W&F 1996/3

Leitbilder für nachhaltige Entwicklung und Frieden

von Wolfgang Bender

In dem Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung »Unsere gemeinsame Zukunft« – 1983 durch die Vereinten Nationen in Auftrag gegeben – wird der Ausdruck »sustainable development« als politischer Leitbegriff eingeführt. Der Brundtland-Bericht – so wird inzwischen das Dokument nach der Kommissions-Vorsitzenden Gro Harlem Brundtland genannt – wollte damit eine Entwicklung bezeichnen, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht mehr befriedigen können. Im Vordergrund stand damals die dauerhafte Überwindung der Armut.

Dieser Bericht ebnete den Weg zur »United Nations Conference on Environment and Development« (UNCED), der Konferenz für Umwelt und Entwicklung, die 1992 in Rio de Janeiro stattfand. Seitdem ist die ökologische Dimension des Begriffs »sustainable development« klar erkannt. Der seit den achtziger Jahren auf den verschiedensten Ebenen laufende Prozeß der Analyse der Weltsituation, des Nachdenkens und des Austauschs darüber hat dazu geführt, daß »sustainable development« zu einem allgemein akzeptierten Leitbegriff für politisches Handeln geworden ist. Dies bedeutet allerdings noch nicht, daß die Inhalte des Begriffs schon hinreichend geklärt und auch darüber Einmütigkeit erzielt seien. Es heißt auch nicht, daß er die praktische Politik auf nationaler und internationaler Ebene oder die Entscheidungen anderer gesellschaftlicher Akteure schon wesentlich beeinflußt. Aus diesem Grund werden im Folgenden Informationen zusammengetragen und Überlegungen angestellt, die sowohl zur inhaltlichen Präzisierung als auch zur gesellschaftlichen Umsetzung einer notwendigen Leitidee beitragen können. Leitendes Motiv wird dabei die Frage nach den ethischen Dimensionen des Begriffs der »nachhaltigen Entwicklung« – diese Übersetzung wird inzwischen allgemein gebraucht – sein.

Ethische Dimensionen eines Leitbegriffs

In der Tat ist der politische Begriff der nachhaltigen Entwicklung kein analytischer, sondern ein normativer. Er stellt ein Handlungsziel vor, an dem sich gesellschaftliche und politische Entscheidungen orientieren sollen. In ihm sind zwei ethische Leitideen – Immanuel Kant sprach von regulativen Ideen, an denen sich alle unseren Handlungen auszurichten hätten – enthalten: die einer umfassenden Gerechtigkeit und die der Bewahrung der Natur.

Umfassende Gerechtigkeit

Was ist Gerechtigkeit? Hier kann natürlich kein Traktat geschrieben und auch nicht die verzweigte Diskussion über die Gerechtigkeit wiedergegeben werden.1 Ich hebe nur einige Gesichtspunkte hervor, die mir angesichts der gegenwärtigen Situation in unseren Gesellschaften besonders wichtig zu sein scheinen. Es war und ist weitgehend unbestritten, daß ein bestimmendes Merkmal der Gerechtigkeit die Gleichheit ist. Gleichheit kann sich beziehen auf die persönlichen Grundfreiheiten wie Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Freiheit der Berufs- oder der Partnerwahl, auf die Lebenschancen und die Einflußmöglichkeiten sowie auf die Verteilung von Gütern. In vielen Gesellschaften, aber nicht in allen, ist das gleiche Recht aller auf die persönlichen Grundfreiheiten grundsätzlich akzeptiert und verfassungsrechtlich abgesichert. Ähnliches gilt für die Gleichheit der Chancen, aufgrund einer qualifizierten Bildung und Ausbildung Ämter und Positionen einnehmen zu können, die Einflußmöglichkeiten auf die Mitgestaltung des gesellschaftlichen Lebens eröffnen. In allen Gesellschaften werden dagegen Ungleichheiten bei der Verteilung von Gütern, Einkommen und Vermögen als mit der Gerechtigkeit vereinbar angesehen, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Diese Bedingungen sind unterschiedlicher Art und umstritten. Für manche reicht es bereits aus, wenn die – mitunter ja sehr beträchtlichen Güter – rechtmäßig erworben und somit durch einen gültigen Eigentumstitel abgesichert sind. Andere knüpfen eine Bedingung daran, daß ein solcher Titel erhalten bleibt; sie sprechen von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums, zum Beispiel des Großgrundbesitzes oder des Besitzes von Kapital oder von Produktionsmitteln. Oder es wird – wie in der Theorie der Gerechtigkeit von J. Rawls – gefordert, daß die Ungleichheiten von Einkommen und Vermögen mit Vorteilen für die Benachteiligten – die ohne diese Ungleichheiten nicht erreicht werden könnten – verbunden sein müßten. Faktisch sind in allen Gesellschaften, keinesfalls nur in den Entwicklungsländern, ganz erhebliche Ungleichheiten im Hinblick auf die Verteilung von Gütern zu beobachten. Häufig werden sie unter Hinweis auf eine der genannten Bedingungen gerechtfertigt.

