W&F 2014/2

Eine radikale Antwort

Süd-Süd-Kooperation durch ALBA

von Harri Grünberg

Im Rahmen der Alianza Bolivariana para los Pueblos de Nuestra América y el Caribe (Bolivarianische1 Allianz für die Völker unseres Amerika und der Karibik), kurz ALBA, entwickelt sich eine besondere Form der Süd-Süd-Kooperation, die nicht primär ökonomisch ausgelegt ist. Der Autor beschreibt, welche Rolle er sich von ALBA bei der Bekämpfung von Armut und der politischen Kooperation erhofft, um in Lateinamerika die neokoloniale Abhängigkeit und die dadurch bedingte Unterentwicklung zu überwinden.

Ausgelöst durch die rasch vorangetriebene Globalisierung der Weltwirtschaft, haben sich mit Beginn der 1990er Jahre regionale Kooperations- und Integrationsprozesse beschleunigt. In Europa formt sich mit der Europäischen Union ein neuer imperialer Block, der die USA als kapitalistische Führungsmacht ersetzen will. Die USA wiederum sind bestrebt, eine große »amerikanische« Freihandelszone zu schaffen, in die sich alle lateinamerikanischen Länder unter US-Dominanz in eine strikt neoliberale Politik eingliedern sollen.

Auch in Lateinamerika selbst wird die Debatte über die Schaffung regionaler Integrationsmechanismen intensiver. In den vergangenen zwanzig Jahren machten sowohl die Länder des südamerikanischen Kontinents als auch die Länder Mittelamerikas verschiedene Erfahrungen mit diversen Integrationsmodellen, darunter dem Mittelamerikanischen Integrationssystem, SICA (Sistema de la Integración Centroamericana), und dem südamerikanischen Gemeinsamen Markt des Südens, MERCOSUR (Mercado Comun del Sur).

In den 1990er Jahren war eine neoliberale Welle über ganz Lateinamerika geschwappt. Die wichtigsten lateinamerikanischen Länder wurden in dieser Zeit von orthodox-liberalen Kräften regiert, sodass der Integrationsdiskurs im Zeichen des Neoliberalismus stand. Das änderte sich mit der Abwahl dieser Regierungen infolge der gesellschaftlichen Erschütterungen, die der Neoliberalismus auf dem Kontinent auslöste. Die Ablehnung der US-dominierten Integration des gesamten Doppelkontinents in eine große Freihandelszone erfasste auch jene Sektoren der nationalen Bourgeoisie, die befürchteten, durch die Öffnung der Märkte im Wettbewerb mit den USA und Kanada zu unterliegen.

Zum Negativbeispiel wurde der Beitritt Mexikos zum Freihandelsabkommen USA-Kanada (NAFTA). Mexikos Industrie, insbesondere die mittelständische, sowie die kleinen Produzenten und die kleinbäuerliche Landwirtschaft wurden durch dieses Abkommen ruiniert. Die kleinen Bauern Mexikos, die zum Teil noch Subsistenzwirtschaft betreiben, machen die Mehrheit der mexikanischen Bevölkerung aus. Ihnen wurde die Existenzgrundlage entzogen. Es wurde unübersehbar: Bei Freihandelsverträgen mit den Ländern des Globalen Südens und mit Schwellenländern stehen immer die wirtschaftlichen Interessen der Großunternehmen des industriellen Nordens im Vordergrund.

Neuer Integrationskurs der Länder Lateinamerikas

Che Guevara beschrieb, dass die lateinamerikanischen Gesellschaften und ihre Ökonomien einer ungleichen und verzerrten Entwicklung unterworfen waren. Diese Gesellschaften zeichneten sich durch die Unfähigkeit aus, strukturelle Schranken im ökonomischen, sozialen, politischen, juristischen und kulturell-ideologischen Bereich zu überwinden, die ihre Entwicklung hemmten. Kennzeichen der frühen Industrialisierung in Lateinamerika, die nach dem Ersten Weltkrieg einsetzte, war die Entwicklung partieller Bereiche bei Aufrechterhaltung einer grundsätzlichen Unterentwicklung.

