Leben bewahren gegen Wachstum, Macht, Gewalt
Zur Verknüpfung von Frieden und nachhaltiger Entwicklung
von Jürgen Scheffran
Kurz vor der Jahrtausendwende kollidiert die Wachstumsdynamik menschlicher Entwicklung mit den Grenzen des Raumschiffs Erde. Zum Zerreißen gespannt sind nicht nur die Wände des äußeren Rahmens, sondern auch die tragenden Innenstrukturen. Druck und Temperatur steigen, Abfallberge wachsen, Krankheit und Tod nehmen zu, die Belastbarkeit der ökologischen und sozialen Systeme sinkt. Konflikte unter den Bewohnern des Raumschiffs sind überall erkennbar. An den Kollisionspunkten von Natur und Gesellschaft sind katastrophale Entwicklungen bis hin zum Krieg zu verzeichnen. Und die Zahl der Druckpunkte nimmt zu.
Mit dem Konzept der nachhaltigen Entwicklung wird der Versuch unternommen, die immer noch explosive Entwicklung in geordnete Bahnen zu lenken.1 Der zur Verfügung stehende Umweltraum soll planmäßig und sinnvoll genutzt werden und zugleich soll den Bewohnern des Raumschiffs Erde dauerhaft ein akzeptables, ja angenehmes Leben gewährleistet werden. Als Schlüssel zum Erfolg wird, neben einer effizienten und gerechten Ressourcennutzung und -verteilung, die Anpassung menschlicher Bedürfnisbefriedigung an die vorhandenen Möglichkeiten gesehen sowie die Neuorganisation menschlichen Zusammenlebens im Einklang mit der Natur. Kurz gesagt, es geht für die Menschen darum, Frieden mit sich selbst, mit anderen und mit der Natur zu schaffen.
Gleichgewicht des Lebens und zerstörerisches Wachstum
Das Leben auf der Erde ist möglich geworden durch ein diffiziles Gleichgewicht von Werden und Vergehen.
Der mit der Entropieerhöhung verbundene Zerfallsprozeß muß durch einen Aufbau- und Wachstumsprozeß ausgeglichen werden, unter Zufuhr von Energie, Materie und Information, deren Abfallprodukte und Folgewirkungen ebenfalls abgebaut und regeneriert werden müssen. Ungehemmtes, krebsartiges Wachstum ist Ausdruck einer Störung des Fließgleichgewichts, die die Existenzbedingungen des Lebens zerstören kann. Die Menschheit konnte im Verlauf ihrer Geschichte ihre Wachstumsrate steigern und ihre Sterberate soweit verringern, daß bis heute eine exponentielle Bevölkerungszunahme erfolgt. Bislang konnten zwar alle vorgefundenen Grenzen überschritten und immer neue Bereiche erobert werden. Bei Erreichen der letzten Grenzen des Planeten Erde stellt sich aber die Frage, ob sich ein Fließgleichgewicht eher durch Begrenzung der Wachstumsraten oder durch den Anstieg der Zerfalls- und Sterberaten einpegeln wird. Die erste Möglichkeit ist ein Gebot der Vernunft, denn die zweite Alternative bedeutet für zahllose Menschen Elend und Tod.
Die Anzeichen der globalen Krise sind bereits überdeutlich. Von Zerfallserscheinungen betroffen sind nicht nur die Länder der Dritten Welt (etwa durch Armut, Hunger, Umweltzerstörung, Krieg, Genozid, Flucht, AIDS), sondern auch die Industriestaaten. Hier zeigt sich der Verlust gesellschaftlicher Kontrolle u.a. an negativen Sozialphänomenen wie Alltagsgewalt, Kriminalität, Mafia, Drogen, Krankheiten, Sozialabbau, sozialer und politischer Fragmentierung, die die »soziale Entropie« erhöhen, Gewalt verursachen und den inneren Frieden gefährden.2 Mit den Menschen sterben die ökologischen und sozialen Strukturen, die die Existenz der Individuen garantieren und den gesellschaftlichen Zusammenhalt festigen sollen. Sozialabbau scheint die vorherrschende Strategie der Eliten zu sein, um die Grenzen des Wachstums an die Peripherie der eigenen Gesellschaften zu verlagern. Es ergibt sich das apokalyptische Bild einer von Katastrophen geprägten Welt, in der nur die stärksten und am besten geschützten eine (Über-) Lebenschance haben, auf Kosten der Schwächeren. Gewalt und Krieg können zugleich Ursache und Folge der anderen Problembereiche sein und wirken wie ein Katastrophenverstärker.