Diese Rechtfertigungen sind fragwürdig. Ich möchte dies durch die folgende Überlegung plausibel machen: Selbst in konservativen gesellschaftlichen Ordnungstheorien wird das Recht auf privates Eigentum – auch an Grund und Boden sowie an Produktionsmitteln – damit begründet, daß es als materielle Grundlage zur Ausübung der personalen Freiheitsrechte notwendig sei. Mit anderen Worten, eine Person braucht Eigentum, wenn sie sich frei entfalten können will. Wer also kein Eigentum hat, um dessen persönliche Freiheitsrechte und um dessen Chancengleichheit, die theoretisch zugestanden und oft rechtlich verbrieft wird, ist es schlecht bestellt. Wer aber materiell gut ausgestattet ist, der hat die besseren Chancen der Selbstverwirklichung und der gesellschaftlichen Einflußnahme.

Zur Gerechtigkeit gehören Freiheit und Gleichheit. Freiheit gibt es nicht unabhängig von Gleichheit. Angesichts der gravierenden Ungleichheiten in der Verteilung der Güter ist nach dem regulativen Prinzip zu verfahren, mehr Gleichheit herzustellen. Allerdings müssen auch situationsbezogene Ungleichheiten berücksichtigt werden. So würde es nicht gegen Grundsätze der Gerechtigkeit und Gleichheit verstoßen, wenn Menschen in kälteren Zonen der Erde ein höheres Quantum an Energieverbrauch zugestanden würde als in den warmen Erdteilen oder wenn jungen Menschen, die ihre persönliche, berufliche und familiäre Zukunft gestalten wollen, ein höheres Einkommen zugebilligt würde als älteren. Nur durch die Berücksichtigung solcher situationsbezogenen Ungleichheiten kann die Gleichheit im Sinne von Gerechtigkeit verwirklicht werden. Mag man dem auch noch im Grundsatz zustimmen, so wird der Streit um die konkrete Realisierung heftig entbrennen. Es ist aber in jedem Fall besser, den Konflikt um die Gleichheit aufzunehmen, nach Kompromissen und Verständigungsmöglichkeiten zu suchen, als das Thema Gleichheit vorzeitig durch fragwürdige Rechtfertigungen von Ungleichheiten zu beschließen.

Wenn ich von »umfassender« Gerechtigkeit gesprochen habe, dann hatte ich zum einen diesen Zusammenhang von Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit im Blick. Mit umfassender Gerechtigkeit verbinde ich aber auch deren globale und zukunftsorientierte Dimension. Die Gerechtigkeitsforderungen gelten nicht nur in den eigenen nationalen Gesellschaften und Staatenbündnissen, sondern weltweit; Gerechtigkeit ist auch als internationale Gerechtigkeit zu verwirklichen. Nachdem wir um die erhebliche zeitliche Reichweite menschlicher Handlungen und ihrer beabsichtigten und nichtbeabsichtigten, vorhergesehenen, vorhersehbaren und nicht vorhergesehenen Folgen wissen, tritt auch die Zukunftsdimension der Gerechtigkeit gegenüber den kommenden Generationen – die intergenerationelle Gerechtigkeit – als Sollensforderung auf.