Die lateinamerikanische Wirtschaft ist, mit Ausnahme Brasiliens, auf dem Weltmarkt nach wie vor nur Rohstofflieferant. Selbst bei industriellen Produkten weisen ihre Industrieexporte ein geringes Wertschöpfungsniveau auf; das trifft selbst auf das weiter entwickelte Brasilien zu. Das gilt keineswegs nur für Lateinamerika, sondern für fast alle Regionen der so genannten unterentwickelten Welt, inklusive der Schwellenländer. Sie stellen 85% der Weltbevölkerung, produzieren aber nur 25% des globalen Bruttosozialproduktes. Strukturmerkmal der Unterentwicklung aller lateinamerikanischen Länder ist die Dominanz des Agrarsektors. Nach wie vor ist die Mehrzahl der lateinamerikanischen Bevölkerung dort beschäftigt. Die hauptsächlich landwirtschaftlichen Produkte weisen einen geringen Verarbeitungsgrad auf und generieren geringe Deviseneinnahmen.

Schon zu einem frühen Zeitpunkt konzentrierte sich das Denken führender lateinamerikanischer Soziologen und Entwicklungstheoretiker darauf, wie diese strukturellen ökonomischen und sozialen Schranken zu überwinden seien. Im Zentrum ihrer Überlegungen stand der Gedanke der Einheit Lateinamerikas und die Notwendigkeit, den antikolonialen Kampf zu Ende zu führen, der mit den Befreiungskriegen gegen die spanische Herrschaft begonnen hatte.

Seitdem linke, fortschrittliche Kräfte, die eine anti-neoliberale, endogene Entwicklungsorientierung aufweisen, zunehmend Wahlen gewinnen, nahm ein neuer Integrationsdiskurs Fahrt auf. Er grenzt sich deutlich ab von den Beschlüssen des III. Panamerikanischen Gipfels, der in Miami/USA im Dezember 1994 stattgefunden hatte und den Weg für die US-Pläne zur Errichtung der großen amerikanischen Freihandelszone Free Trade Area of the Americas (FTAA) bereiten sollte.

Kuba und Venezuela, namentlich Hugo Chávez und Fidel Castro, brachten im Jahre 2004 die Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerika und der Karibik, ALBA, auf den Weg. Die Allianz bildet einen Block von Nationalstaaten, die den Kampf gegen Unterentwicklung – einem historischen Erbe von Kolonialismus und imperialistischer Herrschaft –, aufgenommen haben. Die Integration gründet auf der gegenseitigen Kooperation, um Vorteile für alle beteiligten Nationen zu schaffen, die es ihnen ermöglichen, die ausgeprägten Entwicklungsunterschiede zwischen den Ländern Lateinamerikas zu überwinden und auf einen gemeinsamen Entwicklungsstand zu gelangen. Daher ordnet ALBA die Integration dem Ziel einer eigenständigen nationalen Entwicklung unter, um soziale Ungleichheit und Ausgrenzung, Armut und die schlechte Lebensqualität der Mehrzahl der Lateinamerikaner und Lateinamerikanerinnen zu überwinden. Chávez und Castro legten überdies Wert darauf, dass ALBA neben der sozialen und ökonomischen auch die wissenschaftliche und kulturelle Entwicklung fördern solle.

Gesundheit, Ausbildung, Energie und Finanzen

Somit stellt ALBA ein anderes Entwicklungs- und Integrationsmodell dar, als der gemeinsame Markt des Südens und der zentralamerikanische Markt, denn sowohl MERCOSUR als auch SICA streben lediglich eine engere ökonomische und politische Integration an. ALBA und die anderen lateinamerikanischen Integrationsprozesse verhalten sich zueinander aber nicht alternativ, sondern komplementär. Vorausetzung für die sozialen Ziele – Inklusion und Überwindung von Armut – ist die Verbesserung der ökonomischen Bedingungen. Das ist nur möglich durch eine stärkere Industrialisierung als Grundlage für eine höhere Produktivität und gesteigerte Wertschöpfung bei industriellen Erzeugnissen. ALBA befähigt die Länder, wie im Falle Kubas oder Nicaraguas, durch die Entwicklung strategischer ökonomischer Projekte zur Teilnahme an der ökonomischen Integration.

Die Gebiete, auf denen ALBA bislang erhebliche Erfolge zu verzeichnen hat, sind Gesundheit und Bildung. Ärzte und Lehrer aus Kuba spielten und spielen nach wie vor eine wesentliche Rolle beim Aufbau eines Gesundheitswesens für die arme Bevölkerung Lateinamerikas, die früher nie Zugang zu Ärzten hatte. Dafür sprechen u.a. die Erfahrungen in Venezuela, Nicaragua und Bolivien. Heute gibt es in fast jedem Armenviertel Venezuelas eine Klinik, in der kubanische Ärzte die Gesundheitsversorgung sicherstellen. Die Ärzte aus dem Mittelstand Venezuelas waren fast nie bereit, in die Armenviertel zu gehen. In der ELAM (Escuela de Medicina Latinoamericana) in der Nähe von Havanna werden Tausende Studenten aus Lateinamerika kostenlos zu Ärzten ausgebildet. Ihre einzige Verpflichtung besteht darin, anschließend in den Armenvierteln ihrer jeweiligen Länder medizinische Hilfe zu leisten. Mit Hilfe von ALBA ist die Errichtung einer ELAM-Dependance in Caracas/Venezuela geplant. Auf vergleichbare Weise halfen kubanische Lehrer und Lehrerinnen in vielen Ländern Lateinamerikas, zunächst in Venezuela, den Analphabetismus zu beseitigen.

