Konsequenzen eines ideologischen Zusammenbruchs
Sozialpsychologische Überlegungen
von Andreas Zick • Ulrich Wagner • Wolfgang Maser
Die Autoren nehmen im folgenden Stellung zur (sozial-)psychologischen Dynamik des Ideologieverlustes und der Wiederbelebung von »braunem Gedankengut« im Zusammenhang mit dem Ende der West-Ost-Konfrontation Stellung – vornehmlich mit Bezug auf die Länder Mittel- und Osteuropas. Zu dieser Thematik gibt es natürlich verschiedene Perspektiven, und eine sozialpsychologische Einschätzung kann nur eine unter vielen sein. Auch ist den Autoren bewußt, daß ihr Beitrag aus westlicher Perspektive erstellt wurde. Eine kritische Auseinandersetzung mit diesen eingeschränkten Sichtweisen, insbesondere aus einer östlichen Perspektive, ist erforderlich und erwünscht.
Die alten Systeme des Ostblocks waren nicht geliebt, und es ist zu vermuten, daß eine Identifikation mit den Systemen, vor allem in ihrer Endphase, bei den meisten Bürgerinnen und Bürgern der Staaten des ehemaligen Ostblocks kaum gegeben war. Das zeigen jedenfalls die Bilder: Erinnert sei an den Jubel der DDR-Flüchtlinge in der Prager Botschaft, oder an die Szenen, die sich bei Öffnung der Mauer abspielten. Die Systeme hatten in vielen Staaten des Ostblocks zuvor scheinbar nur durch mehr oder weniger offenen physischen Druck ihre Existenz gesichert1; die Akten der Sicherheitsbehörden und der Versuch, die Bevölkerung zu gegenseitigen Spitzeln zu machen, zeugen davon. In der Endphase ihrer Existenz konnten die Ostblock-Staaten diese Kontrolle offensichtlich nicht mehr aufrechterhalten, die Auflösung war damit programmiert.
Der Zusammenbruch des Ostblocks und seine Inszenierung wurden im Westen so vermittelt, als blieben in großer Zahl Menschen des Typus »Kaspar Hauser« zurück, Menschen ohne spezifische Sozialisationserfahrungen, die nun zu uns kämen, um sich darin unterweisen zu lassen, wie man sich die Errungenschaften westlicher Zivilisationen zunutze macht. Entsprechend äußerte sich der neue Bundespräsident aller Deutschen, Roman Herzog, noch 1994 in seiner ersten Rede am 23. Mai an die Ostdeutschen gerichtet: „Ich bin froh, daß Sie wieder bei uns sind.“ Bekehrungsmythen wurden aufgefrischt im Westen und im Osten, zumindest soweit die Debatte eine Kolonialisierung des europäisch-christlichen Teils des ehemaligen Ostblocks erfaßt. Herzog in derselbe Rede: „Und ich sage es an die Menschen in den neuen Bundesländern. Sie müssen begreifen (sic), daß Sie für uns (!) keine Last, sondern daß Sie für uns ein Gewinn sind.“ (unsere Hervorhebungen).
Selbst wenn den alten Systemen von ihren Bürgerinnen und Bürgern wenig Sympathie entgegengebracht wurde, so muß man dennoch davon ausgehen, daß die Lebensformen und -muster in den Staaten des ehemaligen Ostblocks Spuren in den Weltbildern hinterlassen haben, die durch den politischen Umbruch nicht einfach ausgelöscht sind.
Diese Spuren werden umso offensichtlicher, je deutlicher wird, daß sich die hohen Erwartungen und teilweise unrealistischen Hoffnungen im ökonomischen und ideellen Bereich für einen großen Teil der Bevölkerung vorläufig nicht werden einlösen lassen. Die Vorstellung, die Menschen des Ostens hätten nichts von ihrer Geschichte in ihre Biographie integriert, wird jetzt zunehmend von den meisten Beteiligten als Absurdität erkannt.