Bewahrung der Natur

Mit Gerechtigkeit ist der soziale, mit Bewahrung der Natur der ökologische Imperativ im politischen Leitbegriff der nachhaltigen Entwicklung angesprochen. Bereits die frühen Agrarkulturen kannten diesen Imperativ und tradierten ihn, so wie es die biblische Schöpfungserzählung mit dem Auftrag, den Garten zu bebauen und zu bewahren, tut. In den Zeiten der Kolonisierung und des zunächst so beeindruckenden Fortschritts der naturwissenschaftlich-technischen Zivilisation ist dieser Imperativ nahezu völlig in Vergessenheit geraten. Der Prozeß eines Umdenkens wurde entscheidend durch den ersten Bericht des Club of Rome »Die Grenzen des Wachstums« aus dem Anfang der siebziger Jahre gefördert. Die Ressourcen sind begrenzt, hieß die erste Einsicht, die Aufnahmefähigkeit für die Relikte ihres Verbrauchs ebenfalls, lautete eine zweite. Das Bewußtsein von einer Risikogesellschaft, die niemand ernsthaft auf Dauer wollen kann, verbreitete sich. Die internationale Anerkennung fand der ökologische Imperativ in der Agenda 21 der Konferenz von Rio de Janeiro.

Was aber beinhaltet dieser Imperativ? Worauf bezieht er sich? Er bezieht sich auf das komplizierte Beziehungsgeflecht zwischen anorganischen Materialien und lebenden Organismen, zwischen begrünter Erde, Wasser und Luft, zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen, zwischen menschlicher Zivilisation und „natürlicher“ Umwelt samt ihrer Artenvielfalt. Der ökologische Imperativ von der Bewahrung der Natur fordert, daß die Bedingungen des Lebens auf der Erde erhalten bleiben und gefördert werden. Insofern diese Bedingungen durch menschliche Aktivitäten bereits erheblich gefährdet worden sind und es weiter werden, fordert die erste und elementarste Stufe der Verwirklichung des ökologischen Imperativs die entschiedene Minderung dieser Beeinträchtigungen, eine zweite Stufe ihre Beseitigung und eine dritte die Förderung der lebensfreundlichen Zusammenhänge auf der Erde. Diese Stufen sind nicht so zu verstehen, als ob sie nur nacheinander zu realisieren wären. Sie sind gleichzeitig in Angriff zu nehmen, wobei aber ohne die entschiedene Arbeit an der Verminderung der Ausbeutungen und Schädigungen die an zweiter und dritter Stelle genannten Ziele nicht sinnvoll in Angriff genommen werden können.2

Bewahrung der Natur und Gerechtigkeit

Die ökologische Krise ist nicht ohne die Lösung der gesellschaftlichen Krisen zu bewältigen.3

Auch diesen Zusammenhang bringt der Leitbegriff der nachhaltigen Entwicklung auf eine Formel. Bezüglich der ethischen Imperative der Bewahrung der Natur und der Gerechtigkeit bedeutet dies, daß sie gleichrangig zu berücksichtigen sind. Will man die zusammengehörigen Gesichtspunkte in einem einzigen Imperativ – ausdrücken, so bietet sich die folgende Formulierung an: „Handle so, daß du das personale (soziale, emotionale, musische, sittliche, religiöse) Leben in dir und anderen eher mehrst und entfaltest denn minderst oder verkürzt.“ 4

Dieses sogenannte Biophilie-Postulat – das Postulat der Lebensfreundlichkeit – hat die Erhaltung und Entfaltung des menschlichen Lebens zum Ziel und bleibt somit anthropozentrisch. Es ist in jedem Fall mit der Einsicht zu verbinden, daß personales Leben nur im Zusammenhang alles Lebendigen und seiner Umwelt geschützt und gefördert werden kann. Daraus ergibt sich eine Erweiterung des Postulats: „Handle so, daß du das Leben in dir und allem Lebendigen eher mehrst und entfaltest denn minderst oder verkürzt.“ 5