Die Herausforderung des 21. Jahrhunderts wird sein, ob die sozialen Strukturen stark genug sind, den weiter wirkenden mächtigen Wachstumskräften Einhalt zu gebieten und zugleich den Frieden gegen Katastrophen und Gewaltkonflikte zu erhalten.
Wirtschaft, Technik und Macht
Der Schlüssel zum Verhältnis von Wachstum und Macht liegt in der Ökonomie, die in der zunehmend vernetzten Welt den Primat über alle Lebensbereiche gewonnen hat: „Die Weltökonomie hat sich verselbständigt, weil die Politik nicht in der Lage war, Instrumente zur Steuerung der globalen Entwicklung zu schaffen.“ 3 Die zur freien Marktwirtschaft gehörende Akkumulation von Kapital korrespondiert mit den Prinzipien des exponentiellen Wachstums und der Konzentration von Macht, die sich auf den Besitz von Reichtümern und Produktionsmitteln gründet. Neben dem Bevölkerungswachstum erzeugen der Kapitalzins sowie der angestrebte Zuwachs des Bruttosozialprodukts (der einer Beschleunigung der Wohlstandsmehrung entspricht) eine zusätzliche Wachstumsdynamik.
Das bestehende Wirtschaftssystem enthält wachstums- und machtfördernde Rückkopplungen: Verbraucher mit höherem Einkommen verfügen über mehr politische, gesellschaftliche und ökonomische Einflußmöglichkeiten, um ihren Einkommensvorsprung zu sichern; und Unternehmen mit hohen Gewinnen haben mehr Mittel, um in neue Produktionsmittel zu investieren. Beides führt zu einer Konzentration von Macht, die dazu benutzt wird, das ungerechte Spannungsgefälle zwischen Arm und Reich sowie die nicht-nachhaltige Ausbeutung der Natur aufrecht zu erhalten, während Instrumente zur Kontrolle von Wachstum und Macht unzureichend bleiben.
Die ambivalente wissenschaftlich-technische Entwicklung hat einen Anteil an der Wachstumsdynamik. Während Wissenschaft traditionell bestrebt ist, unbekanntes Territorium in der Welt des Wissens zu »erobern« (Wissen ist Macht), stellen technische Innovationen die Mittel bereit, mit denen die reale Welt erkundet und erobert, konstruktiv oder destruktiv verändert werden kann. Zwar haben leistungsfähigere technische Instrumente die Möglichkeiten zur Problemlösung (etwa zur Produktionssteigerung) verbessert, doch zugleich wurden immer wirksamere Macht- und Zerstörungsmittel bereitgestellt, die zur Herrschaftssicherung eingesetzt werden. Zugleich hat sich das Wachstum der technischen Produktionsmittel selbst als Problem erwiesen. Versuche, dem Wachstumsproblem der wissenschaftlich-technischen Zivilisation durch technische Eingriffe zu Leibe zu rücken, bringen weitere Probleme mit sich.4
Ressourcenknappheit, Umweltzerstörung und Gewaltkonflikte
Eine Konsequenz gesellschaftlicher Zerfallserscheinungen ist die Zunahme von Konflikten und – damit verbunden – von Gewalt, hier verstanden als absichtliche Zerstörung lebendiger Strukturen. Die vier Hauptquellen der Knappheit (Bevölkerungswachstum, übermäßiger Konsum, Umweltverschmutzung, ungleiche Verteilung) verstärken sich oftmals wechselseitig. Die durch die Ressourcenknappheit auftretenden Mangelerscheinungen belasten soziale Systeme, fördern den ökonomischen Niedergang, schwächen staatliche Autorität und erhöhen die Konfliktspannung, die sich entlang vorhandener ethnischer, rassischer oder religiöser Trennlinien entladen kann, bis hin zu Krieg oder Bürgerkrieg. Gewaltkonflikte zeichnen sich besonders dann ab, wenn die Ressourcennutzung einiger Akteure elementare Lebensinteressen anderer Akteure berührt, die über Gewaltmittel verfügen und sich „zur Wehr“ setzen. Die Umweltdegradation kann auch indirekt den Konfliktrahmen beeinflussen, der durch weitere Faktoren (ökonomisches System, Bildungsgrad, ethnische Spaltungen, Klassentrennung, technologische und infrastrukturelle Fähigkeiten, Legitimität des politischen Regimes) bestimmt wird. Die kausalen Verbindungen sind nicht immer eindeutig nachzuweisen, und die durch Umweltknappheit hervorgerufenen sozialen Auswirkungen erscheinen dann als Hauptursachen des Konflikts. Oftmals summieren die Folgen sich auf und führen erst langfristig zu Konflikten.