Eine gleichberechtigte Partizipation an den politischen Gestaltungsmöglichkeiten des neuen Gesamtsystems – wenn es denn ein solches wirklich gibt – wird zunehmend schwieriger: Zu viele Entscheidungsprozesse werden vom West-System abhängig, Entscheidungspositionen sind von Westlern besetzt; die Möglichkeit der Verhandlung über die Form eines gemeinsamen Systems erweist sich als eine kurzfristige Utopie der Übergangszeit. Das anvisierte Expertensystem, das zum Aufbau des Neuen installiert wird, ist nahezu ausschließlich westlich besetzt, personell wie ideologisch. Visionen weichen Krisenmanagements, die im wesentlichen nach ökonomischen Prinzipien vorgehen und folglich soziale Prozesse und Deformierungen nur soweit in Rechnung stellen, als deren Folgekosten unmittelbar abzusehen sind: So werden Ausschreitungen gegen Minderheiten in ihren ökonomischen Auswirkungen auf internationale Handelsbeziehungen verrechnet.
Die ursprünglichen Erwartungen sind vermutlich aber nicht nur gedämpft oder enttäuscht, sie sind in vielen Bereichen auch einer tiefen Hoffnungslosigkeit gewichen. Arbeitslosigkeit als Massenphänomen bespielsweise, in den sozialistischen Staaten früher weitgehend unbekannt und bei den Menschen nur als abstrakte Kategorie repräsentiert, wird nun plötzlich wesentlicher Bestandteil des eigenen Lebens und der persönlichen Zukunft, ihre ökonomischen und psychischen Konsequenzen gehören jetzt zur unmittelbaren Erfahrung, oder zumindest zur Bedrohung.
Umbruch und Identität
Die Zusammenbrüche im ehemaligen Ostblock haben ganz wesentlich auch Veränderungen tradierter sozialer Bindungen zur Folge. Dies gilt insbesondere für verschiedene Formen der Kollektivierung, der Gruppenzusammenschlüsse. Zugehörigkeiten zu makro- und mikrosozialen Gruppen sind identitäts- und selbstwertstiftend. Gruppen definieren die soziale Identität ihrer Mitglieder (Tajfel & Turner, 1986). Die makrosozialen Kollektive – die übergeordneten Systeme, der Ostblock, der Sozialismus – sind verschwunden. Auch sie waren vermutlich für die Selbstdefinition relevant, selbst wenn dies wenig bewußt war und geleugnet wird. Identitätsrelevant war der Zusammenschluß des Ostblocks vermutlich gerade deshalb, weil er sich wesentlich aus der Abgrenzung gegen den Westen definierte: Gruppen sind identitätsstiftend in ihrer Abgrenzung von anderen Gruppen; ein äußerer Feind verbindet2. Selbst wenn Bürgerinnen und Bürger des ehemaligen Ostblocks die scharfe, von der offiziellen Politik verabreichte Ost-West Dichotomie abgemildert und entdramatisiert haben mögen, ermöglichte eine solche Ost-West Dichotomie doch ein Bewußtsein von einer eigenen kollektiven Identität3, selbst dann, wenn man deren Attribute in bestimmten Bereichen, vornehmlich der Ökonomie, der politischen Partizipation und der Menschenrechtsfrage kritisierte.
Oberflächlich betrachtet scheinen vom Zusammenbruch des Ostblocks über die Auflösung der Ost-West Dichotomie hinaus nur solche Bindungssysteme betroffen zu sein, denen Verbindungen zum System nachgesagt wurden, Parteiinstitutionen und deren Einflußbereiche. Bei genauerer Analyse wird jedoch deutlich, daß von dem Wegfall der systemtragenden Organisationen auch andere Bindungssysteme berührt sind. In der ehemaligen DDR beispielsweise gab es verschiedene DDR-typische mikrosoziale Gruppierungen und Verbände, die bis zum Kleintierzüchterverein reichten, denen identitätsbildende Funktionen zugeschrieben werden müssen (Voigt & Meertens, 1992) und die die Bedürfnisse der Menschen nach Solidarität und Kontakt befriedigen konnten. Teilweise existierten solche Gruppierungen weitgehend unabhängig von den staatlichen Systemen, auch wenn diese ständig um die Kontrolle solcher mikrosozialen Einheiten bemüht waren, z.B. durch die Rekrutierung von Spitzeln. Mit der Auflösung der makropolitischen Konfrontation verschwanden auch viele dieser mikrosozialen Bindungssysteme.
