Einstein weiterdenken: Wissenschaft – Verantwortung – Frieden
Herausforderungen und Handlungsperspektiven
von Wolfgang Liebert
Vom 14.-16. Oktober 2005 fand in Berlin zum Ende des Einstein-Jahres die Internationale Friedenskonferenz »Einstein weiterdenken: Wissenschaft – Verantwortung – Frieden« statt, zu dem ein Trägerkreis bundesweit organisierter wissenschaftlicher NGOs eingeladen hatte.1 650 Gäste aus Wissenschaft und interessierter Öffentlichkeit diskutierten in neun Foren wissenschafts- und friedenspolitische Themenstellungen, die an Einsteins Engagement anknüpfen, aber auch die Problemstellungen für die heutige Zukunft darstellen. Im Folgenden wird das unter Federführung von Wolfgang Liebert entstandene Resümee der Foren in gekürzter Form abgedruckt.
Eine knappe Zusammenfassung der Diskussion in den neun – größtenteils parallelen – Foren ist angesichts der großen Vielfalt der dort vorgestellten Analysen und Perspektiven kaum möglich. Unter der Leitlinie, heutige Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten zu benennen, wird hier dennoch der Versuch unternommen, ein – Resümee zu ziehen.2 Die Sichtweise auf die vorgestellten Ergebnisse dieses zentralen Teils der Konferenz bleibt trotz intersubjektiver Verständigung darüber subjektiv geprägt.3
Wenn wir heute »Einstein weiterdenken« wollen, haben wir zu realisieren, dass die Welt und die Welt der Wissenschaft sich seit Einsteins Tod verändert haben. Die bipolare Welt der Blockkonfrontation ist verschwunden; der alte Kolonialismus ist überwunden. Heute gibt es Bemühungen, eine unipolare Welt mit hegemonialen Ansprüchen durchzusetzen, und die Gegenbemühung um eine multipolare Welt. Beides ist begleitet von tiefgreifenden Globalisierungsprozessen, unterfüttert durch ökonomische Kräfte und dominierende volks- und weltwirtschaftliche Konzepte, sowie einen ebenfalls tiefgreifenden wissenschaftlich-technologischen Wandel. Eine enorme Dynamik steckt dahinter. Lebenswirklichkeiten werden dadurch beeinflusst –teils auch uniformiert. Parallel dazu sind im weltweiten Maßstab Phänomene der Ungleichzeitigkeit und Ungerechtigkeit weiter gewachsen: mangelnde Entwicklungschancen und Bedrohung verstärkt durch globalisierte Ökonomie. Die Kosten für unsere natürliche Mitwelt sind weit deutlicher sichtbar und in den Auswirkungen spürbarer als zu Einsteins Zeiten. Ich nenne nur den menschlichen Dauerangriff auf die Böden, die Gewässer, die Luft, das pflanzliche und animalische Leben auf dem Planeten, den wir bewohnen.
Die Welt der Wissenschaft hat sich ebenfalls stark verändert. Dominierend ist nicht mehr das Bild reiner Grundlagenforschung – vom Typ der Arbeiten Einsteins, die sich dem Pathos der Wahrheitssuche und den wissenschaftsinternen Standards verpflichtet wissen konnten – und daneben die davon getrennt gedachte Anwendungsforschung. Wir leben heute weitgehend im Zeitalter von »Technoscience« – oder der »Technowissenschaft«–, wo Forschungshandeln und Technikentwicklung zunehmend amalgamieren. Technische und industrielle Anwendungen, technikgestützte Methoden, grundlagennahe Erkenntnis und die Nutzung bereits sedimentierten Wissens bedingen sich gegenseitig und gehen Hand in Hand. Versprechungen für Anwendungshorizonte, technische Problemlösungsangebote haben Vorrang vor theoretischer Arbeit. Notwendigerweise werden die lieb gewonnenen – aber doch eigentlich nur virtuellen – Grenzziehungen zwischen wissenschaftsinternen und wissenschaftsexternen Prozessen und Werthaltungen so durchlässig, dass weite Teile heutiger Forschung mitten in gesellschaftliche Aushandlungsprozesse geraten oder geraten müssten. Auf der anderen Seite ist wissenschaftlich-technisches Know-how längst zur Kapitalressource geworden mit der Konsequenz, dass teilweise der öffentliche Zugang zum vorliegenden Wissen erschwert oder unmöglich wird, so wie wir es aus dem militärischen Bereich schon lange kennen.