Auch wenn Umweltknappheit bislang nur selten zu zwischenstaatlichen Konflikten geführt hat, haben umweltbedingte Konflikte signifikante indirekte Effekte auf die internationale Gemeinschaft, insbesondere wenn sie die Landesgrenzen überschreiten. Besonders betroffen sind die Entwicklungsländer, in denen die Verknappung von Wasser, Wäldern und vor allem fruchtbarem Land in Verbindung mit einer rapide wachsenden Bevölkerung großes Elend bedeutet. Da in Entwicklungsländern die institutionalisierten Konfliktregelungsmechanismen unterentwickelt sind, tragen Umweltkonflikte hier eine vergleichsweise größere Kriegsgefahr in sich als im industrialisierten Norden oder zwischen Nord und Süd. Schon heute trägt die Knappheit an erneuerbaren Ressourcen zu gewalttätigen Konflikten bei, etwa in einigen Staaten Afrikas, in Nahost, in Südasien und Mittelamerika.5 Die globale Erwärmung wird die Probleme weiter verschärfen.6
Nicht auszuschließen ist angesichts wachsender Konfliktfelder eine konfrontative Situation, wenn der Norden seinen wirtschaftlichen Wachstumspfad ebenso beibehält wie sein militärisches Droh- und Gewaltpotential, das gegen widerspenstige Staaten im Süden gerichtet wird. Umgekehrt könnten entschlossene Führer in Entwicklungsländern glauben, im Zuge einer Gegenwehr Industrialisierung auf Kosten der Umwelt zu erreichen und mit militärischen Mitteln, gegebenenfalls mit Massenvernichtungswaffen, eine Intervention abzuschrecken, worauf der Norden wiederum mit Counterproliferation und Raketenabwehr reagiert. Ein daraus folgendes neues Wettrüsten würde auf unheilvolle Weise mit den negativen Entwicklungen in den anderen Bereichen korrelieren.
Nachhaltige Entwicklung und die Grenzen der Bedürfnisbefriedigung
Leben bedeutet mehr als bloßes Überleben. Lebenswerte Bedingungen sind erforderlich, damit Lebewesen im Rahmen ihrer vorhandenen inneren und äußeren Möglichkeiten ihre Bedürfnisse individuell frei entwickeln und entfalten können. Ein Grundkonflikt menschlicher Existenz und der Kern der Diskussion über nachhaltige Entwicklung liegt darin, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Entfaltung der individuellen Bedürfnisse und der Begrenztheit der verfügbaren Ressourcen und Mittel herzustellen, deren Degradierung zu vermeiden ist. Grundsätzlich können sich Strategien zum Ausgleich von Bedürfniszielen und vorhandenen Ressourcen (von Soll- und Ist-Zustand) auf folgende Einflußfaktoren konzentrieren.7
1. Ökoverträgliche Nutzung natürlicher Ressourcen (Konsistenz):
Der Ressourcenverbrauch muß mit den natürlichen Stoff- und Energieströmen verträglich sein. Grenzen sind zum einen durch die Endlichkeit nicht-erneuerbarer Ressourcen gegeben, durch die begrenzte Regenerationsfähigkeit erneuerbarer Ressourcen und durch die Aufnahmefähigkeit der Natur gegenüber Abfällen. Die Erhaltung der Regeneration kann etwa geschehen durch Schaffung von Naturreservaten, Begrenzung von Nutzungs- und Ernteraten, Verbesserung der Regenerationsfähigkeit, Anpflanzungen und Erhalt gefährdeter Arten.
2. Verbesserte Wirksamkeit der Ressourcennutzung (Effizienzsteigerung):
Wie wirksam eine Ressource in die Befriedigung von Bedürfnissen umgesetzt werden kann, hängt ab von der Effizienz ihrer Gewinnung, Umwandlung, Nutzung und Regeneration. Die Ressourcennutzung wird durch Einsparen, strukturelle Änderungen, technische Mittel und »Einfallsreichtum« effizienter gemacht, so daß Bedürfnisse mit weniger Ressourcen befriedigt werden können (Entkopplung von Ressourcenverbrauch und Wohlstand/Lebensqualität).
