Kapitalismus und Krieg, Wirtschaft und Gewalt
Fünf Thesen und ein Überblick
von Kai Koddenbrock
Im Kapitalismus sind Krieg und Gewalt nie weit. Sie sind sogar konstitutiver Teil unseres Zusammenlebens und betreffen sowohl autoritäre Staaten wie auch demokratisch organisierte. Gewalt ist dabei im Kapitalismus vielgestaltig und durchdringt fast alle Lebensbereiche – vom Lohnverhältnis bis zur Kriegswirtschaft. Wie sich die ökonomische Friedens- und Konfliktforschung dieser Realität in Deutschland jetzt erneut widmet und gewidmet hat und welche Zukunft wir vor uns haben, diskutiert dieser Text in fünf Thesen.
Zum ersten Mal seit den Jugoslawienkriegen der 1990er Jahre ist 2022 der Krieg wieder so nah an Deutschland herangerückt, dass seine Brutalität und das Leid, das er schafft, auch in deutschen Wohnzimmern vorstellbar werden. Bis dahin hatte sich die deutsche Regierung zwar an vielfältigen Militärmissionen von Afghanistan bis Mali beteiligt. Sie hatte sich auch mit den Konsequenzen der Kriege in Syrien und Libyen durch eine kurzzeitig liberale Migrationspolitik aber vor allem tödliche Abschottungspolitik im Mittelmeer und in der Türkei auseinandergesetzt. Unmittelbar bedrohlich wurden diese Kriege jedoch für die meisten Menschen in Deutschland nicht. Nun »steht« Russland vor den Toren der Europäischen Union, Gasrohre in der Ostsee explodieren und die deutsche Regierung vollzieht vorläufig eine Abkehr von ihrer Verflechtungspolitik mit Russland, die der deutschen Industrie und den Wähler*innen über Jahrzehnte billiges Gas garantiert hatte. Die Zeit gemütlicher Exportweltmeisterschaften unter dem US-amerikanischen Atomschutzschirm scheint zunächst vorbei und wirft grundsätzliche politische und analytische Fragen nach dem Zusammenhang von Kapitalismus, Gewalt und Krieg auf.
Vergessene Ursprünge
Dieser Zusammenhang wurde zuletzt Anfang des 20. Jahrhunderts unter dem Banner der Imperialismustheorien diskutiert, die die Großmächte, vertreten durch Finanzkapital und Regierung, in expansivem Wettbewerb um »ökonomisches Territorium« sahen, sei dies nun in der Nachbarschaft oder auf weiter entfernten – noch kolonisierten – Kontinenten (Luxemburg 1913). Bis in die frühen 1990er Jahre existierten in Deutschland Analysen, die aus einer grundsätzlich marxistischen Perspektive der Kritik der Politischen Ökonomie ökonomische und politische Zwänge und Machtbeziehungen systematisch in den Blick nahmen, so z.B. in den Arbeiten von Krippendorf (1987), Ziebura (1984) oder Mahnkopf und Altvater (1996). Im neoliberalen Deutschland von 1990 bis heute wurden diese Arbeiten, die sich für den globalen Kapitalismus interessierten, weitgehend vergessen und nur noch an wenigen Stellen universitär verfolgt.1 Stattdessen brach sich in diesen Jahre eine politiknahe, policy-Analyse Bahn, die sich eher für das Management von Konflikten, die Analyse der UN-Institutionen, ihrer Normen und der »multi-level governance« interessierte (Daase 1996; Risse 2000; Deitelhoff 2006; Zimmermann 2017). Eine Ausnahme stellen die Arbeiten von Schlichte dar (z.B. 2005) und jüngst auch diejenigen Scherrers (2021). Aber der Umschwung beginnt bereits. Think Tanks und Wissenschaft beginnen sich stärker für Wirtschaft zu interessieren, so zum Beispiel sichtbar am neuen Geoökonomie-Schwerpunkt der Deutschen Gesellschaft für Außenpolitik oder die sich auch für wirtschaftliche Interdependenzen interessierende »49Security«-Blogreihe des Global Public Policy Institutes, die vom Auswärtigen Amt finanziert ist. Zudem beginnen auch Ökonom*innen sich für Geopolitik zu interessieren, so z.B das Deutsche Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Die Ökonomie wird so schnell wieder mitgedacht, wie sie einst vergessen und verdrängt wurde.