Dann muß aber geklärt werden, wo die Grenzen des Imperativs – zum Beispiel bei Krankheitserregern oder Schädlingen, beim Überhandnehmen einer Population auf Kosten einer anderen, bei den Notwendigkeiten der Ernährung – liegen. Andererseits aber scheint es wiederum nicht weit genug, da es dem Zusammenhang zwischen dem Organischen und Anorganischen nicht ausdrücklich Rechnung trägt. Dies versucht das ökologisch motivierte Prinzip einer universalen Partnerschaft: „Alle heutigen und künftigen Systeme, die hinreichend einmalig und unersetzlich sind, haben gleiches Recht auf Erhaltung und Entfaltung.“ 6

Die drei vorgestellten Imperative sind nicht strikt und unbedingt einzuhaltende Normen – wie zum Beispiel das Verbot des Tötens eines unschuldigen Menschen oder das Verbot der Folter –, bei deren Mißachtung der Bereich des verantwortbaren Handelns verlassen worden ist. Es handelt sich aber um Zielvorstellungen sittlichen Handelns, die als Richtschnur im Auge zu behalten sind und deren Konkretisierung Aufgabe gemeinsamer ethischer Urteilsbildungsprozesse ist. Wie solche Konkretisierungen möglich sein können, soll zunächst anhand der Studie »Zukunftsfähiges Deutschland«7 gezeigt werden.

Die Leitbilder der Studie »Zukunftsfähiges Deutschland«

Die genannte Studie wurde vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und dem Bischöflichen Werk Misereor, der Entwicklungshilfeorganisation des deutschen Katholizismus, in Auftrag gegeben. Beide Institutionen hatten sich bereits mit dem Projekt der nachhaltigen Entwicklung beschäftigt, als sich ihre Vertreter bei der Weltumweltkonferenz in Rio de Janeiro über gemeinsame Intentionen austauschen konnten und schließlich den Plan faßten, eine gemeinsame Studie in Auftrag zu geben. Darin sollte gezeigt werden, was nachhaltige Entwicklung für die Bundsrepublik Deutschland bedeute. Die Studie wurde vom Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie angefertigt.

Die Autoren benennen zunächst die Grenzen der ökologischen Belastbarkeit, stellen anhand des Umweltraum-Konzepts Umweltziele auf und errechnen Reduktionsziele. Im Zentrum der Studie stehen jedoch die Leitbilder. Ihnen fällt die Aufgabe zu, die nüchternen Reduktionsziele in den Zusammenhang sinnvoller, zukunftsfähiger Lebens- und Gesellschaftsentwürfe zu stellen und Realutopien aufzuzeigen, die die verschiedenen Akteure zum Handeln motivieren können. Die Leitbilder folgen aus diesem Grund keiner systematischen Ordnung, sondern fassen aus unterschiedlichen Perspektiven – der Perspektive der Produzenten oder der Konsumenten, der Stadt- oder der Landbewohner, der Wirtschaftler oder der Strukturplaner – das gemeinsame Ziel eines zukunftsfähigen Deutschlands ins Auge.

Insgesamt werden acht Leitbilder vorgestellt: „Rechtes Maß für Raum und Zeit.- Eine grüne Markt-agenda. – Von linearen zu zyklischen Produktionsprozessen. – Gut leben statt viel haben. – Für eine lernfähige Infrastruktur. – Regeneration von Land und Landwirtschaft. – Stadt als Lebensraum.- Internationale Gerechtigkeit und globale Partnerschaft.“ Ich kann nur auf ein Leitbild näher eingehen, um daran die Argumentationsrichtung der Studie zu verdeutlichen.