3. Verringerung der Risiken (Schadensvermeidung):
Sofern der Ressourcenkonsum mit Gefährdungen und Schäden für eigene Bedürfnisse oder die anderer verbunden ist (z.B. durch freigesetzte Umweltgifte und Radioaktivität), ist entweder die Schadensursache zu beseitigen oder in ihren Folgenwirkungen auf ein verträgliches Niveau zu begrenzen (z.B. durch vereinbarte Abkommen).
4. Einflußnahme auf die gesellschaftlichen Verteilungsverhältnisse der Ressourcennutzung (Verteilungsgerechtigkeit):
Welchen Anteil Individuen vom Ressourcenkuchen nutzen können, hängt ab von den gesellschaftlichen Verteilungsprozessen und damit von Macht- und Interessenstrukturen. Die Abweichung von dem Mittelwert, der sich bei einer formal »gerechten« Verteilung pro Kopf der Bevölkerung ergäbe, ist ein Indikator für die Verteilungsungerechtigkeit. Durch Einsatz oder Androhung von Machtmitteln kann der Anteil zu eigenen Gunsten erhöht werden, während Demokratie, Recht und Sozialsystem einen gerechteren Ausgleich ermöglichen sollten.
5. Veränderung der Bedürfnisziele (Suffizienz):
Die Bedürfnisstruktur selbst wird geändert und an die natürlichen Rahmenbedingungen angepaßt. Im ersten Fall wird das vorhandene als »ausreichend« angesehen (es genügt), so daß keine weiteren Anstrengungen zur Bedürfnisbefriedigung unternommen werden. Im zweiten Fall werden »ersatzweise« neue Bedürfnisziele angestrebt, die mit anderen oder weniger Naturresourcen auskommen. Das potentiell unendliche Feld menschlicher Bedürfnisse wird durch externe Begrenzungen (vorhandenes Einkommen, verfügbare Mittel und Zeit, gesellschaftliche Rahmenbedingungen) und interne Begrenzungen (Ansprüche, religiöse oder ethische Selbstbeschränkung, Trägheit, ungenügende Kenntnis der Möglichkeiten, Aufnahmefähigkeit) eingeschränkt. Unterhalb der für die eigene Existenz notwendigen Minimalbedürfnisse ist keine Freiheit der Entscheidung mehr gegeben.
Die Diskussion um »sustainable development« dreht sich im Kern um diese fünf Konzepte, wobei jeweils unterschiedliche Prioritäten gesetzt werden. Nachhaltige Entwicklung versucht, die Entwicklung der vom Menschen geschaffenen Welt (Soziosphäre) in den begrenzten Rahmen der natürlichen Umwelt (Ökosphäre) dauerhaft einzubetten. Der Bezug zur Bedürfnisbefriedigung wird schon in der ursprünglichen Definition des Brundtland-Berichts hergestellt, denn hier wird das Ziel formuliert, „die Bedürfnisse heutiger Generationen zu befriedigen, ohne die Bedürfnisse kommender Generationen zu gefährden.“ 8 Menschliche Bedürfnisse werden somit zum entscheidenden Maßstab für nachhaltige Entwicklung, also eine subjektive, auf individuellen Wertmaßstäben basierende Größe. Aus der Forderung nach einer Gleichberechtigung zwischen den Bedürfnissen gegenwärtiger und zukünftiger Generationen ergibt sich die Notwendigkeit der Erhaltung des Umweltraums.