Grundbegriffe und theoretische Ansätze
Um den Boden zum Zusammenhang von Kapitalismus und Krieg, Wirtschaft und Gewalt zu bereiten, zunächst einige Begriffsklärungen: Der Gewaltbegriff in dieser Forschung reicht von struktureller (klassisch bei Galtung 1969) bis physischer Gewalt (Koloma-Beck und Schlichte 2020). Der Begriff des Konfliktes erstreckt sich dabei von Auseinandersetzungen um Interessen verschiedenster Art bis zum Klassenkampf oder dem zwischenstaatlichen Krieg (Bonacker 2005).
Wirtschaft und Ökonomie werden im Deutschen weitgehend synonym gebraucht. Wie Mitchell schön gezeigt hat, wird die nationale »Wirtschaft« jedoch zunächst diskursiv hergestellt und existiert nicht einfach so (Mitchell 1998). Der Begriff politische Ökonomie transportiert bereits, dass jede Ökonomie auch politisch hergestellt und stabilisiert wird. Je nach theoretischer und politischer Couleur spielt der Kapitalismusbegriff dabei eine unterstützende Rolle, indem vom globalen Kapitalismus und nationalen Kapitalismen gesprochen wird (May et al. 2023).
Während in Deutschland lange der Begriff »Marktwirtschaft« präferiert wurde und Kapitalismus eher als linker Kampfbegriff erschien (Koddenbrock 2017), haben Finanz-, Covid-19- und Energiekrise ein für alle Mal deutlich gemacht, dass Kapitalismus existiert und auch so genannt und bearbeitet werden muss. Kapitalismus ist mehr als Markt und Wirtschaft, denn der Begriff umfasst unsere Weltgesellschaft, das Privateigentum, die internationale Arbeitsteilung und damit auch die (sich verändernde) Trennung in Zentren und Peripherien (Amin 1974; Brand und Wissen 2017). Er umfasst auch die Konflikte zwischen Arbeit und Kapital sowie die globale und nationale Interaktion durch Geld und Währungen mit unterschiedlicher Verbreitung, die als Kapital nach Verwertung und Vermehrung strebt. Dabei zeigt ältere und jüngere Forschung immer wieder, dass der Kapitalismus intersektional zu fassen ist (Buckel 2012), denn Rassismus (Robinson 1983; Loick und Thompson 2022), Patriarchat (bell hooks 2022; Federici 2004) und die Zerstörung der »Natur« (Moore 2015; Mies 1986) sind ihm inhärent. Die Klimakrise muss folglich als ein Ergebnis des kapitalistischen Wirtschaftens und seines Wachstumsimperativs betrachtet werden (Schmelzer und Vetter 2021).
Aus dieser kurzen Begriffsdiskussion lässt sich bereits erkennen, dass das Forschungsfeld zum Zusammenhang von Ökonomie und (kriegerischer) Gewalt riesig ist. Aus einer Perspektive der kritischen Politischen Ökonomie daher im Folgenden ein paar Thesen zu ihrem Zusammenhang. Wichtig ist für jede Beschäftigung mit Kapitalismus und Gewalt (Gerstenberger 2016; Siegelberg 1994), dass sowohl die nationalen, internationalen und globalen Ebenen in ihren Verflechtungen mitgedacht werden müssen und das Akteurshandeln in diesen Strukturen verortet und analysiert wird (Cox 1981; Schmalz 2018).
Fünf Thesen zum Zusammenhang
1. Kapitalismus und Gewalt sind immer eng verbunden.
Dass der Aufstieg des Kapitalismus in den aktuellen Zentren des Weltsystems maßgeblich durch die Gewalt der Sklaverei und des Kolonialismus ermöglicht wurde, ist mittlerweile Stand der Forschung (vgl. für viele Williams 1944; Rodney 1972; Galeano 2009; Mies 1986; Beckert 2014; Andrews 2021). Diese Gewalt betrifft nicht nur den »stummen Zwang« der Verhältnisse (Mau 2021) oder institutionalisierte Herrschaft, sondern auch ganz direkte körperliche Gewaltausübung (Gerstenberger 2016). Eine grundsätzliche Beschäftigung mit dem Zusammenhang von Ökonomie und gewaltförmigen Konflikten muss also diesen unterschiedlichen Formen der Gewaltausübung im Prozess der Verwertung des Kapitals Aufmerksamkeit schenken. Die Literatur über globale Wertschöpfungsketten bietet dafür hilfreiche Anknüpfungspunkte, da sie sich auch für die »Drecksarbeit« am Ende der Wertschöpfungsketten interessiert (Marlsev, Staritz und Raj-Reichert 2022; Milberg und Winkler 2013).
2. Ökonomie und Politik sind im Kapitalismus notwendigerweise verflochten.