Der beschriebene Prozeß der Auflösung traditioneller Bindungen wird verstärkt und beschleunigt durch Verarmung, Wanderung und das Umsichgreifen einer Ideologie der individuellen Aufwärtsorientierung. Auch diese Faktoren berühren unmittelbar die mikrosozialen Bereiche, d.h. den Austausch sozialer Beziehungen, ohne den Umweg über die makropolitischen Strukturen und deren Zusammenbruch (Beck, 1986). In einigen Lebensbereichen scheint es noch Ersatz zu geben. So z.B. in kirchlichen oder gewerkschaftlichen Organisationsformen, die an die Stelle ehemaliger Kollektive treten. Aber auch diese können nicht die Verluste für alle ausgleichen.
Welche Prognosen für die Zukunft ergeben sich, wenn die geschilderte Situation empirisch zutrifft? Zwei Entwicklungslinien zeichnen sich ab: Die Suche nach neuen Orientierungsmustern, vornehmlich auf der rechten Seite des politischen Spektrums, und die Rückbesinnung auf alte Strukturen und Werte. Zwischen diesen Entwicklungslinien gibt es eine Reihe von Ähnlichkeiten und Überlappungen, die wir hier jedoch nicht weiter verfolgen wollen (vgl. dazu z.B. Rokeach, 1960; Altemeyer, 1981).
Rechte Reaktionen
Im rechtsextremen politischen Spektrum und in der rechtsextremen politischen Szene bieten sich für viele Menschen, oftmals Jugendliche, neue Muster an, die eine hohe Orientierungs- und Identifikationsfunktion versprechen: Rechtsextreme Ideologien überzeugen vor allem durch die Einfachheit ihrer Erklärungen für komplexe gesellschaftliche Entwicklungen, durch die Betonung von Ausgrenzung der Anderen (vgl. Adorno et al., 1950; Heitmeyer, 1987, 1989, 1990) bieten sie gleichzeitig die Chance zur Partizipation für diejenigen, die sich dem Kollektiv zurechnen können; rechtsextreme Ideologien üben soziale Kohäsionskräfte aus (vgl. dazu auch Schumann 1990; Siegler, 1992; Vollbrecht, 1992). Vor dem Hintergrund zunehmender Wanderungsbewegungen in der Welt wird sich Ausgrenzung vor allem gegen Einwanderer richten: Migranten »bedienen« die Ideologie der Einheit und die Propaganda der Bedrohung und Benachteiligung. Die Zurückweisung von Einwanderern schafft die Einheit derjenigen, die sich gegen diese Einwanderer glauben zur Wehr setzen zu müssen. Als besonders zynische Form der Ausgrenzung erweist sich eine Überzeugung, wonach gerade Zuwanderer die Ostdeutschen daran hindern, »richtige« Deutsche zu werden: Eine solche Ideologie suggeriert, daß die neuen Bürgerinnen und Bürger wenigstens im Bereich der Ausschließung sozialer Gruppen mitwirken dürfen.
Rechtsradikale Orientierungen stellen verlorene Kollektive scheinbar wieder zur Verfügung: Mit faktisch zunehmendem Ausschluß von der Partizipation wird auf nationale, ethnische und rassische Kollektive zurückgegriffen. Die Marginalisierten gewinnen wieder Mitgliedschaften, nationale und rassische Identitäten, und damit scheinbar psychische Sicherheit und Überlegenheit. Rechtsextreme Ideologien knüpfen an Deklassierungsgefühlen an, sie fallen damit vermutlich besonders bei den Verunsicherten und Benachteiligten des Ostens auf fruchtbaren Boden4. Da die Verarmung, die die Wanderungsbewegungen mit auslöst, nach Osten hin zunimmt, werden sich rechtsradikale Ausgrenzungen, Ablehnungen, Diskriminierungen und Aggressionen von den meisten geographischen Punkten aus weiter gegen »Ostler« richten.