(…) In den neun Foren der Tagung wurden wesentliche – sicher nicht alle – Herausforderungen diskutiert, die unter den Konferenzstichworten »Wissenschaft, Verantwortung, Frieden« subsumiert werden können.
In den letzten Jahren sind die weltweit gezählten, gewaltförmig ausgetragenen Konflikte und Kriege zahlenmäßig etwas zurückgegangen. Auch wenn die Kategorisierung zumeist nicht ganz einheitlich ausfällt: Es sind noch immer über 40. Die These wurde vertreten, dass Asymmetrien verschiedenster Art wesentliche Ursachen dieser Kriege und Konflikte sind. Spätestens seit der Zeitenwende 1989/90 ist die Hemmschwelle zu (militärischen) Interventionen von außen gesunken. Wenn immer wieder von der Notwendigkeit gesprochen wird, zu humanitären Interventionen mit oder ohne militärische Kräfte bereit zu sein, dann macht es Sinn, sich anzusehen, ob die dabei vorgegebenen humanitären Ziele erreichbar erscheinen. Auf der Konferenz vorgetragene Analysen äußern große Vorbehalte und Skepsis.
Die Interessen der starken, intervenierenden Staaten scheinen oft den vorgegebenen Sinn des Eingreifens zu verfehlen oder zu verkehren. So führt die zunehmend leitende Anti-Terrorpolitik zu unzureichenden und sehr eingeschränkten Prioritäten in den Zielländern, gerade auch was Nachkriegsaktivitäten angeht. Es geht vorrangig um die Stärkung staatlicher Autorität und Verwaltung mit dem Ziel der Grenzsicherung, der Kontrolle und Überwachung »zweifelhafter« Bevölkerungsteile etc. Auch nichtstaatliche Organisationen (NGOs) werden zunehmend in Strategien integriert, die eher der Bekämpfung von Aufständischen zu dienen scheinen – unabhängig davon, wo mögliche Konfliktursachen liegen könnten. Der Vorwurf wurde erhoben, dass hier post-koloniale Verhaltensweisen wiederkehren: kurzfristige Vorteile werden gesucht – auch im Falle nicht-militärischer Intervention – z.B. durch die Konzentration auf die Stärkung von oft nicht unproblematischer Regierungsgewalt, und häufig als verfehlt anzusehendes »nation building«. Die zumeist komplexen Ursachengeflechte für Konflikte bleiben demgegenüber verdeckt und können so die Grundlage für neue oder fortgesetzte Kriegshandlungen sein.
Das Verständnis von Sicherheit, die man schaffen will, verändert sich unter der Hand mit, insbesondere dadurch, dass in Interventionen und Interventionskriegen zunehmend private Akteure eingebunden werden. Das verstärkt eine Tendenz zu technisch orientiertem (auch sozio-technischem) Vorgehen. In der Hauptsache kommen Akteure mit entsprechender Kompetenz zum Zuge, vom Militär, über Sicherheits- und Logistikfirmen bis zu NGOs. Eine sehr selektive Ausfüllung von Sicherheitsbedürfnissen ist die Folge, die bestehende Ungleichheit verstärken und neue schaffen kann.
Man ahnt, dass die Verwischung der Grenzen zwischen staatlich-militärischem und privatwirtschaftlich organisiertem Anteil bei Interventionen auch die Funktion haben kann, die öffentliche Unterstützung in den eingreifenden Staaten zu sichern, u.a. weil die Opferstatistiken dann ggf. anders aussehen.