Staatliches Handeln, und damit auch Wirtschaftssanktionen oder aktive Kriegsführung, beruhen immer auf einer relativen Autonomie des Politischen (Poulantzas 1978; Hirsch 2005) in Beziehung zu seinen ökonomischen Strukturbedingungen. Das heißt aber auch, dass die genaue Beziehung zwischen diesen ökonomischen Bedingungen, sowohl im Inland als auch global, und den Aktivitäten der Regierungen analysiert werden muss und nicht einfach vernachlässigt oder strukturdeterministisch abgelesen werden kann. Übertragen auf die derzeitige Kriegseskalation in Europa bedeutet dies: Ob und wie sehr der deutsche Schwenk hin zu höheren Militärausgaben also von der Notwendigkeit, das eigene Exportmodell mittelfristig abzusichern, mitbestimmt wurde oder vor allem eine spontane, quasi-moralische Reaktion auf einen überraschend entstandenen Krieg war, ist genau zu untersuchen und nicht einfach vorauszusetzen (Koddenbrock und Mertens 2022). Gleichzeitig wird durch die verschränkte Analyse global-nationaler Strukturen und Akteure die semi-periphere Stellung Russlands im globalen Kapitalismus sichtbar. Es zeigt sich dann auch die Tatsache, dass die russische Regierung zumindest eine gewisse Unterstützung bestimmter Kapitalfraktionen haben muss und gleichzeitig von einer expansiven Ideologie getrieben ist.
3. Es gibt unterschiedlich abstrakte »Flughöhen« in der Analyse der Kriegsursachen und ihrer Beziehung zu Kapitalismus.
Während die Kriegsführung zu Zeiten Machiavellis oder von Clausewitz’ noch als ein natürliches Instrument der Politik verstanden wurde, haben die beiden Weltkriege in der Friedens- und Konfliktforschung und den Internationalen Beziehungen zu einer normativen Orientierung an der Verhinderung des Krieges durch Kooperation beigetragen (Deitelhoff und Zürn 2016). Aber die fundamentale Konflikthaftigkeit der internationalen Ordnung haben sowohl Anhänger*innen der Theorieschule des Realismus wie auch Marxist*innen nie vergessen (Koddenbrock 2022). Realist*innen gehen davon aus, dass Staaten immer (auch militärisch) an ihrem Machterhalt interessiert sind. Marxist*innen analysieren, dass die inhärente Logik des Kapitals, sich immer neue und weitere Verwertungsmöglichkeiten zu suchen, notwendigerweise zu Kriegen führen muss, wenn sich diese Expansion nicht mehr auf friedliche Weise herstellen lässt. Auf dieser Abstraktionsebene trägt die kapitalistische Art und Weise, unsere Weltordnung zu organisieren, immer bereits zu ihrer Kriegsförmigkeit und Konflikthaftigkeit bei.
Aufgrund der relativen Autonomie des Politischen sind Kriege und Konflikte jedoch nicht schematisch vorauszusagen, sondern hängen von den Interessen und Motivationen konkreter Akteure ab. Diese akteursbezogenen bzw. institutionellen Forschungsperspektiven zielen auf die konkreten Kriegs- und Konfliktursachen jenseits der inhärenten Gewaltförmigkeit des globalen Kapitalismus. Hierzu gab es anders als beim grundlegenderen Zusammenhang von Kapitalismus und Gewaltförmigkeit eine durchgehende Debatte in der Konfliktforschung. Aufgrund zahlreicher innerstaatlicher Konflikte, z.B. auf dem afrikanischen Kontinent nach dem vorläufigen Ende des Ost-West-Konfliktes, wurde hier die »Gier und Leid«-Debatte (»greed and grievances«) populär, die den Ausbruch solcher Konflikte entweder mit dem Blick auf die Kosten-Nutzen-Maximierung politischer Gewaltakteure (Rebell*innen u.a.) analysierte oder mit Blick auf die (nicht nur) polit-ökonomischen Leiden, die Akteure zu einem Gewaltakt treiben, wie z.B. Fragen territorialer, identitärer oder sozialer Deprivation (siehe v.a. Collier und Hoeffler 2004). Mit dem Abebben vieler dieser langandauernden und gleichwohl weniger intensiven Konflikte ist es ruhiger um diese Debatte geworden. Nun hat sich hingegen ein neues Interesse für die Kriegsbeendigung ergeben, die gerade auch für die Frage danach, wie lange der Krieg in der Ukraine wohl noch dauern wird, relevant ist (Schreiber 2022).
4. Krieg und gewaltförmige Konfliktführung sind kein Monopol autoritärer Staaten, sondern globales Phänomen und Machtmittel.