Rückorientierungen
Die Rückorientierung und Besinnung auf tradierte, vormals möglicherweise abgelehnte Beziehungsstrukturen und Denkweisen, ihre zunehmend positivere Bewertung durch viele Bürgerinnen und Bürger des ehemaligen Ostblocks, zeigt sich in einer Reihe von Beispielen, wie der Unterstützung alter Seilschaften, politischen Reorganisationen oder auch nur im Wiederaufleben der Jugendweihe in den Neuen Ländern. Kollektive Rückbesinnung auf traditionelle Muster und Versuche zur Restauration alter Strukturen sind insbesondere dann wahrscheinlich, wenn Benachteiligung als kollektive Benachteiligung verstanden wird5 und wenn die Grenzen dieses von Benachteiligung betroffenen Kollektivs entlang der tradierten Staats- oder Ost-West-Grenzen gezogen werden. Ein solcher Prozeß scheint in vielen Bereichen des ehemaligen Ostblocks eingesetzt zu haben; er äußert sich auch in der in Deutschland geläufigen »Ossi-Wessi« Klassifikation.
Die Gefahr ist groß, daß Rekonstruktionen alter Systemgrenzen und Ideologien und die damit verbundene Ausgrenzung nach außen vom Westen aufgegriffen werden und in der expliziten Benennung und differenzierenden Behandlung dieser Randgruppen enden6. Wäre das die Konsequenz einer selbsteingeleiteten Abgrenzung, würde kollektive Diskriminierung damit auf Dauer zementiert. Die so verstärkten Deklassierungen ließen sich dann auch noch leichter als bisher mit nationalen, ethnischen oder rassischen Abgrenzungsstrategien verbinden und würden schließlich zu einer weiteren Hinwendung zu rechtsextremen Orientierungsmustern führen. Auf der anderen Seite könnten Rückbesinnungen und Rekonstruktionen aber auch ein solches Gewicht erlangen, daß sie politische Gestaltungskraft gewinnen und den Ausgang für Veränderungen darstellen7. Damit eröffnete sich vielleicht eine Möglichkeit, zumindest partiell eine demokratische Teilhabe aller Betroffenen an der politischen Gestaltung des propagierten gemeinsamen Ost-West-Systems zu gewährleisten.
Perspektiven: Partizipation und Universalität
Welche Zukunftsperspektiven ergeben sich aus dem beschriebenen Szenario? Wie sind zunehmende physische und psychische Benachteiligungen abzuwenden? Die Antwort ist abhängig von einer Vielzahl von Faktoren, von denen die meisten jenseits sozialpsychologischer Antworten liegen. Notwendige Voraussetzung für den Abbau von Benachteiligung ist natürlich der Ausgleich des ökonomischen Ost-West-Gefälles. Ökonomischer Ausgleich allein ist jedoch nicht hinreichend. Es ist nicht zu erwarten, daß lediglich die geographisch gleichmäßigere Verteilung der ökonomischen Ressourcen innerhalb des Gesamtsystems Anfälligkeiten für extremistische Ideologien austrocknet. Orientierungs- und Identitätsverluste werden durch ökonomische Verbesserungen der individuellen Lebenssituation allein kaum kompensiert; eine zunehmende ausschließliche Orientierung auf die Verbesserung der individuellen ökonomischen Lebenslage könnte sogar eine Zunahme von Orientierungsverlusten nach sich ziehen (Beck, 1986).