Für Individuen und soziale Gruppen ist der zur Verfügung stehende Umwelt- und Lebensraum jedoch nicht nur durch natürliche Grenzen gesetzt, sondern auch durch gesellschaftliche und politische Grenzen. Während die wohlhabenden Bewohner der entwickelten Industrienationen derzeit noch ganz gut auf Kosten räumlich und zeitlich entfernter Menschen leben, geht es den Menschen in Entwicklungländern derzeit weniger aufgrund von Naturgrenzen schlecht als vielmehr wegen ungerechter Macht- und Verteilungverhältnisse. Ihre Überwindung ist ohne Konflikte wahrscheinlich nicht zu haben. Konzepte nachhaltiger Entwicklung sind nur dann ethisch konsistent, wenn sie die Prinzipien der Gerechtigkeit und Solidarität nicht nur für zukünftig entfernt lebende Menschen gelten lassen, sondern auch für heute in Elend lebende Menschen.9 Eine integrierte Strategie nachhaltiger Entwicklung muß den Zusammenhang aller fünf Einflußfaktoren untersuchen und das damit verbundene gesellschaftliche Veränderungs- und Konfliktpotential. So betrifft die Frage nach der Änderung der Bedürfnisstruktur die Suche nach alternativen gesellschaftlichen Leitbildern und Lebensformen. Die Aufgaben der Risikominderung und der Verteilungsgerechtigkeit betreffen unmittelbar die Macht- und Interessenstrukturen der Gesellschaft. Ihre weitgehende Ausblendung hat maßgeblich mit zu der Kritik an »nachhaltiger Herrschaftssicherung« beigetragen.10
Zukunftsaufgaben von Frieden und nachhaltiger Entwicklung
Die Friedensdimension von nachhaltiger Entwicklung ist in dem bisher gesagten immer wieder angeklungen. Tatsächlich bedingen sich die beiden Konzepte des Friedens und der nachhaltigen Entwicklung wechselseitig, im negativen wie im positiven Sinne.11 Die hier vertretene und weiter zu untersuchende These ist: Ohne Frieden kann nachhaltige Entwicklung an gewalttätig ausgetragenen Interessenkonflikten scheitern; und ohne nachhaltige Entwicklung wird ein friedliches Zusammenleben der Menschen angesichts von Ressourcenkonflikten kaum zu erreichen sein. Es ist eine zentrale Frage, ob es gelingt, den angesprochenen Teufelskreis aus Wachstum, Macht und Gewalt zu durchbrechen und den Übergang in eine zugleich friedliche und nachhaltige Welt zu schaffen. In der Übergangsphase werden die sozialen Systeme und Konfliktregelungsmechanismen enormen Belastungen und Anforderungen ausgesetzt.
Während die Debatte über den Begriff der nachhaltigen Entwicklung recht jung ist, kann der Friedensbegriff auf eine lange Tradition verweisen.12 Die Visionen vom Frieden können als Vorbild für Zukunftsentwürfe und alternative Gesellschaftsbilder dienen, so auch für das Konzept der nachhaltigen Entwicklung. Die Verbindung beider Bereiche zeigt sich auch daran, daß es bei »BedürfnisbeFriedigung« darum geht, Menschen »zuFrieden« zu stellen. Eine mögliche positive Verbindung und gegenseitige Stärkung beider Zukunftskonzepte soll auf folgenden Ebenen angedeutet werden.
1. Eindämmung von Wachstum, Macht und Gewalt:
Die Kopplung aus Wachstum, Macht und Gewalt ist zu durchbrechen. Die Implementierung von ökologischen, ökonomischen und technologischen Wachstumsgrenzen verringert auch das Wachstum von Macht- und Gewaltmitteln. Die Entschleunigung der Wachstumsdynamik schafft Zeit zum Aufbau demokratischer und rechtlich abgesicherter politischer und gesellschaftlicher Strukturen zur Kontrolle von Macht und Gewalt. Die Begrenzung von Macht- und Gewaltmitteln (etwa durch Abrüstung) schafft Vertrauen und setzt Ressourcen frei für die kooperative Durchsetzung von nachhaltiger Entwicklung. Eine Einhegung willkürlicher Machtausübung (insbesondere der letzten Supermacht USA) kann nicht durch die Steigerung der militärischen Bedrohung geschehen, sondern durch die Einbindung in ein Gewebe von kooperativen Beziehungen auf unterschiedlichen Ebenen, die in internationalen Regimen ihren Ausdruck finden. Eine demokratische Machtteilung durch Beteiligung von Betroffenen ist anzustreben.
Das deutlichste Symbol der Fehlentwicklung ist die Atombombe, die ungehemmtes Wachstum (Kettenraktion), unvorstellbare Gewalt und Zerstörung (Druckwelle, Feuer, radioaktive Strahlung) und überzogene Allmachtphantasien (Weltherrschaft) miteinander vereint. Ihre Abschaffung würde dem Dreieck aus Wachstum, Macht und Gewalt die Spitzen nehmen und sollte auch ein zentrales Anliegen von Konzepten nachhaltiger Entwicklung sein.