Das bolivarianische Venezuela schuf 2005 mit dem Abkommen Petrocaribe ein grundlegendes Instrument, das zur energetischen Absicherung der sozio-ökonomischen Entwicklung und zur Integration der Karibik-Anrainerstaaten beitragen soll. Im Rahmen des Abkommens stellt Venezuela den anderen Mitgliedstaaten Energieressourcen, über die es reichlich verfügt, für die vereinbarten Entwicklungsprojekte zu verlässlichen Konditionen bereit. Petrocaribe ist auf ALBA abgestimmt und den Entwicklungsplänen von ALBA untergeordnet.

Die ökonomischen und sozialen Entwicklungsprojekte werden mit Hilfe des neu gegründeten Finanzfonds ALBA-Caribe finanziert. Er soll mit Krediten durch die Nutzung und den Ausbau der jeweils in den Mitgliedsländern vorhandenen Potentiale eine nachhaltige Entwicklung fördern. Dabei steht im Zentrum der Projektförderung, die dringendsten sozialen Probleme in den jeweiligen Ländern zuerst anzupacken.

Von ALBA geförderte Projekte

ALBA fördert u.a. die folgenden Projekte:

Errichtung einer gemeinsamen ALBA-Bank;

Alphabetisierung und Postalphabetisierungskampagnen, um allen Alphabetisierten zusätzliche Schulabschlüsse zu ermöglichen;

Entwicklung strategischer Infrastrukturprojekte, insbesondere den Bau von Häfen, Eisenbahnen und Flughäfen;

Errichtung von Wissenschafts- und Technologiezentren;

Ausbau der Lebensmittelproduktion, basierend auf der Verarbeitung der eigenen Agrarerzeugnisse; dabei steht im Zentrum die Förderung der Agrarwirtschaft und die Steigerung ihrer Effizienz;

Ausbau der Strom- und Gasproduktion sowie der Erdölförderung;

Aufforstung, Entwicklung der Forstwirtschaft sowie der Holzverarbeitung;

Förderung einer eigenen Pharmaindustrie sowie die Kommerzialisierung der dort hergestellten pharmazeutischen Produkte;

Förderung des Wohnungsbaus für einkommensschwache Familien sowie Ausbau der Bauindustrie und der Produktion von Zement und Baustahl;

Förderung gerechter Handelsstrukturen durch den Aufbau ALBA-eigener Handelsketten, die preiswerte Produkte für den Lebensbedarf der ärmeren Schichten bereitstellen;

Förderung des Tourismus, insbesondere eines sozialverträglichen Tourismus;

Errichtung strategisch wichtiger Industriebetriebe;

Förderung der lateinamerikanischen Kultur, der Medien und des Fernsehens (der TV-Kanal Telesur ist eine Alternative zum spanischsprachigen CNN-Programm);

Errichtung eigenständiger Telekommunikationsbetriebe.

Strategische Ziele von ALBA

Die Integrationspolitik von ALBA verfolgt somit eine strategische Zielsetzung. Die Handelsabkommen zwischen den ALBA-Mitgliedstaaten umfassen im Wesentlichen den Austausch von Gütern und Dienstleistungen. Diese Form von »Zahlungsvereinbarungen« belastet nicht die in den meisten ALBA Staaten spärlich vorhandenen Devisenreserven. Die Austauschbeziehungen beruhen auf dem Prinzip der Solidarität, der Gegenseitigkeit, des Technologietransfers und der Nutzung der Stärken, über die die jeweiligen Staaten verfügen.

ALBA verfolgt aber auch eine langfristige geopolitische Strategie. Ausgehend von der gemeinsamen Geschichte der lateinamerikanischen Staaten, zielt die bolivarianische Perspektive auf die Schaffung einer Union der lateinamerikanischen Staaten, die in einer großen lateinamerikanischen Nation münden soll.