Folgerungen aus diesen Befunden sind mindestens:
- Es besteht ein völkerrechtlicher Regulierungsbedarf, was den »neuen Söldnertypus« im Bereich logistischer, technischer oder sonstiger Unterstützer bei Interventionen angeht;
- die politische Definitionsmacht über Ziele und Durchführung von Interventionen muss wiedergewonnen und so eine internationale Legitimierbarkeit nachweislich werden;
- extreme Zurückhaltung bei Interventionen scheint geboten. Dies gilt auch hinsichtlich verfolgter Ziele bei nicht-kriegerischen Interventionen. (…)
Die Option ziviler Konfliktbearbeitung sollte verstärkt Beachtung finden, zumal für die letzten zwei Jahrtausende empirisch gesehen die gewaltfreie Konfliktlösung als Standardlösung für die überwältigende Mehrzahl an Konflikten angesehen werden kann. (…) Überdies wurde die These vertreten, dass es so gut wie keinen Krieg gegeben habe, der als Lösung der zugrunde liegenden Konflikte angesehen werden könnte.
Zivile Konfliktbearbeitung und Krisenpräventionsstrategien werden als Realisierungen ursprünglich pazifistischer Ideen interpretiert. Es wird anerkannt, dass in Deutschland brauchbare Ansätze und Konzepte im Präventionsbereich entwickelt worden sind. Ein großes Defizit bestehe aber in der mangelnden Tatkraft, entsprechende Strategien und Modelle auch umzusetzen und durchsetzungsfähig zu machen. Man fragt sich, welche Hindernisse oder Widerstände auf der Ebene staatlichen Handelns dem eigentlich entgegenstehen.
Eine pazifistische Grundhaltung steht im Zentrum aktiver Handlungsstrategien, die zum Auffinden gewaltfreier – oder zumindest gewaltärmerer –Lösungen führen sollen. Es bestand Einigkeit, dass dies nur als gesellschaftlicher, partizipativer Suchprozess gelingen könne und kaum als eine an Staatlichkeit gebundene fest gefügte Prozedur. Am historischen Beispiel Einsteins wurde deutlich gemacht, dass es blanke kontextlose Ja-Nein-Entscheidungen zu pazifistischen Positionen nicht geben könne. Verschiedene Spielarten pazifistischer Haltungen könnten – zeitgeschichtlich gebunden und je nach konkret vorliegenden Rahmenbedingungen – als angemessen erscheinen. Die Hauptschwierigkeit liege darin, eine angemessene Einschätzung über die jeweils aktuell vorliegenden und stets hochkomplexen Rahmenbedingungen bekommen zu können.
In dem eben Besprochenen geht es sicher auch um die Perzeption von Macht, Machtgefällen und Intentionen staatlichen Handelns. Sehr schlüssig wurde vorgetragen, dass die Ausbalancierung globaler und regionaler Machtungleichgewichte einen wesentlichen Beitrag zur Konfliktbewältigung und Kriegsverhütung leisten könnte. Zur Einhegung von Machtpotenzialen müssten die Bemühungen um eine internationale Verrechtlichung (insbesondere staatlichen Handelns) konsequent verstärkt werden.
(…) Bei der Debatte über den Umgang mit bzw. Veränderung von dominierenden Strukturen der Weltökonomie gab es unterschiedliche Einschätzungen: Scharfe Kritik des neoliberalen Durchmarsches, der keine Entwicklungschancen für eine große Anzahl von Ländern im Süden mehr biete, Kritik an der Reichtumskonzentration in Ländern des Nordens und ihrer militärischen Absicherung durch die NATO auf der einen Seite. Andererseits eine etwas pragmatischere Kritik am neoliberalen Paradigma, deren Folgen für Hintanstellung sozialer Belange, Verstärkung der Armut – gerade auch bei Frauen in den ärmsten Ländern – zwar eindeutig benannt wurden, aber die Rolle der internationalen Finanz- und Welthandelsorganisationen – trotz ihrer Unbeweglichkeit und ungerechten Politik – verhaltener kritisiert, denn ihre Abschaffung sei noch fataler als ihre Beibehaltung, die wenigstens die absolute Hegemonie einzelner Staaten noch etwas eindämme. Als Perspektive wurde insbesondere die Stärkung der UN als Weltordnungskraft – auch im ökonomischen Bereich – ausgemacht.