2. Leitbilder und Lebensformen:
Konzepte von Frieden und nachhaltiger Entwicklung gründen auf ähnlichen Leitbildern und Lebensformen, die sich gegenseitig befruchten können. Leitbilder des Friedens (etwa Gewaltfreiheit, Gerechtigkeit, Menschenrechte, Verständigung, Vermittlung) sind für die Realisierung von nachhaltiger Entwicklung von unmittelbarer Bedeutung. Die Studie »Zukunftsfähiges Deutschland« hat acht Leitbilder vorgestellt, die als Handlungsentwürfe für Akteure in unterschiedlichen sozialen Feldern zu verstehen sind.13 Diese betreffen den Anspruch, ein rechtes Maß für Raum und Zeit herstellen zu wollen; das Ziel einer ökologischen Marktwirtschaft; den Übergang von linearen zu zyklischen Produktionsprozessen; die Einstellung, lieber gut zu leben als viel zu haben; die Schaffung einer lernfähigen Infrastruktur; den Ausbau der Stadt zum Lebensraum; die Regeneration von Land und Landwirtschaft und schließlich die Suche nach internationaler Gerechtigkeit und globaler Nachbarschaft. Einige dieser Leitbilder sind in Friedenskonzepten von Kant bis Galtung enthalten. So fordert Galtung in seinen »Visionen einer friedlichen Welt« ein geändertes Verhältnis zu Raum und Zeit und betont die Notwendigkeit eines holistischen, dialektischen Denkens, die Partnerschaft mit der Natur, die Gerechtigkeit zwischen Menschen.14
3. Erhaltende Entfaltung des Lebens:
Frieden basiert auf den in den Menschenrechten festgelegten Grundrechten des Individuums auf „Existenzerhaltung des einzelnen aufgrund abnehmender Gewalt“ und „kontinuierliche Existenzentfaltung des einzelnen aufgrund zunehmender Gleichverteilung von Entfaltungschancen.“ 15 Entsprechend geht es im Konzept der nachhaltigen Entwicklung zum einen um Entwicklung im Sinne einer Entfaltung der Möglichkeiten und Fähigkeiten von Individuen und sozialen Systemen, zum anderen um die Erhaltung der dazu erforderlichen natürlichen Lebensgrundlagen. Statt durch das Wachstum materieller und energetischer Güter Grenzen zu zerstören, würde mit der Entfaltung in einen vieldimensionalen Werteraum hinein die Erhaltung natürlicher Bedingungen und Grenzen gesichert. Kurz: die Erhaltung soll der Entfaltung dienen, zugleich soll die Entfaltung eine erhaltende sein.16 Sustainable development könnte daher auch übersetzt werden mit »erhaltender Entfaltung«, was ausdrückt, daß es um eine interaktive und permanente Einflußnahme geht.
Während mit der Nachhaltigkeit die Entfaltung des Individuums an die Erhaltung der Umwelt gebunden ist, wird im Frieden die Existenzerhaltung des Individuums zur Grundvoraussetzung für seine Entfaltung. Zugleich ist menschliche Existenz ohne Entfaltung, die zur Selbstverwirklichung des einzelnen gehört, in Frage gestellt. Sie schafft rückwirkend auch die Bedingungen für die Existenzerhaltung in einer sich ändernden Welt.
4. Sicherheit zwischen Identität und Vielfalt:
Sicherheit betrifft die Erwartung, in Zukunft angestrebte identitätsbildende Werte gegenüber potentiellen Bedrohungen aufrecht erhalten zu können, also eine Differenz zwischen Chance und Risiko. In einer sich dynamisch wandelnden globalen Risikogesellschaft treten immer neue Bedrohungen von Sicherheit in Erscheinung, was zu einer Erweiterung des Sicherheitsbegriffes um ökonomische oder ökologische Dimensionen führt.17 Grundsätzlich stellt sich die Frage, wer Sicherheitsrisiken zu tragen hat und wer einen Nutzen hat, wer die Verursacher und wer die Leidtragenden sind, wer ein Risiko für wen als akzeptabel einstuft. Von besonderer Bedeutung sind die Kriterien der Identität, die es zu sichern und zu behaupten gilt. Die Antworten können höchst unterschiedlich ausfallen, je nachdem ob sich die Identifikation auf die Person, eine soziale Gruppe, die Nation oder die ganze Welt bezieht. Während die globale Krise zur Auflösung sozialer Bindungen und damit zum Verlust von Identitäten führt, was oftmals Gewalt provoziert, zielen Frieden und nachhaltige Entwicklung auf die Sicherung bestehender und die Schaffung neuer Identitäten. Vielfalt der Identitäten ist eine Voraussetzung um die Dominanz einer »Mono-Kultur« (etwa der westlichen) zu verhindern und mittels Durchmischung das Entstehen von Feindbildern zu vermeiden.