Gut leben statt viel haben“ – »Wohlstand für alle« lautete die Devise während der ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg. Bereits in der studentischen Protestbewegung artikulierte sich ein »Überdruß am Überfluß«. In den siebziger Jahren wurde ein Wertewandel festgestellt: Es finde ein Übergang von der Orientierung an materiellen zu postmateriellen Werten statt. Die Entwürfe alternativer Lebensstile brachten die Suche nach einem neuen Lebens- und Gesellschaftskonzept zum Ausdruck. Tatsächlich kann aber nur sehr eingeschränkt – so die Autoren – von einem solchen Wertewandel die Rede sein. Sie meinen vielmehr, gestützt auf eine empirische Untersuchung, drei Gruppen von Konsumenten unterscheiden zu können:

  • „die »Alternativ-Umweltbewußten«, die hohe Selbstverwirklichungswerte haben und eher eine geringe Konsumorientierung“,
  • „die »aufgeschlossenen Wertpluralisten«, denen an Lebensgenuß und Erfolg liegt, wie sie auch Gesundheit und Umweltverantwortung schätzen“,
  • die »Konservativ-Umweltbewußten«, für die Familie, Sicherheit und sozialer Anstand wichtig sind. Sie achten auf zweckmäßigen Konsum, gehen sparsam … mit ihren Besitztümern um, reparieren viel, reisen wenig …“.8

Letztere würden sogar ein umweltfreundlicheres Verhalten an den Tag legen als die Alternativen. Solche Erkenntnisse sind wichtig, wenn es um die Motivationen geht, über die eine Verstärkung des am Leitbild »Gut leben statt viel haben« orientierten Verhaltens erreicht werden soll.

»Wohlstand light« könne zur Devise künftiger Konsumenten werden. Sie sind nicht nur an den Eigenschaften der Produkte, die sie kaufen wollen, sondern auch an den Prozessen, aus denen sie hervorgehen und in denen sie wieder beseitigt werden, interessiert. Sie werden selbstverständlich die ressourcenschonende Alternative wählen und dabei als Kriterien beachten: Sparsamkeit beim Verbrauch von Natur, Regionalorientierung, gemeinsame Nutzung der Güter und ihre Langlebigkeit.9

Die abschließenden Abschnitte »Zeitwohlstand statt Güterreichtum« und »Eleganz der Einfachheit« appellieren an den Leser, die Regel »Mehrarbeitszeit=Mehrgeld=Mehrglück« zu überdenken. Zeitgewinn kann Einkommensverluste ausgleichen und neue Möglichkeiten der Lebensgestaltung eröffnen. Dinge können zu Zeitdieben werden. Die Autoren erinnern an die Navajos, die mit 236 Dingen auskommen, während in unserer Kultur Durchschnittshaushalte bis zu 10.000 Dinge zur Verfügung haben; ihre Auswahl, ihr Einkauf, ihre Unterbringung, Nutzung, Wartung und Entsorgung erzeugen Zeitknappheit. Dies deutet darauf hin, daß materielle und immaterielle Bedürfnisse nicht gleichzeitig weiter entfaltet und befriedigt werden können. Die Lebenskunst besteht nicht darin, immer mehr Güter anzuhäufen, sondern in einem wohldosierten Umgang mit den materiellen Dingen und der bewußten Entscheidung, manche Dinge nicht brauchen zu müssen.

Das Leitbild eines zukunftsfähigen Gesellschaftsvertrags

Die Studie »Zukunftsfähiges Deutschland« konzentriert sich auf den ökologischen Aspekt einer nachhaltigen Entwicklung. Dies entspricht der Kompetenz eines Instituts für Klima, Umwelt, Energie. Die Autoren thematisieren immer wieder nicht nur die ethischen Zielvorstellungen der Bewahrung der Natur, sondern auch die der Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität. Verständlicherweise stehen aber auch bei Gerechtigkeit und Gleichheit die gleichwertige Verteilung der Anteile und der nachhaltig verantwortbaren Nutzungsrechte an der Natur bzw. am Umweltraum im Vordergrund der Betrachtung. Der Zusammenhang mit der sozialen Gerechtigkeit – dies gilt vor allem für ihren nationalen Bezug – ist bewußt, kann aber nicht zum expliziten Gegenstand der Studie gemacht werden. Deshalb soll hier den Leitbildern des »Zukunftsfähigen Deutschland« das eines neuen, zukunftsfähigen Gesellschaftsvertrags hinzugefügt werden.10

Nach Friedhelm Hengsbach ruht der Gesellschaftsvertrag der Nachkriegszeit auf vier Säulen: auf einem Wirtschaftswachstum, das den Verbrauch der Ressourcen und die Beschädigung der Umwelt nicht verrechnete, auf der Vollbeschäftigung, die Massenkaufkraft wachsenden Wohlstand fast aller Schichten der Bevölkerung sicherte, auf einer Arbeitsteilung, die den Männern die bezahlte Erwerbsarbeit ermöglichte und den Frauen die unvergütete Haus- und Familienarbeit zuwies, und viertens auf einer einigermaßen autonomen, von Außeneinflüssen abgeschirmten Beschäftigungs- und Sozialpolitik.

