W&F 1994/2

Editorial

von Randolph Nikutta

Vor drei Jahren wurde der Ost-West-Konflikt formal durch die Charta von Paris beendet, ist der riesige, heterogene Staatsverband UdSSR als Subjekt des Völkerrechts aus der Welt verschwunden, sind zahlreiche neue souveräne Nationalstaaten insbesondere auf dem europäischen Kontinent entstanden und ist Krieg mit all seinen grausamen Begleiterscheinungen in Europa wieder zur »Alltagsrealität« geworden. Die alte Ordnung auf dem europäischen Kontinent, die mittels eines nuklearen Abschreckungssystems mehr als 40 Jahre in recht fragiler Weise stabil im Sinne einer fehlenden militärischen Auseinandersetzung gehalten worden war, die machtpolitische Kontrolle der beiden deutschen Staaten gewährleistete und kriegsträchtige nationalstaatliche Alleingänge durch Eingliederung in hegemonial geführte Militärallianzen und ökonomische Integration unterband, ist definitiv zerfallen und muß durch eine neue sicherheits- und friedenspolitische Ordnung ersetzt werden.

Auf der einen Seite ist dies zweifelsohne eine große historische Chance, auf der anderen Seite sind die Hindernisse gewaltig, die sich einer neuen Friedensordnung in Europa entgegenstellen. Grundsätzliche Lösungen sind vor allem für die vielfältigen ökonomischen und sozialen Probleme, ethno-nationale Konflikte und Kriege im östlichen Europa gefordert, wenn eine langfristig aufrechtzuerhaltende gerechte europäische Friedensordnung Bestand haben soll. Doch den westlichen politischen und militärischen Entscheidungsträgern fehlt ganz offenbar der Mut zu innovativen, vorwärtsweisenden sicherheits- und friedenspolitischen Antworten und Konzepten. Die Phantasie- und Ratlosigkeit führt dazu, im praktischen Handeln Gewohnheiten und bewährte Einrichtungen zu konservieren.

So fällt den Regierenden der in der NATO zusammengeschlossenen westlichen Staaten nichts Besseres ein, als ausgerechnet die NATO ohne große Veränderungen ihrer Grundstruktur zum Kern europäischer Sicherheit zu erklären und eine Vergrößerung der Stola der Allianz beim Schneider in Auftrag zu geben, damit eines Tages die meisten osteuropäischen Staaten und eventuell auch Rußland darunter Platz finden. Die NATO hat die Frage der Mitgliedschaft osteuropäischer Staaten durch die Einrichtung des NATO-Kooperationsrates und des Programms »Partnerschaft für den Frieden« zunächst einmal vertagt, weil massive Interessensdivergenzen zwischen den NATO-Mitgliedsstaaten über die Erweiterung vorhanden sind.

Doch unabhängig davon, welche Minimal- oder Maximalkonzepte einer östlichen Erweiterung der NATO und des Grades der Einbindung Rußlands dabei gegenwärtig diskutiert werden, ist das ganze Palaver ein Wegweiser in die falsche Richtung. Der Politologe Czempiel bemerkte kürzlich zutreffend, daß Konzepte wie die »Partnerschaft für den Frieden« nicht zu den Ursachen vordringen, aus denen die Anwendung militärischer Gewalt zur Konfliktbearbeitung entsteht.

Die erfolgreiche Lösung der inneren Transformationsprobleme der nachkommunistischen Gesellschaften ist der entscheidende Schlüssel für eine zukünftige stabile Friedensordnung in Europa und nicht der Beitritt in eine westliche Militärallianz.

Ein Hauptproblem der Transformation der vormals staatssozialistisch organisierten Gesellschaften besteht darin, daß sie drei Aufgaben zur gleichen Zeit bewältigen müssen: der Aufbau einer neuen Wirtschaftsordnung nach dem Vorbild westlicher Marktwirtschaften, einer demokratisch orientierten Rechts- und Verfassungsordnung und die Verankerung neuer Regeln für soziale Integration, die die Achtung kultureller, religiöser oder ethnischer Verschiedenheit im Rahmen des Territorialgebiets einer Gesellschaft sicherstellen. Dies erfordert erhebliche finanzielle, politische und soziale Ressourcen und Unterstützung. Diese Transformationsprozesse nachkommunistischer Gesellschaften in Osteuropa zu fördern, sollte die vordringlichste Aufgabe westlicher Staaten sein. Denn dadurch wird die eigene Sicherheit erhöht und der Grundstein für eine stabile Friedensordnung auf dem Kontinent gelegt.

Leider klaffen deklaratorische und faktische Unterstützungspolitik westlicher Staaten gegenüber Osteuropa vielfach auseinander. So hat die EU zwar mit fast allen osteuropäischen Staaten Assoziationsverträge geschlossen, die Handelserleichterungen enthalten. Gleichzeitig verschlossen die EU-Staaten den osteuropäischen Ländern jedoch weitgehend den westeuropäischen Binnenmarkt für den Export ihrer Agrar-, Textil- oder Stahlprodukte.

Parallel zu der ökonomischen und politischen Entwicklung Osteuropas müssen Strukturen geschaffen bzw. gestärkt werden, innerhalb derer Konflikte zwischen den Staaten auf dem europäischen Kontinent auf gewaltfreiem Wege beigelegt werden können. Dies kann schwerlich die NATO sein, die ein nach außen gerichtetes Militärbündnis ist und keine institutionalisierten Mechanismen der internen Konfliktregulierung und vorbeugenden zivilen Konfliktbearbeitung kennt. Dafür bietet sich die politische Stärkung, Institutionalisierung und Weiterentwicklung der KSZE zu einer wirksamen Institution mit einer effektiven Entwicklungsagentur und einem – entsprechend dem Aufgabenfeld – personell und technisch ausgestatteten, funktionierenden und vorbeugenden zivilen Konfliktlösungsmechanismus an. Hier sollten die westeuropäischen Staaten, die USA und auch die mittel-osteuropäischen Staaten zur Förderung einer europäischen Friedensordnung neue Prioritäten setzen.

Ihr Randolph Nikutta

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1994/2 Ein Blick nach Osten, Seite