Gemeinsam ist allen ALBA-Staaten die Kritik an der neoliberalen Globalisierung und die Notwendigkeit einer nachhaltigen, sozial gerechten ökonomischen Entwicklung sowie die Verteidigung der nationalen Souveränität und des Rechts auf Selbstbestimmung. Mit der Bildung eines regionalen Blockes wird eine eigenständige und souveräne Entwicklungspolitik angestrebt, die zu einer stärkeren ökonomischen Arbeitsteilung unter den ALBA-Staaten führen soll.

Gegenmodell zu TTIP

„Aus den aktuellen Verhandlungen zwischen der EU und den USA über die Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP)“, so kürzlich die Arbeitsgemeinschaft Cuba Si der Partei »Die Linke«, „droht der globale Süden als Verlierer hervorzugehen. Dies würde speziell im Falle Kubas deutlich: TTIP würde (ebenso wie das geplante europäisch-kanadische Comprehensive Economic and Trade Agreement, CETA) nach mehr als 50 Jahren Blockade durch die USA die globale Dominanz des neoliberalen Kapitalismus weiter zementieren. Damit würden die Möglichkeiten für einen eigenständigen alternativen Entwicklungsweg der Länder des Südens weiter minimiert.“

Obwohl ALBA unmittelbar als Antwort auf die US-Forderung nach Errichtung einer neoliberalen panamerikanischen Freihandelszone entstand, ist die Allianz also Bestandteil einer größeren historischen Konfrontation zwischen den lateinamerikanischen Völkern und dem Imperialismus. ALBA schreibt sich in die Tradition des lateinamerikanischen Unabhängigkeitskampfes ein. Diese Traditionslinie macht ALBA zu einer radikalen Alternative. Sie stützt sich auf die Bevölkerungen der Mitgliedsländer, bezieht diese ein und strebt soziale Gerechtigkeit an. Damit unterscheidet sie sich von den neoliberalen und imperialistischen Integrationsprojekten wie der EU, dem US-dominierten FTAA und der geplanten TTIP.

Weitere Integrationserfolge

Der lateinamerikanische Kontinent hat aber auch auf anderen Ebenen Integrationserfolge zu vermelden.

Die Staats- und Regierungschefs der ALBA-Mitgliedstaaten ratifizierten 2009 in Cochabamba/Bolivien auf dem 7. ALBA-Gipfeltreffen den Vertrag zur Gründung der virtuellen Währung Sucre (Sistema Único de Compensación Regional de Pagos). Die neue regionale Verrechnungswährung soll für Kuba, Dominica, Antigua y Barbuda, San Vicente y las Granadinas, Honduras, Nicaragua, Venezuela, Ecuador und Bolivien im gegenseitigen Handel mehr Unabhängigkeit vom Dollar ermöglichen. Langfristiges Ziel ist die Schaffung einer Einheitswährung.

Auch auf politischer Ebene wurde mit der Gründung von UNASUR (Union der Südamerikanischen Staaten) und mit der CELAC (Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten) ein weiterer Schritt in Richtung einer Union der lateinamerikanischen Staaten gemacht. Beide tragen wesentlich zum gemeinsamen politischen Handeln der Staaten Lateinamerikas bei, stärken ihre Position gegenüber den USA und der EU und hatten entscheidenden Anteil, die Isolierung Kubas aufzubrechen.

Der Exekutivsekretär des lateinamerikanischen Staatenbündnisses ALBA, Bernardo Álvarez Herrera, kündigte bei seinem Besuch in Berlin im März 2014 im Gespräch mit dem Lateinamerikaportal amerika21.de eine Stärkung des ALBA-Bündnisses an. Derzeit würde eine Fusion von ALBA mit dem wirtschaftspolitischen Bündnis Petrocaribe vorbereitet, sagte der venezolanische Diplomat bei einem Treffen in Berlin.

„Die neuen internationalen Gegebenheiten verlangen auch von uns eine Weiterentwicklung“, so Álvarez Herrera: „Deswegen wird derzeit sehr ernsthaft die Ausarbeitung eines Gründungsvertrages der ALBA geprüft.“ Dies würde dem linksgerichteten Bündnis in anderen internationalen Foren ein stärkeres Gewicht geben.

Anmerkung

1) Der Begriff »bolivarianisch« verweist auf Simón Bolívar (1783-1830). Er war Anführer der südamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung gegen die spanischen Kolonialherren in den heutigen lateinamerikanischen Staaten Venezuela, Kolumbien, Panamá, Ecuador, Peru und Bolivien. [die Red.]

Harri Grünberg ist Vorsitzender des Netzwerk Cuba.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2014/2 Gewalt(tät)ige Entwicklung, Seite 25–27