Eine Perspektive, wonach allein »der Markt« mit gespenstischer Eigendynamik die einzelnen Interessen zu einem Gesamtinteresse und zum »Glück aller« zusammenschmiedet (zu dieser Form des Sozialutilitarismus vgl. Rich, 1985; Nutzinger, 1986), ist nicht haltbar. Bei der Entwicklung einer gemeinsamen Perspektive ist auch solchen Gütern Rechnung zu tragen, die über die engere ökonomische Organisation des Lebens hinausgehen. Dies betrifft vor allem die Möglichkeit zur politischen Partizipation. Politische Partizipation zählt zu den ideellen Eckpfeilern politischer Kultur; sie umfaßt sowohl die Möglichkeit, sich als Bürger durch öffentliche Diskussionen an der Entscheidung gesellschaftlicher Bewegungsrichtungen zu beteiligen als auch die Mitwirkung von Verbänden, Gewerkschaften, Kirchen und vergleichbaren Gruppierungen unterhalb der makropolitischen Ebene.
Organisationen, Gruppen und Verbände sind Ausdruck einer pluralistischen Demokratie und Zeichen einer Akzeptanz von Multiperspektivität, auch wenn diese in den Staaten des ehemaligen Ostblocks z.T. in Mißkredit geraten sind.
Eine Rückorientierung auf wie immer definierte nationale Einheiten würde erhebliche kontraproduktive Anteile mit sich bringen, da eine solche Rückorientierung Affinitäten zu nationalistischen bis hin zu rechtsextremistischen Ideologien mit den darin enthaltenen Ausgrenzungsbestrebungen impliziert. Das bedeutet aber nicht, daß historisch gewachsene kulturelle Einheiten, Regionen, nicht wieder an Bedeutung gewinnen könnten und damit identitätsstiftend würden (Lilli, 1984). Notwendige Voraussetzung wäre aber, daß eine Besinnung auf Regionalität immer auch die gleichzeitige Orientierung auf das gemeinsame Ziel der Schaffung eines menschenwürdigen Lebens für alle beinhaltet8, innerhalb Europas und darüber hinaus.
Wer solche Formen politischer Diversität und Partizipation bejaht, kann den beteiligten Bürgern natürlich nicht vorschreiben, welche inhaltlichen Maßgaben sie in die zukünftige gemeinsame Geschichte einzubringen haben. Für die Bürger des Ostens gilt ebenso wie für die des Westens ausschließlich eine Minimalforderung: der Verzicht auf die gewaltsame Durchsetzung von Gruppeninteressen, die Akzeptanz des Pluralismus und der öffentlichen Diskussion. Die Antworten auf Fragen danach, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, welche politischen, sozialen und ökologischen Verhältnisse wir an die zukünftigen Gesellschaften weitergeben wollen usw., sind weitgehend offen. Man wird allerdings erwarten müssen, daß sich die Positionen nicht mehr wie bislang nach westlichen versus östlichen Einstellungen kategorisieren lassen. Wenn das gelänge, würden Schritte in Richtung auf eine Integration gegangen, eine Integration, die eben nicht unilaterale Assimilation meint, sondern eine Entwicklung in eine zivile Gesamtgesellschaft (Walzer, 1987, 1992a, 1992b), einer Gesellschaft mit offenen und konfliktorientierten Debatten über mögliche gemeinsame Ziele.
Der zu Zeiten der Existenz des Ostblocks staatlich geltend gemachte klassenorientierte und verengte Internationalismus könnte etwa in modifizierter Form zu einem wichtigen Impuls einer gemeinsamen politischen Kultur werden, enthielt er doch die auch in Teilen des Westens reklamierte Menschenrechtsperspektive einer universalen Verantwortung, die als notwendige Korrektur von Selbstinteresse fungieren sollte (vgl. Huber & Tödt, 1988). In Zeiten des Systemvergleichs stritt man darum, ob die individuellen oder die sozialen Menschenrechte den Kern ausmachten. Teilweise wurden diese in unterschiedlichen Menschenrechtspakten (Heidelmeyer, 1992) verabschiedet und dienten der Legitimation des jeweiligen Systems, das sich so die moralische Überlegenheit auf die Fahnen schrieb (Maaser, 1992). Der Zusammenbruch der politischen Blöcke bietet jetzt die Chance einer ideologischen Entlastung.