In Deutschland hat die Friedens- und Konfliktforschung viel Zeit und Ressourcen in die Erforschung des »demokratischen Friedens« gesteckt (Geis und Wagner 2006). Unter diesem Begriff wurde debattiert, ob Demokratien inhärent friedlicher seien und deshalb weniger Krieg führten. Auf den offensichtlichen Einwand hin, dass die USA, Frankreich, und andere formal demokratische Staaten in diverse Kriege seit 1945 verwickelt waren, wurde dieser Forschungsstrang in Richtung der These weiterentwickelt, dass Demokratien keinen Krieg gegen andere Demokratien führen. Das ist empirisch einigermaßen belegt, lenkt aber primär vom zuerst genannten Befund ab, dass der sogenannte Westen ebenso Krieg führt. Die Beispiele dafür reichen von der Ermordung gewählter Regierungschefs wie Patrice Lumumba und Thomas Sankara über die Ermordung Muammar Gaddafis oder Saddam Husseins, von CIA-Operationen in Lateinamerika oder Indonesien zur Unterstützung autoritärer Regime (Bevins 2020) bis hin zu direkten Kriegen wie dem Vietnamkrieg oder der indirekten Beteiligung am Krieg im Jemen. Eine abgewogene, globale Sicht auf das Konfliktgeschehen kommt nicht umhin, den wichtigen Anteil des Westens am globalen Kriegsgeschehen zu nennen. Die vielen hundert US-Militärbasen auf der ganzen Welt sind nur der sichtbarste Ausdruck dieser Gewalt(-beteiligung). Dies ist aus einer historisch und polit-ökonomisch informierten Perspektive auch nicht überraschend, denn alle kapitalistischen Staaten befinden sich in Konkurrenz zueinander, die nur phasenweise über Normen und Institutionen befriedet wird. Auch Demokratien und der sogenannte Westen können es sich nicht leisten, ihre Weltmarktposition nur mit netten Worten und luftigen Idealen abzusichern.
5. Die Klimakrise und neue Formen der imperialen Konkurrenz (zwischen USA, Russland, China und der EU) werden die Wahrscheinlichkeit gewaltförmiger Konflikte weltweit erhöhen.
30 Jahre eindeutiger US-Hegemonie stehen heute in Frage und der Krieg in der Ukraine ist nur der erste Krieg in einer Reihe von weiteren militärischen Konflikten, die mit der neu anbrechenden Weltordnung einhergehen könnten. Wirtschaftliche Unsicherheit führt zu instabilen Regierungen oder der vermeintlichen Notwendigkeit massiver Repression interner Widersprüche, die wiederum die Wahrscheinlichkeit erhöht, über den Kampf mit äußeren Feinden von diesen Problemen abzulenken. Der Aufstieg offen rechtsradikaler Parteien und Personen in Europa, den USA aber auch z.B. in Indien ist dafür Beleg. Ein zunehmend krisenhafter Kapitalismus mit immer weiter wachsender Ungleichheit, Dürren und Überflutungen wird definitiv die Stabilität der US-Hegemonie nicht wiederherstellen, sondern zu neuen, eher instabilen Allianzen zwischen den Kontinenten führen, da alle Staaten immer verzweifelter um die notwendigen Ressourcen für die Klimaanpassung kämpfen werden. Formen der globalen Kooperation wie das »Pariser Klimaabkommen« von 2015 oder die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (»Sustainable Development Goals«) werden in zunehmend offenem Gegensatz zu den wachsenden Konflikten stehen.
Die Aussichten sind nicht gut. Der Titel dieses Heftes zu »Ökonomie und gewaltförmigen Konflikten« drückt die Herausforderungen, vor denen wir stehen, noch zurückhaltend aus. Kapitalismus, Krieg und Gewalt waren historisch immer wieder symbiotisch verbunden. Phasen relativen Friedens waren zumeist regional und zeitlich begrenzt. Der Weg aus dem Kapitalismus muss heute ernsthaft in Betracht gezogen werden, denn die Krisen nehmen überhand (vgl. Dörre in dieser Ausgabe, S. 14-18). Wie und durch welche Allianzen wir diese Wege suchen könnten, das könnte ein Beitrag einer »friedens-politischen Ökonomie« sein.
Anmerkung
1) Der Neo-Gramscianismus war in Deutschland das letzte Refugium der kritischen politischen Ökonomie (bspw. Bieling 2011), bevor die Finanzkrise in den Jahren nach 2007 einer neuen und wachsenden Generation der politischen Ökonomie den Boden bereitete.
Literatur
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Kai Koddenbrock ist Nachwuchsgruppenleiter an der Universität Bayreuth und ab Sommer 2023 Professor für Politische Ökonomie am Bard College Berlin. Er leitet mit Benjamin Braun das Forschungsnetzwerk »Politics of money« (politicsofmoney.org).