Seit den siebziger Jahren beginnen diese Säulen zunehmend brüchig zu werden. Daß ein ökologisch blindes Wirtschaftswachstum und eine entsprechende Politik überholt sind, war das Thema der Wuppertaler Studie. Aber auch die anderen Säulen haben ihre Tragfähigkeit eingebüßt. Die Vollbeschäftigung ist von einer hohen Dauerarbeitslosigkeit abgelöst worden; sie hängt mit der technikbedingten Produktivitätssteigerung zusammen, die eine Vermehrung von Gütern und Dienstleistungen bei immer geringerem Einsatz menschlicher Arbeitskraft ermöglicht. Diese Entwicklung wird weiter fortschreiten. Die Gleichung »mehr Wachstum=mehr Beschäftigung« stimmt nicht mehr. Damit ist auch die Epoche des wachsenden Wohlstandes für alle an ihr Ende gekommen. Gleichzeitig wird in den achtziger und neunziger Jahren eine einigermaßen ausgewogene Einkommens- und Vermögensstruktur von einer starken Konzentration von Einkommen und Vermögen bei relativ wenigen und die Massenkaufkraft durch die Bedienung gehobener Ansprüche abgelöst. Dies alles wiederum hat negative Auswirkungen auf die Versuche, Frauen einen fairen Platz bei der gesellschaftlichen Verteilung der Arbeit zu sichern. Gleichzeitig verstärken sich die Außeneinflüsse auf den Arbeitsmarkt, die Unternehmens- und die Finanzpolitik und beeinträchtigen – vorsichtig ausgedrückt – zusätzlich eine auf gerechten Ausgleich zielende Beschäftigungs- und Sozialpolitik. Der breite soziale Konsens, ohne den eine offene, demokratische Gesellschaft nicht überlebensfähig ist, gerät in Gefahr.

In einem zukunftsfähigen Gesellschaftsvertrag ist nicht nur das Naturverhältnis, sondern auch das Leistungsverhältnis und das Geschlechterverhältnis neu zu bestimmen. Ich konzentriere mich auf das Leistungsverhältnis, auf das Verhältnis von Arbeitsleistung, Geldeinkommen und den dadurch gegebenen Lebenschancen. Die Industriegesellschaft vergütet ausschließlich die individuelle Arbeitsleistung in der Erwerbsarbeit. In einem auszuhandelnden Gesellschaftsvertrag ist das Verhältnis von Arbeitsleistung, Arbeitseinkommen und Geldeinkommen – so der Vorschlag von F. Hengsbach – in dreifacher Hinsicht anders zu bestimmen: Erwerbsarbeit und Eigenarbeit müssen ähnlich bewertet und bezahlt, aber anders und neu aufgeteilt werden. – Die sozialen Sicherungssysteme dürfen nicht mehr so eng an das Erwerbsarbeitsverhälnis gekoppelt werden; auch Frauen mit lebenslanger Hausarbeit, Auszubildende oder nur geringfügig Beschäftige müssen in ihm einen Platz finden. – Die Beteiligung an der gesellschaftlich organisierten Arbeit sollte mindestens ausreichen, ein soziokulturelles Existenzminimum zu behaupten.11

Mir kommt es hier vor allem auf die Feststellung an, daß eine Einigung über die ökologischen Leitbilder eines zukunftsfähigen Deutschland zur Voraussetzung hat, daß gleichzeitig Einigung über die sozialen Leitbilder erzielt wird. So sehr die ökologischen Leitbilder eine radikale Korrektur des Umgangs der Industriegesellschaften mit der Natur verlangen, so sehr fordern die sozialen Leibilder eine Veränderung der bisherigen Leistungs- und Erwerbsgesellschaft.