(…) Tatsächlich ist in den letzten Jahrzehnten viel geschehen: Die Kodifizierung des Völkerrechts hat große Fortschritte gemacht, aber mit der Universalisierung der Anerkennung, der Rechtsbefolgung, hapert es noch. Beispielsweise ist die internationale Schiedsgerichtsbarkeit durch die Möglichkeit der Ratifizierung eines Zusatzprotokolls zum Statut des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vorangekommen, aber selbst ein Land wie Deutschland will sich bislang nicht der geforderten Vorabanerkennung von Schiedssprüchen unterwerfen. Gefordert wurde, dass Deutschland mutig diese wichtige Aufwertung des IGH unterstützen solle, um mehr Chancen für eine präventive Konfliktschlichtung zu schaffen.
Im Bereich des supranationalen Schutzes individueller Menschenrechte besteht noch immer eine Lücke im Völkerrecht. Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte könnte als Vorbild für eine weltweite Institutionalisierung dienen, die mit dem immerhin schon beschlossenen Menschenrechtsrat noch zu unvollständig vorankommt.
Die Schritte zur Reform der UN werden nach dem ernüchternden Milleniumsgipfel (Sept. 2005) als unzureichend angesehen, insbesondere gemessen an der ursprünglichen Zielsetzung, einen neuen Konsens im Dreierpaket »Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechte« zu erreichen. Auch die Aufwertung der Rolle internationaler NGOs als Gegengewicht zu den oft beschränkten nationalstaatlichen Sichtweisen und Interessen kommt kaum voran. Dabei würden so die nationalstaatlichen Gewalten in angemessener Weise relativiert, während die Untergrabung ihrer Wirksamkeit durch die Globalisierungsprozesse bereits erfolge.
Die Bedeutung der demokratischen Kontrollierbarkeit der Staaten von innen heraus in Hinblick auf das friedfertige Verhalten demokratischer Staaten untereinander (Demokratie-Theorem) verliert im gleichen Zuge an Gewicht. Die denkbare Alternative einer sogenannten kosmopolitischen Demokratie als friedensstiftendem Konzept bleibt unkonturiert und bietet keine klare Perspektive für die mit der Globalisierung und der beschleunigten technologischen Entwicklung verstärkten weiteren Problemlagen. (…) Gleichwohl erscheint eine antizipierende Politik im globalen Maßstab bitter nötig, auch wenn man sich der großen Unsicherheiten in der Analyse und bei den denkbaren Handlungskorridoren bewusst sein müsse. Der Hoffnung wurde Ausdruck gegeben, dass jenseits der Fixierung auf international verrechtlichte Institutionen flexiblere Foren und Aktionsmöglichkeiten gefunden werden könnten, die sich nicht an unzureichenden existierenden Strukturen abarbeiten, sondern von vordringlichen Inhalten gesteuert bleiben – und das auf Dauer.
Bekanntlich sind die Gefährdungen als Folgen des Klimawandels – soweit heute verstanden – eklatant. Die Ökosysteme unserer Erde sind vielen weiteren Bedrohungen durch Eingriffe und Fehlverhalten von uns Menschen ausgesetzt. Gleichzeitig brauchen wir eine ausreichende – und ökologisch verträgliche – landwirtschaftliche Produktion zur Ernährung der noch immer wachsenden Weltbevölkerung. Nachhaltiger Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen und Ressourcen erscheint notwendiger denn je, wenn die Zuspitzung und Neuentstehung von Konfliktpotenzialen vermieden werden soll.
(…) Eine entscheidende Frage ist, wie die Wissenschaften lernen können, eine verantwortliche Rolle zu spielen. Die Klimaforscher haben u.a. mit dem Intergovernmental Panel on Climate Change eine Institution entwickeln können, die vielleicht Modellcharakter haben könnte. International vernetzter Sachverstand als unabhängige Informations- und Beratungskapazität für Politik und Öffentlichkeit (unter Einbeziehung der Regierungen) kann wirkungsvoll sein. Weitere solche Aktivitäten werden auf den Weg gebracht, so eine internationale Initiative zur naturverträglichen Landwirtschaft (International Assessment of Agricultural Science and Technology for Development [IAASTD]) oder ein international entwickelter Weltnaturschutzplan der International Union for the Conservation of Nature (IUCN).
