Frieden durch Gerechtigkeit und Solidarität
von Friedhelm Hengsbach
Gerechtigkeit „… schafft Frieden (opus iustitiae pax).„ Diesen gewichtigen Leitsatz der kirchlichen Sozialverkündigung hat der polnische Papst Johannes Paul II. 1967 in die Formel übersetzt: „Solidarität schafft Frieden (opus solidarietatis pax).“ In dem 1997 veröffentlichten Gemeinsamen Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen werden die Grundsätze der Gerechtigkeit und Solidarität als Säulen einer zukunftsfähigen Gesellschaft bezeichnet. Wird das Profil einer solchen Gesellschaft im Zentrum des deutschen Wahlkampfs im kommenden Herstehen?
Mit der Agenda 2010 hat Bundeskanzler Schröder die rot-grüne Koalition und die eigene Partei in den Sog eines medienverstärkten Feldzugs gegen den Sozialstaat gerissen. Dieser wird mutwillig schlecht geredet. Es heißt, der Sozialstaat gefährde die globale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, verursache die Arbeitslosigkeit, sei im Verhältnis zu dem, was er leistet, zu teuer und angesichts des demografischen Wandels nicht mehr zu finanzieren.
Die mit lautem Getöse als Jahrhundertwerk inszenierten Steuer-, Renten-, Gesundheits- und Arbeitsmarktreformen haben ihre Wachstums- und Beschäftigungsziele verfehlt und statt dessen in der Bevölkerung eine depressive Abwärtsspirale ausgelöst. Sie haben die gesellschaftlichen Risse vertieft, das Armutsrisiko erhöht, die Privatvermögen der Wohlhabenden steigen lassen und die Partei der sozialen Demokratie an den Rand des politischen Ruins getrieben. Sie sind am Ende zu einem Katalog des Sparens, Kürzens, Streichens geschrumpft.
»Moderne« Gerechtigkeit
Um die scheinbaren Reformen zu rechtfertigen, propagiert die politische Klasse einen »modernen« Gerechtigkeitsbegriff. Statt Verteilungsgerechtigkeit, die auf die Umverteilung materieller Güter und Finanzmittel fixiert sei, soll jetzt »Chancengleichheit« im Mittelpunkt stehen – vor allem in Bezug auf das Bildungswesen. Die Menschen hätten unterschiedliche Talente und würden unterschiedliche Leistungen vollbringen. Die Form der Gerechtigkeit, die darauf besser zugeschnitten sei, heiße Leistungs- und Marktgerechtigkeit. Sie schöpfe die Begabungen der Individuen stärker aus und belohne herausragende Talente und ein spürbares Engagement mit höherem Einkommen und Vermögen. Folglich sei die Spreizung der Einkommen und Vermögen leistungsgerecht, auch wenn sie auf Kosten der Bedarfsgerechtigkeit und der Solidarität erfolge.
Deformation der Solidarität
Mit der Agenda 2010 und mit den Hartz-Gesetzen ist ein Systemschnitt vollzogen worden. Die Solidarität der Starken mit den Schwachen, der Gesunden mit den Kranken und der Wohlhabenden mit den Bedürftigen wurde deformiert:
- Gesellschaftliche Risiken, die in Verhältnissen begründet sind, die nicht dem Fehlverhalten Einzelner angelastet werden können, etwa Arbeitslosigkeit, schwere Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Armut oder die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht, werden tendenziell individualisiert.
- Die solidarische Absicherung, die eine angemessene und rentable Reaktion auf gesellschaftliche Risiken ist, wird tendenziell der privaten Vorsorge überlassen.
- Die Grundrechtsansprüche auf Arbeit, existenzsichernden Lebensunterhalt, Bildungs- und Gesundheitsgüter werden tendenziell in marktwirtschaftliche Tauschverhältnisse überführt.