Wo aber sind die gesellschaftlichen Kräfte, die diese Umsteuerungen bewirken könnten? Auf diese Frage versuche ich durch den Hinweis auf ein weiteres Leitbild einzugehen.

Das Leitbild der Kooperation der gesellschaftlichen Gruppen

Alle, die sich – wie die Autoren des »Zukunftsfähigen Deutschland« um die Lösung der drängenden Probleme einer marktwirtschaftlich organisierten Industrie- und Risikogesellschaft bemühen, sind sich bewußt, daß die notwendigen Veränderungen nur in breiter gesellschaftlicher Diskussion vorbereitet und auf dem Weg der gesellschaftlichen Kooperation beschlossen und durchgeführt werden sollten. Dieser Weg ist allerdings mühsam und unsicher. Hans Jonas, der Vordenker eines Ethos der Zukunftsfähigkeit, hatte die Frage der Überlegenheit »totaler Regierungsgewalt« gegenüber dem »kapitalistisch-liberal-demokratischen Komplex« geprüft und, was die Machttechnik betrifft, vorsichtig bejaht. Aber er sah deutlich, daß mit »Eliten«, die in einem totalitären System ihre Prägung erfahren hatten, nicht zu retten war, worum es ihm in seiner Ethik der Zukunftsverantwortung ging: die Erhaltung einer Menschheit, bestehend aus zur Selbstbestimmung fähigen und deshalb zur Selbstverantwortung verpflichteten Subjekten.12

Die amerikanischen Kommunitaristen – so unterschiedlichen Wissenschaftsrichtungen und politischen Strömungen sie auch angehören mögen13 – haben auch hinreichend deutlich gemacht, daß diese Subjekte keine isolierten Individuen sind, sondern in Gesellschaften und Gemeinschaften heranwachsen und ihre Identität gewinnen. Sie sind deshalb davon überzeugt, daß die Reform einer Gesellschaft weder vom Staat auf der einen und noch von den vielen – marktwirtschaftlich konkurrierenden – Einzelnen auf der anderen Seite allein bewerkstelligt werden kann: Es bedarf dazu der Mitwirkung und des Zusammenwirkens gesellschaftlicher Gruppen.14

Welche Gruppen, Gemeinschaften oder Institutionen sind dies in der Bundesrepublik Deutschland? Bei dieser Frage erfolgt in der Regel zunächst der Hinweis auf die sozialen Bewegungen: Frauenbewegung, Friedensbewegung, ökologische Bewegung. Sie stellen sich zur Zeit nicht als öffentlichkeitswirksames Massenphänomen dar, sondern sind vielerorts und in vielfacher Form in kleineren Gruppen aktiv. Aus ihnen sind auch Institutionen bzw. regelrechte Unternehmen hervorgegangen, wie zum Beispiel das Öko-Institut und Greenpeace. Es gibt Gruppierungen im Bereich der Hochschulen und der Wissenschaften, die in Organisationen zusammengeschlossen sind, aber ihre human- und sozial-, umwelt- und zukunftsorientierten Ziele in kleineren Gruppen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern am jeweiligen Ort verfolgen. In Kommunen und Kirchen gibt es Gruppen, die für die soziale Not im eigenen Land und außerhalb sensibilisiert sind. Es gibt »Runde Tische« in Städten und Regionen, die sich um eine zukunftsverträgliche Energieversorgung oder Verkehrsplanung kümmern. Die Beispiele könnten vermehrt werden. Festzuhalten bleibt: Der Bereich zwischen Staat, Parteien und Großinstitutionen auf der einen und den Individuen auf der anderen Seite ist nicht ein Vakuum, sondern besetzt durch eine Vielzahl von Gruppen und Gemeinschaften mit innovativen Vorstellungen und Aktivitäten. Verstärkt werden muß ihre »kreative Interaktion«.