Spezifische wissenschaftliche Kooperationen zwischen dem Norden und dem Süden im Bereich der Ernährungssicherheit wären anzustreben. Dazu könnten gehören: Verbesserung und Verstärkung der Pflanzenzüchtung auch unter Nutzung moderner biotechnischer Analysemethoden, Suche nach züchterischer Optimierung regional bedeutsamer Nahrungspflanzen wie Hirse oder Maniok. Ähnliches gilt für Kooperationen im Gesundheitswesen, z.B. in Bezug auf die Entwicklung und Produktion benötigter Impfstoffe.
An erster Stelle ist für die Wissenschaften die Aufgabe gestellt, zu verstehen, worum es sich bei den anthropogenen Belastungen und Zerstörungen des Netzes des Lebendigen auf der Erde eigentlich handelt. Wie wären diese komplexen Zusammenhänge und Wechselwirkungen zu fassen und welche Umgangsweisen können entwickelt werden? Eine Studie des National Research Council der USA benannte bereits 1999 die Aufgabe: „Developing an integrated and place-based understanding of … threats and the options for dealing with them …“ Dies bedeutet, dass sowohl stabile internationale Netze von Forschungs- und Beobachtungseinrichtungen wie zugleich örtliche und regionale Netze von Forschungs- und Handlungsinstitutionen vonnöten sind.
Im Bereich der wissenschaftlichen Unterstützung für mehr Nachhaltigkeit ist mit pompösen, millionenschweren Excellenzclustern der sogenannten Eliteforschung wohl nicht viel auszurichten. Eher sind etwas bescheidenere Projekte, die nach angepassten Lösungen suchen, von Nöten. Dazu müssen entsprechende Finanz- und Forschungsmittel zur Verfügung gestellt werden.
Die Geldmittel fließen noch immer überwiegend in andere Bereiche. Die weltweiten Rüstungsausgaben sind in den letzten Jahren wieder deutlich nach oben geschnellt. Dieses Jahr wurde die 1.000 Mrd. Dollar Grenze überschritten. Fast die Hälfte geht auf das Konto der USA. Über 70% teilen sich USA und die NATO-Staaten. Das spricht eine deutliche Sprache, wenn es um die Diskussion weltweiter Droh- und Einsatzpotenziale geht.
Im Bereich der staatlich finanzierten Rüstungsforschung liegen die USA mit über 100 Mrd. Dollar, d.h. 2/3 der weltweiten Ausgaben, noch weiter vorn. (…) Ein weiterer technologischer Schub wird in vielen Bereichen vorbereitet. Das Spektrum ist groß: Zielgenauigkeit und Zerstörungskraft von Langstrecken-Waffen, effektive Aufklärung und Überwachung auf dem Schlachtfeld und im globalen Maßstab, Electronic and Information Warfare, exotische Waffensysteme wie Laser und Mikrowellenwaffen, teilautomatisiertes Schlachtfeld auf informationstechnologisch gestützter Netzwerkbasis (Network Centric Warfare) im Rahmen der »Revolution of Military Affairs« bis hin zu neuen Atomwaffen, die zum tatsächlichen Einsatz bestimmt sind.
Die Dynamik im wissenschaftlich-technischen Bereich müsste in Rüstungskontrollüberlegungen einbezogen werden. Präventive Rüstungskontrolle bietet sich als Analyseinstrument an mit dem Ziel, Handlungsperspektiven aufzuzeigen. (…) Eingehender diskutiert wurde der Bereich der Weltraumtechnologien. Das aktuelle US-Budget für »Ballistic missile and space defense« soll mehr als 20 Milliarden Dollar umfassen. Akute Gefahr besteht durch die Absicht, erstmalig Waffensysteme im Weltall zu stationieren. Dringlich wäre ein rechtzeitiges umfassendes Verbot jeglicher Weltraumwaffen. (…) Vertrauensbildende Maßnahmen im Vorfeld könnten ein Testmoratorium oder No-first-use Erklärungen verschiedener Seiten sein.