Literatur
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Anmerkungen
1) French & Raven (1959) unterscheiden verschiedene Grundlagen für die Machtausübung (vgl. auch Raven, 1992). Ein wichtiges Merkmal von Machtausübung auf der Basis von Bedrohung und Bestrafung ist, daß die Kontrollierten zur Machterhaltung ständig zu überwachen sind. Im Gegensatz dazu ist Machtausübung auf der Basis von Identifikation mit dem Machtapparat von Überwachung relativ unabhängig. Die Beeinflußten folgten auch dann, wenn keine unmittelbare Kontrolle und die damit implizierten Sanktionsmechanismen gewährleistet sind. Zurück
2) Kollektive wie staatliche Systeme oder Blöcke können als Gruppen beschrieben werden (Turner et-al., 1987; Wagner & Zick, 1989). Potentielle Gruppenmitglieder identifizieren sich um so stärker mit ihrer Gruppe, je stärker sie diese durch äußere Feinde bedroht sehen (Wagner & Ward, 1993). Gleichzeitig grenzen sie sich zunehmend von fremden Gruppen, Staaten, Blöcken ab (Sherif & Sherif, 1969; Tajfel & Turner, 1986). Zurück
3) Dieselbe Argumentation gilt natürlich auch für die westlichen Staaten. Zurück
4) Die Verbreitung rechtsradikaler Überzeugungen ist natürlich nicht allein ein Problem des Ostens. Spielen bei ihrer Genese im Osten vermutlich reale ökonomische Verlusterfahrungen eine wichtige Rolle, stehen im Westen eher Befürchtungen von Wohlstandsverlusten im Vordergrund. Zurück
5) Die Theorie Relativer Deprivation unterscheidet zwischen individueller und kollektiver Relativer Deprivation (Runciman, 1966; Gurr, 1970; zur Übersicht vgl. auch Taylor & Moghaddam, 1987). Die individuelle Deprivation, d.h. die Empfindung individueller Benachteiligung, ist mit psychischen und psychosomatischen Schwierigkeiten verbunden. Die kollektive Deprivation, die Empfindung von Benachteiligung für Kollektive, zu denen ein Gefühl der Zugehörigkeit besteht, ist dagegen mit politischen Aktivitäten verbunden (z.B. Walker & Mann, 1987). Zurück
6) Der Labeling Approach (z.B. Stryker, 1981) beschreibt, wie als Abweichler Klassifizierte erst infolge einer solchen Klassifikation zu Abweichlern werden. Zurück
7) Moscovicis (1979) Theorie zum Minderheiteneinfluß liefert wichtige Hinweise für die Durchsetzung solcher Strategien. Zurück
8) Die Einführung gemeinsamer übergeordneter Ziele hat sich als erfolgreiche Strategie zur Reduktion von Intergruppenkonflikten erwiesen (Sherif & Sherif, 1969; Hewstone & Brown, 1986). Der britische Sozialpsychologe Rupert Brown hat darüber hinaus experimentell dokumentiert, daß die Verfolgung eines gemeinsamen übergeordneten Ziels durch zwei oder mehr Gruppen besonders dann zur Konfliktreduktion beiträgt, wenn die originären Beiträge der beteiligten Gruppen identifizierbar bleiben (vgl. z.B. Brown & Wade, 1987). Auf diese Weise wird eine Gefährdung der sozialen Identität, die über die Gruppenmitgliedschaft definiert sind, durch die Auflösung der Gruppengrenzen vermieden. Wir halten eine solche Strategie zwar im Grundsatz für sinnvoll, sie ist in der Realität aber problematisch: Zu lange hat ein Südafrikanisches Apartheidsystem die Ausgrenzung von Schwarzen genauso begründet. Zurück
Andreas Zick, Universität Gesamhochschule Wuppertal, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften; Ulrich Wagner, Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Psychologie; Wolfgang Maser, Ruhr-Universität Bochum, Evangelisch-Theologische Fakultät