Im Verhältnis zu der geballten politischen Energie, mit der die Sozialreformen der Bevölkerung präsentiert wurden, ist das Ergebnis enttäuschend. Die reale Nettoentlastung der privaten Haushalte infolge der Steuerreformen ist nämlich mit den Mehrbelastungen zu verrechnen, wie z. B. den erhöhten Verbrauchsteuern und kommunalen Gebühren, den Zuzahlungen zu Medikamenten, der Praxisgebühr und der Absenkung des Arbeitslosengeldes. Die Versorgungslücken, die entstehen, weil die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung gekürzt wurden, lassen sich nicht in jedem Fall durch eine private Vorsorge ausgleichen. Erwerbstätigen, die in unbefristeten Arbeitsverhältnissen mit einem die Existenz sichernden Einkommen leben, erwachsen vermutlich geringe Probleme. Wohlhabende Haushalte werden sie leicht bewältigen. Aber diejenigen, deren Sparfähigkeit begrenzt ist, geraten unter Druck. Das Abkassieren bei den Patienten beseitigt nicht die unverändert beklagten Steuerungsdefizite der Über-, Unter- und Fehlversorgung des Gesundheitssystems. Dass durch die zu erwartenden rigorosen Einschnitte in die Lebenslage der Arbeitslosen, einschließlich der negativen Auswirkungen auf das individuelle und kollektive Arbeitsrecht, zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden, ist nicht zu erwarten. Die Verdrängung regulärer Arbeitsverhältnisse durch die Ein-Euro-Jobs wird in Kauf genommen.
Gerechtigkeit – eine Vorvermutung der Gleichheit
Der Grundsatz der Gleichheit meint nicht »Identität«. Menschen sind gleich in Bezug auf ein einziges Merkmal – etwa das der gleichen Herkunft oder einer technischen bzw. musischen Begabung. In vielen anderen Merkmalen unterscheiden sie sich. Eine formale Gleichheit drückt sich in dem Satz aus: »Gleiches ist gleich, Ungleiches ungleich zu behandeln«. Eine verhältnismäßige Gleichheit ist dann gewahrt, wenn die Verteilung von Gütern und Rechten auf Personen und Personengruppen im Verhältnis zu dem erfolgt, was ihnen zusteht – »Jedem das Seine« oder »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit«.
Der tiefste Grund, warum Gleichheit als Inbegriff von Gerechtigkeit zu verstehen ist, liegt in der moralischen Gleichheit. Sie besagt, dass jede Person einen moralischen Anspruch darauf hat, mit der gleichen Achtung und Rücksicht behandelt zu werden wie jede andere. Jede menschliche Person ist von einem unparteilichen Standpunkt aus als autonomes Lebewesen zu respektieren und als Gleiche, jedoch nicht gleich zu behandeln. Der moralische Gleichheitsanspruch wird übersetzt in eine Beweislastregel: Konkrete Personen können unterschiedliche wirtschaftliche und soziale Positionen beanspruchen, die sie auf Grund der Mobilisierung ihrer Talente und Anstrengungen erworben haben. Aber solche Ungleichheiten unterschiedlicher Güterausstattung bedürfen einer rechtfertigenden Begründung, die sich auf verteilungsrelevante Unterschiede der Personen bezieht. Sonst gilt die Gleichheitsvermutung.
Daraus sind zwei Folgerungen zu ziehen. Erstens klingt die Kritik an der Verteilungsgerechtigkeit voreilig. Denn nicht nur materielle Güter und Geld stehen zur Verteilung an, sondern auch Zugangschancen, Verfügungsrechte und Machtpositionen. Die Verteilungsgerechtigkeit hat Vorrang vor der Tauschgerechtigkeit. Denn bei einem rechtmäßigen Tausch von Gütern wird unterstellt, dass die Marktpartner das Recht haben, über die getauschten Güter zu verfügen. Zweitens ist zwischen formaler und realer Chancengleichheit zu unterscheiden. Formale Chancengleichheit bedeutet lediglich, dass Menschen ungeachtet ihres unterschiedlichen Leistungsvermögens vom gleichen Startpunkt aus auf das Ziel loslaufen. Reale Chancengleichheit besteht erst dann, wenn natürliche Benachteiligungen und gesellschaftliche Diskriminierungen fortlaufend korrigiert werden. Die gleichen Chancen im Bildungssystem gewährleisten ja noch längst nicht die Chancengleichheit im Beschäftigungssystem. Eine ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen ist selten das Resultat unterschiedlicher Talente und Anstrengungen, sondern viel mehr eingespielter Konventionen, Rollenmuster und wirtschaftlicher Macht.