Die europäische Rüstungs- und Rüstungskontrollpolitik wurden ebenfalls diskutiert. Die Europäische Sicherheitsstrategie (2003), der EU-Verfassungsentwurf und der Aufbau einer Europäischen Verteidigungsagentur sind Indizien für eine Schwerpunktsetzung auf militärische Strukturen und Kapazitäten. Dies steht im massiven Widerspruch zum propagierten Bild von der »Friedensmacht Europa«, auch wenn bislang im Rüstungsbereich noch keine großen Finanzmittel bewegt werden. Allerdings lässt die Schaffung einer Europäischen Rüstungsagentur befürchten, dass die schrittweise Europäisierung der Streitkräfte erhebliche Kosten verursachen werden, industrielle Interessen bedient werden und im Hintergrund bereits »power projection« an Einfluss gewinnt. Hinzu treten Pläne für ein milliardenschweres europäisches Sicherheitsforschungsprogramm, das auf technische Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit in Europa setzt und dabei wohl letztlich ein eigenes Rüstungsforschungsprogramm etablieren soll.
Die Rüstungskontrollpolitik der EU engagiert sich eher selektiv in einigen wichtigen Bereichen, aber sorgt dafür, dass eigene Rüstungsinteressen, die zumeist noch durch nationale Interessen bestimmt sind, nicht beschnitten werden. Abrüstung und Rüstungskontrolle sind offenbar keine zentralen Prioritäten europäischer Politik. (…) So sucht man beispielsweise die Schaffung einer Europäischen Rüstungskontrollagentur oder die Festschreibung von Abrüstungsmaßnahmen vergeblich im europäischen Verfassungsentwurf.
Neben der zielgerichteten traditionellen Rüstungsforschung wurden in den 1980er und 1990er Jahren in Deutschland und den USA Dual-use-Programme lanciert, die u.a. dafür sorgen sollten, dass zivile Wettbewerbsfähigkeit und militärische Entwicklungslinien in kostengünstigerer Weise parallel verfolgt werden können. (…) Die USA scheinen heute solche Konzepte angesichts der dort immer weiter verschwimmenden Grenzlinie zwischen ziviler und militärischer Forschungsarbeit weniger Bedeutung zu zumessen. Dennoch gibt es einen verstärkten Druck in Europa, Dual-use-Forschung auf europäischer Ebene zu implementieren. Das angekündigte Europäische Sicherheitsforschungsprogramm könnte der Türöffner dafür werden. Die Entwicklung solcher Grauzonen in Forschung und Technikentwicklung werden als sehr problematisch angesehen.
Anhand von Beispielen wurde gezeigt, dass Dual-use oft gar nicht technologisch determiniert und unausweichlich ist, wie von interessierter Seite behauptet, sondern bewusst durch die Technikentwicklung erst erzeugt wird. Bei genauerer Analyse zeigt sich häufig, dass Möglichkeiten bestehen, sich durch Gestaltung der Forschung und Technikentwicklung aus erkannten Grauzonen auch wieder hinaus zu manövrieren. Das kann besonders wichtig werden in Feldern mit hoher Relevanz für die weltweite Proliferationsproblematik. In diesem Zusammenhang wurde auch die Frage gestellt, in wie weit traditionelle Formen nachsorgender Technikkontrolle langfristig stabil und zielführend sein können.
(…) Die Revolution im Bereich der Biotechnologie steht vor einem tiefgreifenden Dilemma. Einerseits kann zur Aufklärung krankheitserregender Mechanismen von infektiösen Mikroorganismen und zum besseren Verständnis komplexer mikrobiologischer Interaktionsprozesse in Lebewesen beigetragen werden. Andererseits können in solchen Forschungsprozessen auch die Wirkungen von Bio- und Toxinwaffen besser verstanden werden, sie könnten verstärkt werden, zu Killerviren verändert werden oder es könnten gänzlich neue gefährliche Agenzien geschaffen werden. (…)
Einigkeit bestand, dass die Gefahr der Proliferation hier nicht durch traditionelle Kontrolllisten in den Griff zu bekommen ist. Es besteht dringender Bedarf für ein Monitoring der Forschung im Sinne präventiver Rüstungskontrolle, für Bewusstsein bildende Maßnahmen bei den Beteiligten in der Forschung, für Aufklärung über Verbotstatbestände der Biowaffenkonvention und über Möglichkeiten in Forschung und Methodenwahl verantwortbare Wege einzuschlagen.
Es wurde vorgeschlagen, die Dual-use-Problematik im größeren Zusammenhang der Ambivalenz von Forschung und Technik zu sehen, in der weit mehr Aspekte als die zivil-militärische Doppelgesichtigkeit zu diskutieren wären. Als Analyseinstrument zur Beschaffung unabhängiger Informationen wurde ein Konzept des prospektiven Technology Assessments vorgeschlagen. Dies soll helfen, frühzeitige Gestaltungsmöglichkeiten in Forschung und Technologie aufzufinden. Es sollten also nicht so sehr Grenzziehungen gegenüber dem nicht Gewollten, sondern stärker Positivbestimmungen für verantwortliche Forschungsorientierung aufgefunden werden.
Ähnliches wird für den Bereich der heutzutage erforschten sogenannten Schlüsseltechnologien gesehen, die in den Bereich der sogenannten Technowissenschaft fallen. Beispielhaft wurde nanotechnologische Forschung im Zusammenspiel mit Bio-, Kommunikations- und Informationstechnik diskutiert. Hier geht es um einen Forschungstyp, der sehr pragmatisch unter Nutzung von Grundlagenwissen, aber ohne höheren theoretischen Anspruch, neue materielle Möglichkeiten auf kleinstem Maßstab konstruktiv erschaffen will. Es findet dabei auch eine gewisse Orientierung an Lebensprozessen statt, u.a. um diese in den Dienst hybrider Technologien an der Schnittstelle von lebendigen Wesen und Maschinen stellen zu können.
(…) Neben irritierenden Großversprechen werden realistische Anwendungen mit hohem Umsatzpotenzial etwa im Bereich neuer Materialien, von Umwelttechniken oder von Militärtechnologie gesehen. Umgekehrt können bereits einige erwartbare Risiken benannt werden: Umwelt- und Gesundheitsrisiken durch Nanopartikel, Problematik denkbarer Genkontrolle und anderes.
Die Entlastung erhoffende Forderung nach einem Zurück zur reinen grundlagenorientierten Wissenschaft, bei der man sich von der Gesellschaft abgekoppelt fühlen will, ist hier prinzipiell nicht möglich. Es wurde betont, dass es im Gegenteil um die Anerkennung des sozialen Kontextes gehe, in den solche Forschung offensichtlich eingebettet ist. Aus der Ernstnahme der sozio-ökonomischen und gesellschaftspolitischen Zusammenhänge müsse gefolgert werden, dass das »metaphysische Programm«, das solcher Forschung offenbar zugrunde liege, explizit gemacht werde. Dann sind offene Prozesse der gesellschaftlichen Aushandlung über die eingeschlagenen Forschungswege denkbar. Wissenschaft und Technik entpuppen sich als menschlich-gesellschaftliches Handlungsfeld, das reflexions- und reaktionsfähig gemacht werden kann und muss.
In scharfer Distanz dazu wurde aber auch eine pessimistische Sichtweise beschworen. Solcher Art Technologie des Lebens sei einer Technologie des Todes nahe, sie würde »Kettenreaktionen« heraufbeschwören, über die wir weder technisch noch geistig verfügen könnten. (…) Pragmatisch wurde gefordert, nicht den großen Versprechungen zu folgen, sondern den Weg gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse über Ziele und Pfade der Forschung begehbar zu machen (Motto: »from promise to process«).
(…) Die notwendige öffentliche Diskussion wird aber oft unmöglich gemacht. Privatwirtschaftliche Interessen stehen dem Informationsanspruch der Öffentlichkeit entgegen. Wir haben z.B. gelernt, dass Sicherheitsforschung im Bereich gentechnischer Produktforschung in weiten Teilen von den interessierten Forschungseinrichtungen und Industrieunternehmungen selber durchgeführt wird. Die Ergebnisse werden häufig gar nicht oder nur teilweise veröffentlicht und entziehen sich damit der unabhängigen Überprüfbarkeit – auch innerhalb der Scientific Community.
Innerwissenschaftliche Kritik und gesellschaftliche Teilhabe an der wissenschafts- und forschungspolititschen Willensbildung werden in solchen Bereichen unmöglich. Demokratisch akzeptable Bewertungs- und Aushandlungsprozesse, die zu einer Zielorientierung des Innovationsprozesses innerhalb der Gesellschaft führen müssten, werden in besonderer Weise ausmanövriert. Es sei daran erinnert, dass zwei eminente Wissenschaftlerpersönlichkeiten, ein Physiker und ein Biochemiker, als »Whistleblower« in der Rüstungsforschung bzw. in der Sicherheitsforschung im Bereich gentechnisch veränderter Nahrungsmittel im Rahmen der Konferenz mit einem Preis der VDW und der IALANA geehrt wurden: Theodore Postol und Arpad Pusztai.
Dabei wurde deutlich, dass Whistleblowing immer eines zum Ziel hat: Öffentlichkeit herstellen, sei es in der eigenen Forschungseinrichtung, sei es in der jeweiligen Scientific Community, sei es in den Medien und einer breiteren Öffentlichkeit. Whistleblowing umschreibt, so gesehen, nur eine Hilfskonstruktion zur Einforderung und Ermöglichung einer als notwendig erachteten öffentlichen Diskussion. (…) Die Herstellung entsprechender Strukturen und die Weckung des Bewusstseins bei den Beteiligten muss das eigentliche Ziel verantwortlicher Forschungsorganisation sein.
Der rechtliche Schutz und die gesellschaftliche Akzeptanz des Whistleblowing als notwendiges Gegenmittel gegen inakzeptable Geheimhaltungspraktiken gerade auch in der Forschung ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg dahin. Auch ein deutscher oder europäischer »Freedom of Information Act« (Vorbild USA und Schweden) ist zu fordern. Dies ist auch deshalb notwendig, da privatwirtschaftliche Interessen und Vorgehensweisen längst alte Traditionen des freien Zugangs zu Wissen und Information empfindlich zu untergraben drohen.
Gewiss haben die Foren keinen »Masterplan« für die Bearbeitung aller drängenden Weltprobleme erarbeitet, aber sehr deutlich wurden Querschnittsaufgaben, die vor uns liegen:
- Die Antizipation von Problemlagen, die bereits am Horizont erkenntlich sind – gerade im Feld technischer Entwicklungen. Hier sind Beiträge aus der Wissenschaft notwendig.
- Die Problematisierung der zunehmenden Auflösung der Grenzen zwischen dem Zivilen und dem Militärischen in verschiedenen Bereichen (Privatisierung des Kriegs, Forschungsförderung, Proliferationsgefahren).
- Die Beachtung der wachsenden Dynamik grenzüberschreitender Problemlagen, die über- und zwischenstaatliches Handeln herausfordern, aber gleichzeitig die Möglichkeiten staatlichen Handelns in Frage stellen.
- Die Organisation der menschlich-gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich weit mehr als zur Zeit dem Kriterium der Gerechtigkeit verpflichtet fühlt. Dies auf dem Hintergrund, dass wir in einer Welt leben, in der die einen auf dem Rücken der anderen (und der Natur) ihre konsumorientierten Lebensmöglichkeiten erweitern.
- Das Einlassen auf Suchprozesse, um Auswege aus den gegenwärtigen und absehbaren Problemlagen zu finden; Demokratisierung und Partizipation fallen dabei immer wieder als zentrale Stichwörter.
Anmerkungen
1) Der Trägerkreis der Konferenz bestand aus: Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK), Deutsche Stiftung Friedensforschung (DSF), Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS), NaturwissenschaftlerInnen-Initiative „Verantwortung für Friedens- und Zukunftsfähigkeit“, Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW).
2) Eine detailliertere Dokumentation der Beiträge zur Konferenz wird in einer Buchveröffentlichung (geplant für Frühjahr 2006) erfolgen.
3) Dieses Resümee konnte nur unter wesentlicher Mitwirkung der Forenverantwortlichen und Moderatoren zustande kommen. Zu nennen sind: Annegret Falter, Stephan Albrecht, Alfred Nordmann, Frank Vogelsang, Götz Neuneck, Oliver Meier, Jörg Calließ, Sven Chojnacki, Manuel Fröhlich, Claudia von Braunmühl, Christiane Lammers, Corinna Hauswedell.
Dr. Wolfgang Liebert ist Wissenschaftlicher Koordinator und Sprecher der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) an der TU Darmstadt.