Verstärkt bzw. überhaupt erst begonnen werden muß auch die Interaktion zwischen gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen, die bislang auf Konfrontationskurs waren. Dies gilt vor allem für Umweltgruppen einerseits und Unternehmen andererseits. Hier und da scheint sich die Einsicht durchzusetzen, daß die kritische Interaktion weiterhilft. Die versuchte Kooperation zwischen dem Öko-Institut und und der Hoechst AG ist hierfür ein Beispiel und könnte vielleicht zu einem Modell werden.

Zum Schluß: Nachhaltige Entwicklung und Frieden

Die Leitbilder der Studie »Zukunftsfähiges Deutschland«, das Leitbild eines neuen Gesellschaftsvertrages wie auch das Leitbild der Kooperation der gesellschaftlichen Gruppen sind gleichzeitig Leitbilder für einen dauerhaften Frieden. Zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit in den Staaten ist polizeiliche Gewalt und zur Sicherung des Friedens zwischen den Völkern sind militärische Maßnahmen heute noch nicht vermeidbar. Sie haben aber ihre Grenzen, weil eine notwendige Bedingung für einen »ewigen Frieden« – wie I. Kant seine regulative Idee für politisches Handeln nannte und damit auch den dauerhaften Frieden meinte15 – die Verwirklichkung von Gerechtigkeit, Gleichheit und die Bewahrung der Natur ist. Diese wiederum können nur auf einem Weg erreicht werden, bei dem friedenförderndes Miteinander eingeübt wird: in der Kooperation der Einzelnen, der Gemeinschaften und der gesellschaftlichen Gruppen, der Großinstitutionen und der Staaten.

Anmerkungen

1) Zur aristotelischen Herkunft und zum Verständnis des Begriffs bei Thomas von Aquin vgl. Pieper, Josef: Über die Gerechtigkeit, München 1960. – Zur gegenwärtigen Diskussion vgl. Höffe, Otfried: Politische Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1987. – MacIntyre, Alasdair: Der Verlust der Tugend. Frankfurt/M. 1987. – Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/M. 1975. Zurück

2) BUND und Misereor (Hrsg.): Zukunftsfähiges Deutschland. Ein Beitrag zu einer global nachhaltigen Entwicklung. Studie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie. Basel 1996, S.30. Zurück

3) Vgl. Sassin, Wolfgang: Die globale Dimension des Menschlichen – Strukturen für Milliarden? In: GAIA 5-6/1995, S.282-292. Zurück

4) Lay, Rupert: Ethik für Manager, Düsseldorf 1989, S. 21. Zurück

5) Dem entspricht die Formel Albert Schweitzers: „Gut ist, Leben erhalten und fördern; böse ist, Leben vernichten und Leben hemmen.“ (Ders.: Kultur und Ethik, München 1972, S.331. Zurück

6) Bossel, Hartmut: Bürgerinitiativen entwerfen die Zukunft. Frankfurt/M. 1978, S.71. Zurück

7) BUND – Misereor (Hrsg.): Zukunftsfähiges Deutschland. Basel, 1996. Zurück

8) Vgl. a.a.O., S. 211f. Zurück

9) Vgl. a.a.O., S. 218-221. Zurück

10) Vgl. Hengsbach, Friedhelm: Abschied von der Konkurrenzgesellschaft. Für eine neue Ethik in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, München, 1995. Zurück

11) Vgl. a.a.O., S. 132f. Zurück

12) Vgl. Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt/M. 1979, S. 263 und S.72-75. Zurück

13) Vgl. z.B. Bellah, Robert N. u.a.: Gewohnheiten des Herzens. Individualismus und Gemeinsinn in der amerikanischen Gesellschaft, Köln 1987. – MacIntyre, Alasdair: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt/M. 1987. – Walzer, Michael: Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, Frankfurt/M. 1992. Zurück

14) Bellah, Robert N. u.a.: Gegen die Tyrannei des Marktes, in: Zahlmann, Christel (Hrsg.): Kommunitarismus in der Diskussion, Rotbuch 1992, S. 61. Zurück

15) Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten, Hamburg 1966, S. 179-186. Zurück

Dr. Wolfgang Bender ist Mitglied der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) an der TH Darmstadt

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1996/3 Leben und Überleben, Seite