5. Kooperative Konfliktlösung als schöpferisches Prinzip:
Konfliktpotential sei hier verstanden als ein Spannungsgefälle zwischen angestrebtem Bedürfnisziel und dem tatsächlich erreichten Wert. Die Überbrückung dieser Differenz (die Bedürfnisbefriedigung) ist Anlaß zum Handeln. Das Konfliktpotential kann durch erfolgreichen Mitteleinsatz, aber auch durch Rücknahme des Bedarfs abgebaut werden. Es wird deutlich, daß nachhaltige Entwicklung, die auf die gleichberechtigte Herstellung von Gleichgewichten zwischen Bedürfnissen und vorhandenen Ressourcen zwischen mehreren Akteuren zielt, ein wesentlicher Beitrag zur kooperativen Konfliktvermeidung und -lösung sein kann. Um die Konflikte, die bei der Implementierung nachhaltiger Entwicklung selbst auftreten können (Konflikte zwischen Werten, gesellschaftlichen Gruppen, Staaten und Generationen), zu bewältigen, ist ein Verhandlungsprozeß anzustreben, in dem die beteiligten Akteure über ihre Interessen, die verfügbaren Ressourcen und Mittel und die Strategien zum Ausgleich im Sinne der oben beschriebenen fünf Konzepte verhandeln können. Durch die Beschränkung auf konstruktive Konfliktmittel würden zuvor schlummernde geistige und physische Potentiale zur Problemlösung freigesetzt; Konflikte könnten dann als das von Dahrendorf einst angesprochene »fruchtbare und schöpferische Prinzip« dienen.18
6. Die Zukunft hier und heute gestalten:
Um die globale Krise in den Griff zu bekommen und den Menschen der Zukunft eine lebenswerte Welt erhalten zu können, muß jetzt gehandelt werden. Der heute noch bestehende Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum darf für zukünftige Generationen nicht verloren gehen. Daher müssen Wege gefunden werden, Optionen zu erhalten oder neue zu schaffen. Irreversible Fehlentwicklungen, bei denen Zukunftschancen für immer verloren gehen, müssen vermieden werden, etwa der Verlust von Arten und Wäldern, die Ausbreitung von Wüsten, die Überschwemmung von Küstenregionen oder die Freisetzung langlebiger Radioaktivität. Die Nutzung natürlicher Ressourcen darf ihre Regenerationsrate nicht überschreiten. Auf allen Ebenen müssen nachhaltige gesellschaftliche Strukturen geschaffen werden, die nicht nur die Stabilität der Ökosphäre garantieren, sondern selbst stabil sind gegenüber den Turbulenzen der Zukunft. Von besonderer Bedeutung ist die Schaffung eines nachhaltigen Rechts, das zukünftigen Generationen Garantien gegenüber Machtwillkür und Gewalt bietet, sowie der Ausbau von konstruktiven und kooperativen Konfliktregelungsmechanismen, die nicht gleich unter dem ersten Ansturm zusammenbrechen. Eine gemeinsame Arbeit an Konzepten von Frieden und nachhaltiger Entwicklung, die auf breite Akzeptanz, Vermittlung und Überbrückung von Gegensätzen, auf Kooperation und auf die Lösung von Konflikten zielen, ist ein wesentlicher Beitrag zur Gestaltung der Zukunft.
Gestalten bedeutet jedoch nicht, daß der Mensch sich zum Manager über die »außer Kontrolle geratene Naturmaschinerie« erhebt und an ihren entscheidenden Knöpfen dreht, um eine Havarie zu verhindern. Eher meint Gestalten die Schaffung lebendiger Strukturen innerhalb der natürlichen Netzwerke, die einem dauerhaften Gleichgewicht von Werden und Vergehen, von Wollen und Können entsprechen. Mit der Natur handeln, statt wider sie lautet die Devise (Hans-Peter Dürr). Dies bedeutet auch, daß der Mensch dort, wo er lebt, verantwortlich handelt. In einem regional-partizipativen Ansatz können die individuellen Werte und Einflußmöglichkeiten, die spezifischen Gegebenheiten und Möglichkeiten einzelner Regionen weitaus besser entfaltet werden als in einem vorwiegend globalen Lösungsansatz, bei dem die Ohnmacht des Individuums übermächtig wird.