Demokratische Solidarität
Die solidarische Absicherung gesellschaftlicher Risiken, die bisher fast ausschließlich an die (abhängige) Erwerbsarbeit gekoppelt war, ist wegen der brüchig gewordenen Grundlagen – ununterbrochene Erwerbsarbeit, sexistische Arbeitsteilung und Normalfall eines Haushalts mit mehreren Kindern – weder plausibel noch zukunftsfähig. Die Leistungs-, Finanzierungs- und Gerechtigkeitsdefizite der herkömmlichen solidarischen Sicherungssysteme, etwa Lebenslagen unterhalb des sozio-kulturellen Existenzminimums, Armut trotz Erwerbsarbeit und die Schieflage der steuerlichen Belastung belegen, wie sehr das Einschnüren der solidarischen Sicherung und der Appell an private Vorsorge fahrlässig sind und nur Scheinlösungen bieten.
Die Steuerungsform der Solidarität entsteht da, wo eine gemeinsame Grundlage existiert oder als existent unterstellt wird. Deren Reichweite kann unterschiedlich markiert werden – gemäß den Grenzen einer Familie, einer Region, eines Sprachraums oder einer Schicksalsgemeinschaft. Darauf gründet die wechselseitig übernommene Verpflichtung, füreinander einzustehen. Deutlich lässt sich die Steuerungsform der Solidarität gegen die des Marktes abgrenzen. Im Unterschied zum marktförmigen Tausch ist die Steuerungsform der Solidarität an die Einschätzung gebunden, dass diejenigen, die sich solidarisieren, ein gleiches Interesse verbindet, obwohl ein ungleiches Verhältnis von Lebenschancen weiterhin besteht. Solidarität beruht also auf einer Gegenseitigkeit, die nur latent vorhanden ist, weil Leistung und Gegenleistung durch einen Erwartungswert verknüpft sind. Folglich entsprechen – anders als auf dem Markt – die Beitragshöhe der finanziellen Leistungsfähigkeit, der monetäre oder sachliche Leistungsanspruch dem aktuellen Bedarf an Hilfe.
Eine solche Steuerungsform durch die Marktsteuerung zu ersetzen oder zu ergänzen, ist nur dann zulässig, wenn eine komfortable private Kaufkraft und ein robustes Leistungsvermögen vorhanden sind. Da solche Bedingungen für die Mehrheit der Bevölkerung nicht gegeben sind, sollten die Grundlagen der solidarischen Sicherung erweitert und eine »demokratische Solidarität« angestrebt werden: Alle Personen, die im Geltungsbereich der Verfassung ihren Lebensmittelpunkt haben – ohne Rücksicht darauf, ob sie Arbeiter und Angestellte, Selbständige, Beamte, Richter, Soldaten oder Bauern sind, werden in die Solidargemeinschaft einbezogen. Alle Einkommen, die im Geltungsbereich des Grundgesetzes entstehen, sind beitragspflichtig. Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenzen werden aufgehoben. Solidarische Leistungen bewegen sich innerhalb eines Korridors, der von unten her gesockelt und nach oben hin gedeckelt ist. Eine Abspaltung der Beschäftigungs-, Gesundheits-, Alters- und Pflegerisiken, deren Abfederung einer solidarischen Versicherung zugewiesen wird, von den Einkommensrisiken, deren solidarischer Ausgleich dem Steuersystem überlassen bleibt, ist zu vermeiden, weil zum einen das derzeitige Steuersystem nicht solidarisch ist und weil zum andern die Einkommens- und die erwähnten Lebensrisiken verbunden auftreten.
Dr. oec. Friedhelm Hengsbach ist Mitglied des Jesuitenordens, Professor für Christliche Gesellschaftskritik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main und Leiter des Oswald von Nell-Breuning Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik.