschulgesetze verbindlich gemacht werden.
  • Bund und Länder sollen ein Sonderprogramm für die Berufung von Professorinnen in den nächsten 10 Jahren auflegen.
  • Die Stellung und Rechte von Frauenbeauftragten bzw. -vertreterinnen sind landesgesetzlich – analog den Rechten der Personalräte – auszugestalten.
  • Wir unterstützen ausdrücklich Überlegungen, eine Frauenhochschule als Modellversuch zu gründen, um dringend notwendige neue Formen der Lehre und feministische Impulse für Wissenschaft und Technik entwickeln zu können.

V. Ethik und Verantwortung

Wahrnehmung des Prinzips »Verantwortung« bedeutet für die Wissenschaft, daß sie sich stets neu im Spannungsfeld von Erkenntnisinteresse und möglichen gesamtgesellschaftlichen Wirkungen orientieren und verhalten muß. Den WissenschaftlerInnen muß die Möglichkeit gegeben werden, ihren ethischen Überlegungen entsprechend handeln zu können, ohne berufliche Nachteile in Kauf nehmen zu müssen.

Der interdisziplinäre ethische Diskurs muß zum integrierenden Bestandteil wissenschaftlicher Kultur werden. Er ist unverzichtbarer Ort kritischer Selbstreflexion der Wissenschaften, der auch zur Überwindung massiver Kommunikationsstörungen zwischen den Wissenschaften beitragen und über ihre patriarchalen Muster hinausführen muß. Besonders einbezogen werden müssen außeruniversitäre und industrielle Forschungseinrichtungen.

VI. Wissenschaft –Demokratie – Öffentlichkeit

Wissenschaft ist eine öffentliche Angelegenheit, über die niemand privilegiert – sei es aus profit-, hoheitlichen oder geschlechtsspezifischen Interessen heraus – verfügen und entscheiden sollte.

Wissenschaftliche Erkenntnisse von heute und ihre technologische Umsetzung bestimmen wesentlich das Leben von morgen. Damit kommt der Festlegung von Forschungszielen und -prioritäten eine zentrale gesellschaftsformende Bedeutung zu. Die Einflußnahmen auf diesen Prozeß ist zur Zeit Expertengruppen aus Teilen der fast ausschließlich männlichen »wissenschaftlichen Fachwelt« vorbehalten, die öffentliche Wahrnehmung von Wissenschaft anhand ihrer oft negativen Wirkungen stigmatisiert.

Wachsende Finanzierungsengpässe im öffentlichen Wissenschaftssystem in Verbindung mit der zunehmenden Durchsetzung formaler ökonomisch-quantitativer Bewertungskriterien unter der konservativ-liberalen Bundesregierung haben zur Relativierung politischer Aushandlungsprozesse und der Aushöhlung demokratischer Verfahren geführt. Entgegen diesem Trend muß die öffentliche Funktion der Wissenschaft gestärkt werden.

Notwendig ist die Wiedergewinnung einer demokratischen und entscheidungsoffenen Planungs- und Handlungsdimension: dazu zählen ebenso die Gewinnung neuer Finanzierungsspielräume für Wissenschaft durch politische Prioritätenwechsel wie die öffentlich überzeugende Entwicklung sozial-ökologischer Prioritäten in der Wissenschaftspolitik. Wahrnehmung von Verantwortung durch öffentlichen Kompetenzgewinn und Demokratisierung von Entscheidungsprozessen begreifen wir als Einheit.

Die Wissenschaftspolitik bedarf der Demokratisierung über gesellschaftliche Diskurse. Hochschulen und Forschungseinrichtungen brauchen mehr Mitbestimmung.

Wir fordern, die sozialen, ökologischen und ökonomischen Zielstellungen von Forschungs-, Technologie- und Hochschulpolitik und deren gesellschaftliche Verantwortung zum Gegenstand institutionalisierter Diskurse zu machen. Dafür haben sich »Runde Tische« als sinnvoll erwiesen.

An »Runden Tischen« unter anderem auf Bundes- und Landesebene sollten VertreterInnen der wissenschaftlichen Gesellschaften und (kritischen) Wissenschaftsorganisationen sowie sozial-ökologischer Forschungseinrichtungen, Frauenorganisationen, kirchlichen Institutionen, Umwelt- und Verbraucherverbände, Gewerkschaften und der Arbeitgeber sowie verantwortliche PolitikerInnen beteiligt sein. Diese »Runden Tische« sollten Stellung nehmen zum gesellschaftlichen Bedarf an Forschung und Technologie, zu Leitlinien der Forschungsförderung und zur aktuellen Forschungspolitik. Dabei sollen die Arbeitsergebnisse weiter berücksichtigt werden.

UnterzeichnerInnen:
Wolfgang Vogt (Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung) / Andreas Schlossareck (Arbeitsgemeinschaft der Betriebs- und Personalräte der außeruniversitären Forschungseinrichtungen) / Werner Anton (Arbeitsgruppe alternative Wirtschaftspolitik) / Regine Barth, Peter Döge, Brigitte Fenner, Katrin Grüber (Bündnis 90 / Die Grünen, Bundesarbeitsgemeinschaften Hochschulpolitik, Forschung- und Technologie, Gen- und Reproduktionstechnologie) / Torsten Bultmann (Bund demokratischer WissenschaftlerInnen) / Ulf Imiela (Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand Abteilung Angestellte) / Elsge Wolf-Brinkmann, Ursula Schmidt (Evangelische Akademikerschaft) / Hans Jürgen Fischbeck, Peter Markus (Evangelische Akademie Mülheim/Iserlohn) / Cornelia Teller (Forum Informatiker und Informakterinnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung) / Dagmar Heymann (Frauen in Naturwissenschaft und Technik) / Stephan Haux (freier zusammenschluß von studentInnenschaften) / Ulrich Jahnke, Gerd Köhler (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft) / Dietrich Hofmann (Ingenieurtechnischer Verband – Kammer der Technik) / Helmut Aichele, Reiner Braun (Naturwissenschaftlerinitiative Verantwortung für den Frieden) / Peter Rath (Pädagogische Arbeitsstätte) / Klaus Jürgen Scherer (Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie)

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1994/3 Von Freunden umzingelt, Seite