Anmerkungen
1) In Deutschland v.a. durch: BUND/Misereor (Hrsg.), Zukunftsfähiges Deutschland. Ein Beitrag zu einer global nachhaltigen Entwicklung, Studie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, Basel et al.: Birkhäuser 1996. Zurück
2) Der Begriff wurde geprägt durch M. Wöhlcke, Soziale Entropie, München: dtv, 1996. Zurück
3) I. Hauchler, Globale Trends 1996, Stiftung Entwicklung und Frieden, Frankfurt: Fischer, 1995. Zurück
4) Siehe die Kontroverse: H. Markl, Pflicht zur Widernatürlichkeit, Der Spiegel, Nr. 48/1995; H.-P. Dürr, Pflicht zur Mitnatürlichkeit, Der Spiegel, Nr.5/1996, S. 154-155. Zurück
5) Siehe die Synthese des ENCOP-Projekts an der ETH-Zürich in diesem Heft sowie die Synopse des Projekts über Umwelt, Bevölkerung und Sicherheit an der Universität von Toronto in T. Homer-Dixon, V. Percival, Environmental Scarcity and Violent Conflict: Briefing Book, University of Toronto, AAAS, 1996. Zurück
6) Siehe W. Bender, u.a., Energiekonflikte – Wird die Menschheit das Energieproblem friedlich lösen? Dossier 22, Wissenschaft und Frieden, 2/1996. Zurück
7) Im Rahmen eines vom Autor entwickelten mathematischen Modells kann das nachhaltige Verhältnis aus angestrebtem »Bedürfnisnutzen«, nachhaltiger Ressourcennutzungsrate, Wohlstands- und Risikoeffekt der Ressourcen und gesellschaftlich bedingtem Ressourcenanteil in einer Gleichung zusammengefaßt werden. Die fünf Variablen entsprechen den folgenden fünf Konzepten nachhaltiger Entwicklung. Siehe J. Scheffran, Modelling Environmental Conflicts and International Stability, in: R.K. Huber, R. Avenhaus (Eds), Models for Security Policy in the Post-Cold Era, Baden-Baden: Nomos-Verlag, 1996, S. 201-220. Zurück
8) V. Hauff (Hrsg.), Unsere gemeinsame Zukunft, Greven 1987. Der Begriff wird von verschiedenen Blickwinkeln u.a. beleuchtet in: P. Fritz, J. Huber, H.W. Levi, Nachhaltigkeit in naturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Perspektive, Stuttgart: S. Hirzel Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 1995. Zurück
9) Siehe M. Kalinowski, Über den engen Horizont hinaus. Versuche zur Einbeziehung der Interessen zeitlich und räumlich weit entfernt Betroffener in die Technikfolgen-Abschätzung, Wechselwirkung Nr. 60, April 1993, S. 11-14; M. Kalinowski, Kriterien für Ganzwelt- und Zukunftsorientierung, Darmstadt, IANUS Arbeitspapier 3/1996. Zurück
10) Siehe hierzu die Diskussion in Forum Wissenschaft, 3/1994. Zurück
11) Damit verbundene Fragen werden auch angesprochen in J. Scheffran, Frieden und nachhaltige Entwicklung, in: W. Vogt, Kultur des Friedens, Beiträge zum UNESCO Programm »Kultur des Friedens« (in Vorbereitung 1996). Zurück
12) Zur Ideengeschichte siehe etwa das Sammelwerk D. Senghaas (Hrsg.), Den Frieden denken, edition suhrkamp, 1995. Zurück
13) BUND/Misereor 1996, a.a.O., Kapitel 4. Zurück
14) J. Galtung, Visionen einer friedlichen Welt, in: Senghaas 1995, S. 385-418. Zurück
15) E.-O. Czempiel, Der Friede – sein Begriff, seine Strategien, in: Senghaas 1995, S. 165-176, hier S. 170. Zurück
16) Siehe W. Bender, Erhaltung und Entfaltung als Kriterien für die Gestaltung von Wissenschaft und Technik, IANUS-Arbeitsbericht 9/1991. Zurück
17) Zur Kritik des erweiterten Sicherheitsbegriffs siehe C. Daase, Ökologische Sicherheit: Konzept oder Leerformel? in: B. Meyer, C. Wellmann (Red.), Umweltzerstörung: Kriegsfolge und Kriegsursache, Frankfurt: edition suhrkamp, 1992, S. 21-52; L. Brock, Friedensforschung im Zeichen immer neuer Kriege, AFB-Texte 1/94. Zurück
18) Siehe R. Dahrendorf, Konflikt und Kontrolle im internationalen System, in: U. Nerlich (Hrsg.), Krieg und Frieden im industriellen Zeitalter, Beiträge der Sozialwissenschaft, Band I, Bertelsmann Verlag 1966, S. 310-320; Nachdruck eines Beitrags aus dem Jahr 1963. Zurück
Dr. Jürgen Scheffran ist wissenschaftlicher Assistent in der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) an der TH Darmstadt.